Am 11.01.2024 habe ich zur Zusammensetzung der Gruppe beim Nazi-Treffen, das Correctiv dokumentiert hatte, geschrieben (Correctiv und die Nazi-Vorstellungen bzgl. Remigration). Von 22 Menschen war einer aus dem Osten. Alle anderen Nazis kommen aus dem Westen. Nun gab es wieder ein Treffen. Diesmal nicht in Potsdam, sondern in der Schweiz. Bei diesem Treffen waren Mitglieder der in Deutschland verbotenen rechtsextremen Organisation „Blood & Honour“, der rechtsextremen schweizer Jugendorganisation Junge Tat, Mitglieder der Jungen Alternative Baden-Württemberg und AfD-Politiker*innen. Einige wurden mit Namen genannt: Roger Beckamp, Abgeordneter für die AfD im Deutschen Bundestag, und Lena Kotré, AfD-Landtagsabgeordnete in Brandenburg.
Ich nehme an, dass bei der Jungen Alternative aus BaWü kein Ossi dabei war. Beckamp ist aus Köln und Kotré aus West-Berlin. Das heißt, dass bei dem Treffen kein Ossi dabei war. Obwohl Kotré im Brandenburger Landtag sitzt, ist sie nicht aus dem Osten. Die Assoziation Osten = Nazi wird durch die Erwähnung des Arbeitsortes ohne die Angabe der Herkunft verstärkt. Noch mal: Beim Treffen in der Schweiz waren ausschließlich Westler.
Ich wünsche Ihnen eine schöne Weihnachtszeit und ein gutes neues Jahr. 2025 dürfte ja das wahr werden, wofür Sie immer in der taz argumentiert haben: Wir bekommen eine schwarz-grüne Regierung. Nur wird diese nicht grün-liberal, sondern neoliberal. Dank Merz. Ich schreibe Ihnen diese Karte, weil Sie vor einem Jahr in einer taz-Kolumne davon berichtet haben, dass Sie sich eine Karte von Christian Lindner in die Küche gehängt haben (taz, 07.01.2024). Ich wünsche mir, dass ganz viele taz-Leser*innen Ihnen auch Postkarten schicken, so dass Sie die von Lindner nicht mehr aufhängen müssen, falls er Ihnen dieses Jahr auch wieder eine geschickt hat. Wahrscheinlich haben Sie aber inzwischen auch erkannt, dass Lindner eine von Porsche korrumpierte (taz, 25.07.2022) und von Döpfner protegierte Person (taz, 16.04.2023) ist, deren Hauptziel es war, konstruktive Regierungsarbeit zu sabotieren (taz, 29.11.2024), auf keinen Fall also jemand, dessen Weihnachtskarten man sich in die Küche hängen würde.
Ich möchte Ihnen auch noch mal für Ihren Kling-Klang-Artikel zum Osten danken. Beim Nachdenken über diese Karte und darüber, wie sie zu Ihnen gelangen könnte, fiel mir eine Geschichte von vor 35 Jahren ein. Der alternative Radiosender Radio 100 hatte eine Sendung mit der Ost-Untergrundband Herbst in Peking gemacht und man konnte eine Platte der Band gewinnen. Dazu musste man eine Karte mit dem Motto der Band einschicken. Menschen aus dem Osten wurden ausdrücklich aufgefordert zu schreiben. Die Hälfte der Platten sollte an sie gehen. Die Bekanntgabe der Gewinner war für die Sendung in der kommenden Woche angesetzt. Das Problem war jedoch, dass die Post von Ost-Berlin nach West-Berlin damals 14 Tage brauchte. Ich habe mich dann auf’s Rad gesetzt und meine Postkarte in die Potsdamer Straße gebracht.
Und so ist es, dass Menschen aus dem Westen mitunter gar nicht merken, dass eigentlich gut gemeinte Dinge nicht funktionieren. Im Osten.
Da die Zustellzeiten der Post sich denen in der Wendezeit annähern, bringe ich die Postkarte mit dem Rad in die Friedrichstraße.
Herzliche Grüße auch an Ihre Frau, die das Aufhängen von Lindner-Karten schon im letzten Jahr richtig eingeordnet hatte
Das folgende Dokument aus dem Oktober 1989 ist eine Ausgabe des Telegraphs, einer Untergrundzeitschrift der Umweltbibliothek. (Nicht nur) folgende Stellen sind interessant:
Wir wollen als selbstbewußte Bürger unseres sozialistischen Staates endlich glaubhaft in den Entscheidungsmechanismus im Lande einbezogen werden, statt ein Leben in privater Zurückgezogenheit zu führen.
Schreiben der Kulturbundgruppen
Diese Aussage entspricht dem, was Katja Hoyer in ihrem Buch Dieseits der Mauer betont: Es gab viele Menschen in der DDR, die sich einfach ausgeklinkt hatten und sich ins Private zurückgezogen hatten. Zum Ende der DDR schien das einigen nicht mehr genug zu sein.
Der sowjetische Staatschef Gorbatschow hatte sich bereits an 6. Oktober bei Gesprächen mit jungen Leuten und Pressevertretern auf den Straßen indirekt für Reformen in der DDR erklärt. Wenn die Bürger es wollten, werde es auch in diesem Land eine Politik der Perestroika geben. Er habe Vertrauen, das es Korrekturen geben werde. Bei der Festveranstaltung zum 40. Jahrestag der DDR am 6. Oktober führte Gorbatschow aus, die DDR habe ihre eigenen Entwicklungsprobleme. Er bezweifle nicht, daß die SED im Stande sei, in Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen Kräften Antworten auf die Fragen zu finden, die durch die Entwicklung der DDR auf die Tagesordnung gestellt worden seien und ihre Bürger bewegten. Fragen, die die DDR betreffen, würden aber nicht in Moskau, sondern in Berlin beantwortet.
Honecker wußte darauf nur mit dem Hinweis auf den bewährten Kurs von langfristigen und tiefgreifenden Reformen zu antworten und beschuldigte die BRD, die Bürger der DDR durch eine zügellose Verleumdungskampagne verwirren zu wollen. Schon am Vormittag hatte Honecker gegenüber Journalisten das Vorhandensein eines Flüchtlingsproblems geleugnet und die Lage in Leipzig und Dresden als „normal“ bezeichnet.
Bei einem Gespräch mit Honecker am Nachmittag des 7. Oktober wurde Gorbatschow deutlicher. Nach Aussage des sowjetischen Regierungssprechers Gerassimow warnte Gorbatschow in Anwesenheit führender Politbüromitglieder: „Warten Sie nicht zu lange, sonst werden sie es bereuen! Er erläuterte die Fehler, die man in der SU in den siebziger Jahren begangen habe. Damals sei es klar gewesen, daß die UdSSR ihre Technologie revolutionieren mußte, wenn sie mit dem Westen Schritt halten wollte. Zu diesem Zweck habe die KPdSU ein Sonderplenum in Erwägung gezogen. Doch dazu sei es nie gekommen. Jetzt, ein Jahrzehnt später, sei dies zu bedauern. Erst in jüngster Zeit habe die KPdSU ein Sonderplenum zur Nationalitätenfrage verschoben, was dann dazu geführt hätte, daß das Nationalitätenproblem nur noch schlimmer geworden sei. Das Plenum im vergangenen Monat sei dann zu spät gekommen. Gorbatschow warnte, dem Regierungssprecher der UdSSR zufolge, davor, daß Regierungen, die sich nicht den Tendenzen der Gesellschaft anpaßten, sich selbst in Gefahr brächten. Honecker sei aber, so Gerassimow, nicht in der Stimmung gewesen, solchen Bemerkungen Aufmerksamkeit zu schenken. Er habe von der Notwendigkeit gesprochen, den Lenbensstandard in der DDR zu erhöhen.
ADN führte aus, Honecker habe betont, Hoffnungen auf bürgerliche Demokratie in der DDR bis hin zum Kapitalismus seien auf Sand gebaut.
Fluchtbewegung
Als ADN am 4. Oktober meldete, in Übereinkunft mit der CSSR habe sich die Regierung der DDR entschlossen, auch die Personen, die sich neuerlich wieder in der Botschaft der BRD in Prag aufhielten, über die DDR in die BRD auszuweisen (hauptsächlich aus menschlichen Erwägungen gegenüber den Kindern), konnte diese großmäulige nachträgliche Rationalisation nur noch einen peinlichen Eindruck hinterlassen.
Nach dem Abtransport der letzten 5.000 Botschaftsbesetzer durch die Deutsche Reichsbahn in den Westen war es sehr schnell zu neuen Aufläufen in den BRD-Botschaften in Prag und Warschau gekommen. BRD-Außerminister Genscher beeilte sich mit dem Wort von den “Nachzüglern” eine ähnliche Lösung vorzubereiten. Die DDR-Regierung protestierte und verwies auf ein Abkommen, nach dem die BRD in ihren Botschaften keine neuen Flüchtlinge aufnehmen wollte. Genscher wies zurück: Es könne keine Verträge mit der DDR über die Botschaften der BRD in souveränen Staaten geben. Die BRD sei nicht für den Flüchtlingsstrom verantwortlich.
Ob nun tatsächlich, wie aus osteuropäischen Botschaftskreisen zu hören war, Gorbatschow im Falle des anhaltenden Problems der DDR die Absage seines Besuchs zum 40. Jahrestag angedroht hat, bleibt unklar. Jedenfalls baute die DDR-Regierung zuerst neuen “Nachzügler” vor und sperrte einfach die Grenze für den visafreien Verkehr in die CSSR. Honecker habe, teilte der britische Medienzar Maxwell aus dem Inhalt eines Gesprächs mit, der riesige Zufluß beunruhigt und er entschloß sich, die Grenzen zur CSSR zu schließen, „damit der Fluß von Menschen über diesen Weg aufhört“. Eine offizielle Begründung gab es dazu auch noch: „Bestimmte Kreise in der BRD bereiteten weitere Provokationen zum Jahrestag der DDR vor, die gegen Ruhe und Ordnung gerichtet seien.” Jetzt ging es mit voller Energie an die Nachzüglerregelung. Nicht gedacht hatte man freilich daran, daß „Menschenströme“, die gestoppt werden, sich nicht etwa verlaufen, sondern in höchst staatsgefährdenderweise zu Staus neigen, in diesem Fall an Bahnhöfen und Strecken, die durch die Prager Flüchtlingszüge vermutlich durchquert werden mußten.
Am Dresdner Bahnhof etwa, wo sich nach verschiedenen Angaben 1.00 bis 3.00 Personen auf Bahnsteig 5 gesammelt hatten und probeweise erstmal einen Zug aus der Gegenrichtung stoppten, testete die ratlose Behörde das ganze Arsenal von Vertröstungen und Drohungen durch. Von „Bürger, wenden Sie sich mit ihrem persönlichen Anliegen an die Abteilung Inneres, treten Sie die Heimreise an!“ bis „Verlassen Sie sofort den Bahnhof, volkspolizeiliche Maßnahmen werden jetzt anlaufen!“. Nichts zog mehr und erst mit Knüppeleinsatz und zahlreichen Festnahnen gelang es, den Bahnhof vorläufig zu räumen.
Soviel „Technische Schwierigkeiten“ hatten die Züge schon auf den Weg nach Prag. Nachdem die Sonderzüge der Deutschen Reichsbahn dann endlich mit den Flüchtlingen Prag verlassen konnten, verschwanden sie 8 Stunden in der DDR, gejagt von tausenden von Ausreisewilligen, heimlich über verschlungene Strecken geführt, sorgsam verteidigt von den Genossen der Volkspolizei. In Dresden kam es während der Nacht erneut zu Demonstrationen von tausenden von Ausreisewilligen vor und auf dem Bahnhof. Bei zum Teil gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden Pflastersteine geworfen, ein Auto angezündet und Fensterscheiben des Bahnhofs eingeworfen. Nach Angaben aus Dresden gab es 45 verletzte Demonstranten und 45 verletzte Polizisten. Wie es scheint, wurde damit eine Demonstrationspraxis für Ausreisewillige eingeführt. Seitdem sammeln sie sich täglich vor dem Dresdner Bahnhof. Meldungen aus Dresden zufolge werden als Reaktion auf die Ereignisse jetzt im Dresdner Staatssicherheitsgebäude Ausreisegenehmigungen am Band verteilt. Andere Quellen sprechen immerhin von 2 Tagen Bearbeitungszeit. Und schon warten neue Flüchtlinge in Prag und Warschau, ganz zu schweigen von den täglichen 500, die über Ungarn gehen.
