Schlagersüßtafel und Klassenkeile

Nach dem Tod mei­nes Opas habe ich es oft bedau­ert, dass ich ihn nicht mehr zu sei­nem Leben befragt habe. Ich habe mei­ne Eltern gebe­ten, etwas aus ihren Erin­ne­run­gen auf­zu­schrei­ben, aber das wird wahr­schein­lich nichts. Ich muss sie fra­gen. Mich kann ich selbst fra­gen und ich kann auch Din­ge auf­schrei­ben. Ich habe beschlos­sen, das hier zu tun. Klei­ne Erin­ne­run­gen schaf­fen ein Bild unse­rer Ver­gan­gen­heit und ich möch­te, dass mei­ne Teil die­ses Bil­des sind, sonst schrei­ben ande­re unse­re Geschichte.

Schlagersüßtafel

Es gibt im Netz einen Ossi­la­den. Mit all dem Zeug, das ich nie mehr sehen woll­te. Es gab eine Kos­me­tik­se­rie, die hieß Action. Hm.

Schla­ger­süß­ta­fel! Konn­te man alles Mög­li­che mit machen nur nicht essen. Ich hat­te mit einem Kum­pel (C.) eine Tafel gekauft, weil wir dach­ten, dass da Bil­der von Schlagersänger*innen drin wären.1 Was für ne Ent­täu­schung. Wir haben dann Passant*innen vom Bal­kon aus damit bewor­fen. Irgend­wann kam ein Trupp Bau­ar­bei­ter. Die hat­ten offe­ne Farb­ei­mer auf einem Wagen. Die Scho­ko­la­de flog da rein. Splash. Sie fan­den es nicht gut und muss­ten gera­de noch gese­hen haben, wo die Scho­ko­la­de her­kam, obwohl wir uns urst schnell geduckt hat­ten. Sie kamen ins Haus zu uns hoch und klin­gel­ten Sturm. Ich dach­te mir, die machen ja das gan­ze Haus ver­rückt und stell­te die Klin­gel ab. Das war nicht so schlau, denn nun wuss­ten sie ja, dass sie an der rich­ti­gen Tür klin­gel­ten. Sie klopf­ten statt­des­sen. Damals waren die Woh­nungs­ein­gangs­tü­ren noch wenig wider­stands­fä­hi­ge Papp­tü­ren. Ich hat­te Angst. Auch um die Tür. Irgend­wann zogen sie ab. Wie immer haben die Nach­barn von unter uns mich an mei­ne Eltern verpetzt.

Die Siedlung

Den Klas­sen­ka­me­rad C. hab ich auch zu Hau­se besucht. Er wohn­te in einem Haus in der Sied­lung am Lin­den­ber­ger Weg und ich im Neu­bau (Es gab die „alten Neu­bau­ten“, die „Neu­bau­ten“ und die „neu­en Neu­bau­ten“. Wir wohn­ten in den „Neu­bau­ten“, die 1976 fer­tig gewor­den waren.) Die Fami­lie mei­nes Kum­pels hat­ten da noch Öfen und wir haben Wat­te ver­ko­kelt. Hat Spaß gemacht. 

Klassenkeile

Irgend­wann spä­ter gab es in unse­rer Klas­se eine Situa­ti­on, in der die Mäd­chen plötz­lich alle ein ande­res Mäd­chen B. schei­ße fan­den. Sie kam aus einer bil­dungs­fer­nen Fami­lie. Die Schul­klas­sen in mei­ner Schu­le bestan­den aus Schüler*innen, deren Eltern in der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten oder in den Kran­ken­häu­sern in Buch arbei­te­ten. In mei­ner Klas­se sind 8 von 31 Schüler*innen nach der ach­ten Klas­se abge­gan­gen. Zwei an die erwei­ter­te Ober­schu­le (Schli­e­mann und Hertz) und sechs Jun­gen in die Pro­duk­ti­on. Zu die­ser Zeit begann die nor­ma­le EOS ab der zehn­ten Klas­se. Die Schli­e­mann­schu­le war eine Spe­zi­al­schu­le mit Spra­chen­aus­rich­tung und die Hertz-Schu­le eine mit mathe­ma­tisch-natur­wis­sen­schaft­li­cher Aus­rich­tung. Die Klas­se war jeden­falls wild gemischt. Die Jungs, die die Klas­se ver­lie­ßen, waren zum Teil schon ein­mal sit­zen geblie­ben. Vie­le waren Früh­ent­wick­ler, super gut in Sport. Beim 100 Meter­lauf konn­te ich ihnen nur hinterhergucken.

An besag­tem Tag hat­te sich die gesam­te Klas­se gegen das Mäd­chen zusam­men­ge­tan. Heu­te wür­de das wohl alles unter Mob­bing lau­fen. B. soll­te Klas­sen­kei­le bekom­men. Ich habe ver­sucht zu ver­ste­hen, wie­so und war­um und habe gesagt, sie soll­ten sie mal in Ruhe las­sen. Das führ­te dazu, dass ich plötz­lich im Zen­trum des Inter­es­ses stand. Kei­ne Ahnung wie. Grup­pen­dy­na­mik halt. Ich weiß noch, dass es in der Turn­hal­le begann. Ich ging dann ein­fach los. Nach Hau­se. Die Klas­se kam mir hin­ter­her. Ich bin so ca. zehn Minu­ten gelau­fen, dann wur­de ich umstellt und eins der Mäd­chen nahm mei­nen Schul­ran­zen. Klassenkeile.

C. soll­te mich irgend­wie ver­hau­en. Wir stan­den in der Mit­te eines Krei­ses unse­rer Klas­sen­ka­me­ra­den. Ich habe ihn umfasst, sei­nen Ober­kör­per nach hin­ten gebo­gen und er fiel um. Ich nahm H. mei­ne Map­pe aus der Hand und ging nach Hau­se. Ich habe mich nicht umge­dreht. Sie sind mir nicht hin­ter­her gekom­men. Ich wüss­te gern, was sie gedacht und gesagt haben.

Zu Hau­se saß ich auf dem Sofa. Ich habe drei Stun­den lang gezit­tert. Es war kei­ne Mut­ter da und kein Vater. Wie auch, sie haben gear­bei­tet. Das war gut und nor­mal so. Ich glau­be, ich habe auch spä­ter nicht mit ihnen dar­über gesprochen.

Am nächs­ten Tag bin ich nor­mal in die Schu­le gegan­gen. Kann mich nicht erin­nern, dass die Vor­gän­ge vom Vor­tag the­ma­ti­siert wor­den wären. Auch nicht an Angst. Viel­leicht verdrängt. 

Ich habe gelernt, dass man als Ein­zel­ner auch etwas gegen eine Grup­pe aus­rich­ten kann. Dass es merk­wür­di­ge grup­pen­dy­na­mi­sche Pro­zes­se gibt.

Und eine nicht ganz erns­te Bemer­kung zum Schluss. Die Nach­ge­bo­re­nen fin­den ja, wir soll­ten jetzt mal 1968 im Osten machen und über unse­re Gewalt­er­fah­run­gen reden (Blog­post Gewalt­er­fah­run­gen und 1968 für den Osten). Das hier sind mei­ne Gewalt­er­fah­run­gen. Die­se sind natür­lich nicht gemeint. Es gab alle mög­li­chen Zwän­ge im Osten, mili­ta­ri­sier­ter Sport­un­ter­richt, Wehr­un­ter­richt, Ver­wei­ge­rung von Bil­dungs­mög­lich­kei­ten, wenn man nicht mit­ge­spielt hat usw. Nur ist das alles bekannt. Da muss man nichts aufarbeiten.

Berliner und Breschnew

Nach dem Tod mei­nes Opas habe ich es oft bedau­ert, dass ich ihn nicht mehr zu sei­nem Leben befragt habe. Ich habe mei­ne Eltern gebe­ten, etwas aus ihren Erin­ne­run­gen auf­zu­schrei­ben, aber das wird wahr­schein­lich nichts. Ich muss sie fra­gen. Mich kann ich selbst fra­gen und ich kann auch Din­ge auf­schrei­ben. Ich habe beschlos­sen, das hier zu tun. Klei­ne Erin­ne­run­gen schaf­fen ein Bild unse­rer Ver­gan­gen­heit und ich möch­te, dass mei­ne Teil die­ses Bil­des sind, sonst schrei­ben ande­re unse­re Geschichte.

Berliner

Es ist etwas Schlim­mes pas­siert! Ich woll­te gera­de beim Bäcker #Ber­li­ner kau­fen. Dazu muss man wis­sen: Wir in #Ber­lin sind gewalt­frei und kei­ne #Kan­ni­ba­len. Wir essen köst­li­che #Pfann­ku­chen und kei­ne Berliner.

Ich stand also vor der Ver­käu­fe­rin und dach­te dar­über nach, wie es denn sein kön­ne, dass ich Ber­li­ner zu die­sem Gebäck gesagt hat­te. Ich dreh­te mich um und schau­te auf die Wer­bung und frag­te sie, ob da tat­säch­lich „Ber­li­ner“ gestan­den hat­te. Aber nee, da stand „Pfann­ku­chen“.

Wer­be­pla­kat am Bäcker: Köst­li­che Pfann­ku­chen, Ber­lin 11.11.2023

Beim Raus­ge­hen hab ich’s dann ver­stan­den: Drau­ßen wur­de mit „Ber­li­ner“ und drin­nen mit „Pfann­ku­chen“ geworben.

Außen Ber­li­ner, innen Pfann­ku­chen. Wer­bung am Bäcker im Prenz­lau­er Berg, Ber­lin, 11.11.2023

Den­noch wer­de ich mir nie ver­zei­hen, dass ich das Wort „Ber­li­ner“ benutzt habe.

Ich habe von 1992–1993 in Edin­burgh stu­diert. Am Anfang, als wir noch kei­ne Woh­nung hat­ten, schlief ich in der Jugend­her­ber­ge. Bei der Anmel­dung in der Jugend­her­ber­ge mein­te der Mann an der Rezep­ti­on: „Ah, you’­re from Ber­lin. This is whe­re Ken­ne­dy said: ‘I am a donut.’“. Ich habe nicht ver­stan­den, was er woll­te. Ken­ne­dy hat­te natür­lich gesagt: „Ich bin ein Ber­li­ner!“. Das wuss­te ich.

Ken­ne­dy sagt: Ich bin ein Donut.

Aber ich habe das nicht mit Donuts zusam­men­be­kom­men, weil wir in Ber­lin zwar Ber­li­ner sind, aber kei­ne Ber­li­ner essen. Donuts ab und zu schon.

Übri­gens, lie­be Wes­sis, noch zum ers­ten Bild: Wir sind ver­rückt, aber wir sind nicht när­risch. Kar­ne­val wird hier nicht ver­stan­den und fin­det nicht statt. Wir sind das gan­ze Jahr über lustig.

Breschnew

Ges­tern vor 41 Jah­ren starb Leo­nid Bre­sch­new und heu­te vor 41 Jah­ren wur­de sein Tod bekannt. Wir woll­ten um 11:11 Par­ty machen und Pfann­ku­chen essen, aber irgend­wann um 10:00 wur­de ver­kün­det, dass Bre­sch­new gestor­ben war. Unser Phy­sik­leh­rer Herr F. hat geweint. Wir waren sau­er und etwas ver­wun­dert über Herrn Fs. Trauer.

Gewis­ser­ma­ßen als spä­te Rache ver­lin­ke ich eine Rede Bre­sch­news, die die Noto­ri­schen Refle­xe 1983 ver­tont haben. Sol­che Sachen lie­fen damals im SFB in der Sen­dung Dau­er­wel­le, die ich begeis­tert gehört und in Tei­len mit­ge­schnit­ten habe.

Noto­ri­sche Refle­xe — BREZHNEV RAP — 1983

Mauerfall

Vor 34 Jah­ren war es kalt und dun­kel. Ich hat­te weder einen Fern­se­her noch ein Tele­fon. Inter­net gab es nur zwi­schen zwan­zig Rech­nern in der Hum­boldt-Uni. Ich habe mich auf den nächs­ten Tag vor­be­rei­tet und bin dann früh schla­fen gegan­gen, weil die ers­te Vor­le­sung immer 7:30 anfing. Am Mor­gen bin ich wie immer um 6:00 auf­ge­stan­den. Beim Früh­stü­cken habe ich das Radio ein­ge­schal­tet. Rei­se­frei­heit. Man kann einen Pass bean­tra­gen. Gren­ze ist auf. In der Stra­ßen­bahn konn­te ich sehen, wer es wuss­te: Man­che waren ver­schla­fen wie immer, man­che hell wach. In der Uni kam mir Udo Kru­schwitz mit einer taz und einem Spie­gel ent­ge­gen und mein­te, dass man bis 8:00 noch ohne Pass rüber kön­ne. Da ich ja gera­de aus der Armee ent­las­sen wor­den war und mei­ne Chan­cen auf einen Pass als eher gering ein­schätz­te, bin ich mit zwei Kom­mi­li­to­nen sofort los. (Einer war G., einer der Söh­ne von Chris­toph Hein.)

Wir gin­gen am Trä­nen­pa­last (Fried­rich­stra­ße) rüber und fuh­ren mit der S‑Bahn in den Wes­ten. Aus der S‑Bahn konn­te man das Grenz­ge­biet sehen. Dort patrouil­lier­ten Grenz­pos­ten, als habe man ver­ges­sen, sie abzuschalten.

Ich weiß nicht, wie wir uns ori­en­tiert haben. An den Plä­nen in der S‑Bahn? Irgend­wie kamen wir jeden­falls nach Kreuz­berg und lie­fen dort durch die Stra­ßen. G. sprach ein­fach einen Typ mit Gitar­re an, wo den hier ein Ate­lier sei, wir wür­den gern ein paar Künst­ler ken­nen­ler­nen. Wir lan­de­ten in der Nau­nyn­stra­ße bei ein paar Künstler*innen, die gera­de früh­stück­ten. Sie erfuh­ren von uns, dass die Mau­er offen war. „Tach! Wir sind aus dem Osten. Die Mau­er ist weg und wir woll­ten mal gucken, was Ihr so macht.“ Es gab Kaf­fee und Scho­ko­la­de. Ich habe mich dar­über gewun­dert, dass ihr Zucker so fein war. Man konn­te ihn kaum von Salz unter­schei­den. Eine Male­rin habe ich spä­ter noch besucht und sie war auch bei uns bei einer Per­for­mance in mei­ner Woh­nung 1990.

Ich woll­te ins Rauch­haus, weil ich das von den Scher­ben-Lie­dern kann­te (Rauch-Haus-Song). Wir frag­ten in der Gegend vor einer Apo­the­ke eine Pun­ke­rin, die gera­de her­aus­kam, nach dem Weg. Als sie erfuhr, dass wir aus dem Osten waren, war sie so geplät­tet und erfreut, dass sie uns ihr Wech­sel­geld schenk­te. Wor­über sie dann selbst erstaunt war: „Ich hab noch nie jeman­dem zwei Mark geschenkt!“. Ich war dann mit ihr im Betha­ni­en. Das war inzwi­schen ein Wohn­pro­jekt vom Senat. Die Pun­ke­rin hat mir erzählt, dass sie da Strip­shows mit lau­ter Musik gemacht haben, um die Gren­zer abzulenken/zu ärgern. Ich habe sie noch ein paar Mal im Betha­ni­en besucht. Wir haben Kas­set­ten getauscht. Ich habe ihr Ölfar­be mit­ge­bracht und sie mir Tee besorgt (Im Osten gab es nur Gru­si­ni­schen Tee, auch Gru­sel­mi­schung genannt). Am Wochen­en­de nach Grenz­öff­nung war ich auch dort. Die Ossis ver­wüs­te­ten West-Ber­lin. Über­all über­quel­len­de Müll­ei­mer. Bana­nen­scha­len, Coca-Cola ver­schenk­te ihre Dosen palet­ten­wei­se vom Las­ter. Die Ossis stell­ten sich an. Kai­sers hat­te Las­ter mit Tüten mit Kaf­fee und Zeug drin. Die Ossis stell­ten sich an. Ich stand im Betha­ni­en am Fens­ter und mei­ne Bekann­te sag­te zu einem ande­ren Mann: „Oh, Gott, die Ossis kom­men.“ Der Mann war aus Isra­el und mein­te: „Deutsch­land wird in weni­ger als zwei Jah­ren wie­der­ver­ei­nigt sein.“ Mei­ne Ant­wort war: „Aber nie­mand will das!“. Er hat­te Recht, ich lag kom­plett daneben.

Wir gin­gen dann noch Begrü­ßungs­geld abho­len. Jede*r DDR-Bürger*in hat­te das Anrecht auf 100 West­mark. Wir waren in irgend­ei­ner Bank­fi­lia­le, aber deren Com­pu­ter­sys­tem war zusam­men­ge­bro­chen, weil alle Ossis Begrü­ßungs­geld haben woll­ten. Sie haben ein­fach so das Geld aus­ge­ge­ben und einen Ver­merk im Per­so­nal­aus­weis gemacht, damit die Men­schen das Begrü­ßungs­geld nicht ein zwei­tes Mal abho­len konn­ten. Man­che haben dann ihren Aus­weis ver­lo­ren oder mit dem Pass, den sie spä­ter bean­tragt haben, noch ein­mal das Geld abgeholt.

In Wiki­pe­dia steht dazu Folgendes:

Als nach dem Mau­er­fall alle DDR-Bür­ger in die Bun­des­re­pu­blik und nach West-Ber­lin rei­sen konn­ten, führ­te dies zu erheb­li­chen logis­ti­schen Pro­ble­men. Es kam kurz­zei­tig zu chao­ti­schen Sze­nen, so am ers­ten Mon­tag nach der Mau­er­öff­nung vor der Spar­kas­se in der Bad­stra­ße in Ber­lin-Gesund­brun­nen, am Moritz­platz in Ber­lin-Kreuz­berg oder am Zoo­lo­gi­schen Gar­ten in Ber­lin-Tier­gar­ten, als jeweils bis zu 10.000 DDR-Bür­ger gleich­zei­tig vor den Aus­zah­lungs­stel­len Schlan­ge stan­den, der Ver­kehr total zusam­men­brach und Poli­zei, Feu­er­wehr und Ret­tungs­diens­te auf­fuh­ren, um die Lage unter Kon­trol­le zu bringen.

