Heute Nacht habe ich von Prof. Dr. Heide Wegener eine Mail mit dem Betreff „Das leidige Thema“ bekommen. Heide Wegener schreibt immer wieder in der WeLT zu diesem leidigen Thema. Sie hat mir ein PDF eines WeLT-Artikels (paywall) geschickt, der eine kürzere Version eines Aufsatzes ist, der in einem linguistischen Sammelband erscheinen wird.
Ich gendere und habe das in einem Blogpost hier schon erklärt (Gendern, arbeiten und der Osten). Wie ich da geschrieben habe, bin ich der Meinung, dass die Frage der Gleichstellung eine ökonomische ist und dass es deshalb wichtig ist, die Infrastruktur, die Familien brauchen, damit alle arbeiten können, auszubauen und zu finanzieren.
Hier einige kurze Kommentare zu Heide Wegeners Artikel:
Wegener beschäftigt sich mit dem generischen Maskulinum und mit Studien, die zeigen sollen, dass es sich nur auf Maskulina beziehen würde. Ich habe das Gendern selbst lange abgelehnt und dann aber, weil ich durch Prof. Dr. Henning Lobin (Leiter des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim) auf folgende Studie aufmerksam geworden bin, mit dem Gendern begonnen:
Stahlberg, Dagmar, Sabine Sczesny & Friederike Braun. 2001. Name your favorite musician: Effects of masculine generics and of their alternatives in German. Journal of Language and Social Psychology 20(4). 464–469. DOI: 10.1177/0261927X01020004004.
Ich weiß noch genau, wie ich mich im DFG-Fachkollegium mit Prof. Helmuth Feilke über die Experimente unterhalten habe und er meinte, dass das nicht so einfach wäre, denn, was man experimentell nachweisen würde, wären Klischees. Das würde auch im Englischen funktionieren, wo es die entsprechenden Endungen ja gar nicht gibt. Hier ist das entsprechende Beispiel, das auf die Psychologinnen Mikaela Wapman und Deborah Belle zurückgeht.
Heide Wegener diskutiert nun einige Beispiele, die genau das auch für das Deutsche zeigen.
Eins der Experimente, die betrachtet werden, bestand darin, dass Proband*innen Schauspieler*innen, Politiker*innen und Superheld*innen nennen sollten. Dabei wurde die Aufgabe immer mit generischem Maskulinum, als Paarform (Politiker und Politikerinnen) und mit großem I gestellt.
Dies Ergebnis ist von grundsätzlicher Bedeutung, zeigt es doch: Real existierende Vertreter, zumal in Spitzenpositionen, mit Bildschirmpräsenz (Kanzlerin, Fußballstar), wirken prägend, beeinflussen Bedeutung und Veränderung von Berufs- und Rollenbildern stärker als sprachliche Änderungen. Die Grundannahme der Feministischen Linguistik, Sprache determiniere das Denken und dieses dann die soziale Realität, wird hier vom Kopf auf die Füße gestellt.
Dass die Wirklichkeit unsere Klischees formt, hat wohl niemand jemals wirklich in Frage gestellt. Dass die Art, wie wir über Personen und Dinge reden, die Welt beeinflusst, wird wohl aber auch keine Sprachwissenschaftler*in ernsthaft abstreiten wollen. Das Stichwort ist Framing und jede Linguist*in sollte das Buch LTI von Victor Klemperer kennen, der sich mit der Sprache der Nazis auseinandersetzt. Auch heute wird bewusst von Flüchtlingsströmen, Messermännern und so weiter gesprochen. Sprache beeinflusst unser Denken, das lässt sich nicht von der Hand weisen, auch wenn es einem beim Gendern gerade nicht passt.
Setzt man den Ost-West-Unterschied im Gebrauch von Gendersprache, die nach Entstehung und Verbreitung ein eher westdeutsches Phänomen ist, in Relation zu den Zahlen für den Gender Pay Gap in den alten und neuen Bundesländern, so zeigt sich: Wo gegendert wird, ist die Lohnlücke größer (alte Bundesländer 19 Prozent, neue Bundesländer 6 Prozent, unbereinigt). Der behauptete emanzipatorische Effekt von Gendersprache erscheint als fromme Schimäre.
Diese Aussage ist interessant, nur dass das Eine nichts mit dem Anderen zu tun hat. Ein Ziel des Genderns ist es, Wertschätzung für Frauen und Trans-Menschen auszudrücken, sie sichtbar zu machen. Gerade auch dort, wo sie entsprechend der Klischees nicht erwartet sind. Der Gender Pay Gap ist die unterschiedliche Entlohnung für dieselbe Arbeit. Eine Frau bekommt auf derselben Stelle weniger als ein gleich qualifizierter Mann. Professorinnen bekommen oft weniger als Professoren, auch weil sie das selbst anders verhandeln.