Offener Brief von Gewerkschaftsfunktionären
Erfreulich und für etliche erstaunlich zeigte sich, daß auch die Arbeiter in den Betrieben beginnen, sich ein wenig in die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen. Aus 2 Berliner Großbetrieben, dem VEB Transformatorenwerk „Karl Liebknecht“ und dem VEB Bergmann-Borsig z. B. gingen inhaltlich fast gleichklingende Briefe an den den FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch. Diese Briefe waren in den Betrieben selbst Anstöße zu weitergehenden Diskussionen, vor allem zur Rolle der Gewerkschaften, in denen unter anderem die Forderung nach Trennung von Gewerkschafts- und Parteiapparat deutlich wurde.
Sehr geehrter Kollege Harry Tisch! Berlin, den 29. 9. 1989 Stellvertretend für den überwiegenden Teil von 480 Gewerkschaftsmitgliedern wenden wir Vertrauensleute und AGL-Funktionäre der AGL-TK (Technischer Bereich) des VEB Bergmann-Borsig, Berlin, uns mit diesem offenen Brief an Sie, um auf einige sich in letzter Zeit verschärfende Probleme in unserer Arbeit hinzuweisen. Wir tun das in der Überzeugung, daß Sie in Ihrer Eigenschaft als Vorsitzender des FDGB-Bundesvorstandes und Mitglied des Politbüros des ZK der SED Einfluß auf die Überwindung der im folgenden dargelegten Situation ausüben können.
Mit großer Aufmerksamkeit verfolgen wir Gewerkschaftsmitglieder die derzeitige politische Entwicklung in unserem Lande. Viele unserer Kollegen treten zunehmend kritisch auf und bekunden Befremden und Unzufriedenheit. Insbesondere stößt die offizielle Interpretation der politischen Realität und aktueller Geschehnisse durch die Massenmedien der DDR mehr als bisher auf Unverständnis. Es liegt auf der Hand, daß sich in einem derartigen Stimmungsklima Wettbewerbsmüdigkeit und nachlassende Leistungsbereitschaft breit machen, wie es z.B. bei der Plandiskussion 1990 zutage trat.
In Diskussionen ist eine nahezu einhellige Ablehnung der Art und Weise festzustellen, wie Presse, Rundfunk und Fernsehen tiefgreifende und die Werktätigen bewegende aktuelle politische Probleme abhandeln oder zum Teil verschweigen. Dabei wird in keiner Weise der Tatsache Rechnung getragen, daß es sich bei unseren Menschen um politisch urteilsfähige, mündige sozialistische Persönlichkeiten handelt, die einen Anspruch auf objektive Information haben.
Besonders krass kommt im Zusammenhang mit der legalen und illegalen Ausreise vieler unserer Mitbürger in die BRD zum Ausdruck, wie weit Realität und Propaganda voneinander entfernt sind. Inzwischen sind auch aus unseren Reihen schmerzliche Verluste zu beklagen. Verlassen haben uns Menschen, die in unseren Schulen eine sozialistische Erziehung erhielten und die in unserem Land eine gesicherte Existenzgrundlage hatten.
Es trifft nicht im entferntesten die Überzeugung und Empfindungen der Mehrzahl unserer Kollegen, wenn die Medien nach peinlichem Schweigen nun den Versuch unternehmen, die Abkehr so vieler unserer Menschen ausschließlich als Machwerk des Klassengegners zu entlarven, bei dem diese DDR-Bürger nur Opfer oder Statisten sein sollen.
Wir sind auch nicht der Meinung, daß es nützlich ist, die Minderheit prozentual zu errechnen und im übrigen davon auszugehen, daß die Hiergebliebenen die Zufriedenen seien. Bei Anhalten dieser Situation werden über kurz oder lang schwerwiegende Folgen für viele Bereiche unserer Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben eintreten. Wir halten es deshalb für dringend erforderlich, daß die wahren Gründe, die zum Weggang unserer Bürger führen, sorgfältig und ehrlich untersucht und diskutiert werden.
Einer der Gründe ist mit Sicherheit die unzureichende ökonomische Stärke der DDR und die gesamte daraus resultierende Palette an Restriktionen für unsere Menschen, ein anderer, das gestörte Vertrauensverhältnis der Bevölkerung zum Staat und seiner führenden Partei.
Kollege Tisch, wir wenden uns an Sie, weil wir um die Entwicklung unseres Landes besorgt sind und nach Wegen suchen, weiteren Schaden abzuwenden. Wir erwarten von Ihnen, daß sie Ihre ganze Kraft und die Ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einsetzen, um den öffentlichen Dialog über dringend notwendige Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen einzuleiten und durchzusetzen. Dabei kommt nach unserer Überzeugung dem Einfluß der Gewerkschaft entscheidende Bedeutung zu. Wir müssen den Menschen neue Perspektiven bieten, die es ermöglichen, das bisher Erreichte auf der Basis wirklicher individueller Einflußnahme weiterzuentwickeln. Der Sozialismus muß zu einer neuen Attraktivität entfaltet werden, die alle motiviert, sich mit ihm zu identifizieren.
Wir und unsere Mitglieder wären Ihnen für eine baldige Antwort dankbar. 20 Unterschriften
Willenserklärung von Kulturbundgruppen
Wir, die Vertreter von 25 Arbeitsgemeinschaften des Kulturbundes aus großen Städten unseres Landes, die auf den Gebieten des Umweltschutzes, der Stadtökologie und der Stadtgestaltung tätig sind, haben während unseres Treffens in Potsdam am 7. und 8. Oktober 1989 einen Erfahrungsaustausch durchgeführt. Im Ergebnis der Diskussion stellten wir fest, daß uns alle die gleichen ernsten Probleme beschäftigen und die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen einen fruchtbaren Dialog und effektive Arbeit nicht zulassen. Deshalb wenden wir uns mit dieser Willenserklärung an Sie, mit der dringenden Bitte um Veröffentlichung:
Wir sind am Tage des 40. Geburtstages unserer Republik betroffen, traurig und auch wütend über den Zustand unseres Landes. Das Gehen vieler ist für uns der Ausdruck der Enttäuschung und der Abkehr, die schon seit Jahren Teile der Bevölkerung erfasst haben. Wir sind von Unehrlichkeit umgeben, wo Aufrichtigkeit lebenswichtig wäre. Wir müssen feststellen, daß Engagement und Sorgen um unser Dasein und das unserer Kinder bagatellisiert oder gar kriminalisiert werden. Weil die vorhandenen gesellschaftspolitischen Strukturen unglaubhaft sind und nicht den Erfordernissen unserer Zeit entsprechen, bilden sich neue Plattformen mit großem Zuspruch.
Wir wollen Wahlen, die durchschaubar sind, Alternativen bieten und von der Öffentlichkeit lückenlos kontrollierbar sind.
Wir wollen als selbstbewußte Bürger unseres sozialistischen Staates endlich glaubhaft in den Entscheidungsmechanismus im Lande einbezogen werden, statt ein Leben in privater Zurückgezogenheit zu führen.
Wir wollen ehrliche Analysen und Aussagen über den Zustand unserer Wirtschaft und unserer Umweltbedingungen. Wir wollen Medien, in denen wir uns, unser Leben und unsere Probleme wiederfinden.
Wir wollen im Beruf und in der Freizeit aktiv für eine sozialistische Gesellschaft arbeiten, die sich durch Ehrlichkeit, gegenseitige Achtung und Offenheit auszeichnet, die die ökologische Gefahr erkennt und produktiv verarbeitet, die durch eine menschenwürdige Perspektive Leistungsbereitschaft und Lebensfreude verbreitet.
Wir fühlen uns als Aushängeschild mißbraucht.
Wir wollen, daß der Kulturbund der DDR, sich auf seine Traditionen besinnend, eine wichtige Plattform zur demokratischen Erneuerung unseres Landes wird.
Wir wollen nicht, daß die von uns allen in 40 Jahren geschaffenen Werte in Gewalt und Chaos untergehen.
Potsdam, den 8. 10. 1989 58 Unterschriften
Weitere Reformerklärungen
Der Dresdener Physiker Manfred von Ardenne erklärte, in der DDR müsse die Wahrheit auf allen Ebenen durchgesetzt werden. Nur so könnten die Menschen auf breiter Basis wieder aktiviert werden. Nach den Schriftstellern und den Musikern haben in den letzten Tagen auch Schauspieler zahlreicher Theaterensembles in Berlin und anderen Orten einen öffentlichen Dialog über die Probleme des Landes gefordert. Am Abend des 5. Oktober hängte beispielsweise das Ensemble des Gorki-Theaters eine solche Erklärung offen im Foyer aus. Darin schließen sich die Schauspieler und übrigen Mitarbeiter einer vom Ostberliner Schriftstellerverband verfaßten Resolution von vor 3 Wochen an. Am 7. Oktober veröffentlichten die Schauspieler der Berliner Volksbühne und des Deutschen Theaters ihre Resolution. Eine derartige Resolution gab es auch im Staatsschauspiel Dresden. Sie wurde am 6. Oktober nach der Vorstellung verlesen. An 7. Oktober wurde wegen eines Verbots statt der Verlesung eine Schweigezeit eingelegt.
Drohgebärden
Der Superintendent von Berlin-Pankow, Werner Krätschell, erhielt von staatlicher Seite die Warnung, die Oppositionsbewegung in der DDR müsse eingestellt werden. In einem Interview mit der BBC erklärte Krätschell, ein führender Parteifunktionär habe ihm gegenüber zum Ausdruck gebracht, falls irgendwelche Gruppen die Absicht hätten, dem Sozialismus in der DDR Schaden zuzufügen, sollten sie sich daran erinnern, was in China passiert sei. Nach. Auffassung von Krätschell handelte es sich um eine bewußte Warnung, die verbreitet werden sollte.
In der SED-eigenen „Leipziger Volkszeitung“ vom 6. Oktober wurde in einem Aufruf von der Kampfgruppenhundertschaft „Hans Geifert“ erklärt: „Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um konterrevolutionäre Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden, wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand.“
Massendemonstrationen in der DDR
Dresden
Am 3. Oktober versammelten sich am Dresdener Hauptbahnhof noch mehr Menschen als am Tag zuvor. Nach Schätzungen sollen es fünf bis zehntausend gewesen sein. Gegen 21.00 Uhr wurden sie von Einheiten der Transportpolizei und der Kampfgruppen zum Verlassen des Bahnhofes gezwungen. Das gesamte Bahnhofsgelände wurde abgesperrt. Nach mehrmaliger Aufforderung seitens der Einsatzkräfte, die Versammlung vor den Bahnhof aufzulösen, gingen diese brutal gegen die Demonstranten vor. Aus einer Gruppe von 200 bis 300 Personen kamen Steinwürfe in Richtung des Bahnhofes. Zwei LOs wurden umgekippt, ein Wagen angezündet. Aus den Reihen der Demonstranten, die sich hauptsächlich aus Ausreisewilligen zusammensetzten, erklangen Rufe nach „Freiheit“ und der Zulassung des „Neuen Forum“. Die Polizei war an diesem Abend wie auch an den folgenden mit Helmen, Schilden und Gummiknüppeln ausgerüstet. Wasserwerfer wurden aufgefahren. In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag bildeten sich Menschenansammlungen in der Prager Straße und vor den Hauptbahnhof. Beide Gruppen wurden in der Prager Straße in einem Kessel zusammengetrieben. Wasserwerfer fuhren in die Menge und trieben sie auseinander. Danach erfolgten zahlreiche Festnahmen. Das Gelände des Dresdener Hauptbahnhofes war während der ganzen Zeit durch die dort stationierten Kampfgruppen abgeriegelt.
Am Freitag Abend soll sich ein Demonstrationszug von der Kreuzkirche in Richtung Prager Straße bewegt haben. Nähere Informationen sind bisher nicht bekamt. An 7. Oktober ab 20.00 Uhr formierte sich ein Demonstrationszug, der sich von Hauptbahnhof in Richtung Neustadt und wieder zurück bewegte. Die Zahl der Teilnehmer soll 20 bis 30 000 betragen haben. Auch an diesen Abend kam es zu übergriffen der Polizei, die teilweise mit Gasmasken ausgerüstet war und Knallkörper in die Menge warf, sowie zu zahlreichen Festnahmen.