Wiki­pe­dia­ein­trag zu Begrüßungsgeld

Bei uns lief es rela­tiv geord­net ab. =:-)

Abends war ich zurück. Fried­rich­stra­ße. Der S‑Bahnhof war voll. Gro­ßes Geschie­be. Ich hat­te Angst, dass ich nicht mehr zurück­kom­men wür­de. Plötz­lich ging irgend­wo eine gro­ße Tür in einer Wand auf und wir waren alle wie­der im Osten. Ein tol­ler Tag und ich war froh, wie­der zu hau­se zu sein mit der Aus­sicht, irgend­wann mal einen Rei­se­pass zu bekom­men. Es ging dann alles sehr schnell ….

Ausstellung: „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR.“

Ein Arti­kel in der taz über eine Aus­stel­lung im jüdi­schen Muse­um beginnt mit der Unter­über­schrift: „Jüdi­sche Lin­ke waren in der DDR will­kom­men. Obwohl sie ab 1933 vor den Nazis geflüch­tet waren, wur­den sie in der DDR bald anti­se­mi­tisch dis­kri­mi­niert.“ Die­se Kurz­zu­sam­men­fas­sung ist das, was vie­le Leser*innen als ein­zi­ges lesen. Sie ist falsch.

Hier eini­ge Passagen:

Die Geschich­te der Zadeks war kein Ein­zel­fall. Gemes­sen an der gerin­gen Zahl der in Sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne und in der DDR leben­den Jüdin­nen und Juden waren die­se über­pro­por­tio­nal oft in Füh­rungs­po­si­tio­nen ver­tre­ten. Das änder­te sich, als man 1948 damit begann, mas­si­ve Kon­trol­len aller Par­tei­mit­glie­der und Funk­ti­ons­trä­ger durchzuführen.

Hier wird zuerst fest­ge­hal­ten, dass Jüd*innen will­kom­men waren und dass sie, da es sich ja auch um ver­trau­ens­wür­di­ge Remigrant*innen han­del­te, in füh­ren­de Posi­tio­nen ein­ge­setzt wurden.

Dann schreibt Jens Win­ter von sta­li­nis­ti­schen Säuberungen:

Vor allem die „West­emi­gran­ten“ gerie­ten so ins Visier der Par­tei. Als West­emi­gran­ten bezeich­ne­te man die­je­ni­gen, die vor dem Natio­nal­so­zia­lis­mus zunächst in den Wes­ten geflo­hen oder in west­li­che Kriegs­ge­fan­gen­schaft gera­ten waren. Allein der Umstand der West­emi­gra­ti­on genüg­te, um in Ver­dacht zu gera­ten, ein „impe­ria­lis­ti­scher“ oder „ame­ri­ka­ni­scher Agent“ zu sein. Reich­te das zur Stüt­zung einer Ankla­ge nicht aus, warf man den Per­so­nen auch noch „Trotz­kis­mus“ oder „Zio­nis­mus“ vor.

Ohne Jüdin­nen und Juden expli­zit als Fein­de zu benen­nen, wur­den die­se de fac­to oft­mals zu den Opfern der bizar­ren Rei­ni­gungs­ri­tua­le, die wegen ihrer Eigen­lo­gik im Grun­de unab­schließ­bar waren.

Hier wird es inter­es­sant. Die Jüd*innen wur­den nicht als Fein­de benannt, was dar­an lie­gen könn­te, dass sie nicht als sol­che wahr­ge­nom­men wur­den. Und da es bei den Säu­be­run­gen auch um den Unter­schied zwi­schen Ost- und Westemigrant*innen ging (Osten = Mos­kau = gut und ver­trau­ens­wür­dig, Wes­ten = kapi­ta­lis­tisch und dubi­os), waren eben Jüd*innen, die aus dem Wes­ten zurück­ka­men in der Zeit der Säu­be­run­gen einem Gene­ral­ver­dacht aus­ge­setzt, so wie Nicht-Jüd*innen auch. 

Auch Ger­hard Zadek wur­de 1952 nach der Auf­lö­sung des Amts für Infor­ma­ti­on nach Meck­len­burg ver­setzt. Zu die­sem Zeit­punkt leb­te er gera­de erst fünf Jah­re wie­der in Deutsch­land. In Meck­len­burg soll­te er von nun an stell­ver­tre­tend das SED-Bezirks­or­gan Freie Erde lei­ten – eine Degra­die­rung. Als er 1953 trotz sei­nes Stu­di­ums auch noch Gie­ße­rei­ar­bei­ter wer­den soll­te, ver­wei­ger­te er sich. Er sat­tel­te um, stu­dier­te Patent­in­ge­nieur­we­sen und wur­de anschlie­ßend Direk­tor des VEB Schwer­ma­schi­nen­baus. Ali­ce Zadek wur­de zur Schu­lungs­lei­te­rin für die Natio­na­le Front herabgesetzt.

Die­se Pas­sa­ge zeugt von einer Unkennt­nis der DDR. In Ungna­de Gefal­le­ne wur­den nicht Direk­tor des VEB Schwer­ma­schie­nen­baus. Das war eine ver­ant­wor­tungs­vol­le Posi­ti­on und letzt­end­lich eine Reha­bi­li­ta­ti­on. Wenn es einen irgend­wie gear­te­ten struk­tu­rel­len Anti­se­mi­tis­mus gege­ben hät­te, wäre Ger­hard Zadek raus gewe­sen und nicht Direk­tor. Genau­so wenig wird man zur Schu­lungs­lei­te­rin für die Natio­na­le Front. Das wur­den nur voll­stän­dig ins Sys­tem inte­grier­te Personen.

Auch waren nicht aus­schließ­lich Jüdin­nen und Juden von den Säu­be­run­gen betrof­fen, jedoch häu­fig. Oste­mi­gran­ten blie­ben dage­gen in der Regel ver­schont, auch wenn sie jüdisch waren.

Hier schreibt Jens Win­ter es selbst. Ger­hard und Ali­ce Zadek waren nach Lon­don emi­griert und als West­emi­gran­ten ver­däch­tig. Der Arti­kel ist, wie vie­le, ten­den­zi­ös mit einer irre­füh­ren­den Über­schrift. Die wil­li­ge Leser*in kann die Details aber immer­hin im Text fin­den und sich dann über die Wider­sprüch­lich­keit wundern. 

In der Aus­stel­lung im Jüdi­schen Muse­um kom­men Par­tei­kon­troll­ver­fah­ren und ihre Eigen­lo­gik lei­der zu kurz. Dabei wäre es sinn­voll gewe­sen, gera­de hier genau­er hin­zu­se­hen, um ein Bild von der Viel­ge­stal­tig­keit des Anti­se­mi­tis­mus zu ver­mit­teln. Auch hät­te das The­ma die Mög­lich­keit gebo­ten, die­se in die­ser Form spe­zi­fi­sche his­to­ri­sche Ver­bin­dung von Kom­mu­nis­mus und Anti­se­mi­tis­mus aufzuzeigen.

Wie schon in einer ers­ten Bespre­chung durch einen ande­ren Autor wirft der Autor die­ses Arti­kels dem Jüdi­schen (!!) Muse­um vor, nicht noch mehr Anti­se­mi­tis­mus gefun­den zu haben. Viel­leicht liegt es ein­fach dar­an, dass es ihn abge­se­hen von den sta­li­nis­ti­schen Pro­zes­sen in den 50er Jah­ren nicht gab.

Max Kaha­ne wird ange­spro­chen, aber es wird glatt unter­schla­gen, wie Max Kaha­nes Leben nach der Ablö­sung 1952 im Zusam­men­hang mit den Pro­zes­sen in der CSSR wei­ter ver­lief. Max Kaha­ne war ganz oben mit dabei. Er hat­te 1949 ADN gegrün­det. Nach 1952 hat er im Aus­land Pro­zes­se beglei­tet (Eich­mann), war Lei­ter des NDs und somit die rötes­te Socke im gan­zen Land. Wiki­pe­dia lis­tet die fol­gen­den Aus­zeich­nun­gen auf:

  • 1956: Hans-Beim­ler-Medail­le der DDR – als ehe­ma­li­ger Kämp­fer der Inter­na­tio­na­len Brigaden
  • 1959: Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den der DDR (Sil­ber)
  • 1961: Franz-Meh­ring-Ehren­na­del des Ver­ban­des der Jour­na­lis­ten der DDR
  • 1970: Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den der DDR (Gold)
  • 1974: Ehren­span­ge zum Vater­län­di­schen Verdienstorden

In mei­nem Bei­trag „Der Ossi und der Holo­caust“ gebe ich eine Lis­te von jüdi­schen Per­so­nen an, die in der DDR höchst ange­se­hen waren und in Kul­tur, Wis­sen­schaft oder Poli­tik wich­ti­ge Posi­tio­nen innehatten.

Die Sache mit dem Anti­se­mi­tis­mus in der DDR ist Quatsch. Die DDR all­ge­mein war anti­re­li­gi­ös. Christ*innen konn­ten in der SED kei­ne Kar­rie­re machen, weil Reli­gi­on als Opi­um für’s Volk galt. Das galt nicht für Jüd*innen, wobei die meis­ten ohne­hin nicht reli­gi­ös waren. Die Hal­tung zu Isra­el war kri­tisch, weil Isra­el im ande­ren Block war. Ich weiß, dass es man­chen schwer fällt, das aus­ein­an­der­zu­hal­ten, aber aus einer kri­ti­schen Hal­tung gegen­über Isra­el von einem Ost­block­staat folgt nicht unbe­dingt Antisemitismus.

Im Arti­kel wird eine Sen­dung im Deutsch­land­funk zitiert. Zwei Braschs (Mari­on, Lena) unter­hal­ten sich mit Peter Kaha­ne. Mari­on Brasch berich­tet, wie sie als Jung­pio­nier 1974 den PLO-Chef Yas­sir Ara­fat am Wer­bel­lin­see begrüßt hat. Ihre Mut­ter mein­te: „Wenn der wüss­te, dass Du Jüdin bist.“. Für mich ist das ein wei­te­res Zei­chen dafür, dass das Jüdisch­sein in der DDR über­haupt kei­ne Rol­le gespielt hat. Es war für den Staats­ap­pa­rat kein Pro­blem ein Kind aus einer jüdi­schen Fami­lie den Chef der Paläs­ti­nen­si­schen Befrei­ungs­or­ga­ni­sa­ti­on begrü­ßen zu las­sen. Die Fami­lie Brasch war sehr bekannt (der Vater Horst Brasch war Kul­tur­mi­nis­ter) und jeder wuss­te, dass es sich um eine jüdi­sche Fami­lie han­del­te, also war es auch den zustän­di­gen Orga­nen bekannt, wer da wen begrüßte.

Quellen

Hol­ler­sen, Wieb­ke. 2023. Jüdisch in der DDR: Eine Rei­se zu den „kaputt­ge­gan­ge­nen Träu­men“ der Eltern. Ber­li­ner Zei­tung. Ber­lin. (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/juedisch-in-der-ddr-eine-reise-zu-den-kaputt-gegangenen-traeumen-der-eltern-im-juedischen-museum-berlin-li.386242) 06.09.2023

Israel vs. Gaza

Israel

Isra­el ist ein schö­nes Land. Ich war zwei­mal zu Work­shops dort in Hai­fa. Ein­mal 2006 und ein­mal 2015. 2006 sind wir mit dem Bus zum See Gene­za­reth gefah­ren. Ich habe die Orte gese­hen, an denen der Jude Jesus Chris­tus 5.000 Men­schen gespeist und diver­se ande­re Wun­der voll­bracht hat.

Ich war auch eini­ge Tage in Jeru­sa­lem. Eine wun­der­bar ver­rück­te Stadt. Sie ist wich­tig für unglaub­lich vie­le Religionen.

Kla­ge­mau­er in Jeru­sa­lem, 2015

Wenn man Bus fährt sit­zen neben einem 18jährigen in Zivil­klei­dung mit gro­ßen auto­ma­ti­schen Geweh­ren in der Hand.

Ich habe eine Freun­din in Isra­el und einen guten Kol­le­gen. Die Freun­din hat­te auch den Work­shop 2015 orga­ni­siert. Ich war danach mit ihr und einem Kol­le­gen am Toten Meer und wir haben Masa­da besucht. Masa­da ist eine Fes­tung auf einem Tafel­berg. Umge­ben von Wüste. 

Blick auf die Gegend um Masa­da vom Fes­tungs­berg aus. Man sieht Res­te der Befes­ti­gungs­a­nal­gen der Römer. 2015

Masa­da war lan­ge der Ort, an dem die neu­en Rekrut*innen der israe­li­schen Armee ver­ei­digt wur­den. Das wur­de dann irgend­wann abge­schafft, weil die Mas­sen­selbst­mord­ge­schich­te der jüdi­schen Kämp­fer, die die­se Fes­tung gegen die Römer ver­tei­digt hat­ten, nicht so ganz zum gegen­wär­ti­gen Selbst­ver­ständ­nis der Armee passte.

Wir besuch­ten eine Oase in der Nähe von Masa­da. Was­ser. Leben.

Der Vater mei­ner Schwie­ger­mut­ter hat einem Juden das Leben geret­tet. Er hat ihm ein Zug-Ticket durch die Sowjet­uni­on nach Wla­di­wos­tok gelöst. Von dort floh er über Japan in die USA. Mit­hil­fe mei­nes israe­li­schen Kol­le­gen konn­te ich sei­nen Nef­fen 2006 in Herz­lia aus­fin­dig machen. Mein Schwa­ger hat ihn dann in Isra­el besucht.

Gaza

Ich habe eine Kol­le­gin, deren Mann aus Gaza kommt. Die bei­den haben einen Sohn. Mei­ne Kin­der haben mit ihm gespielt.

Gaza ist schon län­ger von Isra­el abge­rie­gelt. Es gibt dort nicht genü­gend Was­ser. Amnes­ty Inter­na­tio­nal hat das im Juni 2022 beschrie­ben (AI, 2022). AI erklärt die Lage der natür­li­chen Was­ser­vor­kom­men und die Ver­tei­lung des Was­sers aus dem See Gene­za­reth. 25% der Krank­hei­ten in Gaza rüh­ren von der man­geln­den Was­ser­ver­sor­gung her. Mehr als die Hälf­te der Kin­der lei­den unter Durchfallerkrankungen.

Deutsch­land leis­tet Ent­wick­lungs­hil­fe im Gaza-Strei­fen. Was­ser­wer­ke, Klär­wer­ke wer­den gebaut (BMZ, 05/2023).

Nach den unglaub­lich bru­ta­len Über­fäl­len der Hamas, hat Isra­el nun zeit­wei­lig Blo­cka­den von Was­ser­zu­fuhr und Strom sowie Treib­stoff ver­hängt. Strom oder Treib­stoff braucht man für Pum­pen und Meerwasserentsalzungsanlagen.

Wir hat­ten neu­lich einen Strom­aus­fall. Mei­ne Toch­ter sag­te danach auch zu Gaza: Sie wüss­te über­haupt nicht, was sie ohne Strom machen soll­te. Der Strom­aus­fall hat die Netz­frei­schal­tung in mei­nem Zim­mer geschrot­tet, so dass ich eine Woche im Zim­mer kei­nen Strom hat­te und Ver­län­ge­rungs­ka­bel dort­hin legen muss­te. Aber das alles, ein Leben ohne Com­pu­ter oder Han­dy ist nichts im Ver­gleich zu einem Leben kom­plett ohne Strom. Kran­ken­häu­ser, Was­ser­pum­pen, Kli­ma­an­la­gen funk­tio­nie­ren nicht mehr und das inmit­ten zer­stör­ter Häu­ser, flie­hen­der Men­schen usw. Letzt­end­lich sind in sol­chen Situa­tio­nen Tele­fo­ne auch von ande­ren Bedeu­tung als hier bei uns, wo sie im Wesent­li­chen der Zer­streu­ung dienen.

Hört auf zu streiten!

Wir sind mit einem Paar befreun­det, das sich gele­gent­lich strei­tet. Wir haben neu­lich solch einen Streit mit­er­lebt. Das Paar hat einen Sohn. Die­ser rief mit­ten im Streit: „Hört auf zu strei­ten! Ihr seid bei­de Scheiße!“

Das beschreibt die Situa­ti­on ganz gut, den­ke ich. Und so sit­ze ich in mei­nem Zim­mer, lese die Zei­tung, schaue Nach­rich­ten und drei­mal am Tag ste­he ich auf und schreie: „HÖRT AUF ZU STREITEN! IHR SEID BEIDE SCHEISSE!“ Es hört mich niemand.

So, hier ist der Post zu Ende. Aber wie immer gibt es noch Gefun­de­nes und Nach-Gedachtes.

Anhang

The Enshittenment

Sieg der Vernunft

Die Musi­ker von Knor­ka­tor sind sehr ernst­haf­te Men­schen, die in einer Spaß­band arbei­ten. In den ver­gan­ge­nen Jah­ren haben sie immer wie­der kom­ple­xe The­men wie Glück, Wohl­stand, Fort­schritt, Reich­tum, Mil­li­ar­dä­re, Kli­ma­ka­ta­stro­phe und Krieg the­ma­ti­siert. Sieg der Ver­nunft ist von 2022 und passt auch zum Isra­el-Hamas-Kon­flikt wie die Faust aufs Auge.