Schaut man sich den geographical pay gap, den Unterschied in der Bezahlung zwischen West und Ost für gleiche Arbeit an, so liegt der bei 22,5%. Dirk Oschmann schreibt Folgendes zu den Details:
Bei Textilfirmen sind die ungeheuerlichen Unterschiede mit 69,5 Prozent am größten, aber auch die beliebte Autoindustrie kann sich mit 41,3 Prozent noch sehen lassen, gefolgt von Maschinenbau mit 40,4 Prozent, der Herstellung von IT-Gütern mit 39,8 Prozent und der Schifffahrt mit 38,9 Prozent. Und natürlich bekommt der Osten signifikant weniger oder gar kein Weihnachtsgeld, wie der Spiegel im November 2022 meldet.
Dirk Oschmann, 2022, Der Osten – Eine Westdeutsche Erfindung, S. 66
Das bedeutet, das Frauen und Männer ohnehin schon weit unter dem West-Niveau bezahlt werden. Am größten ist der Unterschied übrigens in einem klassischen Frauenberuf: im Textilbereich bei den Näher*innen. Dass ein Mann in diesem Bereich dann nur unwesentlich mehr verdient … Tja. Vielleicht ist die Ausbeutung im Osten dann insgesamt so groß, dass man die Frauen schlecht noch schlechter bezahlen kann. Ein konkretes Beispiel aus meiner Verwandtschaft: Eine Frau arbeitet als Verkäuferin und fährt mit dem Fleischwagen übers Land. Wenn sie das Renteneintrittsalter erreicht haben wird, wird sie die Mindestrente bekommen, denn das Geld, das sie in die Rentenversicherung eingezahlt hat, reicht nicht für mehr und das, obwohl sie ihr Ganzes Leben Vollzeit gearbeitet hat. Wenn man vor diesem Hintergrund einen Artikel mit dem Titel Wo gegendert wird, ist die Lohnlücke größer in der Springer-Presse veröffentlicht, ist das an Zynismus eigentlich nicht zu überbieten. Aber wahrscheinlich ist es einfach nur Unwissenheit: Der Osten ist so weit weg, selbst für Professor*innen, die mitten drin wohnen.
Die Unterschiede zwischen West- und Ost-Gesellschaft sind so gewaltig, dass Wegeners Vergleich des Gender Pay Gaps ohne weitere Aufschlüsselung relevanter Faktoren einfach unzulässig ist. Im Osten kriegen die Frauen seit der Wende weniger Kinder, was vielleicht der Karriere förderlich ist. Die Kinderversorgung allgemein ist besser. In Bayern kann Mutti das Kind in der Kita abgeben und dann den Einkauf erledigen. Mittags kommen die Kinder zurück. Im Osten sind Einrichtungen mit Ganztagsbetreuung die Norm (Krippe, Kindergarten, Schule+Hort). Dass Frauen Vollzeit arbeiten, ist normal. All das müsste man in Überlegungen einbeziehen. Was Wegener vergleichen müsste, ist eine Westdeutsche Gesellschaft mit und ohne Gendern. Das ist nicht so einfach, aber vielleicht gibt es gesellschaftliche Bereiche, in denen man die Auswirkung von inklusiver Sprache experimentell nachweisen kann.
(Nachtrag vom 20.05.2023: Der MDR hat erklärt, wodurch der geringere unbereinigte Gender-Pay-Gap im Osten zustande kommt: Deutschlandkarte zum Gender Pay Gap: Lohnlücke im Osten kleiner. Es liegt daran, dass Männer im Osten in schlechter bezahlten Berufen arbeiten. Die gut bezahlten Industrie-Jobs sind im Westen. Ossis arbeiten z.B. bei Lagerwirtschaft, Post und Zustellung, Frauen in vergleichsweise besser bezahlten Berufen wie in der Verwaltung. Der bereinigte Gender-Pay-Gap [gleicher Beruf, gleiche Qualifikation] liegt bei 10,8 % im Osten und 15,3 % im Westen, ein Unterschied von nur 4,5%, der sich vielleicht über die von mir oben angesprochenen Faktoren erklären lässt.)