Laut einer Information aus Dresden sollen ein Panzer- und ein Fliegerbatallion in höchste Alarmstufe versetzt worden sein.
Am 8. Oktober formierten sich mehrere Demonstrationszüge ausgehend vom Theaterplatz. Verschiedene Züge wurden gestoppt, dabei gab es 70 bis 100 Festnahmen. Weitere Gruppen versammelten sich am Busbahnhof. Gegen 20.00Uhr durchbrachen mehrere Menschen die Polizeikette in der Prager Straße und begannen einen Sitzstreik. Die Demonstranten formulierten Forderungen, die später dem Oberbürgermeister in Beisein von Bischof Hempel und Superintendent Ziemer übergeben wurden. Der Sitzstreitk wurde unter der Bedingung abgebrochen, daß der Rat der Stadt Gespräche mit den Demonstranten führt. Eine Delegation erhielt die Auskunft, daß an 9. 10. eine Information dazu von staatlichen Stellen komme. Die Ergebnisse der Gespräche werden in 4 Dresdener Kirchen am Abend in ausgesprochen politischen Veranstaltungen bekanntgegeben.
Leipzig
Am Montag, dem 2. Oktober, nach dem traditionellen Fürbittgottesdienst in der Nikolaikirche bewegte sich ein Demonstrationszug in Richtung Bahnhof. Binnen kürzester Zeit war er auf 10 bis 20.000 Menschen angewachsen. Die Innenstadt von Leipzig wurde vollständig abgeriegelt, trotzdem soll sich die Zahl der Demonstrationsteilnehmer auf 25 000 erhöht haben. Die Sicherheitskräfte gingen mit Brutalität gegen die Eingeschlossenen vor, es gab zahlreiche Verletzte und Festnahmen.
Am 7. Oktober gegen 14.00 Uhr diskutierten etwa 100 Personen vor der geschlossenen Nikolaikirche. Der Platz um die Kirche wurde abgesperrt und geräumt, dabei gab es eine unbestimmte Zahl von Festnahmen. Eine Stunde später versammelte sich in der Grimmaschen Straße eine große Menschenmenge. Sie wurde von Sicherheitskräften eingeschlossen und eine Panik brach aus. Später bewegte sich die Menge in Richtung Karl-Marx-Platz und obwohl die Innenstadt vollständig abgeriegelt war, wuchs die Menge auf ca. 10 000 Menschen an. Durch die teilweise mit Maschinenpistolen ausgerüsteten Polizeikräfte gab es regelrechte Hetzjagden auf Demonstranten. Trotzdem bildeten sich immer wieder Diskussionsgruppen und während der ganzen Zeit wurde nach der Zulassung des „Neuen Forum“ und „Schämt auch was“ gerufen. Wiederum gab es viele Festnahmen.
Arnstadt
Am 30. September trafen sich gegen 14.00 Uhr etwa 800 Menschen auf dem Marktplatz. Ein Redner sprach über das „Neue Forum“. Nach lebhaften Diskussionen löste sich die Menge nach etwa einer Stunde von allein auf.
Am 7. Oktober bewegte sich ein Demonstrationszug von etwa 600 Personen von Marktplatz aus durch die Stadt. Von der anrückenden Polizei wurde ein Kessel gebildet, die Demonstranten wurden zur Auflösung aufgefordert, die meisten folgten dieser Forderung, auf die übrigen wurde eine Hetzjagd veranstaltet.
Potsdam
In Potsdam versammelten sich am 7. Oktober 2 bis 3 000 Einwohner in der Nähe des Stadttores und zog danach singend in Richtung Platz der Nationen. Der Zug löste sich zum großen Teil vor dem Cafe Heyder von selbst auf; gegen die Übriggebliebenen ging die Polizei überraschend vor. Einige versuchten sich den Festnahmen durch Festhalten an Absperrungen zu entziehen, die Polizei schlug brutal auf die Menschen ein, dabei wurden selbst eine schwangere Frau und ein 12-jähriges Kind nicht verschont.
Karl-Marx-Stadt
Nach der Absage einer Veranstaltung des „Neuen Forum“ am Luxor-Platz versammelten sich spontan 500 bis 1.000 Menschen: Diese Versammlung wurde unter Einsatz von Wasserwerfern aufgelöst. Es gab Verletzte und Festnahmen.
Magdeburg
Nach dem traditionellen Shala-Gebet am 5. Oktober zog eine Gruppe von vorwiegend Ausreisewilligen in Richtung Rathaus, dabei vergrößerte sie sich auf etwa 300 bis 500. Rufe nach Demokratie und Freiheit in der DDR ertönten. Die Polizei löste den Zug auf und nahm etwa 250 Personen fest.
Am 7. Oktober versammelten sich ca. 500 Menschen in der Innenstadt. Sie wurden von Bereitschaftspolizei und Kampfgruppen der Arbeiterklasse auseinandergetrieben. Dabei gab es 50 bis 90 Festnahmen.
Berlin
Aus Anlaß der traditionell am 7. jeden Monats stattfindenden Aktionen gegen den Wahlbetrug am 7. Mai 1989 fand am 7. Oktober eine kleine Gruppe Menschen auf dem Alexanderplatz ein. Sie forderten in Sprechchören „Freiheit“ und die Zulassung des „Neuen Forum“. Dadurch erhielten sie Zulauf von immer mehr Umstehenden. Es formierte sich ein Demonstrationszug, der sich in Richtung Staatsratsgebäudes bewegte. Auf der Höhe des Palastes der Republik, als der Zug bereits auf mehrere hundert Personen angewachsen war, wurden etwa 50 bis 60 Demonstranten von der Polizei eingekesselt. Nach Auflösung des Kessels zogen die Demonstranten am ADN-Gebäude vorbei in Richtung Prenzlauer Berg. Auf dem Weg zur Schönhauser Allee riefen Sprechchöre „Bürger laßt das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein“, „keine Gewalt” angesichts eines riesigen Polizeiaufgebots. Der Demonstrationszug bestand inzwischen aus 5 000 bis 10 000 Menschen. In Höhe der Gethsemane-Kirche, in der seit Montag, dem 2. Oktober, eine Mahnwache für politisch Inhaftierte in der DDR stattfindet, wurden beide Gruppen auf der Schönhauser Allee bzw. der Pappelallee gestoppt. Sie wurden zum Helmholtzplatz abgedrängt und wieder eingekesselt. Hier gab es wieder unter brutalstem Einsatz von Gummiknüppeln eine große Zahl von Festnahmen. Kleinere Gruppen wurden versprengt, sie fanden sich jedoch meist später in der Nähe des S‑Bahnhofes Schönhauser Allee wieder, auch weil viele in der Gethsemane-Kirche Schutz suchen wollten. Diese war jedoch vollkommen abgeriegelt. Unter Einsatz von Räumgitterfahrzeugen, Wasserwerfern, Hunden und Gummiknüppeln wurden die Demonstranten auseinandergetrieben und hunderte festgenommen. An den Einsätzen waren Ordnungsgruppen der FDJ (16 bis 20jährige!), Polizei, Bereitschaftspolizei und Armee beteiligt, die oftmals mit größter Gewalt auch gegen Frauen und Kinder vorgingen. Etwa gegen 23.30 Uhr führten ca. 350 Personen eine Sitzblockade vor dem S‑Bahnhof Schönhauser Allee durch. Sie wurden eingekesselt, in einen Hinterhof getrieben und von dort aus auf LOs verladen und abtransportiert. Insgesamt soll es an diesem Abend ungefähr 700 Festnahmen gegeben haben.
Am 8. Oktober nach der Andacht in der Gethsemane-Kirche wurde diese vollständig von Bereitschaftspolizei, Kampfgruppen der Arbeiterklasse, Soldaten des Wachregiments, Polizei und zivilen Staatssicherheitsmitarbeitern abgeriegelt. Auf der Schönhauser Allee versammelten sich spontan aus Solidarität mehrere hundert Menschen. Nach Verhandlungen mit den Sicherheitskräften wurde die Möglichkeit gewährt den Kessel um die Kirche in Richtung Schönhauser Allee zu verlassen.
Auf der Schönhauser Allee standen Räumgitterfahrzeuge, Wasserwerfer, Sonderkormandos mit Helm, Schild, Knüppeln, Stahlruten sowie Zivilkräfte. Es bildete sich ein Demonstrationszug, setzte sich in Richtung Zentrum in Bewegung mit Rufen wie: „Keine Gewalt“, „Gorbi“, „Bürger auf die Straße“ und „Väter, schießt nicht auf eure Söhne!“ Der Zug wurde in Richtung S‑Bahnhof Schönhauser Alle unter brutalsten Polizeieinsatz zurückgetrieben. Es gab viele Festnahmen sowie zahlreiche Verletzte.
Auch setzten Sicherheitskräfte mehrmals zum Sturm auf die Gethsemane-Kirche an, jedoch wurde kein Kirchengelände betreten.
Kommentar
China ist nicht fern „In den Kämpfen unserer Zeit stehen DDR und VR China Seite an Seite“ (ND, 2. 10. 89)
Es ist nicht zu glauben: in einem sich sozialistisch nennenden Staat gehen BePo und Kampftruppen geschlossen gegen Bürger vor, die immer wieder in Sprechchören wiederholen: „Keine Gewalt, Keine Gewalt“, „Freiheit, Freiheit“. Was ist das für ein Machtsystem, das für sich den Anspruch erhebt, im Sinne und zum Wohle aller Bürger zu regieren? Kann man das Geschehene überhaupt noch in Worte fassen? Haß macht sich breit, wenn Menschen gejagt werden wie Hasen. Und ebenso wehrlos wie diese gegen die Gewehre der Jäger waren wir! Die Beine schlottern mir vor Angst vor diesem Aufgebot der Gewalt. Hilft es, sich zu verbarrikadieren? Warum? Wozu? Wen beschützen diese „Freunde und Helfer“? Doch nur ihre Menschen werden mißbraucht, um die Macht dieses überalterten, reformbedürftigen Apparates aufrechtzuerhalten. Junge Männer, die das Wohlergehen eines Landes mehren könnten, werden oder ließen sich in Uniformen pressen und mußten auf Befehl gegen friedliche Menschen vorgehen. Auf den Gesichtern dieser jungen Uniformierten spiegelte sich Naivität und Verwirrtheit wider. Einer, der die Uniformierten gefragt hatte, sagte: „Sie schämen sich“. Und dann Wasserwerfer, in Reihen marschierende Einheiten – kann man Assoziationen zu 1933 noch unterdrücken? Was geschieht mit den Leuten, die auf L0s unter Bewachung in Käfigen (man stelle sich das vor: in Drahtverschläge gepfercht!) weggefahren wurden? Es ist unfaßbar, was auf unseren Straßen, die von übelster Geschichte geprägt sind, passiert. Die Vorstellungskraft reicht nicht aus, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Berlin, 8. 10. 1989, 1.45 MEZ
Mahnwache in der Berliner Gethsemanekirche
An 2. Oktober um 16.00 Uhr begann in der Berliner Gethsemane-Kirche eine Mahnwache für die Inhaftierten der letzten Wochen. Die Beteiligung an den täglichen Andachten wuchs im Laufe der Zeit bis auf 2.500 Leute. Der Staat versuchte zunächst, über den Gemeindekirchenrat Druck auszuüben, Plakate am Kirchturm wurden kritisiert und mußten abgenommen werden. Die Mahnwache wollte informieren und dadurch Solidarisierung aus der Bevölkerung erreichen. In den Hauptverkehrszeiten wurden vor der Kirche Handzettel verteilt. Von fast allen Passanten wurden sie mit großem Interesse aufgenommen und die Reaktionen reichten von verbalen Solidaritätserklärungen bis zu Geld- und Essenspenden. Es gab nur sehr wenig Ablehnung und Unverständnis. Grundsatz der Mahnwache ist Gewaltlosigkeit. Sie will weder die Sicherheitskräfte provozieren, noch sich provozieren lassen.
Innerhalb der Mahnwache läuft eine Fastenaktion, der sich inzwischen ca. 20 Leute angeschlossen haben. Die Fastenden sind religiös motiviert, möchten sich von „Angst, Resignation, Haß, Gewalt, Ungeduld und Sensationslust reinigen“ und sehen im Fasten eine Protestmöglichkeit gegen „die Art und Weise, mit der unsere Politiker ungerührt den Schein aufrechterhalten, die den 40. Jahrestag als ihren Sieg feiern“. Außerdem geht es um Solidarität mit allen Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, die dafür leiden müssen und verfolgt werden.