Literatur

Bun­des­mi­nis­te­ri­um für wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit und Ent­wick­lung. 2023. Schutz unse­rer natür­li­chen Lebens­grund­la­gen mit einem Fokus auf Was­ser: Abwas­ser­ma­nage­ment Bes­se­re Infra­struk­tur im Was­ser­sek­tor. (https://www.bmz.de/de/laender/palaestinensische-gebiete/weiteres-engagement-17822) 30.05.2023

Drey­fus, Tomer. 2023. Schwarz-wei­ßer Naher Osten. taz, 21.10.2023, S. 15. Ber­lin. (https://www.taz.de/!5965024)

Rei­mann Graf, Manue­la. 2022. Besetz­tes Was­ser. AMNES­TY-Maga­zin. Bern. (https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty/publikationen/magazin-amnesty/2022–2/besetztes-wasser)

Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten

So, nun gibt es etwas Neu­es. Die Ossis bräuch­ten doch mal ein 1968, um mit ihren Eltern dar­über zu reden, was die so wäh­rend der DDR-Zeit gemacht hät­ten. 1968 wird auch immer wie­der im Zusam­men­hang mit der Auf­ar­bei­tung des Faschis­mus erwähnt. Es wird behaup­tet, dass dar­über im Osten genau so wenig wie im Wes­ten gespro­chen wur­de und dass das eben dar­an läge, dass es im Osten kein 1968 gege­ben hät­te. Das ist Quatsch bzw. eine Lüge bzw. eine quat­schi­ge Lüge. Ich habe das aus­führ­lich in mei­nem Blog-Post zum Umgang mit dem Holo­caust in der DDR nach­ge­wie­sen: Im Osten wur­de in der Schul­bil­dung, mit­tels Brief­mar­ken, Denk­mä­lern, Stra­ßen­nah­men, Schul­na­men usw. auf die jüdi­schen Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus hin­ge­wie­sen und zwar schon seit kurz nach dem Krieg, als es den Begriff Holo­caust noch gar nicht gab. Es gab über 1000 Bücher zum The­ma und über 1000 Fil­me. Das alles ist im Prin­zip bekannt und gut doku­men­tiert durch zwei Bücher und eben auch die­sen Blog-Bei­trag, den es ja nun auch schon seit 2019 gibt. Jetzt sind zwei Bücher erschie­nen. Eins von einer Frau aus dem Wes­ten, eins von einer Frau, die 1986 also drei Jah­re vor der Wen­de im Osten gebo­ren wur­de. Sie schreibt über eine Fami­lie in der Kin­der Gewalt aus­ge­setzt sind. Dar­aus wer­den dann diver­se Schluss­fol­ge­run­gen gezo­gen. Dar­über wie der Ossi so ist, dass es in den Fami­li­en Gewalt gab und letzt­end­lich ergibt sich wie­der die Erklä­rung dafür, war­um die Ossis so schei­ße sind.

Zwei Fra­gen hät­te ich an Euch, lie­be Wes­sis. War­um glaubt Ihr, mir mein Leben erklä­ren zu dür­fen? Woher nehmt Ihr die Gewiss­heit nur irgend­wie annä­hernd ver­ste­hen zu kön­nen, wie das war? Ihr regt Euch fürch­ter­lich drü­ber auf, wenn ein Kind mit Feder­schmuck zum Fasching geht, Aus­druck gro­ßer Bewun­de­rung für die ame­ri­ka­ni­schen Urein­woh­ner, oder wenn ein Kind im Kimo­no kommt. Aber Ihr kommt ange­rit­ten und wollt einem Fünf­tel der Lan­des­be­völ­ke­rung erklä­ren, wie es damals in deren Land war? War­um? Weil Ihr die­sel­be Spra­che sprecht? Ich sag jetzt jedes Mal, wenn Ihr wie­der so einen Arti­kel ver­fasst habt, laut: India­ner. Drei Mal! India­ner, India­ner, India­ner. So, dit zeckt, wa? 

Ihr habt die DDR über­nom­men. Die ahnungs­lo­sen Ossis haben sich Euch in die Arme gewor­fen. Die Bür­ger­be­we­gung woll­te es mehr­heit­lich nicht, aber die Mehr­heit woll­te es schon. Nun isses so wie es ist: Die Men­schen sind arbeits­los gewor­den, die Indus­trie wur­de abge­wi­ckelt, ver­schenkt oder zer­stört. Wissenschaftler*innen wur­den ent­las­sen. Es blei­ben ein paar still vor sich hin­blü­hen­de Land­schaf­ten. Mit Män­ner­über­schuss, komi­scher Alters­struk­tur, weil alle, die konn­ten, in den Wes­ten zum Arbei­ten gegan­gen sind. Und jetzt kommt Ihr an und wollt irgend­wie her­aus­fin­den, war­um wir so komisch sind? Ihr ver­sucht das an einer Zeit fest­zu­ma­chen, die 34 Jah­re zurück­liegt und nur 40 Jah­re lang war? Klingt irgend­wie merk­wür­dig, zumal die ent­schei­den­de Zeit, die mit den größ­ten Trans­for­ma­tio­nen und den größ­ten Brü­chen ja für alle noch leben­den Ossis wohl die Wen­de 1989 sein dürfte.

Gewalt/Keine Gewalt

Anne Rabe ver­ar­bei­tet ihre Gewalt­er­fah­run­gen in einem Roman. Sie wur­de 1986 gebo­ren und war also zur Wen­de drei Jah­re alt. Ich weiß nichts über die Fami­lie und was da aus der DDR noch mit­ge­kom­men ist, aber die Eltern dürf­ten vom Nach­wen­de­cha­os beein­flusst gewe­sen sein, das natür­lich ein zusätz­li­cher Stress­fak­tor für alle war und even­tu­el­le Nei­gun­gen zu Gewalt ver­stärkt haben könn­te. Aus mei­nem Schul­um­feld sind mir kei­ne Fäl­le von Gewalt in Fami­li­en bekannt. Ich habe vor zwei Jah­ren von einer Bekann­ten von Gewalt in ihrer Fami­lie erfah­ren, aber das jetzt als typisch für den Osten ein­zu­ord­nen, wäre kom­plett verfehlt. 

Dirk Knipp­hals, gebo­ren 1963, in Kiel und Ham­burg stu­diert, also wohl aus dem Wes­ten, schreibt:

Die Pri­vat­heit, auch die Fami­lie waren kei­ne Schutz­räu­me, die dem Zugriff des Regimes ent­zo­gen waren. Es gab den Über­bau, für eine bes­se­re, gerech­te­re anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Welt zu strei­ten, und die Eltern der Ich-Erzäh­le­rin Sti­ne glau­ben in dem Roman unbe­dingt dar­an – und zugleich fehl­te die Mög­lich­keit, inner­halb der Fami­lie nahe Bezie­hun­gen zwi­schen der Eltern- und der Kin­der­ge­ne­ra­ti­on auf­zu­bau­en. Das macht das indi­vi­du­el­le Schick­sal, das von Anne Rabe geschil­dert wird, all­ge­mein inter­es­sant. Es trifft auf vie­le Fami­li­en der DDR zu.

Dirk Knipp­hals, Roma­ne von Char­lot­te Gneuß und Anne Rabe: Was hast du vor 1989 gemacht?, taz, 16.10.2023

Mit Ver­laub, das ist ein­fach Quatsch. Vie­le Leu­te haben sich aus­ge­klinkt und ihr Ding gemacht. Es war klar, dass die Sta­si ver­sucht hat, alles zu unter­wan­dern, was irgend­wie dem Sys­tem gefähr­lich wer­den konn­te. Man muss­te dann damit rech­nen, dass die Sta­si irgend­wo zuhört, aber man konn­te eben doch sein Ding machen. Ich habe in den 70ern West-Bücher gele­sen (Comics und Sim­mels Es muss nicht immer Kavi­ar sein), von Freun­den geborgt. Ich habe 1988 Dia­lek­tik ohne Dog­ma von Robert Have­mann und ein Buch von Rudolf Bah­ro von mei­nem Deutsch­leh­rer geborgt bekom­men. Mein Leh­rer war sogar in der Par­tei, aber irgend­wie trotz­dem so eine Art Dissident. 

Mein Leh­rer 2017 mit dem Buch Stirb nicht im War­te­raum der Zukunft über den Punk-Unter­grund im Osten, das ich ihm geschenkt hat­te. Er war mit dafür ver­ant­wort­lich, dass bis auf einen Jun­gen aus mei­ner Klas­se alle „frei­wil­lig“ drei Jah­re zur Armee gegan­gen sind. Er hat sich für eine Pun­ke­rin ein­ge­setzt, die von unse­rer Schu­le flie­gen soll­te. Ich war im Okto­ber 1989, drei Jah­re nach mei­ner Schul­zeit, mit ihm auf einem Punk-Kon­zert in der Wer­ner-See­len­bin­der-Hal­le, bei dem Die Fir­ma und Die Skep­ti­ker auf­tra­ten. Die Fir­ma mit Trans­pa­ren­ten vom Neu­en Forum. Ich habe mei­nen Leh­rer noch oft getrof­fen und wir haben geredet.

Und die meis­ten DDR-Men­schen waren ein­fach unpo­li­tisch, sind nicht ange­eckt und haben sich ins Pri­va­te zurück­ge­zo­gen. Natür­lich gab es da Pri­vat­heit. Und woher nimmt Dirk Kipp­hals die Gewiss­heit, dass irgend­et­was auf vie­le Fami­li­en zutrifft. India­ner, India­ner, India­ner! Echt, wenn Ihr so was behaup­tet, möch­te ich Quel­len. Unter­su­chun­gen. Und als Sprach­wis­sen­schaft­ler weiß ich auch, dass „vie­le“ vom Kon­text abhängt. Drei? Drei Mil­lio­nen? Mehr als im Wes­ten? 15 Millionen?

Zur Gewalt in der DDR hier noch fol­gen­des Zitat vom unver­däch­ti­gen Bay­ri­schen Rundfunk:

In der DDR wur­de in anti­fa­schis­ti­schem Selbst­ver­ständ­nis die Prü­gel­stra­fe an Schu­len 1949 abge­schafft, als „Relikt inhu­ma­ner Dis­zi­pli­nie­rungs­me­tho­den des NS-Regimes“ – wäh­rend in West­deutsch­land der Bun­des­ge­richts­hof Leh­rern noch 1957 ein „gene­rel­les Gewohn­heits­recht“ zum Prü­geln zusprach.

In den bun­des­deut­schen Län­dern wur­de die Prü­gel­stra­fe erst 1973 ver­bo­ten, Bay­ern schaff­te sie als letz­tes Bun­des­land 1983 ab – ein Ver­dienst der 68er-Bewe­gung und deren Wunsch nach gewalt­frei­er Erzie­hung. Auch die Schü­ler selbst for­der­ten damals eine ande­re Pädagogik.

Bay­ri­scher Rund­funk: Prü­gel­stra­fe in Deutsch­land – Ein his­to­ri­scher Rück­blick, 04.09.2022

In mei­ner POS gab es den Che­mie­leh­rer Herr Keil, der mit dem Schlüs­sel­bund warf. Das hät­te ins Auge gehen kön­nen. Nie­mand hat jeman­den geschlagen.

Im pri­va­ten Bereich wur­de in der BRD das Prü­geln übri­gens erst 2000 ver­bo­ten, weil die BRD eine UN-Vor­ga­be umset­zen muss­te. Ej, Mann! Und da kommt Ihr uns mit der Gewalt in der DDR wegen eines repres­si­ven Sys­tems? Papa gibt mal ne Schel­le, war im Wes­ten ganz nor­mal. Übri­gens: gro­ße Errun­gen­schaft: Ab 1957 durf­te Mama auch ganz offi­zi­ell mit zulan­gen. Vor­her war das dem Herr im Hau­se vorbehalten:

In Deutsch­land sprach der Bun­des­ge­richts­hof Leh­rern noch 1957 ein „gene­rel­les Gewohn­heits­recht“ zum Prü­geln zu. Ein Jahr spä­ter wur­den Män­ner und Frau­en gleich­ge­stellt. Nun durf­ten auch Müt­ter Schlä­ge aus­tei­len, vor­her war das Züch­ti­gungs­recht den Vätern vorbehalten.

Deutsch­land­funk Kul­tur: Prü­geln ver­bo­ten: Vom lan­gen Kampf für die Kin­der­rech­te, 25.08.2019

Im sel­ben Bei­trag steht folgendes:

Wel­che Aus­wüch­se die­se Kin­der­feind­lich­keit auch nach dem Krieg noch her­vor­brach­te, zeig­ten die unhalt­ba­ren Zustän­de in vie­len Kin­der­hei­men bis Mit­te der 1970er-Jah­re. Das Unrecht wur­de erst 2006 durch das Buch „Schlä­ge im Namen des Herrn“ in sei­nem gan­zen Aus­maß publik. Mehr als eine hal­be Mil­li­on Kin­der in kirch­li­chen und staat­li­chen Hei­men wur­den allein in West­deutsch­land kör­per­lich und see­lisch schwer miss­han­delt. Aber auch in ande­ren euro­päi­schen Ländern.

Der Wes­ten hat das also ganz ohne Dik­ta­tur geschafft. Im Namen des Her­ren wur­den die Kin­der aus Barm­her­zig­keit ver­prü­gelt. Ja, ich weiß, es gab im Osten Jugend­werk­hö­fe, ich ken­ne auch jeman­den, der dort war und jetzt arbeits­un­fä­hig ist. Im Wes­ten waren aber auch nor­ma­le Hei­me und Kuren wohl nicht so schön, wie jetzt her­aus­kommt. Ich habe über Kuren im Osten und mei­ne Erfah­run­gen bereits geschrieben.

1968

Die Wes­sis fin­den, es müs­se doch eine Auf­ar­bei­tung der DDR-Zeit in den Fami­li­en geben, so wie es eine Auf­ar­bei­tung der Nazi-Zeit 1968 in der BRD gege­ben habe. Man muss nur kurz dar­über nach­den­ken, was das bedeu­tet, um die Unge­heu­er­lich­keit die­ses Ansin­nens zu ver­ste­hen. Es wird auch nicht bes­ser, wenn man das selbst wie Dirk Knipp­hals in sei­nem Arti­kel erwähnt. Deut­sche hat­ten Mil­lio­nen Juden bes­tia­lisch umge­bracht. Sie waren jahr­zehn­te­lang in einer Art Eupho­rie Hit­ler hin­ter­her­ge­tau­melt. Sie hat­ten alle flei­ßig ihre Arier­nach­wei­se zusam­men­ge­stellt, glaub­ten sie wür­den zur Her­ren­ras­se gehö­ren und woll­ten bes­se­re Men­schen züch­ten. Sie hat­ten einen zwei­ten Welt­krieg ange­fan­gen. Die Mehr­heit fand das groß­ar­tig! Die Mit­glieds­num­mern der NSDAP gin­gen über 10 Mil­lio­nen. Noch 1943 freu­te sich der Sport­pa­last auf den Tota­len Krieg, den Deutsch­land dann auch bekam.

Goeb­bels for­dert 1943 vor begeis­ter­ten Natio­nal­so­zia­lis­ten und Mili­tärs den tota­len Krieg.

Da muss man Fra­gen stellen!

Ich habe in der DDR gelebt. Es war eine Dik­ta­tur. Wir haben das in der Schu­le gelernt: die Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats. Die Sta­si hat­te ein rie­si­ges Über­wa­chungs­netz aus haupt­amt­li­chen und inof­fi­zi­el­len Mitarbeiter*innen instal­liert. Es war ein Über­wa­chungs­staat. Man konn­te dort nur leben, wenn man sich sag­te, dass es egal ist. Alle wuss­ten, dass alles irgend­wie bei der Sta­si lan­den konn­te. In den ers­ten Jah­ren nach dem Krieg wur­den Men­schen abge­holt und ver­schwan­den dann. Es gab auch spä­ter noch poli­ti­sche Gefan­ge­ne, die ein gel­bes Qua­drat auf dem Rücken hat­ten, damit man sie bes­ser erschie­ßen konn­te, soll­ten sie eine Flucht­ver­such unter­neh­men. (Sie wur­den dann aber doch gegen Apfel­si­nen ein­ge­tauscht.) Auch an der Mau­er wur­den Men­schen erschos­sen. Aber, hey, 6 Mil­lio­nen ver­gas­te, erschos­se­ne, an Krank­hei­ten in KZs gestor­be­ne oder ver­hun­ger­te Juden, Schrumpf­köp­fe, Lam­pen­schir­me aus Men­schen­haut sind ja wohl eine gaaa­anz ande­re Hausnummer.

Schrumpf­köp­fe und Men­schen­haut mit Täto­wie­run­gen im KZ Buchenwald

Wie soll­te denn Eurer Mei­nung nach eine Auf­ar­bei­tung aus­se­hen? Es ist eine Auf­ar­bei­tung direkt nach der Wen­de erfolgt. Die meis­ten Gräu­el­ta­ten sind bes­tens doku­men­tiert: in den Sta­si­un­ter­la­gen. Die Sta­si woll­te sie 1989 noch ver­nich­ten, Bürgerrechtler*innen konn­ten das zum größ­ten Teil ver­hin­dern. Mein Schwa­ger hat die geret­te­ten Akten in der Nor­man­nen­stra­ße bewacht. Jeder, der eine Sta­si­ak­te hat­te, konn­te Akten­ein­sicht bean­tra­gen. Vie­le haben das gemacht. Vera Wol­len­ber­ger hat erfah­ren, dass ihr Man sie bespit­zelt hat. Mein Chef hat erfah­ren, dass sei­ne Mut­ter Infor­ma­tio­nen über ihn an die Sta­si gelie­fert hat. Wir wis­sen das. Wir wis­sen auch, ob unse­re Eltern in der Par­tei waren oder nicht. Mei­ne waren nicht in der Par­tei. Wir wis­sen sel­ber, ob wir drei Jah­re zur Armee gegan­gen sind, um stu­die­ren zu kön­nen. Wir ken­nen Men­schen, die sich quer­ge­stellt haben und Schä­fer gewor­den sind, statt Mathe­ma­ti­ker. Ihrer Idea­le wegen. Wir ken­nen Men­schen, die vier Jah­re zur Armee gegan­gen sind, weil sie dann ein Jahr vor den Drei­jäh­ri­gen die Bewer­bung auf das Medi­zin­stu­di­um sicher hat­ten. Nie­mand, selbst die rötes­te Socke aus dem Osten war an einer indus­tri­el­len Aus­lö­schung eines Teils der Bevöl­ke­rung beteiligt.

Ich habe mit mei­nen Eltern schon zu DDR-Zei­ten über 1953 gere­det. Wir hat­ten Auf der Suche nach Gatt in der Schu­le. Ich habe sie gefragt, wie es bei ihnen war. Sie waren damals zehn Jah­re alt. Ihre Eltern, mei­ne Groß­el­tern haben sich nicht am Auf­stand betei­ligt. Schlimm? 

Die Mehr­heit der Men­schen in der DDR haben so ihr Leben gelebt, um den offi­zi­el­len Teil her­um. Den hat man soweit es ging aus­ge­blen­det. Ich war zum Bei­spiel bei vie­len Demos am ers­ten Mai. Das Erschei­nen dort war Pflicht. Ich fand die Demos immer groß­ar­tig, weil ich dort mei­ne Kum­pels aus ande­ren Schu­len wie­der­ge­trof­fen habe. Man ist hin­ge­gan­gen, hat sich so ver­hal­ten, dass der Klas­sen­leh­rer einen wahr­ge­nom­men hat und ist dann wie­der verschwunden.