Das wirft die Frage auf, ob generische und gegenderte Sprachformen gleichwertig sind. Für diese Annahme spricht das derzeitige Nebeneinander beider Formen: Die meisten Deutschsprecher wechseln heute problemlos zwischen dem generischen Maskulinum und geschlechtergerechter Sprache hin und her, sie gebrauchen passiv in den Medien Genderformen, aktiv aber weiter das generische Maskulinum – ohne Verständigungsprobleme.
Dass es beim generischen Maskulinum Verständigungsprobleme geben würde, hat niemand behauptet, die Kommunikation funktionierte in den letzten Jahrhunderten auch. Es ist eine Frage der Inklusion, eine Frage der Höflichkeit, ob man eine umständlichere Form wählt und damit Frauen und Trans-Personen explizit mitnennt und explizit anspricht.
Vielleicht kann man das am besten mit einem Beispiel verdeutlichen: Wenn wir Behörden anschreiben oder Mails an Empfänger*innen, bei denen wir nicht wissen, wer die Mail letztendlich lesen wird, schreiben wir „Sehr geehrte Damen und Herren“. Ich habe 2021 eine Konferenz organisiert und eine Mail an den allgemeinen Konferenzaccount bekommen, die mit „Dear Sirs“ begann. Der Schreiber der Mail ist wohl davon ausgegangen, dass nur Männer diese Konferenz organisieren würden/könnten, was unangebracht und beleidigend für Frauen auf der Empfängerseite ist. Man kann andere Anreden wählen. „To whom it may concern“ oder „Hi“. Im Deutschen „Hallo“, „Liebes Globetrotter-Team“ oder eben die explizite Form „Sehr geehrte Damen und Herren“. Alles wird verstanden, aber es gibt Unterschiede im Stil und im Register.
Ein Abschnitt in Heide Wegeners Text trägt die Überschrift „Die Welt prägt die Sprache, nicht die Sprache die Welt“. Ich möchte behaupten, dass Sprache und Welt in einer Wechselwirkung zueinander stehen. Der Ton macht die Musik, wie oben bei den Anreden gezeigt. Ein weiteres Beispiel: Es gibt sehr viele Wörter, mit denen man sich auf Menschen mit Behinderung beziehen kann. Alle werden verstanden. Manche sind wertschätzend, manche verletzend. Ich möchte in einer inklusiven Welt leben, die es allen erlaubt, ihren Möglichkeiten entsprechend teilzuhaben, sich verstanden zu fühlen und mitgenommen zu werden.
Gendern und Klimakleber
Beim Nachdenken über das Gendern und die Aktionen der Letzten Generation, Extinction Rebellion und Scientist Rebellion ist mir klar geworden, dass die Ablehnung und der Hass wahrscheinlich Ergebnis ähnlicher Prozesse sind. Die Klimakleber gehen nicht weg. Das hört einfach nicht auf. So wie die Klimakrise auch nicht aufhört. Die Klimabürger*innen erinnern uns täglich daran, das wir als Gesellschaft, als der Norden eigentlich auf einem ganz anderen Kurs sein müssten und dass unsere Regierungen versagen. Genauso erinnern Menschen, die gendern, Menschen, die nicht gendern, in jedem Satz an ein strukturelles Unrecht, an Ungleichbehandlung, daran, dass mann Privilegien aufgeben muss. Es stört, es nervt. In etwas so Schönem wie der Sprache. Es stört, es nervt. Bei etwas so Schönem Notwendigem wie dem Weg zur Arbeit.
Die Unterbrechung und minimale Verzögerung durch den Glotalverschluss ist dabei nicht gegen die Kommunikationspartner gerichtet. Selbiges gilt auch für die Vergrößerung der ohnehin schon vorhandenen Staus. Diese Unterbrechungen markieren einfach Ungerechtigkeiten und Probleme, die sich aus unserem Weiter-So ergeben.
Weil beides nervt, gibt es schlaue (und auch dumme) Menschen, die Gründe finden, warum das Gendern nicht „funktionieren“ würde, was daran falsch sei, einfach übersehend, dass Menschen es tun und verstanden werden. Und so gibt es schlaue (und dumme) Menschen, die der Letzten Generation erklären, was die doch gefälligst tun sollten, oft verkennend, dass sie all das auch tun oder schon getan haben.
Also: All das wird so lange bleiben, bis Frauen gleichberechtigt sind (oder länger, weil das Gendern dann normal geworden ist) und bis wir als Gesellschaften Wege gefunden haben, mit der Klimakatastrophe adäquat umzugehen und noch Schlimmeres zu verhindern (und hoffentlich nicht länger, weil die Störungen nicht normal werden).
Quellen
Wegener, Heide. 2023. Wo gegendert wird, ist die Lohnlücke größer. In Meinunger, André & Trutkowski, Ewa (eds.), Gendern – auf Teufel*in komm raus? Berlin: Kulturverlag Kadmos.