In Zusammenhang mit den Demonstrationen am 7. Oktober kam es zu einem Übergriff einer Spezialeinheit auf die Gethsemanekirche, dabei wurden zwei Mitglieder des Gemeindekirchenrates „entführt“.
Seit dem 7. Oktober sind die Andachten von einem unvorstellbaren Aufgebot von Sicherheitsorganen begleitet. Es kam wiederholt zu Knüppeleinsätzen gegen Besucher der Andachten in der Gethsemanekirche. Die Gethsemanekirche war zeitweise regelrecht eingekesselt und nicht zu erreichen. Das Kontakttelefon war oftmals längere Zeit nicht zu erreichen.
“Demokratischer Aufbruch”
Am 1. Oktober versuchte sich eine neue Plattform, „Demokratischer Aufbruch“, unter dem Berliner Pfarrer Eppelmann und dem Erfurter Pfarrer Edelbert Richter zu gründen. Die Plattform steht, wie Eppelmann mitteilte, für „sozialistisch, demokratisch, christlich, ökologisch“ und sieht sich nicht als Anlaufstelle für Konservative.
Aufgrund massiven Polizeieinsatzes konnte die Gründungsveranstaltung des „Demokratischen Aufbruch“ nicht stattfinden. Die Plattform soll, wie Eppelmann mitteilte, demnächst ebenso wie das „Neue Forum“ angemeldet werden und wird sich an den nächsten Wahlen mit einer eigenen Liste beteiligen. Am 3. Oktober traf das CDU-Mitglied und Bundesarbeitsminister Blüm, in der BRD bekannt als Vorreiter des Abbaus sozialer Rechte, mit vier Mitgliedern des „Demokratischen Aufbruch“ zusammen.
Linke Gruppen und Sympatisanten trafen sich
Eine Diskussion von linken Gruppen und Sympatisanten war für den 2. Oktober in der Berliner Kirche von Unten angesetzt. Leider war ein großer Teil der etwa 120 Teilnehmer in der Erwartung gekommen, es handle sich um eine Versammlung des „Neuen Forum“. So wurde von vielen immer wieder gefragt, ob denn nicht der Sozialismus bankrott sei. Auch Anhänger einer Wiedervereinigung versuchten sich Gehör zu schaffen. Es gelang nicht, zwischen den auseinanderstrebenden Parteien einen konstruktiven Diskussionsstrang zu entwickeln. Erstaunlich genug war aber, daß sich die Versammlung auf fünf Essentials der Böhlener Plattform einigen konnte:
gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln als die vorherrschende und perspektivische Grundlage sozialistischer Vergesellschaftung
Ausbau der Selbstbestimmung der Produzenten in Verwirklichung realer Vergesellschaftung der gesamten ökonomischen Tätigkeit
konsequente Verwirklichung des Prinzips der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Gesellschaftsmitglieder
politische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, konsequente Verwirklichung der ungeteilten Menschenrechte und freie Entfaltung der Individualität jedes Gesellschaftsmitglieds
ökologischer Umbau der Industriegesellschaft.
Arbeitsgruppen wurden zu Schwerpunktthemen wie Wirtschaft, Politik, Kultur gebildet. Bei einem Arbeitswochenende, das noch geeignet angekündigt wird, soll in Arbeitsgruppen und Plenum das Projekt einer vereinigten Linken eine Fortsetzung finden.
Kommentar: schlechte Aussichten?
Der erste Anlauf zur öffentlichen Diskussion einer vereinigten Linken ist, so muß man wohl sagen, gescheitert. Das lag sicher an einen großen Teil des Publikums, das ganz andere Erwartungen hatte, eine Debatte über nichtsozialistische Alternativen zum existierenden System wollte, und den Titel der Veranstaltung offenbar nur als augenzwinkerndes Ablenkmanöver verstand. Es war tatsächlich ein neues Publikum, nicht die anonymen Linken der „Böhlener Plattform“, auch nicht „die Massen“, auf die man gehofft hatte, sondern ganz normales DDR-Volk, das sich sonst in „Scene“-Veranstaltungen nicht blicken läßt. Auch die Umweltbibliothek erlebte überrascht diesen neuen Andrang aus dem Volk. Binnen vier Tagen waren die 2 000 Exemplare „Unweltblätter“ weg. Zum Zusammenlegen der Seiten stand eine Schlange an, als ob es Bananen gäbe und ohne Rücksicht auf die Nachfolger rissen die Leute ganze Stapel von für sie besonders interessanten Seiten an sich. Nebenan mußte trotz Arbeitsüberlastung nachgedruckt werden. „Egozentrisch“, „nicht gruppenfähig“, „politisch diffus“, „Kleinbürger“ – so waren Urteile von Mitarbeitern. Das war unser bisheriges Bild von Ausreisewilligen – so sind aber ganz normale DDR-Bürger und wir werden in Zukunft mit genau diesen Leuten rechnen und mit innen sprechen müssen. Das bringt uns zu den Linken zurück.
Verständlich ist der Ärger, eine Veranstaltung, die ein guter Anlauf werden sollte, in solcher Weise von breitesten Volksmassen und auch wohl zu viel verlangt, den Abend in eine Agitprop-Veranstaltung umzufunktionieren und Lieschen Müller und (einem ebenfalls erschienenen) Gesellschaftswissenschaftler zu erklären, daß das, was wir „Linke“ nennen, eine Menschheitsbewegung und ‑sehnsucht ist, die seit den ersten Sklavenaufständen datiert und nicht mit den perversen Interpretationen eines Stalin und seiner Nachfolger verwechselt werden darf. Aber daß nicht nur hinter den Kulissen sich schon wieder die Anhänger der einzelnen Systemchen in die Bresche werfen, um der noch gar nicht geschaffenen Bewegung ihr besonders wissanschaftliches oder besonders revolutionäres Modellchen aufzudrängen, – das war nicht nötig, das war peinlich, auch das hinterließ sicher beim Publikum einen negativen Eindruck.
Überwältigend aber war doch der Anblick eines mehrheitlich liberalen bis schweigenden Publikums, das sich im Laufe des Disputs um zwei Drittel verminderte, gegenüber einer Handvoll umso lautstärker agierender Linker, jeder auch noch von einer anderen Fraktion. Wenn das nicht so bleiben soll, wenn eine vereinigte Linke nicht als Sekte mit Spaltpilz enden soll, werden sich die Damen und Herren der „Böhlener Plattform“ schon aus ihren konspirativen Schützengräben ins Licht der Öffentlichkeit wagen müssen.
Nachsatz: Schon vor der Veranstaltung begann die Mahnwache in der Berliner Gethsemane-Kirche, ein Grund, warum viele besonders junge Leute nicht zur Kirche von Unten kamen. Es wäre eine Frage des (sagen wir mal) Anstands gewesen, daß die linken Theoretiker nach Abschluß der Veranstaltung bei der Mahnwache vorbei schauen. Es gab aber wohl Wichtigeres zu tun. Auch in den nächsten Tagen fand sich niemand ein, was dadurch ausgeglichen wurde, daß Vertreter des „Neuen Forum“ ebenfalls fehlten.
Sozialdemokratische Partei gegründet
„Wir wollen damit ein Hoffnungszeichen setzen in der Unruhe und Spannung dieser Tage und Wochen. Es soll ein Zeichen sein des beginnenden Endes einer entmündigenden Herrschaft und des notwenligen Anfangs einer wirklich demokratischen deutschen Republik.“
So heißt es in einer Erklärung jener Initiativgruppe zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei, die sich an 26. August 1989 mit ihrem Anliegen in einem Aufruf an die Öffentlichkeit gewandt hatte, zur Gründung der SDP am 7. Oktober. Besagte Erklärung wurde von den ca. 80 anwesenden der Gründungs-Traditionslinie der deutschen Sozialdemokratie in Punkten wie z. B. dem „Eintreten für die Benachteiligten im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozeß“ oder der Bindung der „Verfolgung ihrer Ziele an demokratische Wege und Methoden“.
Sie will sich in landesweiten und regionalen Strukturen aufbauen, die „den einzelnen Mitgliedern eine verbindliche Mitarbeit ermöglicht und durch sie in fester Verbindung zur Gesamtpartei stehen“. Zu programmatischen Konzeptionen wurden in den verschiedensten politisch wichtigen Bereichen Arbeitsgruppen gebildet. Formuliert sind in der Erklärung Grundsätze der demokratischen Ordnung in Staat und Gesellschaft, öffentlicher Kontrolle der Macht und eines demokratischen Rechtsstaats. Die Notwendigkeit einer neuen Verfassung wird hervorgehoben.
Die Frage, an der sich viele Gruppierungen scheiden – die wirtschaftlichen Perspektiven – wird in dem SDP-Papier im Wesentlichen in zwei Abschnitten behandelt. In dem Abschnitt „Markt und Staat“ wird festgestellt, daß Marktmechanismen zu: Steuerung der Wirtschaft nicht durch staatliche Planung ersetzt werden können, aber für den Staat sich regulierende Aufgaben in Bezug auf die soziale Sicherung, die Einbeziehung ökologischer Kosten in das Marktgeschehen und den Erhalt des Wettbewerbs durch Verhinderung von Monopolen und wirtschaftlicher Machtkonzentration ergeben. Die Verantwortung des Staates für die Infrastruktur und für notwendige Gemeinschaftsgüter wird festgestellt und ebenso, daß das Finanz- und Kreditwesen in staatlichen Händen bleiben müssen. Eine entsprechende Rahmengesetzgebung soll ein willkürliches, rein profitorientiertes Wachstum verhindern. Es werden im nächsten Abschnitt vielfältige Eigentumsformen in einer gemischten Wirtschaftsstruktur favorisiert. Unternehmensvielfalt soll gegen Machtkonzentration wirken; Mitbestimmung, Kapitalbeteiligung und Selbstverwaltung sind Wege zur Demokratisierung der Wirtschaft, für die die Verfasser eintreten. Durch ein klares Mitbestimmungsrecht soll die breite Beteiligung „aller, die die Werte im Produktionsprozeß erarbeiten“ bei Entscheidungen auf allen Ebenen garantiert werden. Freie, starke Gewerkschaften mit Streikrecht kommen als eigentlich selbstverständliche Forderungen am Schluß dieses Abschnitts.
Auf weitere Punkte kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden.
Die Gründungsversammlung bestimmte verschiedene Arbeitsgruppen und wählte die vorläufige Grundwertekommission sowie den Vorstand. Man möchte von Anfang an so gut wie „unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes“ (so ein Teilnehmer) möglich, in der Gestaltung der eigenen Strukturen an Verbindlichkeit und demokratischer Arbeitsweise festhalten Im Gegensatz zu den politischen Geplänkeln des „Neuen Forum“ plant die SDP nicht, sich als Vereinigung anzumelden, sondern beschränkt sich darauf, dem Ministerium des Inneren die Gründung fornell mitzuteilen.
Gleich am Gründungstag verabschiedete die SDP auch einen Aufnahmeantrag in die Sozialistische Internationale und ein kurzes noch zu ergänzendes Statut.
(Alle Zitate aus: „Programmatischer Vortrag zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR“)
Erklärung der SDP Berlin, den 9. 10. 1989
Wir erleben im Moment in der gesanten DDR, wie Menschen in ungeahntem Maße durch Denonstrationen grundlegende politische Veränderungen fordern.
Trotz brutaler Ausschreitungen und Gewaltprovokationen von Seiten der Sicherheitskräfte blieben die Demonstranten der letzten Tage in erstaunlichem Maße gewaltfrei.
Da die Grenze des allgemein gewaltlos Ertragbaren vorsätzlich weit überschritten wurde, müssen wir mit gewalttätigen Auseinandersetzungen von beiden Seiten rechnen, wenn sich der staatliche Ungang mit Demonstrationen nicht grundlegend ändert.
Die Verantwortung für eine Eskalation der Gewalt tragen allein die politisch Verantwortlichen. Angesichts dieser Situation fordem wir die Bürger unseres Landes zur verstärkten Solidarität mit den in ihrer Würde zutiefst verletzten Menschen, insbesondere mit den politischen Gefangenen in der DDR, auf.
Für den Vorstand der SDP: Martin Gutzeit, Ibrahim Böhme, Angelika Barbe, Rainer Hartmann, Stefan Hilsberg.