Ich wüss­te nicht, was es außer den Sta­si­ak­ten noch auf­zu­ar­bei­ten gäbe. Für mich sieht die gesam­te Dis­kus­si­on mit 1968 + Gewalt nach Töpf­chen­theo­rie 2.0 aus. Erin­nert Ihr Euch noch? Der Kri­mi­no­lo­ge Pfeif­fer hat­te damals her­aus­ge­fun­den, war­um wir Ossis alle so anders sind: Weil wir alle im Kin­der­gar­ten neben­ein­an­der auf dem Töpf­chen geses­sen hat­ten. Nein? Ihr erin­nert Euch nicht? Dann lest mal den Osch­mann, er erin­nert Euch. 

Nachtrag 1

Char­lot­te Gneuß wur­de 1992 gebo­ren. Ihre Eltern haben im Osten gelebt und sind dann aus­ge­reist. Sie nutzt die Erfah­run­gen ihrer Eltern für den Roman. Das ist der zitier­te Aus­schnitt zum 1968 für die Ostgeschichte:

Ich glau­be, dass wir end­lich anfan­gen soll­ten, in unse­ren Fami­li­en Fra­gen zu stel­len. Wo wart Ihr damals? Was habt ihr vor 1989 gemacht? Ich glau­be, das fin­det nicht genug statt. Wir haben in Deutsch­land ein faschis­ti­sches Erbe, im Osten kommt noch die Gewalt­er­fah­rung bis 1989 hin­zu. Natür­lich müs­sen wir das ange­hen. Wir kön­nen doch nicht immer die Eman­zi­pa­ti­ons­er­fah­rung Ost gegen das Gewalt­ge­dächt­nis aus­spie­len, wir müs­sen das gleich­zei­tig den­ken, die Geschich­te muss in ihrer Kom­ple­xi­tät erzählt wer­den. Fort­schritt und Rück­schritt gehen Hand in Hand. Und ja, wir brau­chen ein 1968 für unse­re Ost­ge­schich­te, davon bin ich über­zeugt. Viel­leicht wird es irgend­wann hei­ßen: 2023, das war das Jahr, als die Kin­der und Enkel began­nen, Fra­gen zu stel­len, die ihre Vor­gän­ger nicht fra­gen woll­ten oder konnten.

Char­lot­te Gneuß im Inter­view mit der FAZ, 25.09.2023

Ich fin­de es völ­lig legi­tim, dass die Kin­der Fra­gen stel­len. Mei­ne begin­nen jetzt, sich lang­sam für die The­men zu inter­es­sie­ren, die ich ihnen schon län­ger nahe­zu­brin­gen ver­su­che. Viel­leicht gibt es Fra­gen, die ich mir nicht vor­stel­len konn­te. Mir fällt aber selbst bei gro­ßer Anstren­gung nichts ein. Ich weiß auch nicht, wel­che Gewalt­er­fah­run­gen sie meint. In der Zeit, in der ich auf­ge­wach­sen bin, gab es kei­ne Gewalt gegen DDR-Bürger*innen, von den Fäl­len, wo es gegen har­te Oppo­si­tio­nel­le ging, abge­se­hen. 99% der DDR-Bürger*innen dürf­ten kei­ne Gewalt­er­fah­run­gen haben. Weder als Han­deln­de noch als Leidende.

Oben habe ich mei­nen Leh­rer und das Fir­ma-Kon­zert erwähnt. Nach der Wen­de kam raus, dass Trötsch, der Sän­ger der Band Die Fir­ma, bei der Sta­si war. Er hat die Band nach der Sta­si benannt.

„Fir­ma“ war ein übli­cher infor­mel­ler Begriff für die Sta­si in der DDR. Tat­ja­na, die Sän­ge­rin, hat sich dann auch geoutet. Dar­über wur­de gespro­chen. Ein Inter­view mit der Firma/Freygang/Ichfunktion wur­de in der Sze­ne-Zeit­schrift NMI Mes­sit­sch veröffentlicht.

Inter­view mit der Firma/Freygang/Ichfunktion in der Sze­ne-Zeit­schrift NMI Mes­sit­sch, 5/92

Ich habe die Fir­ma foto­gra­fiert. Im CD-Book­let von Kin­der der Maschi­nen­re­pu­blik sind zwei Bil­der von mir. Ich habe mich mit Tat­ja­na getrof­fen und wir haben über die Sta­si-Geschich­te gespro­chen, über den Beruf ihres Vaters und dass sie sehr jung zur Sta­si gekom­men ist. So ähn­lich wie die Hel­din des Romans.

Wir haben gespro­chen. Dar­über wie das pas­sie­ren konn­te, wer sie ist, wer sie war. Die Fir­ma hat zu DDR-Zei­ten Lie­der über die Ver­wei­ge­rung des Mili­tär­diens­tes gesungen. 

Die Fir­ma: „Verweigert’s Mili­tär, verweigert’s Waf­fen-Tra­gen!“ in einer Auf­nah­me von 1992.

Auf Ver­wei­ge­rung stand Gefäng­nis. Zivil­dienst gab es nicht. Die Fir­ma war extrem wich­tig für eine gan­ze Sze­ne von Men­schen. Sie hat Men­schen Kraft gege­ben. Den­noch: Sie ist jetzt auch im Sta­si­mu­se­um in der Normannenstraße.

Alles ist im Prin­zip bekannt, alles wur­de bespro­chen. Nur hat es damals nie­man­den inter­es­siert oder es wur­de eben ver­ges­sen. Es ist nicht so, dass wir Lei­chen im Kel­ler hät­ten. Ich kann ver­ste­hen, dass Men­schen, die heu­te auf­wach­sen, Fra­gen haben und ich wäre auch jeder­zeit Bereit als Zeit­zeu­ge zu berich­ten. Ich war vor eini­gen Jah­ren mal in der Schu­le einer befreun­de­ten Leh­re­rin in Gel­sen­kir­chen. Aus dem Infor­ma­ti­ons­be­darf der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on jetzt aber abzu­lei­ten, wir müss­ten etwas auf­ar­bei­ten und wir wären so komisch, weil da etwas Unver­ar­bei­te­tes sei, ist ein­fach … Quatsch.

Nachtrag 2: Regelabfrage

Noch ein wei­te­rer Punkt zur Auf­ar­bei­tung: Für alle, die im öffent­li­chen Dienst arbei­ten woll­ten, gab es bis 2007 eine Regel­an­fra­ge beim Sta­si-Unter­la­gen-Archiv. Belas­te­te Per­so­nen wur­den nicht ein­ge­stellt. Kam bei Per­so­nen im öffent­li­chen Dienst her­aus, dass sie für die Sta­si tätig waren, wur­den sie ent­las­sen. Ich habe im April 2007 einen Ruf an die FU-Ber­lin bekom­men und woll­te zum 01.08. dort anfan­gen. Der Fach­be­reichs­lei­ter infor­mier­te mich, dass dar­aus wahr­schein­lich nichts wer­den wür­de, da die Regel­ab­fra­ge erst noch erfol­gen müs­se. Es sah so aus, als wür­de noch 18 Jah­re nach der Wen­de mein Leben nega­tiv beein­flus­sen. Dann wur­de aber gera­de noch recht­zei­tig die Regel­ab­fra­ge auf­ge­ho­ben, so dass die­ser Schritt im Ein­stel­lungs­ver­fah­ren weg­fiel und ich im August begin­nen konnte.

Der Punkt ist: Es gab staat­li­che vor­ge­schrie­be­ne Auf­ar­bei­tung für alle, die im öffent­li­chen Dienst arbei­ten woll­ten. Die Arbeits­grup­pe, in der ich nach der Wen­de gear­bei­tet habe, kam von der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten. Eini­ge Mit­glie­der der Grup­pe sind in die Indus­trie gegan­gen, weil ihnen klar war, dass sie die Regel­an­fra­ge nicht über­ste­hen wür­den. Wir wuss­ten, wer das war. 

Quellen

Decker, Kers­tin. 11.05.1999. Das Töpf­chen und der Haß. tages­spie­gel. Ber­lin. (https://www.tagesspiegel.de/kultur/das-toepfchen-und-der-hass/77844.html)

Der Anfang vom Ende

Heu­te vor 34 Jah­ren war Micha­el Gor­bat­schow in Ber­lin. Zum 40 Geburts­tag der DDR. Eine gute Bekann­te von mir, die heu­te mei­ne Frau ist, hat­te irgend­wann 1989 eine Woh­nung bekom­men und einen Ter­min für die Ein­wei­hung gesucht. Da der 7.10. ein Fei­er­tag war und nie­mand von ihren Freun­den zu irgend­wel­chen der offi­zi­el­len Fei­ern gehen wür­de, hat­te sie den 7.10. gewählt. Am 07. Mai 1989 fan­den in der DDR Kom­mu­nal­wah­len statt (Wiki­pe­dia-Ein­trag zu die­sen Wah­len). Die Bür­ger­be­we­gung orga­ni­sier­te zusam­men mit der Kir­che eine flä­chen­de­cken­de Prä­senz bei den Aus­zäh­lun­gen. Das war im Wahl­ge­setz der DDR so vor­ge­se­hen. Der Beschiss fand bei der Zusam­men­füh­rung der Wahl­er­geb­nis­se auf Stadt­be­zirks- bzw. Bezirks­ebe­ne statt, wo dann ein Wahl­er­geb­nis von 98,85% für die Kandidat*innen der Natio­na­len Front (SED + Block­par­tei­en) her­aus­kam. Mei­ne Schwes­ter war bei den Aus­zäh­lun­gen in Buch dabei. Dort waren 70% der Wähler*innen für die Block­par­tei­en. Von der Kunst­hoch­schu­le in Wei­ßen­see ist auch bekannt, dass nur 50% der Wähler*innen dafür waren. Seit dem 7. Juni gab es des­halb jeden Monat Pro­tes­te der Oppo­si­ti­on an der Welt­zeit­uhr am Alex­an­der­platz. Es war klar, dass es am 7.10. eine Ter­min­kol­li­si­on gab. Gor­bat­schow in der Stadt. 40 Jah­re DDR. Jubel­fei­ern mit ein paar Sach­sen, die zum Fei­ern her­an­ge­karrt wor­den waren.

Hon­ecker fei­er­te im Palast der Repu­blik. Andrej Herm­lin trat dort auf. Er hat Hon­ecker gese­hen, als die Pro­tes­te von drau­ßen drin­nen wahr­ge­nom­men wor­den waren. Hon­ecker saß allein an einem Tisch. Herm­lin wuss­te da schon, dass das das Ende der DDR war. (Bericht in der taz, 07.10.2009) Wir waren auf dem Weg nach Hellersdorf.

Vie­le der Par­ty­gäs­te, die Freun­de von der Jun­gen Gemein­de, kamen erst kurz vor Zwölf. Sie waren am Alex­an­der­platz gewe­sen. Sie berich­te­ten von Was­ser­wer­fern, Poli­zis­ten mit Schutz­hel­men. Ich wuss­te von den Was­ser­wer­fern, aber nie­mand hat­te sie je gese­hen. Im Ein­satz gese­hen. Poli­zis­ten mit Schutz­hel­men gab es nur im Westfernsehen.

Wir saßen um ein klei­nes Küchen­ra­dio und ver­such­ten irgend­wie Infor­ma­ti­on zu bekom­men. Jede hal­be Stun­de Nach­rich­ten: SFB. Rias. Wie eine klei­ne Ver­schwö­rung. Mit der letz­ten U‑Bahn ver­ließ ich Hel­lers­dorf und war gegen 1:30 Uhr Schön­hau­ser Allee. An der Geth­se­ma­n­e­kir­che war alles abge­sperrt. Eine Poli­zei­ket­te stand in der Star­gar­der. Ich hat­te Befürch­tun­gen, dass ich mei­ne Woh­nung nicht mehr errei­chen wür­de. Aber ich kam unbe­hel­ligt an LKWs und Strei­fen­wa­gen vor­bei, sah noch drei voll besetz­te Mann­schafts­wa­gen in die Gleim­stra­ße ein­bie­gen und war dann im ret­ten­den Haus­ein­gang ver­schwun­den. Ich war sehr froh, dass ich da durch­ge­kom­men war, denn ich war noch in Buch gemel­det und wie hät­te ich der Staats­ge­walt erklä­ren sol­len, dass ich „da hin­ten“ in einer besetz­ten Woh­nung wohnte?

Mein langer Weg zur „Stunde Null“

Die­ses Doku­ment von Mari­an­ne Mey­er-Krah­mer beschreibt die letz­ten Stun­den in Sip­pen­haft im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger und ihre Erfah­run­gen in der Zeit danach. Mari­an­ne Mey­er-Krah­mer war eins der Kin­der von Carl Goer­de­ler, Ober­bür­ger­meis­ter von Leip­zig. Gör­de­ler war am Atten­tat auf Hit­ler am 20. Juli 1944 betei­ligt und wur­de hin­ge­rich­tet. Frau Mey­er-Krah­mer hat die­ses Doku­ment Bekann­ten von mir gege­ben und es ist schließ­lich zu mir gelangt. Ich den­ke, sie hat sich die Mühe gemacht, die­se Erin­ne­run­gen auf­zu­schrei­ben, damit sie ver­brei­tet wer­den und die Ver­öf­fent­li­chung hier ist in ihrem Sin­ne. Ste­fan Mül­ler, 27.09.2023

Es gibt einen ähn­li­chen Bei­trag bei der Stif­tung 20. Juli. Dort fin­den sich wei­te­re Details aus der Zeit vor dem Atten­tat und von der Ver­haf­tung und noch ein Zitat von Gör­de­ler zu Plä­nen für ein Nach­kriegs­eu­ro­pa und zum The­ma Opti­mis­mus. Hier gibt es Details zum Unter­richt (Goe­the gegen ein Nazi-Männ­lich­keits­bild). 04.10.2023

Doku­ment von Mari­an­ne Mey­er-Krah­mer über ihre Stun­de Null

Als Ange­hö­ri­ge von Carl Goer­de­ler waren wir unmit­tel­bar nach dem 20. Juli 1944 in Sip­pen­haft genom­men wor­den: zunächst in Straf­ge­fäng­nis­sen, dann in ver­schie­de­nen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern in Haft gehal­ten, die Kin­der mei­nes älte­ren Bru­ders, (neun Mona­te und drei Jah­re alt), ihrer Mut­ter weg­ge­nom­men, an einen unbe­kann­ten Ort gebracht. – Ich selbst war damals 24 Jah­re alt, also erwach­sen und bewußt genug, um mich mit dem Kampf mei­nes Vaters gegen Hit­ler voll iden­ti­fi­zie­ren zu kön­nen. Im Sin­ne der Gesta­po haben wir, mei­ne Mut­ter und mei­ne drei über­le­ben­den Geschwis­ter, uns nie als unschul­di­ge Opfer gefühlt.

Wir waren zunächst im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Stutt­hof bei Dan­zig. Als die Rus­sen sich im Janu­ar 1945 näher­ten, wur­den wir nach Buchen­wald trans­por­tiert. Als sich dort die Ame­ri­ka­ner näher­ten, nach Dach­au. Und als sie im April in Bay­ern ein­zu­drin­gen began­nen, brach­te man uns in die Dolomiten.

Dachau – Abtransport

Wir wur­den nicht wie ande­re KZ-Häft­lin­ge zur Arbeit gezwun­gen, hat­ten es dadurch phy­sisch zwei­fel­los leich­ter. Durch die streng mit vier bewaff­ne­ten Wach­män­nern besetz­ten Eck­tür­me unse­res Zau­nes um die Son­der­ba­ra­cke waren wir jedoch völ­lig von jeder mensch­lich mit uns füh­len­den Umwelt abge­schlos­sen; kei­ne Nach­richt von außen über die Kin­der, unse­re alte Groß­mutter, den bedroh­ten Onkel Fritz, von des­sen Hin­rich­tung wir erst nach unse­rer Befrei­ung erfah­ren soll­ten. Ihn und mei­nen Vater soll­te wäh­rend der mona­te­lan­gen Haft nie ein Zei­chen der ihnen liebs­ten Men­schen erreichen.

Jede, auch nur zag­haf­te, Fra­ge an die Wach­mann­schaf­ten unter­lie­ßen wir bald, denn nur ein zyni­sches Ach­sel­zu­cken wäre die Ant­wort gewe­sen. Sie hat­te uns schon zu oft in neue Ängs­te gestürzt. Auch das bar­sche Wort „Abtrans­port“ kann­ten wir nur zu gut, um noch nach dem Wohin oder etwa unse­rer fer­ne­ren Zukunft zu fra­gen. Wir waren recht­los und vogelfrei.

Heu­te, nach­dem wir so viel von dem erlit­te­nen Leid der geschun­de­nen und in den Tod getrie­be­nen Häft­lin­ge und der Todes­ma­schi­ne von Ausch­witz wis­sen, stel­len sich unse­re Ängs­te und Demü­ti­gun­gen anders, beschei­de­ner dar. Aber mit­ten in der Aus­ge­setzt­heit unse­rer dama­li­gen Exis­tenz ver­moch­ten wir nicht zu relativieren.

Am 30. April 1945, laut war die ame­ri­ka­ni­sche Artil­le­rie zu hören, wur­den wir aus dem
Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Dach­au abtrans­por­tiert. – Unver­geß­lich hat sich mir die­ser Abend ein­ge­prägt. Heu­te erscheint er mir stell­ver­tre­tend für alle Not jener Tage.

Dies­mal waren die Fens­ter des Bus­ses nicht ver­hängt und die Wach­mann­schaf­ten spürbar ner­vös. – Wir fuh­ren in den sin­ken­den Tag. Die schräg ein­fal­len­de Son­ne beleuch­te­te mit schar­fen Strah­len eine gespens­ti­sche Sze­ne: Wir fuh­ren eine Stun­de lang, kilo­me­ter­lang, vor­bei an mar­schie­ren­den, nein, sich hin­schlep­pen­den Häft­lings­ko­lon­nen. Zahl­los schie­nen die­se abge­ma­ger­ten Elends­ge­stal­ten, zu Num­mern ent­wür­digt mit ihren kahl gescho­re­nen Köp­fen und in der grau­ge­streif­ten Häft­lings­klei­dung. Bis in den Bus hör­ten wir den har­ten Tritt ihrer Holz­schu­he, halb schlur­fend, halb marschierend.