Oschmann, Dirk. 2023. Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Berlin: Ullstein Buchverlage.
MDR. 2023. Deutschlandkarte zum Gender Pay Gap: Lohnlücke im Osten kleiner. (https://www.mdr.de/wissen/geld-verdienen-lohn-frauen-maenner-luecke-ost-west-equal-pay-day102.html)
Auf den Ost-West-Gap gehe ich so wenig ein wie auf das Nord-Süd-Gefälle oder sonstige Benachteiligungen, etwa aufgrund von Hautfarbe oder Herkunft, denn auch die schärfsten Genderer beanspruchen nicht, alle Probleme dieser Welt zu lösen, sie wollen nur die Gleichstellung von Frauen befördern. Beim Gendern geht es um Geschlecht und Gender, nur darum geht es mir hier.
Ost-Frauen erklären mir, sie hätten „das nicht nötig“, das = die Formen der Gendersprache, und ich denke, sie haben recht. Ich bewundere sie dafür, dass sie viel früher als die im Westen nicht nur Friseur, sondern auch Mechaniker lernten und nicht nur Pädagogik und Kunstgeschichte studierten, sondern auch Maschinenbau und Physik. Und anstatt den Kindern Formen wie dem/*der Patient*in beizubringen, sollten die Lehrer sie besser dazu animieren, auch die MINT-Fächer zu studieren.
Der angeführte Test prüft musician, also Formen im Singular – und damit ist er völlig wertlos, was generische Lesart angeht, denn im Singular sind die Nomen nur in amtlichen Texten generisch, sonst fast nie (Mit dem Abitur erwirbt der Schüler…). Das zeigen auch die Ergebnisse des angeführten Tests S.3 : „Es ergibt sich, dass Singularformen beider Wortklassen zu 83 Prozent als „männlich“, Pluralformen aber zu 97 Prozent als „neutral“ bewertet werden. Im Plural gelten Berufsbezeichnungen zu 94, Rollenbezeichnungen sogar zu 99 Prozent als „neutral““. Konsequenz: Im Singular muss man die movierte Form benutzen. Deshalb lässt sich auch der Chirurgentext nicht aufs Deutsche übertragen. Niemand würde eine Chirurgin (im referenziellen Modus!) mit Chirurg bezeichnen, nicht mal Ostfrauen. Die unterscheiden sehr genau zwischen referenzieller und generischer Lesart: „Ich bin / sie ist Arzt – aber: Meine Ärztin meint…
Aber auch die Tests mit Pluralformen bestätigen nicht die Behauptung von Feministen, Generische Maskulina würden eher spezifisch als ‚männlich‘ verstanden, weder die originalen Tests von 2001 oder 2008 noch die von Schunack/Binanzer durchgeführten Untersuchungen, s. ZS 2022. Es gibt keinen Grund, das GM zu meiden. Im Gegenteil: Die beste Art, die Kernbedeutung von Berufs-und Rollenbezeichnungen auszudrücken, ist die unmarkierte Grundform, Freund, Arzt, Virologe. Da diese Formen kein Merkmal für Geschlecht enthalten, unterspezifiziert also sind, schließen sie alle Geschlechter ein und sind dadurch inklusiv. Auch das Suffix der Nomina agentis ‑er ist kein Merkmal für ‚männlich‘, sondern für den Agens, im Gegensatz zu ‑ling für den Patiens, Lehrer — Lehrling. Wäre es anders, dann hätten wir in Lehr-er-in zwei sich gegenseitig ausschließende Morpheme hintereinander, etwas, was es m.W. in natürlichen Sprachen nicht gibt.
Ich bezweifle auch, ob nicht-binäre oder homosexuelle oder Trans-Menschen wirklich den ständigen Hinweis auf ihr Anderssein wollen. Wollen die nicht vielleicht lieber einfach nur dazugehören? Mit *Formen im Singular (die Autorin A und die Regisseur*in B) werden (nicht)binäre Menschen geradezu geoutet. Wollen die das überhaupt?