Offener Brief der Mitarbeiter des Staatsschauspiels Dresden
Wir treten aus unseren Rollen heraus.
Die Situation in unserem Lande zwingt uns dazu.
Ein Land, das seine Jugend nicht halten kann, gefährdet seine Zukunft.
Eine Staatsführung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaubwürdig.
Eine Parteiführung, die ihre Prinzipien nicht mehr auf Brauchbarkeit untersucht, ist zum Untergang verurteilt.
Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden.
Die Wahrheit muß an den Tag.
Unsere Arbeit steckt in diesem Land. Wir lassen uns das Land nicht kaputt machen.
Wir nutzen unsere Tribüne, um zu fordern:
Wir haben ein Recht auf Information.
Wir haben ein Recht auf Dialog.
Wir haben ein Recht auf selbständiges Denken und auf Kreativität.
Wir haben ein Recht auf Pluralismus im Denken.
Wir haben ein Recht auf Widerspruch.
Wir haben ein Recht auf Reisefreiheit.
Wir haben ein Recht, unsere staatlichen Leitungen zu überprüfen.
Wir haben ein Recht, neu zu denken.
Wir haben ein Recht, uns einzunischen.
Wir nutzen unsere Tribüne, um unsere Pflichten zu benennen:
Wir haben die Pflicht, zu verlangen, daß Lüge und Schönfärberei aus unseren Medien verschwinden.
Wir haben die Pflicht, den Dialog zwischen Volk und Partei- und Staatsführung zu erzwingen.
Wir haben die Pflicht, von unserem Staatsapparat und von uns zu verlangen, den Dialog gewaltlos zu führen.
Wir haben die Pflicht, das Wort Sozialismus so zu definieren, daß dieser Begriff wieder ein annehmbares Lebensideal für unser Volk wird.
Wir haben die Pflicht, von unserer Staats- und Parteiführung zu verlangen, das Vertrauen der Bevölkerung wiederherzustellen.
Nachträge
Zusätzlich zu den erwähnten Briefen von Gewerkschaftsfunktionären des VEB Bergmann-Borsig und des VEB TRO ist uns auch bekannt, daß ein ähnlicher Brief von Gewerkschaftern des VEB EAW Berlin-Treptow existiert.
Ein Demonstrant konmentierte die Ereignisse: „Wir brauchen kein Westfernsehen mehr zu sehen, jetzt sitzen wir ohnehin in der ersten Reihe.“
In eigener Sache
Aufgrund der gegenwärtigen Situation war es für uns nicht möglich, sämtliche uns vorliegenden druckenswerten Beiträge aufzunehmen. Es fehlt beispielweise ein Bericht über die Erklärungen des „Neuen Forum“ in den letzten Tagen sowie der gesamte Auslandsteil. Wir hoffen, das teilweise in den nächsten Ausgaben nachholen zu können.
Redaktionsschluß: 9.10.89, vormittags
Kant auf Abwegen?
Der Präsident des DDR-Schriftstellerverbandes und bekannter Honecker-Intimus, Hermarn Kant, forderte in einem in der „Jungen Welt“ am 9.Oktober abgedruckten Leserbrief die SED-Führung auf, Fehler einzugestehen und eine offene Diskussion über die gegenwärtige Krise in der DDR zu beginnen. Kant, selbst in der Vergangenheit Träger und Vollstreckungsgehilfe der Regierungspolitik, beklagte die Selbstgefälligkeit und Selbstherrlichkeit in den Medien der DDR. Wichtiger als Bevormundung seien harte und geduldige Bemühungen der DDR-Bürget, um einander besser zu verstehen.
Demonstrationen am 9.Oktober
In Leipzig verlief am 9.Oktober eine Massendenonstration im Anschluß an das montägliche Friedensgebet ohne Auseinandersetzungen mit den Sicherheitsorganen. Die Leipziger Gruppen hatten zur Gewaltlosigkeit aufgerufen. Das war schwierig genug, denn die Sicherheitsorgane waren mit starkem Aufgebot erschienen. Schützenpanzerwagen der Armee durchzogen am Nachmittag Leipzig. Kindergärten und Betriebe in der innenstadt mußten bis 15 Uhr geräumt werden. Als sich der Markt mit Menschen füllte, wurde er von BePos mit Schutzmasken und Kampfgruppen umstellt. Elos mit Chemikalien standen bereit. Es gab mindestens zwei zentrale Truppenstützpunkte.
Erstaunlicherweise verlief die Demonstration dennoch friedlich. Mehr als 70.000 Menschen formierten sich nach Andachten in verschiedenen Kirchen zu einem Demonstrationszug, der über den Ring zog. Die Friedfertigkeit ging dann soweit, daß am Hauptbahnhof eine Gruppen mit Polizisten diskutierten.
In den Kirchen, über Lautsprecher in der Innenstadt und über den lokalen Leipziger Sender war ein Aufruf von Profesor Kurt Masur, Dr. Peter Zimmermann, des Kabaretisten Lutz und der Sekretäre der SHD-Bezirksleitung Dr. Kurt Weier, Jochen Pomert und Roland Notzel verlesen worden.
Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns zusanmengefthrt. Wir sind über die Intwick-Jung in unserer Stadt betrofiten and suchten nach einer lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinngsaustausch über die Weiterentwicklung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die genannten Leute alien Birgern, ihre ganze kraft und Autorität dafür einzusetzen, daß dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.
Beobachter raten allerdings zur vorsichtigen Bewertung, da eventuell die riesigen Massen der Demonstranten die lokaien SED-Führer zu einer bloßen Beschwichtigungstaktik veranlaßt haben könnten.
In Dresden infornierten sich an Abend des 9.Oktober mehrere tausend Menschen in vier großen Kirchen über die Gespräche von 20 Vertretern der Demonstranten und der Kirchenleitung mit Vertretern des Stadtrates, darunter der Oberbürgermeister von Dresden. Dem Stadtrat war ein 9‑Punkte-Katalog vorgelegt worden, in dem es u.a. um die Zulassung des Neuen Forums, eine wahrheitsgetreue Berichterstattung in den DDR-Medien, Demonstrations- und Reisefreiheit, Wahlprobleme, Zivildienst und die Freilassung der Inhaftierten ging. Der Oberbürgereister versprach, sich für weitere Gespräche einzusetzen und die angesprochenen Punkte pluralistisch zu lösen. Eine nächste Gesprächsrunde wurde für den 16. Oktober vereinbart.
In Ost-Berlin versammelten sich an Abend vor der Gethsenanekirche 3000 Menschen. Bischof Forck verlas einen Aufruf der Kirchenleitung und des Gemeindekirchenrats der Gethsemanegemeinde:
„Fünf dringende Bitten
Alle Bürgerinnen und Bürger bitten wir dringend, ab sofort angstfrei Meinangsfreiheit auszuüben damit das Gespräch über unsere Zukunft in Gang kommt.
Die Staats- und Parteiführung der DDR bitten wir dringend, ungehend deutliche und glaubhafte Schritte einzuleiten, eine breite Übereinstimming für eine rechtsstaatliche, denmokratische, sozialistische Perspektive der DDR gefunden wird.
Die Ordnungs- und Sicherheitskräfte bitten wir dringend, der Ungeduld kritischer Bürger, die sich auf den Straßen zeigt, mit gößtmöglicher Zurückhaltung zu begegnen, damit nicht wieder gutzumachender Schaden vermieden wird.
Die beunruhigten Menschen unseres Landes bitten wir dringend, jetzt von nicht genehmigten Demonstrationen auf den Straßen abzusehen, damit die politisch Verantwartlichen nicht sagen können, sie ließen sich im Blick auf anstehende Veränderungen nicht unter Druck setzen.
Berlin, den 9. Oktober 1989, 17 Unterschriften
Die in der Ungebung der Kirche aufgezogenen Sicherheitskräfte hielten sich zurück.
Wichtig: Die Umwelt-Bibliothek sucht dringend Offset-Maschine oder Druckerei
Unser Land lebt in innerem Unfrieden. Menschen werden krank an der Gesellschaft. Viele verlassen das Land. Andere, die bleiben, haben mit dem Sozialismus, wie sie ihn kennen, nichts mehr im Sinn. Wir haben in vierzig Jahren manches erreicht. Doch zu viel ist in der Entwicklung steckengeblieben. Zu viel Menschlichkeit ist verlorengegangen. Zu wenig ist vom Traum von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geblieben.
Wir leiden, weil die Produktionsmittel nicht Eigentum des Volkes sind.
Der Staat hat sie sich angeeignet. Unsere wer mitregieren will, wird abgeschoben. Die Wirtschaft ist veraltet und uneffektiv. Betriebe arbeiten ohne Rücksicht auf die Natur. Nicht Fachleute, sondern Funktionäre haben vielfach das Sagen. Vielen Werktätigen ist ihre Arbeit gleichgültig geworden. Sie wehren sich gegen Bevormundung und Mißwirtschaft durch nachlässiges Arbeiten. Überall in Land fehlt es an Waren und Arbeitskraft. Werktätige in Handel, Handwerk und Dienstleistung geben ihre Unzufriedenheit an ihre Kunden weiter. Wie oft erleben wir Grobheit und Unfreundlichkeit. erleben wir Grobheit und Unfreundlichkeit. War das unser Traum von Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit?
Wir brauchen neue Hoffnung: Die solidarische Gesellschaft.
Die Bürgerbewegung DEMOKRATIE JETZT will, daß die Produktionsmittel wirklich unser aller Eigentum sind. Die Betriebe sollen selbständig sein. Staatliche Vorgaben soll es nur geben, wo das Gemeinwohl es erfordert. Wir wollen volle Eigenverantwortlichkeit für die Genossenschaften. Wir wünschen uns neue private Eigentumsformen in Dienstleistung und Handel. Wir wollen wirkliche Mitbestimmung in den Betrieben, unabhängige Gewerkschaften und das Streikrecht. Wir treten für eine offene und verantwortliche Umweltpolitik ein. Wir sind bereit, durch einen Wandel unseres Lebensstils zu neuem Umweltverhalten zu kommen. Wir wollen jene sozialen Errungenschaften, die sich bewährt haben, schützen. Wir wollen ein freundliches Land.
Wir werden vom Staat und von der SED gegängelt. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen belügen uns. Eine Minderheit maßt sich das Recht auf Wahrheit an. Die machtstützenden Organe entziehen sich der öffentlichen Kontrolle. Schulen und Hochschulen, Wissenschaft und Kunst werden von Ideologen beherrscht. Von unseren Nachbarn sind wir durch eine menschenverachtende Mauer getrennt. Wir dürfen nicht reisen, wohin wir wollen. Bürgerrechte werden wie eine Gnade gewährt.
Wir leiden, weil unser Staat ein Obrigkeitsstaat ist.
Wer mitregieren will, wird abgeschoben. Die Rechte, die uns die Verfassung garantiert, werden durch Gesetze und Verordnungen beschnitten. Die Rechtsprechung ist nicht unabhängig. Durch das Eingabewesen werden wir zu Bittstellern gemacht. Bei den Wahlen haben wir keine Wahl. Die Volksvertretungen werden von der SED beherrscht. Noch sind die anderen Parteien unselbständig. Politiker entscheiden in einsamer Selbstherrlichkeit über uns. War das unser Traum von der Gleichheit aller Menschen?
Wir brauchen neue Hoffnung: Den DEMORRATISCHEN STAAT.
Die Bürgerbewegung DEMOKRATIE JETZT schlägt eine Wahlreform vor. Wir wollen die wirkliche Wahl zwischen Programmen und deren Vertretern. Wir wollen die Gleichberechtigung aller politischen Parteien und Gruppen, ausschließlich der Faschisten. Wir lehnen den Führungsanspruch der SED ab und streben hierzu Verfassungsänderungen gemäß Artikel 106 der Verfassung an. Zum Zusammengehen mit kritischen Marxisten sind wir bereit. Wir wollen eine Rechtsreform. Wir möchten, daß die Unabhängigkeit von Richtern und Verteidigern gewährleistet ist und Straftatbestände nicht willkürlich auslegbar sind. Wir wollen ein Verfassungsgericht und eine entwickelte Verwaltungsgerichtsbarkeit, die das Eingabewesen überflüssig macht.
Wir leiden, weil wir nicht als mündige Bürgerinnen und Bürger behandelt werden.