Ein grau­sa­mer Wider­sinn lag in dem Bild: Mit­ten im Cha­os des Zusam­men­bruchs und der Auf­lö­sung waren sie noch unter dem Kom­man­do ihrer Bewa­cher in Rei­hen und Blocks orga­ni­siert und geord­net. Am Stra­ßen­rand lagen tote Häft­lin­ge, erschos­sen oder vor Schwä­che umge­kom­men. – Wohin ging der Weg für die anderen?

War es ein Marsch in die Frei­heit? Oder — im Ange­sicht der Frei­heit — zum Erschie­ßen: in den Tod? Todes­furcht und Hoff­nung auf Frei­heit hiel­ten auch uns in äußers­ter Span­nung. Und die­se Span­nung wird die See­len vie­ler Men­schen damals fast zer­ris­sen haben. Auf der Flucht, im sinn­lo­sen Kampf, in der Angst der Bombennächte.

Unser Bus fuhr dies­mal in einem Kon­voi mit drei ande­ren, deren Insas­sen uns unbe­kannt waren. (Nach der Befrei­ung erfuh­ren wir, daß es pro­mi­nen­te Häft­lin­ge wie Niem­öl­ler, Gene­ral Hal­der, der Prinz von Hes­sen u.a. waren.) Ein Füh­rungs­wa­gen mit SS-Offi­zie­ren war an der Spit­ze des Kon­vois. So sicher wir uns für den Augen­blick in unse­rem Bus füh­len konn­ten, so gab es die Sicher­heit und Gewiß­heit, am Leben zu sein, nur eben für den Augen­blick – wie so oft in die­ser Haftzeit.

Niederndorf – Befreiung

Da wir von Beginn unse­rer Haft an von jeder ver­läß­li­chen Nach­richt abge­schnit­ten waren, wuß­ten wir nicht, wie nahe das Kriegs­en­de schon war. Es mag Mit­ter­nacht gewe­sen sein, als uns Stim­men­ge­wirr aus dem Dahin­däm­mern auf­rüt­tel­te: Licht­strah­len gro­ßer Stab­lam­pen fuh­ren über unse­re Gesich­ter. Sol­da­ten waren zu erken­nen. Ver­dutzt, fast fröh­lich rie­fen sie zu uns her­ein: „Was machen hier Frau­en und Kin­der? Wollt ihr etwa noch über den Paß nach Süden? Von da kom­men wir doch! Zurück! Es geht zurück in die Hei­mat.“ – Es waren deut­sche Sol­da­ten, die von der ita­lie­ni­schen Front über den Bren­ner zurückfluteten.

Die Rufe ver­stumm­ten schnell, als die Sol­da­ten unse­re stren­ge Bewa­chung wahr­nah­men. Für uns war es aber die ers­te Begeg­nung mit frei­en Men­schen, wenn auch kein Zwie­ge­spräch. (Wir hat­ten Sprech­ver­bot.) Nun, wir wur­den nicht in den Süden gefah­ren, son­dern in schar­fem Bogen nach Osten; wie wir spä­ter erfah­ren soll­ten, ins öster­rei­chi­sche Pus­ter­tal. Es war schon Tag gewor­den, als unser Kon­voi in einem Wald­stück zum Ste­hen kam. Wir waren gewohnt, lan­ges War­ten hin­zu­neh­men. Hat­ten uns die fri­schen Stim­men aus der Außen­welt da oben auf dem Bren­ner­paß nicht Mut gemacht, eben nicht mehr alles hin­zu­neh­men? Jeden­falls bestürm­ten wir die bei­den jun­gen volks­deut­schen Wach­män­ner, uns wenigs­tens kurz ein­mal her­aus­zu­las­sen. Sie fühl­ten sich wohl schon recht hilf­los uns gegen­über, ver­stan­den sie doch kaum ihren Wacht­be­fehl bei die­sen Frau­en und jun­gen Men­schen, die ihnen völ­lig unge­fähr­lich erschie­nen sein müs­sen. So gaben sie nach. Zunächst such­te sich jeder von uns nur ganz rasch ein pri­va­tes Fleck­chen. Doch als wir uns wie­der zum Ein­stei­gen ver­sam­melt hat­ten, wur­den wir plötz­lich wider­spens­tig. Irgend­je­mand hat­te ent­deckt, daß der SS-Führungswagen fehl­te. Auch aus den ande­ren Wagen war man aus­ge­stie­gen; doch wir zöger­ten, Ver­bin­dung auf­zu­neh­men, nun doch noch im Gehor­sam gegen­über dem Ver­bot der Wach­män­ner. Nur woll­ten wir nicht sofort wie­der in den Bus. Wir „maul­ten“, wir hät­ten Hun­ger, hät­ten seit unse­rer Abfahrt aus Dach­au nichts mehr zu essen gehabt. Unser Eigen-Sinn wur­de des­to hef­ti­ger, je zöger­li­cher und ver­le­ge­ner die Wach­leu­te antworteten.

Heu­te – im Rück­blick – wür­de ich es eine Etap­pe auf dem Weg zur Stun­de Null nen­nen. daß sich spon­tan ein klei­ner Trupp von etwa fünf­zehn jun­gen Häft­lin­gen zusam­men­fand und trot­zig erklär­te, wir wür­den uns nun selbst um etwas zu essen küm­mern. Wir konn­ten sehen, daß die Stra­ße am Ende aus dem Wald­stück hin­aus­führ­te; dort­hin woll­ten wir gehen. Wir bra­chen auf, kein Wach­mann hob das Gewehr. Dies­mal hin­der­te uns nie­mand, fort­zu­ge­hen, aus eige­nem Wil­len, mit eige­nem Ziel. Das Fina­le die­ser Etap­pe ist rasch erzählt: nach etwa einer Vier­tel­stun­de schon begrüß­te uns das Orts­schild „Nie­dern­dorf“. Jetzt waren wir nicht mehr – wie bis­her – im Irgend­wo; jetzt kann­ten wir sogar den Ort, in dem wir waren. Nach all den Geheim­nis­krä­me­rei­en der Haft­mo­na­te gab es für uns wie­der ein Zei­chen selbst erfah­re­ner Außenwelt.

Rechts, gleich am Ein­gang des Dor­fes, ein Wirts­haus. Wir öff­nen die Tür zum Gast­zim­mer – da waren sie schon alle ver­sam­melt, „unse­re“ SS-Offi­zie­re. „Wir wol­len etwas zu essen haben!“ Trot­zig und doch noch im Bewußt­sein der Abhän­gig­keit begehr­ten wir auf. Erstau­nen. Bestür­zung, bei­na­he Ent­set­zen und zugleich eine merk­wür­di­ge Gefü­gig­keit zeich­ne­te die Gesich­ter unse­rer obers­ten Bewa­cher. Die Bus­se wur­den in das Dorf geholt, Bro­te und Geträn­ke ver­teilt. In der Schu­le erhiel­ten wir Quar­tier. Nur haben wir dort kei­ne Nacht ver­bracht: Als es Abend wur­de, kam mein ältes­ter Bru­der, Ulrich, lei­se eine Hin­ter­trep­pe her­auf­ge­schli­chen, Bro­te unter dem Man­tel ver­steckt, und flüs­ter­te, wir soll­ten ihm rasch fol­gen, es gäbe einen unbe­wach­ten Hin­ter­aus­gang. In klei­nen Grup­pen fan­den wir Unter­kom­men bei Nach­barn, die erstaun­lich spon­tan bereit waren, uns auf­zu­neh­men. Anders als uns muß ihnen das nahe Kriegs­en­de bewußt gewe­sen sein, und sie waren
nicht mehr bereit, sich auf die Sei­te der SS zu stellen. 

Eigen­tüm­lich undra­ma­tisch ver­lief so das Ende unse­rer Haft­zeit. Doch mar­kier­te die­ses unver­mu­te­te Ende kei­nes­wegs die „Stun­de Null“. Wir waren zwar „frei“, unab­hän­gig aber noch nicht; unse­re Situa­ti­on, recht­lich, prak­tisch, war völ­lig undurch­sich­tig, Zukunft, nah oder fern, uner­kenn­bar. Auf uner­klär­li­che Wei­se waren die SS-Bewa­cher am nächs­ten Mor­gen ver­schwun­den. Oberst Bonin, der aus Dach­au zu uns gesto­ßen war, bewirk­te, daß wir unter die Obhut deut­scher Sol­da­ten gestellt wur­den. Nicht sofort begrif­fen wir, daß wir noch Schutz brauch­ten: der Krieg war an die­sem 4. Mai nicht end­gül­tig been­det, das Dorf weit­ge­hend in der Hand von Par­ti­sa­nen, unse­re Ver­sor­gung kei­nes­wegs gesi­chert. So fuh­ren uns die Sol­da­ten in ein nahe­ge­le­ge­nes, von Trup­pen gera­de geräum­tes Hotel am Prags­er Wildsee.

Ein paar Tage spä­ter erleb­ten wir die Kapi­tu­la­ti­on die­ser deut­schen Wehr­machts­ein­heit. Die Erin­ne­rung hat sich mir ein­ge­prägt wie ein Stand­bild: Im Hof une­res Hotels stan­den die Sol­da­ten im Kreis um die von ihnen in der Mit­te auf­ge­schich­te­ten Geweh­re. Nun waren auch sie offen­sicht­lich wehr­los – eine Wehr­lo­sig­keit hilfs­be­rei­ter Män­ner, die uns trotz allem rühr­te –, und die Ame­ri­ka­ner übernahmen das Kom­man­do. Wir, vor­dem Häft­lin­ge, viel­leicht auch Gei­seln, waren unter neu­er Aufsicht.

Warteschleife: Capri, Paris, Frankfurt

Unbe­schwert waren die­se jun­gen Ame­ri­ka­ner, die nun unse­re Betreu­er waren! Sie haben wohl gewußt, daß wir dem KZ ent­kom­men waren, ver­wöhn­ten uns, schaff­ten wär­me­re Klei­dung her­bei, sorg­ten für reich­li­che und aller­bes­te Kost. Ab und an ruder­te uns ein freund­li­cher GI über den Wild­see … Das Glück , freund­li­che, arg­lo­se Men­schen um uns zu haben, uns frei bewe­gen zu kön­nen, locker­te die eiser­nen Rei­fen, die sich nach vie­len Ängs­ten um unse­re Her­zen gezo­gen hat­ten. Kei­ne Wach­tür­me, kei­ne Zäu­ne – wir waren wirk­lich frei. Glück­lich­sein als schwe­re­lo­ses Gefühl, das wir mit der Vor­stel­lung von „Befrei­ung“ ver­bin­den, aber hat sich nicht gleich ein­stel­len kön­nen. Eher eine Benom­men­heit, in der unse­re Freu­de sich nur zag­haft vor­wag­te. Fast bru­tal überfiel uns die Gewiß­heit, daß mein Vater und sein Bru­der Fritz nicht überlebt hat­ten – ent­ge­gen unse­ren geheims­ten Hoff­nun­gen. Das Leben war nun ohne sie zu bestehen, und es war ein Leben unter dem Vor­zei­chen geschei­ter­ter Hoffnungen.

Nach zwei Wochen wur­de uns – gewohnt freund­lich – mit­ge­teilt, daß wir noch nicht nach Hau­se kämen, son­dern „in die Nähe von Nea­pel“. Wie­der war es schwie­rig, Grün­de oder Zusam­men­hän­ge zu ver­ste­hen, die über unser Dasein ent­schie­den; wenn wir auch spür­ten, daß die Ame­ri­ka­ner uns nicht wis­sent­lich quä­len woll­ten. Es ver­lau­te­te, wir soll­ten befragt wer­den, man wol­le Nähe­res über die Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger erfah­ren. Die bunt­ge­misch­te Gesell­schaft, zu der sich unser Gefan­ge­nen­korps seit Dach­au ver­grö­ßert hat­te, muß­te ja Inter­es­se wecken: ein eng­li­scher Oberst vom Secret Ser­vice, Mit­glie­der der Hor­thy-Fami­lie, Schu­sch­nigg, Gene­ral Hal­der und Pas­tor Niem­öl­ler. Wir selbst waren aber nicht im gerings­ten neu­gie­rig, wir woll­ten nur an den Ort, an den wir wirk­lich gehör­ten. In Ita­li­ens Süden kämen wir – mit wel­cher Vor­freu­de wür­de ich heu­te die Bot­schaft hören! Damals mach­te uns die Nach­richt nur trau­rig und auch zor­nig. Capri, die Traum­in­sel, wie­der nur ein Asyl.

Auch die aben­teu­er­li­che Fahrt in den ame­ri­ka­ni­schen Jeeps berg­ab in die Geröll­fel­der der Po-Ebe­ne konn­te uns nicht fes­seln; der Gene­ral­baß brumm­te nur, „es geht immer wei­ter weg von zuhaus.“ Dann tat sich wie ein Thea­ter­pro­spekt die Schön­heit die­ser Insel vor uns auf. Die Ame­ri­ka­ner hat­ten uns an einen ihrer schöns­ten Fle­cken gebracht, nach Ana­ca­pri, der Spit­ze der damals stil­len Insel. Bewun­dernd sahen wir abends die dunk­len Kon­tu­ren der Bergküste, den unge­wohnt hel­len Ster­nen­him­mel; die bunt fla­ckern­den Posi­ti­ons­lich­ter der Fischer­boo­te grüß­ten zu uns her­auf. Der metal­le­ne Glanz des Mee­res schim­mer­te besänf­ti­gend im Dun­kel der Nacht.

Der Tag bescher­te unschul­di­ge Urlaubs­freu­den. Prak­tisch und zupa­ckend, wie Ame­ri­ka­ner nun ein­mal sind, hat­ten unse­re Befrei­er bin­nen 24 Stun­den Biki­nis aus Armee-Hand­tü­chern nähen las­sen und lie­ßen es sich nicht neh­men, uns im Jeep ans Meer zu chauf­fie­ren. Freund­li­che Gast­ge­ber auch die ita­lie­ni­schen Bau­ern, die uns gera­de­zu ein­lu­den, in ihre Kirsch­bäu­me zu klet­tern und uns güt­lich zu tun. Abends aber, wenn wir ver­geb­lich Schlaf such­ten und unse­re Gedan­ken sich selb­stän­dig mach­ten konn­ten der Froh­sinn, das unbe­schwer­te Geläch­ter aus dem Innen­hof des Hotels zum Dis­ak­kord wer­den. Unse­re enge, letzt­lich erzwun­ge­ne Schick­sals­ge­mein­schaft bekam Ris­se. Ganz zu Recht freu­ten sich vie­le ihrer Frei­heit, der Aus­sicht auf das Wie­der­se­hen mit den Ihren. Weni­ge aber muß­ten sich auf die Endgültigkeit eines Ver­lus­tes vor­be­rei­ten, auf eine Zukunft, die im Schat­ten lag.

Fast vier Wochen dau­er­te es, bis wir die ersehn­te Nach­richt erhiel­ten, wir „Sip­pen­häft­lin­ge“ wür­den nach Deutsch­land geflo­gen. – Von unse­rem Gedächt­nis erwar­ten wir, daß es Fak­ten spei­chert, die wir abglei­chen und überprüfen kön­nen; Erin­ne­rung als Ver­ge­gen­wär­ti­gung aber hat ihre eige­nen Geset­ze: Sie sam­melt Erleb­nis­se und Ein­drü­cke, ande­re überläßt sie dem Ver­ges­sen. So habe ich kei­ne Ein­zel­hei­ten unse­res Auf­bruchs und Rück­flugs von Capri gespei­chert, wohl aber die Erin­ne­rung an eine kur­ze, wenn­gleich wesent­li­che Begeg­nung in Paris. Es war gegen Abend; ich stand am Ende eines Gan­ges vor mei­nem Hotel­zim­mer und schau­te durch ein gro­ßes Fens­ter auf einen Platz, der schon im Halb­dun­kel lag. Ein bri­ti­scher Offi­zier trat neben mich, wohl, um auch hin­aus­zu­schau­en. „Bon­jour, Madame“ – die Stim­me klang höf­lich, doch etwas ver­hal­ten. Ich wand­te mich ihm zu und erkann­te an einem Abzei­chen, er müs­se zur pol­ni­schen Divi­si­on inner­halb der bri­ti­schen Trup­pen gehö­ren. Spon­tan beglück­wünsch­te ich ihn: „Nun ist auch Ihr Land frei!“ „Sie irren sich, Madame“, kam es zurück, „Jetzt herr­schen bei uns die Bol­sche­wis­ten.“ Es klang tief­trau­rig und resi­gniert und signa­li­sier­te mir, einem Mene­te­kel gleich, daß Kriegs­en­de und Frei­heit noch lan­ge nicht mit­ein­an­der iden­tisch waren.

Am fol­gen­den Vor­mit­tag lan­de­ten wir in Frank­furt am Main und wur­den mit der lang ersehn­ten Nach­richt begrüßt: „Tomor­row we shall bring ever­y­bo­dy home.“ Selt­sam, wie Stim­mun­gen umkip­pen, wel­che Macht Gefüh­le haben kön­nen! Als die ersehn­te Heim­kehr greif­bar nahe war. spür­ten wir plötz­lich den Schmerz, gar kei­nen Ort zu wis­sen, der H e i m a t war. – Hei­mat der Fami­lie war und blieb Ost­preu­ßen, see­li­scher Ort das gelieb­te groß­el­ter­li­che Haus am Meer, mit dem wir alles Glück unse­rer behü­te­ten Kin­der- und Jugend­zeit ver­ban­den. Ost­preu­ßen aber war längst an die Sowjet­uni­on ver­lo­ren. – Leip­zig hät­te Wahl­hei­mat sein kön­nen, die Stadt unse­rer Schul- und Stu­di­en­jah­re, der wir viel ver­dank­ten. Aber das Haus in er ehe­ma­li­gen Rathen­au­stra­ße, das unse­re Eltern 1930 gemie­tet hat­ten, war jetzt merk­wür­dig bezie­hungs­los für uns: All unser Hab und Gut war durch das Volks­ge­richts­hofs­ur­teil gegen mei­nen Vater weg­ge­nom­men und abtrans­por­tiert war
uns durch das Volks­ge­richts­ur­teil gegen mei­nen V~ter weg­ge­nom­men und abtrans­por­tiert wor­den. Es gab dort also kein gemüt­li­ches Wohn­zim­mer mehr mit den alten Maha­go­ni-Möbeln, kei­nen run­den Tisch, an dem wir fröh­lich mit dem Vater Kar­ten gespielt hat­ten, kei­ne ver­trau­ten „Kinder“-Zimmer. Wir wür­den uns mit dem zufrie­den geben müs­sen, was der Auk­tio­na­tor noch nicht ver­stei­gert hat­te. Auch die Die­le zum Emp­fang hat­te ihren Sinn ver­lo­ren. Das Ver­hält­nis unse­res Eltern­hau­ses zu den meis­ten sei­ner ursprüng­li­chen Gäs­te hat­te sich schon in der NS-Zeit durch Anpas­sung und Oppor­tu­nis­mus der füh­ren­den Schich­ten auf­zu­lö­sen begon­nen. Selbst in der Not­zeit hat­te es nur eine Hand­voll treu­er Freun­de gege­ben. Aber wür­den wir sie überhaupt vorfinden? 