Es geht nicht nur um „Unterbrechung und minimale Verzögerung“, die massive Ablehnung durch die sprechende Mehrheit beruht u.a. auf der übertriebenen, da inhaltlich nicht gerechtfertigten Explizität der Genderformen. Etwa stellt die Paarform Schüler und Schülerinnen für Sprecher, für die ‚Schule‘ ganz selbstverständlich Jungen und Mädchen einschließt (in Deutschland, nicht in Afghanistan), keinen kommunikativen Nutzen, sondern eine Zumutung dar. Für sie ist die Information, dass neben Schülern auch Schülerinnen …, überinformativ und führt deshalb zu Verdruss. Sie verstößt gegen die Gricesche Konversationsmaxime der Relevanz, vgl. Grice (1975:45): „Do not make your contribution more informative than is required.“ Geglückte Kommunikation setzt voraus, dass die Information eine Informationslücke schließt, dass beim Gesprächspartner eine Lücke, Unwissenheit also besteht. Eine Information, die keine Lücke schließt, ist nicht nur überflüssig, sie ist beleidigend. Denn so dumm ist der Hörer nicht und will auch nicht so behandelt werden.
Wenn es darum geht, alle anzusprechen, wie oft behauptet, so tun wir das doch schon lange, indem wir Sehr geehrte Damen und Herren oder liebe Zuschauer und Zuschauerinnen sagen.
Wer so argumentiert und damit „geschlechtergerechte“ Sprache allgemein rechtfertigt, verkennt den Unterschied der drei Funktionen des Sprachzeichens (Organonmodell):
In der Anrede ist das Sprachzeichen Signal und erfüllt die Appellfunktion. Weit überwiegend, wenn wir über jn reden, ist es aber Symbol und erfüllt die Darstellungsfunktion. Schließlich ist es Symptom und erfüllt dann die Ausdrucksfunktion, sagt etwas über den Sprecher aus. Und in den meisten Fällen scheint mir das die eigentliche Motivation zu sein: Gendern dient der Imagepflege, es soll den Sprecher als woke, als progressiv ausweisen. Es ist eine Mode, und Moden sind endlich. Wer erinnert sich noch an das Pronomen “frau”?
Natürlicher Sprachwandel geht anders und hat andere Ziele, noch nie haben kompliziertere Formen die einfacheren verdrängt. Hier liegt Sprachlenkung, der Versuch einer Sprachlenkung vor.
Ob er dauert, bis die Frauen gleichberechtigt sind? In anderen Sprachen hat man die Suffixe längst abgeschafft, schon M. Thatcher wollte Prime Minister sein, nicht Ministress. Sind die Briten frauenfeindlich, sind sie noch stärker als wir unterdrückt vom Patriarchat? Oder sind sie im Gegenteilt emanzipierter als wir? Die „geschlechtergerechten“ Formen werden als diskriminierend empfuinden: W. Goldberg „I’m an actor , I can play anything“, Cate Blanchett lehnt actress ab und besteht sogar als Dirigentin im Film auf der Anrede Maestro, nicht Maestra. Nele Pollatschek und Sophie Rois lehnen die deutschen Formen ab.
In der Schweiz, in der zunächst mehr gegendert wurde als in Deutschland, was verständlich ist, hatten dort die Frauen doch erst 1971 das Wahlrecht erlangt, wird jetzt eine “Renaissance des Generischen Maskulinums“ beobachtet, bei Studentinnen unter 25 (s. J. Schröter, A. Linke, N. Bubenhofer 2012: „Ich als Linguist“. Eine empirische Studie zur Einschätzung und Verwendung des Generischen Maskulinums, in: Susanne Günthner u.a. Genderlinguistik, Sprachliche Konstruktion von Geschlechtsidentität, Berlin: de Gruyter, 359–379, DOI :10.1515/9783110272901.359
Ich habe keinen Zugang zu Studentinnen mehr, kann das aber durch einzelne Teenager bestätigen. Die finden Gendern doof und karikieren es durch die Kürzel die SuS und die LuL und dann weiter zu die Sus und die Lul.
Außerdem gibt es Kollateralschäden. Die schon erwähnten Formen dem*der Arzt*in (in Papieren der Charité massenhaft) machen die deutsche Sprache nun wirklich nicht leichter für die (DaF)Lerner.
Und dieselben Leute, die so viel von Differenzierung reden, opfern die durchaus sinnvolle Differenzierung zwischen der Bezeichnung für eine aktuelle Tätigkeit und der für die Rolle: wie kann ich, ohne Generisches Maskulinum, sagen, dass “nicht alle Zuhörer auch Zuhörende waren“? Gilt das Schild “Radfahrer absteigen” nicht auch für mich? Radfahrer bin ich auch dann, wenn ich mein Rad schiebe, aber Radfahrende eben nicht mehr. Aber nach dem adfc Berlin sind sogar Getötete noch Radfahrende, nicht nur an Ostern, dem Fest der Auferstehung! Es ist grotesk. Und wenn Linguisten solche Formen empfehlen, ist das beschämend.