Wir brauchen neue Hoffnung: Die Einhaltung aller Menschenrechte
Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt will für alle den gleichberechtigten Zugang zu den Medien. Wir wollen Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, den Schutz persönlicher Daten und die Einhaltung der Persönlichkeitsrechte. Wir wollen Freiheit für Wissenschaft und Lehre. Wir möchten, dass Eltern über Lehrinhalte mitbestimmen können. Wir wollen Reisefreiheit und Auswanderungsrecht. Wir wollen, dass die Mauer abgetragen wird. Wir sind zur kritischen Arbeit in allen Gesellschaftsbereichen bereit.
Was also können wir tun?
Wir alle müssen es lernen, als mündige und selbstbewußte Bürgerinnen und Bürger zu denken und zu handeln. Wir müssen aus der Vereinzelung zur Gemeinschaft kommen. Nur gemeinsam können wir unsere Gesellschaft umgestalten. Fassen wir Mut, durchbrechen wir unser Schweigen, suchen wir Gleichgesinnte um uns herum!
Wir schlagen Ihnen vor, sich in selbstverwalteten Bürgerkomitees zusammenzuschließen: in den Betrieben und Wohngebieten, in den Schulen und Hochschulen, in den Städten und Dörfern. Sprechen Sie miteinander über die Probleme, die Sie bewegen. Bringen Sie sich mit Ihren Erfahrungen und Ihrem Wissen, Ihren Gefühlen und Ihrer Hoffnung ein. Wir alle müssen politisches Handeln jetzt lernen.
Wir schlagen Ihnen vor, Verbindung zu gleichgesinnten Gruppen in Ihrer Nachbarschaft zu suchen. Organisieren Sie Treffen in den Stadtbezirken und Kreisen. Wählen Sie Sprecherinnen und Sprecher. Entsenden Sie Vertreter zu überregionalen Veranstaltungen. Seien sie solidarisch mit anderen gewaltfreien Reform- und Oppositionsgruppen. Stellen Sie mit ihnen gemeinsam in Ihrem Wahlkreis Kandidaten für alle Volksvertretungen auf. Wir alle müssen Demokratie jetzt lernen.
Vervielfältigen und verbreiten Sie die Zeitung unserer Bürgerbewegung DEMOKRATIE JETZT. Arbeiten Sie ihr zu durch Berichte, Informationen und Meinungen. Ergänzen Sie unsere Zeitung durch lokale und regionale Ausgaben. Tragen Sie die Gedanken, den Namen und das Symbol der Bürgerbewegung unter die Menschen unseres Landes: Ein Schmetterling soll unser Zeichen sein. Denn unser Land gleicht einer Raupe, die sich eingesperrt hat und zu einem unansehnlichen Kokon geworden ist. Ein Kokon ist in Gefahr, ausautrocknen und zu verderben. Doch es kann aus ihm auch ein freundlicher Schmetterling geboren werden. Der Schmetterling ist ein Zeichen der Vielfalt und Friedfertigkeit.
So will die Bürgerbewegung DEMORTATIE JETZT daran mitwirken, den inneren Frieden unseres Landes wiederherzustellen. Sie will dem äußeren Frieden dienen. Wir wünschen uns gleichberechtigte solidarische Nachbarschaft mit allen Völkern und respektieren die bestehenden Grenzen. Wir wollen eine Weltordnung, die allen Menschen das gleiche Lebensrecht sichert. Mit den armen Völkern der Welt wollen wir teilen.
Wir sind uns der besonderen Friedenspflicht des deutschen Volkes bewußt. Deshalb treten wir für weitgehende Abrüstung und die Einführung eines sozialen Friedensdienstes ein. Wir wünschen uns ein gleichberechtigtes und freundliches Verhältnis zum anderen deutschen Staat. Wir möchten, daß sich die Deutschen durch friedliche Veränderungen in beiden Gesellschaften wieder näherkommen.
Lassen Sie uns gemeinsam handeln und hoffen, damit unser Land liebenswert und freundlich wird und jeder Mensch und jedes Gescöpf seinen Platz darin findet!
Den Aufruf DEMOKRANTE JETZT unterzeichneten am 12. September 1989: Wolfgang Apfeld. Dr. Michael Bartoszek. Stephan Bickhardt. Dr. Hans-Jürgen Fischbeck. Reiner Flügge. Martin König. Ludwig Mehlhorn. Dr. Gerhard Weigt. Konrad Weiß. Keinhard Lampe. Ulrike Poppe. Dr. Wolfgang Ullmann.
Es folgt ein Dokument aus dem September 1989 und für die bessere Lesbarkeit die Digitalisierung. Dieses Dokument war wohl innerhalb der evangelischen Kirchengemeinden der DDR zugänglich. Stefan Müller 07.12.2024
Beschluß der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR zum Bericht des Vorsitzenden der Konferenz der Ev. Kirchenleitungen und dem Arbeitsbericht des Sekretariats des Bundes
Die Synode des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR hat den Bericht des Vorsitzenden der Konferenz der Ev. Kirchenleitungen und den Arbeitsbericht des Sekretariats des Bundes mit Dank entgegengenommen. Ausdrücklich dankt die Synode der Konferenz für ihren Brief an den Vorsitzenden des Staatsrates, in dem zu bedrängenden Problemen unseres Landes Stellung genommen wird.
Auch von der Synode des Bundes wird erwartet, daß sie sich dazu äußert:
Die Massenauswanderung von Bürgern der DDR in die Bundesrepublik Deutschland zwingt dazu, Ursachen dafür zu benennen, daß offensichtlich viele, besonders auch junge Menschen in unserem Land und für unser Land keine Zukunft mehr sehen. In der Synode wurden vielfältige Erfahrungen genannt:
erwartete und längst überfällige Reformen werden offiziell als unnötig erklärt;
die Mitverantwortung des einzelnen Bürgers und seine kritische Einflußnahme sind nicht ernsthaft gefragt;
den Bürgern zustehende Rechte werden vielfach lediglich als Gnadenerweis gewährt;
hier geweckte und von außen genährte Wohlstandserwartungen können nicht befriedigt werden;
ökonomische und ökologische Mißstände erschweren zunehmend das Leben;
Alltagserfahrungen und die Berichterstattung der Medien klaffen weit auseinander;
eine öffentliche Aussprache über Ursachen der Krisenerscheinungen wird nicht zugelassen;
Hinweise auf offensichtliche Unkorrektheiten in der Durchführung der Wahl und der Bekanntgabe blieben ohne Reaktionen;
offizielle Äußerungen zu Vorgängen in China und Rumänien wecken Befürchtungen und Ängste für die Zukunft;
gewaltlose Demonstrationen junger Menschen werden gewaltsam unterdrückt, Beteiligte werden zu Unrecht und überdies unangemessen bestraft;
Freizügigkeit im Reiseverkehr wird nicht gewährt.
Aus diesen und anderen Gründen sind viele Hoffnungen auf Veränderung in der DDR erloschen.
Die Folgen der Abwanderung betreffen alle in diesem Land:
Familien und Freundschaften werden zerrissen, alte Menschen fühlen sich im Stich gelassen. Kranke verlieren ihre Pfleger und Ärzte, Arbeitskollektive werden dezimiert, haben die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht und überschritten, die Folgen für die Volkswirtschaft sind unübersehbar. Auch Kirchengemeinden werden kleiner. Das politische Klima der Entspannung ist bedroht. Feindbilder leben wieder auf, Probleme zwischen den beiden deutschen Staaten belasten die Nachbarn, besonders Ungarn, gewachsene Beziehungen und Gespräche werden abgebrochen. Der Ost-West-Konflikt in seiner deutsch-deutschen Zuspitzung verdrängt Zukunftsaufgaben und bindet Kräfte, die zur Gewinnung von Frieden in Gerechtigkeit und zur Bewahrung der Schöpfung dringend gebraucht werden.
Angesichts dieser Situation haben wir im Bund der Ev. Kirchen Anlaß, uns selbst zu fragen, wie wir unserem Auftrag gerecht geworden sind. Wir stellen fest, daß unser Reden viele nicht mehr erreicht. Immer mehr Menschen fragen danach, was sie aus ihrem Leben machen können, um sich dadurch selbst zu verwirklichen. Andere, vor allem junge Menschen, können keine Hoffnung mehr benennen, die ihrem Leben ein Ziel gibt. Uns gelingt es nur schwer, die Hoffnung zu vermitteln, die uns Christen gegeben ist und auf den vom Evangelium eröffneten Weg einzuladen, der jeden zur Erfüllung seines Lebens führt.
In der Nachfolge Jesu Christi erfüllt sich das Leben nicht in dem, was ich für mich selbst habe, sondern in dem, was ich für andere bin. Darin sind wir nicht glaubwürdig, solange unser eigener Lebensstil, als Kirche und als Christen, weniger ein Beispiel dafür ist, was wir anderen sein können, als eher dafür, was wir selber haben. Auch wir orientieren uns lieber an dem Lebensstandard derer, die mehr haben als wir, obwohl die meisten Menschen dieser Erde, auch in Europa, mit viel weniger auskommen müssen. Das wirkt sich bis in unsere ökumenischen Beziehungen aus.
Die Überzeugungskraft unseres Glaubens und Redens hängt auch davon ab, daß wir als Kirche glaubwürdiger werden. Nach nunmehr 20 Jahren verstehen sich die im Bund zusammengeschlossenen Gliedkirchen als eine Kirche. So wird der Bund weithin auch von den Gemeinden angesehen. Trotzdem sind bisher alle Bemühungen gescheitert, unserer Gemeinschaft als Kirche eine entsprechende organisatorische Form zu geben. Unsere Gemeinschaft wird durch Alleingänge, wie zuletzt im Zusammenhang mit der Domeinweihung in Greifswald, und durch verhärtete Strukturen gefährdet. Der Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit unseres Kircheseins steht uns vor Augen.
Geistlich bewegte und sozial engagierte Gruppen, die Impulse der Erneuerung in unsere Kirchen tragen wollen, stehen sich zugleich verständnislos und ablehnend gegenüber. Überall dort, wo die Gemeinden tragfähige Gemeinschaften sind, können sie einladen, ohne zu vereinnahmen, und Geborgenheit geben, die zur Mündigkeit hilft. Solche Gemeinschaft erweist sich darin, daß sie trotz der Spannungen und Meinungsunterschiede zusammenbleibt in Gebet, Abendmahl und Gottesdienst. Und die erweist sich darin, daß sie sich der in Not geratenen fernen una nahen Nächsten annimmt. Wir leiden unter der Erfahrung, daß unser Eintreten für die anderer so wenig bewirkt. Es gelingt uns schwer so zu reden, die Betroffenen sich verstanden fühlen, und daß uns die verstehen, an die wir uns wenden. Aber ein Reden und Tun, das wir vor Gott verantworten können, bleibt unsere Aufgabe.
Unser Glaube gibt uns Grund, nach Wegen zu suchen, die heute und morgen gegangen werden können. Wir wissen uns vor Gott in unsere Zeit und an unseren Ort gestellt. 40 Jahre DDR sind auch ein Lernweg unserer Kirchen, Christsein in einem sozialistischen Staat zu bewähren. Wir sehen uns heute vor die Herausforderung gestellt, Bewahrtes zu erhalten und neue Wege in eine gerechtere und partizipatorische Gesellschaft zu suchen. Wir wollen mithelfen, daß Menschen auch in unserem Land gerne leben. Wir möchten sie dazu ermutigen.
So bitten wir sie, hier zu leben und einen Beitrag für eine gute Zukunft in unserem Land zu leisten. Wir können und dürfen aber nicht alle Probleme gleichzeitig lösen wollen.
Wir brauchen:
ein allgemeines Problembewußtsein dafür, daß Reformen in unserem Land dringend notwendig sind;
die offene und öffentliche Auseinandersetzung mit unseren gesellschaftlichen Problemen;
jeden für die verantwortliche Mitarbeit in unserer Gesellschaft;
verantwortlichen Umgang mit gesellschaftlichem und persönlichem Eigentum;
Möglichkeit friedlicher Demonstrationen;
ein Wahlverfahren, das die Auswahl zwischen Programmen und Personen ermöglicht.
50 Jahre nach Kriegsausbruch wird uns erneut bewußt, daß die Erinnerung wachbleiben muß und die Aufarbeitung von Grauen und Schuld für uns Deutsche nicht abgeschlossen sein kann. Die Synode bittet alle Menschen in Ost und West, neu erwachenden nationalistischen und nazistischen Stimmen und Stimmungen mit aller argumentativen und administrativen Entschiedenheit entgegenzutreten und rechtzeitig die tieferen Ursachen für solche Erscheinungen, besonders bei der jüngeren Generation zu erkennen und zu beseitigen.