Ein ame­ri­ka­ni­scher Offi­zier gesell­te sich zu unse­rer klei­nen Fami­li­en­grup­pe. „Viel­leicht wis­sen Sie noch nicht, daß wir Ame­ri­ka­ner nur noch kur­ze Zeit in Leip­zig sind. Wir kön­nen Sie dort­hin brin­gen, aber Sie müs­sen damit rech­nen, daß uns Ende Juni die sowje­ti­sche Armee in Leip­zig ablö­sen wird.“ – So zart und leicht ver­letz­lich mei­ne Mut­ter war, in schwie­ri­gen Situa­tio­nen konn­te sie bewun­derns­wert gelas­sen sein und ihren kla­ren Ver­stand bewah­ren: Nur war sie bis­her gewohnt gewe­sen, wich­ti­ge Ent­schei­dun­gen zunächst mit mei­nem Vater zu überlegen. Jetzt übernahm sie ganz selbst­ver­ständ­lich und ruhig die Ver­ant­wor­tung für die Fami­lie: Auf jeden Fall wür­de sie selbst nach Leip­zig fah­ren; dort war­te­ten auf sie ihre alte Mut­ter, Jut­tas Schwes­tern und viel­leicht auch mein Bru­der Rein­hard (er hat­te Dach­au mit vier ande­ren jun­gen Sip­pen­häft­lin­gen zu Fuß ver­las­sen müs­sen). Dar­über­hin­aus war mei­ne Mut­ter fest ent­schlos­sen, sich von dort aus für die Reha­bi­li­tie­rung ihres Man­nes und unse­re Rech­te ein­zu­set­zen. Uns drei jun­gen „Mädels“ aber riet sie, nach Süd­deutsch­land auf „den Hof“ zu gehen, den mein Vater als Refu­gi­um für die Fami­lie erwor­ben hat­te. „Unter den Kom­mu­nis­ten wer­det ihr kei­ne Chan­ce haben, euch ein neu­es Leben auf­zu­bau­en!“ (Wie recht mei­ne Mut­ter mit ihrer Vor­aus­sa­ge hat­te, zeig­te sich bereits ein hal­bes Jahr spä­ter, als mein Bru­der Rem­hard auf Anra­ten eines alten Sozi­al­de­mo­kra­ten Leip­zig ver­ließ, um in Hei­del­berg sein Jura­stu­di­um wie­der aufzunehmen.) – 

Nach den Mona­ten der Haft und des tröst­li­chen Zusam­men­seins muß­ten wir uns nun unver­mit­telt tren­nen, eine wenig überschaubare Zukunft vor Augen. Mei­ne Schwä­ge­rin Irma woll­te zu ihrer Mut­ter in Ham­burg, um von dort aus ihre bei­den von der Gesta­po nach Bad Sach­sa ver­schlepp­ten klei­nen Kin­der heim­zu­ho­len. Mein ältes­ter Bru­der Ulrich, schon fer­ti­ger Jurist, soll­te uns für ein paar Tage nach Süd­deutsch­land beglei­ten, um dort unse­re Wohn- und Eigen­tums­rech­te durch­zu­set­zen. Für den Augen­blick waren wir ja arm wie Kir­chen­mäu­se und muß­ten sehen, irgend­wie und irgend­wo zu exis­tie­ren.

Die „Stun­de Null“ könn­te nur eine Kurz­for­mel für Geschichts­bü­cher sein. Weder das kol­lek­ti­ve noch das indi­vi­du­el­le Bewußt­sein ken­nen die­se Zäsur. Wohl mag es Tage geben, an denen wir eine neue Sei­te im Buch unse­res Lebens auf­schla­gen, wenn wir an einem neu­en Ort, mit einem neu­en Berufs­ab­schnitt begin­nen. Immer aber beglei­tet uns unse­re Ver­gan­gen­heit. Sie beglei­tet uns nicht wie ein sanft dahin­flie­ßen­der Strom, natur­ge­ge­ben, unab­hän­gig von unse­rem Dasein. Oft kann sie sper­rig sein, die­se Ver­gan­gen­heit, dem nai­ven Sich-Erin­nern wider­ste­hen. Erin­ne­run­gen an Unwie­der­hol­ba­res kön­nen plötz­lich auf­stei­gen, Sehn­süch­te nach Unwie­der­bring­li­chem wecken. Die Furcht vor der Wie­der­kehr erleb­ter Schre­cken aber hat in mei­nem Gedächt­nis auch Luft­lö­cher des Ver­ges­sens ent­ste­hen las­sen. Dies möge der Leser beden­ken, der mit mir die Län­ge mei­nes Weges zur „Stun­de Null“ durch­mißt, in die­sen Mona­ten noch immer bedroh­ter Freu­de an der Freiheit.

Zabergäu — Sackgasse

Wie froh waren wir, daß unser gro­ßer Bru­der bei uns war, als wir zwei Tage spä­ter dem Ver­wal­ter und sei­ner Frau gegen­über­stan­den! Zuerst glaub­ten sie wohl an Geis­ter, als Jut­ta und Nina leib­haf­tig vor ihnen stan­den; war doch kein Jahr ver­gan­gen, daß die Gesta­po die bei­den mit mei­ner Schwä­ge­rin auf dem Hof ver­haf­tet und weg­ge­schafft hat­te. Dann aber wech­sel­te ihre Hal­tung zwi­schen ängst­li­cher Unsi­cher­heit und Unwil­len. Schnell aber wich die bestürzte Fas­sungs­lo­sig­keit wider­wil­li­ger Abwehr, ja Feind­se­lig­keit. Nur dem ener­gi­schen Auf­tre­ten mei­nes Bru­ders ver­dank­ten wir den Ein­laß in das gro­ße Haus, in dem über der Ver­wal­ter-Woh­nung dre Räu­me für unse­re Fami­lie bereit­stan­den. Wir soll­ten nur ja kei­ne Ansprü­che an Essens­vor­rä­te stel­len. Die sei­en sämt­lich von den ein­rü­cken­den Fran­zo­sen beschlag­nahmt wor­den. Man habe ja mit unse­rer Rückkehr nicht rech­nen kön­nen, des­halb sei­en die Wohn­räu­me noch in dem Zustand, wie die Gesta­po sie hin­ter­las­sen habe. (Daß sie eini­ge wert­vol­le Besitz­tü­mer mei­ner Schwä­ge­rin schon dem ihren ein­ver­leibt hat­ten, stell­te mein Bru­der wenig spä­ter fest.)

In die­sem schwä­bi­schen Dorf soll­ten wir nun end­lich, nach zehn Mona­ten Gefäng­nis- und KZ-Haft, wie­der unser eige­nes, aber auch ein neu­es All­tags­le­ben begin­nen. Für die­sen Ort einer ers­ten Zuflucht hat­te, wie erwähnt, noch mein Vater gesorgt. Mit­ten im Krieg hat­te er ein klei­nes Anwe­sen in Süd­deutsch­land gesucht; er wuß­te, Ost­preu­ßen, unse­re ursprüng­li­che Hei­mat, wür­de an die Sowjet­uni­on abzu­tre­ten sein, und was von Leip­zig nach den Bom­ben­an­grif­fen übrig blei­ben wür­de, war im Unge­wis­sen. – Nie hat­te mein Vater dar­an gezwei­felt, daß der Krieg, hat­te er erst ein­mal begon­nen, mit einer Kata­stro­phe enden wür­de, wenn Hit­ler nicht auf­ge­hal­ten wür­de. Ja, für ihn, den eher libe­ra­len Chris­ten, konn­te ein gerech­ter Gott die Ver­bre­chen des deut­schen Vol­kes nicht unge­straft las­sen. Gro­ßer Gna­de wür­de es bedür­fen, wenn die Völ­ker Deutsch­land ein­mal sei­ne Unta­ten ver­ge­ben wür­den. – Nahe­zu pro­phe­tisch hat­te unser sonst so rea­lis­ti­scher Vater vor­aus­ge­se­hen, wie flüch­ten­de Men­schen zu Fuß auf den Auto­bah­nen dahin­strö­men wür­den; auf Auto­bah­nen, die Hit­ler für angriffs­star­ke Pan­zer und Armee­ko­lon­nen in impe­ria­ler Hybris hat­te aus­bau­en lassen.

Immer wie­der hat­te mei­nen Vater die Sor­ge ver­folgt, uns in Deutsch­lands Zusam­men­bruch nicht mehr hel­fen und beschüt­zen zu kön­nen; dann soll­te uns im – weit­ge­hend vom Krieg ver­schon­ten – Süd­wes­ten auf dem Lan­de ein Dach über dem Kopf gesi­chert sein und, wenn wir selbst tüchtig zupack­ten, die nöti­ge Nah­rung und Wär­me. Was er nicht vor­aus­ge­se­hen hat­te, waren das Miß­trau­en und die Ableh­nung, die uns an die­sem klei­nen Ort, an dem es noch vie­le Nazi-Freun­de gab, begeg­nen wür­den. „Was hat­ten die Kin­der eines Vater­lands­ver­rä­ters bei ihnen zu suchen?“ Noch kein Jahr war seit dem miß­glück­ten Atten­tat ver­gan­gen, die­sem ver­zwei­fel­ten Ver­such, den Krieg und die Ver­bre­chen zu been­den; noch kein Jahr, daß auf den Kopf Carl Goer­de­lers eine Mil­li­on Reichs­mark aus­ge­setzt wor­den war, auf ihn, den füh­ren­den Geg­ner des Hit­ler-Regimes. Was wir als Befrei­ung erleb­ten, emp­fan­den vie­le Men­schen, die uns umga­ben, als demü­ti­gen­de Nie­der­la­ge. Und unter dem Schutz „der Fein­de“ waren wir in das Dorf gekom­men! Nun waren wir nicht mehr getra­gen von der Schick­sals­ge­mein­schaft der poli­tisch Ver­fem­ten des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers. Nun begrif­fen wir, daß uns die­se Gemein­schaft vor einer Außen­welt geschützt hat­te, die mit dem Selbst­op­fer unse­res Vaters und sei­ner Freun­de nichts im Sin­ne hatte. 

Nur eine jun­ge Frau half uns, wenigs­tens eini­ger­ma­ßen Ord­nung in das Tohu­wa­bo­hu zu brin­gen, daß die Gesta­po bei der Durch­su­chung unse­rer drei Wohn­räu­me hin­ter­las­sen hat­te. Jedoch soll­te sie die ein­zi­ge blei­ben, der wir etwas von der Trau­er, uns­rer Ver­stört­heit mit­tei­len konn­ten. Soll­te dies die „Stun­de Null“ gewe­sen sein, so war sie es – bit­ter noch heu­te – als ein Tief­punkt unse­res see­li­schen Lebens. Erwar­tet hat­ten wir, trös­tend für erdul­de­tes Leid emp­fan­gen zu wer­den, gehofft auf Dank­bar­keit und Ver­eh­rung für den Vater und alle Men­schen, die Deutsch­land hat­ten ret­ten wollen. 

Noch waren wir mit den eige­nen Ver­let­zun­gen beschäf­tigt, den­ke ich heu­te; sahen kaum, daß wir die frem­den Groß­städ­ter im klei­nen Bau­ern­dorf waren; fremd mit unse­rem distan­ziert klin­gen­den Hoch­deutsch mit­ten im herz­lich-der­ben Schwä­bi­schen. Fremd und fern für die Dorf­be­woh­ner war die Welt der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger, aus der wir kamen. Von ihr zu spre­chen, von ihr zu hören – das hät­te wohl noch zu vie­le Schat­ten auf eine Zeit gewor­fen, deren Glanz man sich noch in der Erin­ne­rung bewah­ren woll­te. Aber wir steck­ten nicht nur in see­li­schen Nöten, wir hat­ten auch die schon geschil­der­ten mate­ri­el­len Sor­gen. Alles, was wir besa­ßen, war an den Staat gefal­len. (Es soll­te noch fünf Jah­re dau­ern, bis mei­ne Mut­ter eine Pen­si­ons­zah­lung und mei­ne Schwes­ter Nina eine Wai­sen­ren­te erhielt.) Zwar hat­ten die ame­ri­ka­ni­schen Behör­den jeden von uns mit 150 Reichs­mark aus­ge­stat­tet, als sie uns in ein selb­stän­di­ges Leben ent­lie­ßen: ange­sichts des Wert­ver­falls baren Gel­des konn­ten wir davon unse­ren Lebens­un­ter­halt aber nicht bestrei­ten, geschwei­ge Hilfs­kräf­te auf dem Bau­ern­hof entlohnen.

Wie schwie­rig das Ver­hält­nis zu dem Ver­walt­er­ehe­paar auch war, das mit unse­rer Rück­kehr nicht gerech­net hat­te, wir muß­ten mit ihnen aus­kom­men – und voll mit­ar­bei­ten, wenn wir mit­es­sen woll­ten. Aus den Pflicht­zei­ten im Arbeits­dienst und wäh­rend der Semes­ter­fe­ri­en war ich mit StaII­ar­beit ver­traut und konn­te sogar eini­ger­ma­ßen mel­ken … Beim Füt­tern von Schwei­nen, Kühen und Hüh­nern und bei der vie­len Feld­ar­beit muß­ten mei­ne 16jährige Schwes­ter Nina und die 17jährige Kusi­ne Jut­ta hart mit­ar­bei­ten. Sicher stell­ten wir alle drei uns nicht all­zu geschickt an, hat­ten auch nicht Kraft genug nach Mona­ten der Haft. So san­ken wir abends immer tod­mü­de ins Bett. Die gro­ße Bean­spru­chung, möch­te man mei­nen, hät­te uns gut tun sol­len, hel­fen, las­ten­des Wis­sen zu ver­ges­sen. Aber wir sehn­ten uns gera­de nach Besin­nung, nach Stil­le, woll­ten wie­der zu uns kom­men, dem Gesche­he­nen einen Sinn abge­win­nen. Ja, wir woll­ten trau­ern dürfeh. 

Stuttgart – Neubeginn

Als ein Licht­strahl in die noch dunk­le Welt des Kum­mers und der Pla­gen brach die ers­te Nach­richt von mei­nem Ver­lob­ten. Er leb­te, war gesund und hoff­te, bald aus der bri­ti­schen Gefan­gen­schaft ent­las­sen zu wer­den. So gab es wie­der eine Zukunft; eine Zukunft mit einem ver­trau­ten Men­schen, der uns allen in der Haft­zeit uner­müd­lich bei­gestan­den, Sor­gen und Trau­er geteilt und Erleich­te­rung ver­schafft hat­te. Aber die­se Zukunft schien noch end­los fern. –

Ein wei­te­res Tor zur Zukunft öff­ne­te sich erst, als einer der alten Freun­de mei­nes Vaters uns auf dem Hof besuch­te: Theo­dor Bäu­erle, mei­nem Vater mensch­lich und poli­tisch eng ver­bun­den. Ich hat­te ihn schon 1942 ken­nen­ge­lernt, als ich mei­ne Eltern ein­mal nach Stutt­gart beglei­te­te. Bäu­erle war ein Mensch, mit dem wir über alles spre­chen konn­ten, was uns bedrück­te; gemein­sa­me Trau­er ver­band uns, sein warm­her­zi­ger Trost besänf­tig­te, sein Mit­ge­fühl ließ uns ruhi­ger wer­den. Dann erzähl­te er von sei­ner Arbeit. Da er unbe­las­tet war, hat­te man ihn mit der Posi­ti­on als Minis­te­ri­al­di­rek­tor in der Kul­tus­ver­wal­tung betraut. Er hat­te den Auf­trag, für ein bal­di­ge Öff­nung der Schu­len zu sor­gen, die in den letz­ten Kriegs­mo­na­te geschlos­sen wor­den waren. Er berich­te­te, wie schwie­rig es sei, den Auf­trag zu erfül­len. Ein Pro­blem was der Man­gel an Räu­men: Etwa ein Drit­tel der Schu­len war zer­stört oder schwer beschä­digt. Wäh­rend die Raum­not noch annä­hernd überbrückbar schien, war jedoch der Fehl­be­stand an Leh­rern ein­schnei­dend. Vie­le waren gefal­len oder noch in Kriegs­ge­fan­gen­schaft. Für die übrigen – das waren vor allem Frau­en – gal­ten die stren­gen Auf­la­gen der ame­ri­ka­ni­schen (bzw. fran­zö­si­schen) Besat­zungs­ver­wal­tung: Kein ehe­ma­li­ges NSDAP-Mit­glied durf­te vor­erst ein­ge­stellt wer­den. Über­prü­fun­gen waren im Lau­fe der Zeit vorzunehmen. 

Bäu­erle erzähl­te, er habe, um mehr Leh­rer ein­stel­len zu kön­nen, auf den gro­ßen Druck hin­ge­wie­sen, dem vor allem die Beam­ten durch die Par­tei aus­ge­setzt gewe­sen sei­en, habe aber dafür noch kein Ver­ständ­nis gefun­den. Eher soll­te der Unter­richt ganz aus­fal­len, als daß die Besat­zungs­mäch­te auf ihr Plan­ziel der Ree­du­ca­ti­on, ins­be­son­de­re der Jugend, ver­zich­tet hät­ten. Ich bedau­er­te, daß ich außer Pro­mo­ti­on und ers­tem Staats­examen päd­ago­gisch weder Aus­bil­dung noch Prü­fung vor­wei­sen könn­te. „Wir kön­nen Sie trotz­dem brau­chen!“, war Vater Bäu­er­les ermu­ti­gen­de Ant­wort. Und wirk­lich, ein paar Tage spä­ter rief er an und sag­te, am 1. Okto­ber kön­ne ich in Stutt­gart zu unter­rich­ten anfangen!!