Nach wie vor steht die unbedingte Verpflichtung im Vordergrund, für den Frieden unter den Völkern einzutreten. Es gibt ermutigende Zeichen auf dem langen Weg zum Frieden.
Das “Neue Denken” hat weitere Konturen gewonnen, z.B. durch die sowjetische Einladung zu “globaler Solidarität” , die militärische ökonomische und ökologische Sicherheitspartnerschaft in weltweiten Perspektive einschließt.
Signale des Friedens sind einseitige Rüstungs‑, Truppen- und Rüstungshaushaltsreduzierungen sozialistischer Staaten, auch der DDR. Wir erwarten die Antwort von NATO-Staaten, ihrerseits mit dem Abbau militärischer Ungleichgewichte zu beginnen.
Truppenreduzierungsverhandlungen aufgrund beiderseitiger Kompromißbereitschaft kommen voran. Immer mehr Soldaten arbeiten in der Industrie. Die Militärs beider Bündnissysteme begegnen sich. Die Konzeption hinlänglicher Verteidigungsfähigkeit wird ebenso weiterentwickelt wie das Konzept der strukturellen Angriffsunfähigkeit. Eine Konversionsindustrie nimmt konkrete Formen an. Durch den Umbau von Raketenschleppern zu Straßenkränen wurde die prophetische Vision “Schwerter zu Pflugscharen” in unser technisches Zeitalter übersetzt.
Das Wiener Abschlußdokument eröffnet den europäischen Staaten konkrete menschliche, politische, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Perspektiven beim Bau des Europäischen Hauses. Die Synode unterstreicht, daß sie auf eine aktive Beteiligung beider deutscher Staaten und der christlichen Kirchen in diesem Prozeß hofft. Wiedervereinigungswünsche wecken Ängste bei anderen Völkern.
Die Synode erinnert an ihren Beschluß vom 20.9.88, in dem sie festgestellt hat “daß die künftige Entwicklung in unserem Land von Dialogfähigkeit und Dialogbereitschaft in Kirche und Gesellschaft wesentlich abhängt.” Es gibt keine vernünftige Alternative zur Fortsetzung und Erweiterung der Dialogpolitik auf allen Ebenen.
Eine sich entwickelnde “Kultur des Streits” hat in den letzten Jahren einige wichtige außen- und innenpolitische Früchte getragen. Die Synode ist bestürzt, daß die seit langem erbetenen Sachgespräche zwischen der Konferenz der Ev. Kirchenleitungen und der Regierung der DDR nicht möglich waren und daß das für den 12.9. zugesagte Gespräch zum dritten KSZE-Folgetreffen wieder abgesagt wurde; dabei sollte auch über die menschlichen Dimensionen des Helsinki-Prozesses gesprochen werden. Die Synode bedauert auch die jüngste Absage von Gesprächen zwischen Vertretern beider deutscher Staaten. Gerade jetzt sind Gespräche nötig. Gerade jetzt können wir in und zwischen beiden deutschen Staaten das “Neue Denken” bewähren und dazu beitragen, daß nicht alte Feindbilder medienverstärkt das Klima vergiften.
Um uns den Weg in eine sozial gerechte, demokratische, nach innen und außen friedensfähige und ökologische Gesellschaft nicht zu verbauen, ist jetzt ein offener gesamtgesellschaftlicher Dialog dringlich geworden. Dazu gehört auch eine Öffnung der bisherigen politischen Strukturen.
Keiner hat gegenwärtig d i e Lösung.
Auf der Suche nach Wegen, die Zukunft eröffnen, werden wir der Tatsache ins Auge sehen müssen, daß uns Veränderungen nicht in den Schoß fallen. Es bedarf geduldiger und beharrlicher Bemühungen. Darum wollen wir uns nicht entmutigen lassen von Schwierigkeiten und Rückschlägen, von Mißverständnissen und Verdächtigungen. Es kommt auf den langen Atem an. Unser Glaube kann uns dazu Mut und Kraft geben. Uns ist nicht verheißen, daß uns das Kreuz erspart bleibt, aber daß unser Herr mit uns das Kreuz trägt und einen Weg in die Zukunft eröffnet.
Eisenach, den 19. September 1989 Der Präses der Synode des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR Dr. Gaebler
Ich lese gerade das Buch von Katja Hoyer Diesseits der Mauer. Sehr interessant und vieles wird mir so klarer. Warum der Strauß fast ganz zum Schluss noch mal ein paar Milliarden in die DDR gebracht hat, die Aufs und Abs in der Wirtschaftsentwicklung usw. Ein paar Sachen sind aber auch einfach falsch. Das Kapitel über den Wehrdienst enthält grobe Fehler.
Der verpflichtende Grundwehrdienst dauerte normalerweise 18 Monate. Ihn zu verweigern war ausschließlich aus religiösen Gründen möglich. In diesem Fall musste die Zeit ebenfalls abgeleistet werden, und zwar als sogenannter Bausoldat im nichtkämpfenden Dienst. Männer, die studieren wollten, sollten sich zuvor unter Beweis stellen, wie der Staat ab 1970 offen argumentierte. Sie hatten keine Chance, dem Militär zu entgehen, sondern waren obendrein angehalten, sich zu einer dreijährigen Offizierslaufbahn zu verpflichten.
Das ist im Prinzip richtig. Auf Totalverweigerung stand Gefängnis. Wenn man Bausoldat wurde, baute man in Uniform Raketenstellungen. Nicht unbedingt das, was man sich als Pazifist so erträumt. Bausoldaten hatten keine rosige Perspektive in der DDR, es sei denn, sie wollten Theologie studieren. Ansonsten enthält das Zitat einen bedauerlichen Fehler, denn für das Studium musste man nicht Offizier werden, sondern Unteroffizier. Ich werde die verschiedenen Laufbahnen im Folgenden genauer erklären.
Militärische Laufbahnen in der DDR
Es gab in der NVA verschiedene Laufbahnen:
Soldat, 1,5 Jahre Grundwehrdienst
Unteroffizier, 3 Jahre (ein halbes Jahr Ausbildung, dann zweieinhalb Jahre Dienst)
Offizier auf Zeit, bis 1983 drei Jahre, danach 4 Jahre (ein Jahr Studium, dann zwei bzw. drei Jahre Dienst)
Berufsunteroffizier auf Zeit, 10 Jahre endete mit Meisterabschluss
Der dreijährige Wehrdienst bestand aus einer halbjährigen Ausbildung zum Unteroffizier und 2 1/2 Jahren Dienst in der entsprechenden Waffengattung. Eine Ausbildung zum Offizier erfolgte an einer Offiziershochschule und dauerte vier Jahre. Dreijährige Offizierslaufbahnen gab es nur bis 1983.
Selbst die klügsten und vielversprechendsten künftigen Akademiker und Wissenschaftler waren so gezwungen, eine langwierige Militärausbildung zu absolvieren, bevor sie einen Studienplatz bekamen.
Das ist korrekt. 1981–1986 wurde von uns erwartet, dass wir uns für drei Jahre zur Armee verpflichteten. Nicht als Offiziere sondern als Unteroffiziere. Aus meiner EOS-Klasse gingen alle bis auf einen Jungen für drei Jahre zur Armee. Ich wäre beinahe nicht für meine Schule (EOS Heinrich Hertz) zugelassen worden, weil ich einen von zwei Aufnahmetests nicht bestanden hatte. Es gab einen Mathetest mit Knobelaufgaben, den ich mit voller Punktzahl abschloss und ein politisches Aufnahmegespräch, in dem ich als Dreizehnjähriger gefragt wurde, ob ich gern drei Jahre zur Armee gehen würde. Ich hielt das spontan für keine gute Idee und war somit leider raus. Nur dem unglaublichen Einsatz meiner Eltern ist es zu verdanken, dass ich doch noch auf die Matheschule gekommen bin. Ich musste vorher noch mit dem Direktor meiner POS ein Gespräch führen, in dem ich ihm versicherte, dass es mein größter Wunsch sei, drei Jahre meines Lebens in einer militärischen Einrichtung zu verplämpern. Ich habe in meinem Klimablog darüber geschrieben: Der moralische Druck der Öko-Gutmenschen ist ja wie in der DDR.
Schummeln bei den Verpflichtungen?
Hoyer schreibt:
Manche von ihnen waren so mutig wie Thoralf und tricksten das System aus, indem sie sich zunächst zu einer »freiwilligen Verlängerung« verpflichteten, um einen Platz an der Erweiterten Oberschule zu erhalten, und später angaben, sie hätten es sich doch anders überlegt. Auf diese Weise gelang es Thoralf, lediglich 18 Monate abzuleisten anstelle der vollen drei Jahre, für die er sich ursprünglich gemeldet hatte.
Da hatte der Thoralf aber Glück. Ich habe neulich die Zulassung zu meinem Studium wiedergefunden und in dieser stand explizit drin, dass die Zulassung vorbehaltlich erfolgt und vom Wohlverhalten während der Armeezeit abhing. Ich habe mich 1985 für einen Studienplatz 1989 beworben, also nach meiner Armeezeit. Hätte ich nach meinem Abitur gesagt: „Hi, hi, April, April, ich mach jetzt doch nur Grundwehrdienst.“, hätte die Humboldt-Uni gesagt: „Hi, hi, dann such Dir mal nen Job mit Abitur aber ohne Studium und mit dem entsprechenden Vermerk in der Kaderakte.“. Ganz so einfach war die Sache also nicht. Wenn es einem gelang, bei der Armee ausgemustert zu werden, dann konnte das wohl funktionieren, dass man früher wieder auftauchte und in einem früheren Studienjahr mitstudieren konnte. Aber ein System auszutricksen, dass den gesamten Lebenslauf in einer personengebundenen Akte (Stichwort: Kaderakte) begleitete, war eben sonst nicht möglich.
Vertrag mit dem Staat: Militärische Ausbildung beim Studium
Das hier ist übrigens die Verpflichtungserklärung für das Studium:
Man verpflichtete sich nach Zuteilung des Studienplatzes an einer Ausbildung zum Offizier der Reserve teilzunehmen und einen zentral zugeteilten Arbeitsplatz für mindestens drei Jahre anzunehmen.
Drei Jahre Pflicht für’s Studium?
Es gab Menschen, die trotz Grundwehrdienst studieren konnten, aber an meiner Schule gab es eben auch einen Jungen, der nicht mit ins GST-Lager zur vormilitärischen Ausbildung gefahren ist und das Schießen verweigert hat. Er war genial und hätte zur internationalen Matheolympiade fahren können, aber das wurde alles nichts und er ist Schäfer geworden. Ich wusste nicht, dass es auch ohne die drei Jahre hätte gehen können und in jedem Fall wäre es nicht ohne Risiko gewesen und da ich außer Mathe nichts konnte, bin ich eben drei Jahre gegangen. Es waren die schlimmsten drei Jahre meines Lebens.
Bindung durch Isolation?
Hoyer schreibt weiter:
Die NVA wollte die jungen Männer möglichst ganz für sich vereinnahmen, um sie militärisch optimal zu indoktrinieren. Deshalb stationierte man Rekruten häufig so weit weg von zu Hause wie möglich und gewährte ihnen kaum Urlaub, damit sie nur selten ihre Familie, Freunde und Freundin in der Heimat besuchen konnten. Sie wurden bewusst isoliert, um sie aneinander und an den Staat zu binden.
Es stimmt, dass man meist so weit weg von zuhause war wie möglich. Ich wurde Anfang November 1986 eingezogen und war Silvester 1986 zum ersten Mal auf Urlaub. Aber wenn das Ziel wirklich war, die Soldaten an den Staat zu binden, denn mussten die, die sich diese Strategie überlegt hatten, über sehr geringe Menschenkenntnis verfügen. Alle, die zum Grundwehrdienst oder für drei Jahre bei der Armee waren, haben die Armee (auch Asche genannt) als Gefängnis empfunden. Na ja, fast alle.