Wo aber soll­ten wir drei Mäd­chen woh­nen? Denn daß wir zu dritt nach Stutt­gart gehen wür­den, war aus­ge­mach­te Sache. Ich könn­te ver­die­nen, und unse­re bei­den Jüngs­ten, Jut­ta und Nina, konn­ten dort end­lich wie­der zur Schu­le gehen – seit der Ver­haf­tung am 21. Juli 1944. Nun lie­fen die Dräh­te nach Stutt­gart heiß. Die alten Bosch-Freun­de tra­ten in Akti­on und ver­wand­ten sich für uns bei der Stadt­ver­wal­tung. Inner­halb von zwei Wochen erhiel­ten wir die begehr­te Zuzugs­ge­neh­mi­gung und ein Zim­mer in Feu­er­bach. Was mach­te es da, daß wir drei uns in nur zwei Bet­ten zu tei­len hat­ten! Mit sol­chen Ein­schrän­kun­gen fer­tig­zu­wer­den, hat­te uns die Haft­zeit gelehrt.

Am 1. Okto­ber 1945 fuhr ich von unse­rem Feu­er­ba­cher Qμar­tier zu mei­ner ers­ten Dienst­stel­le in Stutt­gart, dem Köni­gin-Char­lot­te-Gym­na­siwn. Die Stra­ßen­bahn fuhr die gro­ße Heil­bron­ner Ein­fall­stra­ße nach Stutt­gart ent­lang. Rechts und links der Tras­se wur­den schma­le Fahr­bah­nen von Schutt frei­ge­räumt. Gro­ße und klei­ne Trüm­mer­bro­cken zer­stör­ter Häu­ser und Fabrik­hal­len lagen hoch­ge­türmt am Ran­de. Unüber­seh­bar waren die Fol­gen des Krie­ges und sei­ner zer­stö­re­ri­schen Bom­ben­näch­te. Nun waren die Men­schen dabei, mit Kar­ren, Schip­pen und Krä­nen das Cha­os zu ord­nen; end­lich konn­ten sie den Auf­bau begin­nen, der wie­der eine Zukunft hatte.

Auch das Gebäu­de des Köni­gin-Char­lot­te-Gym­na­si­ums war nicht unver­sehrt. In einem Sei­ten­trakt waren für die Ober­stu­fen­schü­ler eini­ge Räu­me not­dürf­tig her­ge­rich­tet. Wenigs­tens die älte­ren Schü­ler soll­ten mit dem Ler­nen begin­nen. (Jut­ta und Nina waren erst vier­zehn Tage spä­ter an der Rei­he.) In die­ser Über­gangs­zeit zwi­schen dem Ende des Drit­ten Rei­ches und staat­li­chem Neu­be­ginn war auch die Schul­lei­te­rin vor­erst nur pro­vi­so­risch ein­ge­setzt. Sie brach­te mich in einen gro­ßen hel­len Dach­raum; vor­sorg­lich stand dort schon ein klei­ner eiser­ner Ofen für den Win­ter bereit – das Ofen­rohr führ­te durch ein Fens­ter. Etwa zwan­zig 18jährige Mäd­chen erwar­te­ten uns bereits. Brav, wie es damals zur Schul­sit­te gehör­te, waren sie auf­ge­stan­den. Sie waren vol­ler Taten­drang und Neu­gier nach der erzwun­ge­nen Lern-Abs­ti­nenz, auch wenn kaum eine von ihnen wohl wis­sen konn­te, wie es ein­mal mit ihr, mit der Erfül­lung von Berufs­wün­schen, gar mit einem Stu­di­um, wei­ter­ge­hen wür­de. Deutsch­land war ein besetz­tes Land. Die Alli­ier­ten wür­den über sei­ne wei­te­re Ent­wick­lung entscheiden. 

Offe­ne. freund­li­che Gesieb­ter begrüß­ten uns. Die Direk­to­rin stell­te mich als die neue Deutsch- und Geschichts­leh­re­rin mit mei­nem Mäd­chen­na­men vor (ich war ja noch nicht ver­hei­ra­tet). Viel­leicht war sie genau so wenig dar­auf vor­be­rei­tet wie ich, daß die Mie­nen der Mäd­chen sich plötz­lich skep­tisch ver­schlos­sen. Eini­ge Mäd­chen schau­ten ver­le­gen zu Boden, wäh­rend ande­re sich straff­ten, um mit einer leich­ten Bewe­gung des Kop­fes Abstand von uns zu neh­men. Nur scho­ckier­te mich die­se Ges­te der unaus­ge­spro­che­nen Zurück­wei­sung einer Goer­de­ler-Toch­ter nicht, wie sie mich noch bei den Dorf­be­woh­nern scho­ckiert hat­te. Die­sen jun­gen Men­schen gegen­über spür­te ich auf ein­mal Kraft und Mut, sie gewin­nen zu kön­nen. Ich war jung, kaum acht Jah­re älter als mei­ne zukünf­ti­gen Schü­le­rin­nen, und trau­te mir zu, eine Brü­cke zu ihnen zu fin­den. Ich war sicher, daß mei­ne Eltern im Kampf gegen Hit­ler den rich­ti­gen Weg gegan­gen waren, hat­te als jun­ge Schü­le­rin selbst die Ver­füh­rungs­küns­te des Hit­ler-Rei­ches erlebt und war mir des­sen gewiß, daß ich ihnen hel­fen könn­te und muß­te, einen Weg in die Nach-Hit­ler-Zeit zu finden.

Die anfäng­li­che Miß­stim­mung begann sich ganz all­mäh­lich zu lösen, als ich mit den Mäd­chen allein war und sie ruhig bat, mir zu erzäh­len. wie sie die letz­ten Mona­te des Krie­ges und die ers­ten Mona­te der Frie­dens­zeit erlebt hät­ten. Dabei erwähn­te ich, daß ich die­se für uns alle so bedeut­sa­me Zeit gewiß völ­lig anders durch­lebt hät­te und ich ihnen davon auch erzäh­len wol­le. So wären die nächs­ten Schul­ta­ge vom Zuhö­ren bestimmt. Ich erfuhr, daß fast alle Mäd­chen BDM-Führerinnen gewe­sen sei­en, meist die letz­ten Mona­te auf dem Land ver­bracht hat­ten. Meh­re­re von ihnen hat­ten den Vater, Brü­der oder Freun­de ver­lo­ren. Jedoch trau­er­ten sie nicht nur um die ver­lo­re­nen Men­schen. Sie betrau­er­ten einen noch umfas­sen­de­ren Ver­lust: Die meis­ten von ihnen hat­ten an den Natio­nal­so­zia­lis­mus geglaubt, dar­an geglaubt, daß es not­wen­dig sei, sich mit aller Kraft für die Grö­ße des deut­schen Vol­kes und Rei­ches ein­zu­set­zen. Nun waren sie nicht nur in ihren Hoff­nun­gen getäuscht, sie muß­ten auch an den Men­schen zwei­feln, die sie ihnen ver­mit­telt hatten.

„Es war eine furcht­ba­re Lee­re in uns“, erin­ner­te sich noch nach vie­len Jah­ren eine mei­ner
Schü­le­rin­nen. In die­se Lee­re galt es, ein wenig Wär­me und mensch­li­ches Mit­ge­fühl zu brin­gen. Das war damals für mich – zum Glück – nicht bewuß­te Pla­nung, son­dern etwas Selbst­ver­ständ­li­ches. Viel­leicht des­halb selbst­ver­ständ­lich und kein kunst­vol­les Mich-Hin­ein­ver­set­zen, weil ich mich – bei aller äuße­ren Ruhe – immer wie­der von dem glei­chen Gefühl umfas­sen­den Welt-Ver­lus­tes bedroht wuß­te: An jenem 20. Juli vor einem Jahr hat­te Gott nicht denen bei­gestan­den, die unse­re Welt vom Bösen hat­ten befrei­en wollen.

Es war gewiß kein Zufall, daß ich als ers­te Lek­tü­re für mei­ne jun­gen Schü­le­rin­nen „Die Lei­den des jun­gen Wert­her“ aus­such­te. Ich wuß­te nur zu genau, daß sie jah­re­lang gelehrt wur­den, jene mar­tia­li­schen Lie­der von stets kampf­be­rei­ten Män­nern zu sin­gen, die sich trot­zig und mit aller phy­si­schen Kraft Schick­sal und Fein­den ent­ge­gen­zu­stel­len oder stolz unter­zu­ge­hen hat­ten. Der ver­zwei­feln­de jun­ge Wert­her soll­te nicht zum neu­en Vor­bild wer­den, aber das Tor zu einer ande­ren Sprach- und Gefühls­welt öff­nen. All­mäh­lich wich die Lee­re aus den Gemü­tern; jun­ge Men­schen erlaub­ten sich nun Emp­fin­dun­gen, die sie auch aus­spre­chen durf­ten. Sie spür­ten den lyri­schen Zau­ber der Spra­che überschwenglichen Glücks, das Ver­stum­men des Worts in Zwei­fel und Trauer.

Heu­te. im Rück­blick, zie­hen sich die­se ers­ten Wochen päd­ago­gi­scher Tätig­keit zu mei­ner „Stun­de Null zusam­men. Zum Beginn eines nun selbst­be­stimm­ten Lebens und selbst­be­stimm­ter Zie­le. Es erschloß sich mir ein Beruf, der mich ein Leben lang aus­füll­te, in dem mich die Hoff­nung nie ver­ließ. In mei­nem klei­nen, begrenz­ten Umfeld etwas bewir­ken zu kön­nen. War ich auch nach dem Krieg in eine im dop­pel­ten Sin­ne kaput­te Welt ent­las­sen – hat­te die nach­wir­ken­de Hit­ler-Ver­eh­rung in einem Dorf erlebt, war durch Trüm­mer zu mei­ner Schu­le gefah­ren – mit die­ser kaput­ten Welt brauch­te ich mich nicht abzu­fin­den. – Es galt, Leid und Ängs­te jun­ger Men­schen, ihre Ver­lus­te und Scmer­zen wahr- und ernst­zu­neh­men, Ermu­ti­gung den Zag­haf­ten zu geben, Freu­den mit den Glück­li­chen zu tei­len. Es galt aber auch, auf der Hut zu sein, die Macht als Leh­rer nicht zu miß­brauchen, Ein­fluß nur zu üben, um auf dem Weg zum Erwach­sen-Wer­den zu hel­fen Mei­ne sper­ri­ge Ver­gan­gen­heit hat mir gehol­fen, mei­ne Schü­ler anspre­chen und ver­ste­hen zu können.

In den Mona­ten der Haft hat­te ich selbst erfah­ren, was es heißt, gede­mü­tigt und mit zyni­scher Freu­de geängs­tigt zu wer­den. Im Eltern­haus war mein Sinn gegen die Erbärm­lich­keit von Oppor­tu­nis­mus, vor­aus­ei­len­der Anpas­sung und kon­ven­tio­nel­ler Glät­te geschärft wor­den. Mit ihrer Lie­be und Für­sor­ge hat­ten die Eltern uns immer beschützt, Maß­stä­be und Wer­te mit­ge­ge­ben, an denen wir auch als selb­stän­di­ge Men­schen fest­hal­ten konnten.





Mein Gott, Walther! Die DDR als prä-faschistischer, post-faschistischer und faschistischer Staat und überhaupt.

Die­ser Blog-Post ist aus einer Mast­o­don-Dis­kus­si­on ent­stan­den. Weil sie so schön war, habe ich sie hier noch ein­mal ein biss­chen sor­tiert und für die Nach­welt archi­viert. Die­ser Bei­trag kann Spu­ren von Sar­kas­mus und sogar Wut enthalten.

Die taz hat am 03.07.2023, vor dem Hin­ter­grund der Wahl eines AfD-Mit­glieds zum Land­rat in Son­ne­berg, ein Inter­view mit dem (ost­deut­schen) His­to­ri­ker Ilko-Sascha Kowal­c­zuk ver­öf­fent­licht. In der Print­aus­ga­be endet es so:

taz: Also ist das nicht nur ein Ost-Problem?

Nein. Zeigt nicht immer nur mit dem Fin­ger auf den Osten. Der Osten ist als Labo­ra­to­ri­um der Glo­ba­li­sie­rung, als Ort der Trans­for­ma­ti­on dem Wes­ten nur ein paar Trip­pel­schrit­te vor­aus. Genau des­halb ist die Debat­te über den Osten so rele­vant: Hier – wie zum Teil in Ost­eu­ro­pa – sehen wir Ent­wick­lun­gen, die euro­pa­weit dro­hen, wenn nicht end­lich mal gegen­ge­steu­ert wird. Das kön­nen Sie an vie­len demo­sko­pi­schen Unter­su­chun­gen sehen und übri­gens auch an den Wahl­um­fra­gen der AfD. Die liegt im Osten bei 30 Pro­zent, im Wes­ten steht sie aber mitt­ler­wei­le auch bei 15 Pro­zent, der Wes­ten zieht nach. Des­we­gen sind der Ost­deutsch­land-Dis­kurs und Debat­ten über Son­ne­berg wich­tig: Wir kön­nen hier erle­ben, was uns in ganz Deutsch­land erwar­tet, wenn wir nicht end­lich mal gegensteuern.

taz, 03.07.2023: „Ilko-Sascha Kowal­c­zuk über den Osten: „Wer Nazis wählt, ist ein Nazi“

Das ist genau mei­ne Mei­nung. Ein Punkt, den ich hier in die­sem Blog und auch auf Mast­o­don zu ver­mit­teln ver­su­che. Also alles prims­tens? Nein, lei­der nicht, denn es gibt komi­sche Stel­len im Interview.

Ilko-Sascha Kowal­c­zuk hat in der #DDR #Nazi-Äuße­run­gen gegen geis­tig Behin­der­te gehört und lei­tet dar­aus ab, dass die DDR ein prä­fa­schis­ti­scher Staat war. 

Das fin­de ich ein biss­chen schnell geschos­sen. Sol­che Bemer­kun­gen wird es sowohl im Wes­ten wie im Osten geben, die Erzie­hung, die ich in mei­nen Schu­len hat­te, war aber zutiefst huma­nis­tisch. Die #Eutha­na­sie-Mor­de der #Nazis und ihre Ver­bre­chen wur­den im Unter­richt bespro­chen (sie­he auch Der Ossi und der Holo­caust).

Ich habe in Ber­lin-Buch gewohnt. WBS70. Im unters­ten Stock­werk haben in all den Häu­sern Rollstuhlfahrer*innen gewohnt. Es gab und gibt immer noch hin­ten an den Häu­sern spe­zi­el­le Zufahrts­we­ge, über die Men­schen mit Rol­lis leicht in die Woh­nun­gen gelan­gen konn­ten. Sie­he rote Lini­en auf der Kar­te. Fahr­stüh­le gab es in den Fünf­ge­schos­sern vor der Wen­de nicht. Für Men­schen mit Roll­stuhl kamen also nur die Erge­schoss­woh­nun­gen in Fra­ge. Die Zufahr­ten wur­den beim Neu­bau der Blö­cke 1974–1976 eingerichtet. 

Woh­nun­gen für Behin­der­te mit Zufahrts­ram­pen in Ber­lin Buch.

Das waren also struk­tu­rel­le Maß­nah­men im Zuge des Woh­nungs­baus. Das fol­gen­de Bild zeigt, dass beim Ent­wurf des WBS 70-Sys­tems, das in der DDR in den 70er Jah­ren ent­wi­ckelt und dann für den Bau von 644 900 Woh­nun­gen ver­wen­det wur­de, Erd­ge­schoss­woh­nun­gen für Rollstuhlfahrer*innen und Men­schen mit Behin­de­run­gen ein­ge­plant wurden.

Woh­nungs­grund­ris­se für Woh­nun­gen für Roll­stuhl­fah­rer und Behin­der­te in den WBS 70-Planungen

Ich habe von 1976 bis 1986 in dem Block gemein­sam mit vie­len Rolli-Fahrer*innen gelebt und nie irgend­ein böses Wort gehört. 

Ein geis­tig behin­der­ter Jun­ge fuhr immer mit dem Bus vom Bahn­hof Buch zum Lin­den­ber­ger Weg und zurück. Tag­aus, tag­ein. Ohne Beglei­tung. Manch­mal durf­te er die Türen auf und zuma­chen. Er hat sich sehr gefreut. Er hat­te eine brau­en Kunst­le­der­ta­sche dabei, die er als Lenk­rad benut­ze. Er saß immer in der ers­ten Rei­he vorn neben dem Fah­rer. Spä­ter habe ich ihn auch ab und zu in der S‑Bahn getrof­fen. Das war alles ganz normal.

Dass ich nie irgend­was Böses gehört habe, schließt natür­lich nicht aus, dass es böse Bemer­kun­gen gege­ben hat. Wenn man mit Behin­der­ten unter­wegs ist, gibt es ja viel mehr Begeg­nun­gen. Nur ist es eben nicht wahr, wenn behaup­tet wird, alle Behin­der­ten sei­en weg­ge­sperrt wor­den oder beschimpft worden.

Ins­ge­samt scheint es mir sehr weit her­ge­holt, aus Begeg­nun­gen mit behin­der­ten­feind­li­chen Men­schen zu schlie­ßen, dass man in einem prä­fa­schis­ti­schen Staat lebt.

Der Nut­zer Peer schreibt dazu auf Mastodon:

War­um so vor­sich­tig in dei­ner Kri­tik? Kowal­c­zuks Schluss­fol­ge­run­gen sind nicht nur „etwas weit her­ge­holt“, son­dern Non­sens. Vor­aus­ge­setzt das taz-Inter­view gibt sei­ne Aus­sa­gen zutref­fend wieder.

Ich leh­ne mich mal weit aus dem Fens­ter: Es gibt kein ein­zi­ges Land auf der Welt, in dem die best­mög­li­chen staat­li­chen Inklu­si­ons­be­mü­hun­gen ver­hin­dern wür­den, dass sich Men­schen nega­tiv über behin­der­te Men­schen äußern. Dem­nach wären die­se Län­der alle prä­fa­schis­tisch nach der Kowalczuk-Definition.

Geschich­ten­er­zäh­ler Kowal­c­zuk schließt von meh­re­ren Ein­zel­erfah­run­gen auf strukturelle/staatliche Pro­ble­me und dar­aus wie­der auf Prä-Faschismus.

In der Christ­bur­ger Stra­ße im DDR-Prenz­lau­er Berg gab es einen pri­va­ten Hand­wer­ker (Leder­gür­tel, Schuh­ma­cher so was in der Art). Die hat­ten ein Kind mit Down-Syn­drom, das sich dort sicht­bar im bzw. vor dem Laden beschäf­tig­te, ohne dass die Eltern immer selbst sicht­bar waren. Hät­te das zu nega­ti­ven Reak­tio­nen geführt, hät­ten sie das ihrem Kind ver­mut­lich nicht zuge­mu­tet. Jeden­falls wur­de es nicht ver­steckt und war auch nicht im Heim. (Geis­tig behin­dert und pri­va­ter Hand­wer­ker gleich 2x nicht Main­stream in der DDR).

Ande­res Bei­spiel: Sebas­ti­an Urban­ski hat eben­falls das Down-Syn­drom. “Als er 1986 in Pan­kow ein­ge­schult wur­de, gal­ten Kin­der wie er in der DDR als „bil­dungs­un­fä­hig“. Doch sei­ne Eltern hat­ten ihm einen Schul­platz erstrit­ten.” https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/holocaust-gedenktag-2017-mit-sebastian-urbanski-spricht-erstmals-ein-mensch-mit-down-syndrom-im-bundestag-li.29544

Pan­kow war ein Stadt­be­zirk in der DDR. Ist natür­lich nicht so pos­ti­tiv, dass er in der Schu­le nicht sofort mit offen Armen auf­ge­nom­men wur­de, aber das war zu der Zeit im Wes­ten sicher auch nicht so. Ent­schei­den­der dürf­te aber sein, dass sei­ne Eltern sich gegen die „prä­fa­schis­ti­sche Dik­ta­tur“ durch­ge­setzt haben. Wie geht denn das? Wür­de mich nicht wun­dern, wenn der deut­sche Rechts­staat zu die­ser Zeit noch sehr viel effek­ti­ver dar­in war, den Zugang zur Regel­schu­le zu verhindern.

In Ham­burg soll es jeden­falls erst seit dem Schul­jahr 2010 das Recht für Schü­ler mit Down-Syn­drom geben, all­ge­mei­ne Schu­len zu besu­chen. https://kidshamburg.de/down-syndrom/das-kind-mit-down-syndrom-in-der-schule/ Das wären immer­hin „nur“ 36 Jah­re nach der west­deut­schen TV-Serie „Unser Wal­ter“, die angeb­lich sehr zur Sen­si­bi­li­sie­rung im Wes­ten bei­getra­gen hat.

Übri­gens: Im Osten wur­de auch West­fern­se­hen geschaut, bis auf mar­gi­na­le regio­na­le Aus­nah­men. – Soll­te man viel­leicht nicht ignorieren.

s.a. https://behinderung-ddr.de/lebenswelten/familie

Nut­zer Peer in Dis­kus­si­on auf Mast­o­don, 05.07.2023

Der Arti­kel ent­hält noch eini­ge nicht beleg­te All­aus­sa­gen, z.B. über Nazis in der NVA, die eben­falls auf Mast­o­don dis­ku­tiert wur­den. Die feh­len­de Auf­ar­bei­tung der Nazi­ver­bre­chen im Osten im Gegen­satz zur Auf­ar­bei­tung im Wes­ten durch die 68er ist auch ein The­ma im Inter­view. Hier­zu möch­te ich nur kurz auf mei­nen Blog-Bei­trag Der Ossi und der Holo­caust ver­wei­sen, der ein ziem­lich genau­es Bild zeich­net, wann wel­che Auf­ar­bei­tungs­schrit­te erfolg­ten, was an Wis­sen über die Ver­bre­chen der Nazis in der Bevöl­ke­rung vor­han­den war und in dem man auch die Unter­schie­de zum Wes­ten sehen kann (Bei­spiel Aus­strah­lung der Serie Holo­caust und Bay­ri­scher Rund­funk, sowie Skan­dal um Wehrmachtsausstellung).

Die Dis­kus­si­on auf Mast­o­don hat­te sich gera­de ein wenig beru­higt, da erschien die­ser Leser­brief in der taz:

Bezeich­nend für die Wahr­neh­mung behin­der­ter Men­schen durch DDR-Bür­ger ist, dass die im Inter­view erwähn­te west­deut­sche, auch „ drü­ben“ zu emp­fan­gen­de ZDF Fern­seh­se­rie „Unser Wal­ter“ in der DDR ent­ge­gen der Inten­ti­on der Sen­dung dis­kri­mi­na­to­risch benutzt wur­de. „Mein Gott, Wal­ter“ sag­ten die Leu­te zum Bei­spiel, wenn jemand unge­schickt han­del­te. Die faschis­ti­schen Nar­ra­ti­ve vom gesun­den Volks­kör­per wur­den in der DDR eben nur abge­sägt, aber Wur­zel und Nähr­bo­den blie­ben wei­test­ge­hend unangetastet.

Leser­brief von Wolf­ram Hasch, Ber­lin in der taz, 12.07.2023

Die­ser Brief ist so haar­sträu­bend! Die Redens­art kommt von einem Lied von Mike Krü­ger von 1975, in dem es um einen Walt­her mit „th“ geht, der der Ver­wal­ter eines Miets­hau­ses ist.

Das könn­te man ken­nen, wenn man in der Bun­des­re­pu­blik oder in der DDR auf­ge­wach­sen ist. Mike Krü­ger ist ein deut­scher Komi­ker aus Ulm. Mein Gott, Walt­her war 32 Wochen auf Platz 1 der deut­schen Album-Charts und wur­de über 250.000 mal ver­kauft (sie­he Wiki­pe­dia). Im Osten ist die Plat­te sicher auf Kas­set­ten kopiert und wei­ter­ge­reicht worden. 

So und zum Schluss, weil ich gera­de so schön in Schwung bin, kommt jetzt mein Leser­brief in mei­ner pri­va­ten Ossi-Bild-Zeitung.

Mein Leserbrief in meiner Zeitung (Sarkasmus)

Ich habe kurz vor Coro­na noch eini­ge Ama­zon-Akti­en gekauft und bin dadurch unglaub­lich reich gewor­den. Ich habe mich dafür sehr geschämt und das meis­te Geld an die Deut­sche Umwelt­hil­fe gespen­det. Vom Rest habe ich eine Zei­tung für Ost­deut­sche auf Bild-Niveau gegrün­det. Die ist natür­lich, was die Redak­ti­on angeht, total unab­hän­gig von ihrem Besit­zer, so wie die Washing­ton Post auch. Aber ab und zu ver­öf­fent­li­che ich einen Leser­brief. Hier mei­ner zu Mein Gott, Walther.

Betrifft Bei­trag „Im Wes­ten alles Nazis?“

Ihren Aus­füh­run­gen zu den faschis­ti­schen Umtrie­ben in den alten Bun­des­län­dern der BRD kann ich nur zustim­men. Zu denen von Ihnen bereits erwähn­ten Nazi-Struk­tu­ren im Ver­fas­sung­schutz, in der Armee, in der Poli­zei und der noto­ri­schen Blind­heit der Jus­tiz auf dem rech­ten Auge, sowie der trotz Par­tei­aus­schluss­ver­fah­ren mit Mehr­heit als AfD-Lan­des­vor­sit­zen­de von Schles­wig-Hol­stein wie­der­ge­wähl­ten Poli­ti­ke­rin Doris von Sayn-Witt­gen­stein mit Kon­takt zu Holo­caust-Leug­ne­rin möch­te ich noch fol­gen­de uner­hör­te Bege­ben­heit hin­zu­fü­gen: 1974 begann das Fern­se­hen der BRD mit der Aus­strah­lung der Fern­seh­se­rie „Unser Wal­ter“, in der das Leben mit einem Kind mit Behin­de­rung the­ma­ti­siert wur­de. Nur kurz dar­auf erschien eine Schall­plat­te mit dem Titel „Mein Gott, Walt­her“, in dem Men­schen ver­höhnt wer­den, denen ab und zu Din­ge miss­lin­gen. Der Zusam­men­hang zur Fern­seh­se­rie wur­de durch die Ände­rung der Schrei­bung des Wor­tes „Walt­her“ nur ober­fläch­lich kaschiert. Die faschis­ti­sche Grund­hal­tung der Bür­ger der BRD kann man auch dar­an erken­nen, dass sich die­ses Mach­werk eines west-deut­schen Komi­kers über 250.000 mal ver­kauft hat. Das Lied war übri­gens wie immer noch auf you­tube abruf­ba­re Vide­os zei­gen, auch im öster­rei­chi­schen Fern­se­hen zu sehen, aber dass in die­sem Land sogar die Künst­ler Nazis sind, wis­sen wir ja spä­tes­tens seit dem Erschei­nen von „Mein Kampf“!

Mit anti­fa­schis­ti­schen Grü­ßen aus Ost-Ber­lin Ste­fan Müller

Ist absurd, oder? Aber nicht absur­der als der Leser­brief, den die taz gedruckt hat.

DDR vs. Iran, Folter und Röntgenstrahlung

In der Bahn saß ein Mann hin­ter mir und erklär­te einer Frau, die zufäl­lig neben ihm saß, die Welt. Er war ein Öko, hat­te schon diver­se Peti­tio­nen und Kla­gen gestar­tet, aber es dran­gen auch immer wie­der merk­wür­di­ge Din­ge an mein Ohr (Ich ver­such­te, ein Buch zu begut­ach­ten und das aus­zu­blen­den .…). Jeden­falls hat­te er die DDR mit dem Iran ver­gli­chen und von Fol­ter gespro­chen. Mein Wis­sens­stand war so, dass es zum Ende der DDR fast kei­ne phy­si­sche Fol­ter gab, dafür aber aus­ge­klü­gel­te psy­chi­sche Zer­set­zung. Bis in Fami­li­en hinein.

Das kann man hier nachlesen:

https://www.demokratie-statt-diktatur.de/stasi-und-die-menschenrechte/wuerde-des-menschen/

Es gab in Pots­dam eine Sta­si-Hoch­schu­le mit ent­spre­chen­den Abschlussarbeiten.

Ich habe ihm das gesagt und er mein­te: Ja, aber die Sta­si habe Rönt­gen­strah­lung eingesetzt!

Irgend­wann hat er dann auch sei­ner Sitz­nach­ba­rin erzählt, wie toll das doch mit dem Inter­net sei, da kön­ne man das alles nach­le­sen. Dum­mer­wei­se woll­te ich mein Buch wei­ter­le­sen. Ich hät­te gleich mal nach­gu­cken sol­len. Es gibt höchst inter­es­san­te his­to­ri­sche Unter­su­chun­gen aus den 90ern zu den Rönt­gen­ge­rä­ten und dem Ein­satz radio­ak­ti­ver Mate­ria­li­en durch die Sta­si (Eisen­feld et. al. 2002).

Kurz: Das mit den Rönt­gen­ge­rä­ten ist Quatsch. Zer­rüt­tung fin­det man auch in die­sem Bericht und es gibt noch ganz vie­le inter­es­san­te Sachen zu Spio­na­ge, Ein­satz von Strah­lung an der Gren­ze, Zusam­men­ar­beit mit wis­sen­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen usw.

Die Sta­si hat zum Bei­spiel West­geld radio­ak­tiv mar­kiert, weil sie raus­fin­den woll­te, wer die Schei­ne aus den Brie­fen klaut. Ich dach­te ja immer, dass Post und Sta­si prak­tisch eins waren und dass die eben ab und zu Sachen aus Brie­fen und Pake­ten genom­men haben.

Den Post­ler haben sie geschnappt, aber 12 Schei­ne blie­ben ver­schwun­den. Wahr­schein­lich hat­te die in Wirk­lich­keit der Chef und das konn­te ja nicht in den Akten doku­men­tiert werden. =:-)

Die radio­ak­ti­ve Mar­kie­rung von Geld­schei­nen und deren Ergeb­nis ist in einem
wei­te­ren Fall belegt.124 Er doku­men­tiert einen gera­de­zu kri­mi­nell fahr­läs­si­gen Umgang des MfS mit radio­ak­ti­ven Sub­stan­zen. Auf­ge­deckt und nach­ge­wie­sen wer­den soll­te der Dieb­stahl von West­geld aus Post­sen­dun­gen. Dazu prä­pa­rier­ten Mit­ar­bei­ter des OTS am 4. Mai 1988 20 5 DM-Schei­ne mit dem »Wolke«-Mittel 113 (jeweils belas­tet mit einer Akti­vi­tät von 60 uCI), steck­ten sie in Brief­ku­verts und schick­ten sie einen Tag spä­ter, wie es heißt, »ope­ra­tiv in den Post­ka­nal«. Tat­säch­lich konn­te ein Mit­ar­bei­ter der Post des Dieb­stahls überführt und festge­nommen wer­den. Es konn­ten bei ihm aber nur acht der zwan­zig prä­pa­rier­ten Geld­schei­ne sicher­ge­stellt ‑wer­den. Zwölf der kon­ta­mi­nier­ten 5 DM-Schei­ne blie­ben ver­schwun­den und gaben den betei­lig­ten MfS-Mit­ar­bei­tern Anlaß zu ei­nigem Kopf­zer­bre­chen. Ihren Berech­nun­gen zufol­ge ver­ur­sach­te das Tra­gen auch nur eines die­ser Schei­ne am Kör­per über einen Zeit­raum von drei Mona­ten eine Belas­tung von 200 rem, »was ins­be­son­de­re im Gona­den­be­reich spä­te­re Wirkun­gen bei Jugend­li­chen ver­ur­sa­chen könnte«.125 Die­se Dosis wür­de jedoch, so heißt es, inner­halb eines Jah­res infol­ge der Zer­falls­zeit auf 16 rem sin­ken und wäre da­ nach »aus unse­rer Sicht ungefährlich«.126 Ande­rer­seits muß­te ein­ge­räumt wer­ den, daß alles auch davon abhing, wie die betref­fen­den Per­so­nen mit den Schei­nen umgin­gen. Wür­de eine Per­son meh­re­re die­ser Schei­ne am Kör­per tra­gen, so bestün­de die Gefahr einer »ver­viel­fach­ten« Belas­tung und »von Spätschäden an begrenz­ten Körperteilen«.127 Wenn man in Rech­nung stellt, daß die radio­ak­tiv mar­kier­ten Geld­schei­ne mög­li­cher­wei­se auch in die Hände von Klein­kin­dern oder schwan­ge­ren Frau­en fal­len konn­ten, so muß die­sem Mar­kie­rungs­ver­fah­ren ein gemein­ge­fähr­li­cher Cha­rak­ter beschei­nigt wer­den. Ob die Bemü­hun­gen des MfS, die zwölf feh­len­den radio­ak­tiv prä­pa­rier­ten Geld­schei­ne wie­der aufzufin­den, Erfolg hat­ten, ist nicht doku­men­tiert – und das spricht eher für ein nega­ti­ves Ergebnis.

Eisen­feld et al. 2002, Pro­jekt­be­richt »Strah­len« Ein­satz von Rönt­gen­strah­len und radio­ak­ti­ven Stof­fen durch das MfS gegen Oppo­si­tio­nel­le – Fik­ti­on oder Realität

Und obwohl offi­zi­ell die radio­ak­ti­ven Wol­ken einen Umweg um die DDR gemacht hat­ten, hat die Sta­si für ihre Track­ing-Aktio­nen einen #Tscher­no­byl-Auf­schlag berech­net und die Strah­lungs­do­sis erhöht:

Die Dosis von jeweils 450 uCi (gesamt 1,9 mCi) war so stark, daß auch »von außen […] in der Woh­nung gear­bei­tet« wer­den konnte.130 Außer­dem wur­de, wie es heißt, »der infol­ge der KKW-Hava­rie [gemeint ist offen­sicht­lich Tscher­no­byl] erhöh­te Strah­lungs­un­ter­grund […] rech­ne­risch berücksichtigt.«131 Am sel­ben Tag wur­den der Ent­wick­lungs­in­ge­nieur und sei­ne Frau in der Woh­nung und der West­ber­li­ner eine Stun­de spä­ter an der Grenz­über­gangs­stel­le über­ führt und fest­ge­nom­men. Der Ein­satz der bereit­ge­stell­ten »Wol­ke-Mit­tel« lag in der Regie der Abtei­lung 26. Der Erfolg brach­te Haupt­mann Thie­le­mann, der als Mit­ar­bei­ter des OTS die prak­ti­sche Mar­kie­rung durch­führ­te, noch am sel­ben Tag einen Prä­mi­en­vor­schlag in Höhe von 400 Mark ein.

Eisen­feld et al. 2002, Pro­jekt­be­richt »Strah­len« Ein­satz von Rönt­gen­strah­len und radio­ak­ti­ven Stof­fen durch das MfS gegen Oppo­si­tio­nel­le – Fik­ti­on oder Realität

Die haben auch den Boden von Oppo­si­ti­ons­treff­punk­ten prä­pa­riert, so dass die Leu­te das Zeug dann an den Schu­hen hatten.

Oder Manu­skrip­te von Oppo­si­tio­nel­len radio­ak­tiv mar­kiert und dann geguckt, bei wem das im Wes­ten bzw. im Ost­block ange­kom­men ist.

Schon irre alles. Aber die Unter­su­chun­gen haben eben erge­ben, dass Rönt­gen­strah­lung nicht gezielt zur Schä­di­gung von Per­so­nen ein­ge­setzt wurde.

Quellen

Eisen­feld, Bernd & Auer­bach, Tho­mas & Weber, Gud­run & Pflug­beil, Sebas­ti­an. 2002. Pro­jekt­be­richt »Strah­len« Ein­satz von Rönt­gen­strah­len und radio­ak­ti­ven Stof­fen durch das MfS gegen Oppo­si­tio­nel­le – Fik­ti­on oder Rea­li­tät. Ber­lin: Bun­des­ar­chi­v/Sta­si-Unter­la­gen-Archiv. (http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292–97839421308513)

Das Recht auf Wür­de des Men­schen. 2023. Demo­kra­tie statt Dik­ta­tur. (https://www.demokratie-statt-diktatur.de/stasi-und-die-menschenrechte/wuerde-des-menschen/)