Und übrigens: Das war bei den Offizieren und Offiziersschülern ganz anders. Sie haben außerhalb der Kaserne gewohnt. In den letzten Jahren vor dem Ende der DDR wurden die Offizierswohnheime sogar mit Sattelitenschüsseln ausgestattet, damit die Offiziere West-Fernsehen gucken konnten. Die Fernseher im Fernsehraum der Soldaten und Unteroffiziere waren verplombt. Nix Westvernsehen. Offiziersschüler konnten, glaube ich, im letzten Studienjahr außerhalb der Kaserne wohnen. Ich habe in Kamenz an einer Offiziershochschule gedient und war dann irgendwann mit einem ehemaligen Offiziersschüler befreundet. Er hatte abgekeult (mitten in der Ausbildung seine Verpflichtung für 25 Jahre widerrufen: gesellschaftliches Harakiri) und musste noch die Restzeit des normalen Grundwehrdienstes abdienen. Wir mochten beide Punk und sonstige abseitige Musik, haben uns Abends in dem Büro, in dem ich gearbeitet habe, getroffen und auf dem Kassettenrecorder des Oberleutnants, dem das Büro gehörte, Punk gehört. Das war lustig, denn als normaler Soldat oder Unteroffizier durfte man keine Kassettenrecorder haben und man hatte natürlich auch keinen Platz, an dem man sich mal eben so treffen konnte. Es gab einen Clubraum, aber da gab es natürlich keinen Kassettenrecorder, sondern den Schallplattenspieler und Platten von Silly. Ich war auch mal mit ihm und anderen Offiziersschülern in Dresden im Jugendclub Spirale bei einem Punkkonzert. Einer von denen hatte einen Trabant. Ansonsten, wenn ich allein unterwegs war, bin ich die Strecke immer mit dem Rad gefahren.
Ich hatte es nach der Grundausbildung in Bad Düben und anfänglichen Wirren in Kamenz (Ich war erst in der FLA-Rakten-Werkstatt) geschafft, in die Computergruppe zu kommen. Von da bin ich dann einem Oberstleutnant direkt unterstellt worden und landete in dem Büro des Leutnants, der für die FDJ-Arbeit der Kompanie zuständig war. Der ging pünktlich 16:00 oder 16:30 nach Hause und ich hatte meine Ruhe. Das Paradies (inmitten der Hölle). Manchmal schlief ich im Büro mit Schlafsack auf dem Tisch. Ich konnte so ausschlafen und wurde am Morgen nicht von der normalen Routine der Kompanie gestört. Das funktionierte aber eben nur, weil Offiziere etwas ganz anderes waren als Unteroffiziere. Die waren abends bis auf den Offizier vom Dienst weg.
Ungebildete Opportunisten?
Diese Strategie hatte für das Regime jedoch auch einige Nachteile. Denn sie zwang viele gebildete, weniger aktive und eher ablehnend eingestellte Personen dazu, einen Militärdienst zu absolvieren, für den sie nicht sonderlich geeignet waren. Dies stärkte die Opposition gegen den Staat oder erzeugte sie bisweilen regelrecht bei Menschen, die sich ansonsten mit der Realität in der DDR abgefunden hätten. Andererseits ermöglichte sie auch Opportunisten den Zugang zur begehrten höheren Bildung, selbst wenn sie dafür von ihren Leistungen her gar nicht geeignet waren.
Das stimmt im Prinzip, ist aber hochgradig irreführend, weil der Unteroffiziersdienstgrad mit dem Offiziersdienstgrad durcheinandergeworfen wurde. Die Zahl der Abiturplätze war sehr gering. Weder im Westen noch im Osten machten damals so viele Menschen Abitur wie heute. Von einer Klasse mit 32 Schüler*innen wurden zwei zum Abitur weiterempfohlen. Da waren dann auch genügend sehr gut gebildete dabei, die dann auch noch drei Jahre zur Armee „wollten“. Anders war das bei den Offiziersbewerbern. Es gab nicht viele, die sich für 25 Jahre für den Dienst fürs Vaterland verpflichten wollten. Wenn das der Fall war, dann wurden die betreffenden Personen gefördert. So kamen auch leistungsschwächere Schüler auf Erweiterte Oberschulen und Spezialschulen.
Das landläufige Argument, dass sämtliche Offiziersbewerber nur durch die Aussicht auf einen Studienplatz geködert wurden, greift jedoch zu kurz. Das mit Rang und Abschluss verbundene Prestige wäre für die überwiegende Mehrheit von ihnen ansonsten unerreichbar geblieben, sodass viele Arbeiterkinder es weniger als Bürde, sondern eher als Chance begriffen.
Das gesamte Kapitel verliert natürlich an Wert, weil nicht klar ist, ob Unteroffiziere oder Offiziere gemeint sind. Das Offiziersstudium dauerte vier Jahre. Danach hatte man eben ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Wie das mit dem Prestige aus Arbeitersicht aussah, vermag ich nicht zu beurteilen. Offizier war in der DDR etwas anderes als in der BRD. Offiziere waren Teil der Staatsmacht und eben auch, weil jede*r das werden konnte, war es nicht besonders angesehen. Aber wahrscheinlich variierte das auch über die verscheidenen Phasen der DDR hinweg.
Die Unteroffizierslaufbahn war in keinem Fall mit Prestige verbunden. Ich habe das Ganze eher als Schmach empfunden. Ich musste mich dem Druck beugen und haben drei Jahre meiner Jugend in Bad Düben und Kamenz verplämpert.
Es gab übrigens zum Ende der DDR noch einen Spezialwitz: Die DDR brauchte dringend Informatiker. Deshalb war es irgendwie irrsinnig, Männer mit entsprechendem Studienwunsch im Wald rumliegen zu lassen. Ab 1987 konnte man deshalb mit dem Studienwunsch Informatik einen reduzierten Wehrdienst von nur neun Monaten ableisten. Voraussetzung war, dass man sich vorher für drei Jahre verpflichtet hatte. Leider kam diese Reglung für mich zu spät, denn 1987 war ich schon ein Jahr bei der Armee. Die, die ein Jahr jünger waren als ich, kamen so ein Jahr vor mir wieder raus. Tja.
In der DDR gab es ab den 70er Jahren Intershops, in denen man für Forumschecks Westwaren erwerben konnte. West-Geld musste man in Forumschecks umtauschen. Ich habe vor dem 10.11.1989 exakt 5,01 DM besessen. Das kam so: Ich war in der Komischen Oper unter den Linden und wollte mit zwanzig Mark zwei Karten für insgesamt 14 Mark bezahlen. Die Frau am Schalter gab mir zwei Münzen zurück. Eine war komisch. Ich wollte mich erst beschweren, aber zum Glück habe ich rechtzeitig geschaltet und nichts gesagt: Sie hatte mir fünf West-Mark gegeben.
Den West-Pfennig hatte ich im Pioniertheater Theater der Freundschaft gefunden, wo wir ab und zu mit der Schule zu Aufführungen gingen. Westgeld! Ausgerechnet da! Jedenfalls war ich durch den Opernbesuch zu ungeahntem Reichtum gekommen. Ich habe die fünf Mark dann in den Intershop gebracht. Daran musste ich denken, als ich folgenden Satz im Buch Diesseits der Mauer von Katja Hoyer gelesen habe:
Zum Reiz der Intershops mit all den ausländischen Waren trug zusätzlich bei, dass diese alles andere alles billig waren. Kassetten für die beliebten Rekorder kosteten 5, Matchbox-Autos 2,50 und eine Original-Wrangler-Jeans 50 D‑Mark.
Diesen Satz kann man nicht richtig einordnen, denn es fehlen Vergleichspreise. Auch fehlt der Zeitpunkt, zu dem diese Preise gegolten haben. Als ich über die fünf Mark verfügen konnte, kosteten Kassetten jedenfalls keine fünf Mark. Das weiß ich genau, denn ich hatte ja nur fünf Mark. Davon habe ich eine 90er Kassette gekauft (BASF, wenn ich mich recht erinnere, siehe auch Ostmusik / Westmusik) und einen Schlumpf für meinen kleinen Bruder. Dann blieb noch etwas übrig. In Intershops gab es kein Wechselgeld, so dass man dann bei Restbeträgen wie 60 Pfennig noch irgendwelchen Süßkram nehmen musste. Ich glaube, dass die Kassette so etwa drei DM gekostet hat.
Nachtrag
Peer hat auf Mastodon darauf hingewiesen, dass es ganz verschiedene Typen von Kassetten gab und dass diese unterschiedlich teuer waren. Also gab es vielleicht Super-duper-Bänder, die 5 DM gekostet haben. Aber typisch war das nicht.
Ich lese gerade das Buch Diesseits der Mauer von Katja Hoyer. Es gibt darin einen Abschnitt zu Ostrock im Kapitel 1971–1975.
Die anfängliche Anpassung der Puhdys an die Vorgaben des Regimes war nicht einfach nur ein Akt der Unterordnung, wie es ihnen viele kritischere Intellektuelle und Künstler in der DDR vorwarfen. Ihr Entschluss, auf Deutsch zu singen, war entscheidend für ihren Aufstieg als prägende Band der DDR-Rockmusik. Auf fast kuriose Weise zwang der Druck kleinlicher Bürokraten sie dazu, kreativer zu werden und ihre eigene Stimme zu finden. Ähnlich ging es auch anderen Musikern aus dieser Zeit. Insgesamt war der DDR-Ostrock der 1970er vom Sound her zwar vom Westen inspiriert, aber zugleich stark durch die Erfahrungen und Rahmenbedingungen der Musiker in ihrem Land geprägt. Ihre Popularität über die Grenzen der DDR hinaus spricht für die Qualität der Arbeit. Auch wenn der Ostrock politischem Druck ausgesetzt war, so ist er nicht durch ihn entstanden.
Hoyer, Katja, 2023. Diesseits der Mauer, S. 348–249.
Ich habe mich ab ca. 1980 intensiver für Musik interessiert und für mich war die DDR-Musik in weiten Teilen ungenießbar. Bands wie die Puhdys und Karat waren für mich Staatsbands und zumindest bei Karat ja irgendwie Schlagersänger.
Dass ihr Lied Über sieben Brücken musst Du gehn von einem „Rocker“ aus dem Westen gecovert wurde, macht aus dem Schlager immer noch keinen Rocksong.
Hoyer handelt auch Frank Schöbel im Abschnitt über Ostrock ab und der war nun eindeutig ein Schlagersänger (Heißer Sommer war lustig, aber eben so Musical-Kram).
Für mich war fast die ganze DDR-Rockmusik (Puhdys, Karat, Stern Meißen, Electra, Silly, Pankow, Rockhaus) totes Zeug. Das wurde erst ganz zum Schluss in den 80ern anders, als es einen offiziellen, will heißen, staatlich geduldeten, Untergrund gab.
Auf den Klassen- und Schuldiskos 1980–1986 wurde bei uns – soweit ich mich richtig erinnere – keine Ost-Musik gespielt. Das war einfach total unccol. Da gab es so was wie AC/DC, Queen (We will rock you), Alice Cooper, Wishful Thinking, Depeche Mode, Ultravox, Soft Cell.
Twist
Hoyer beschreibt in früheren Kapiteln (Kapitel 5, 1961–1965) Phasen der Lockerung und Zeiten, in denen Manfred Krug u.a. mit Twist Erfolge feierten (S. 262). Dann wurde es aber wieder strenger. In meiner Jugendzeit war Ostmusik spröde und langweilig. Ich habe mich redlich bemüht, Pankow und Silly gut zu finden. Es ist mir nicht gelungen. Silly und Pankow sind die einzigen Bands unter den oben genannten, von denen ich Platten habe. Diese habe ich damals fast nie gehört und in den letzten 35 Jahren überhaupt nicht.
Ich war an einer Schule (EOS) mit Funktionärskindern und Kindern von Parteimitgliedern in einer Klasse. Einer mit Opa im ZK, ein anderer mit einer besonderen Telefonnummer. Weiß nicht, was der Vater war. Wir haben uns getroffen und Musik überspielt. Kraftwerk habe ich von einem aus der Parallelklasse bekommen. Beatles, Pink Floyd, The Doors, Zappa, Beefheart von Klassenkameraden. Ich kann mich noch erinnern, wie wir The final Cut mit Hand ausgesteuert haben, weil der Geracord die hohe Dynamik gekillt hätte. Mein Freund immer kurz vor den entscheidenden Stellen: „Runter! Runter!“ Ein anderer Freund war für Hardrock und Heavy Metal zuständig. Von ihm bekam ich Scorpions und Judas Priest.
Tom Waits, Dire Straits bekam ich von einem Klassenkamerad, dessen Schwester nach Westberlin geheiratet hatte. Schlecht für ihn, weil er nicht zur internationalen Physikolympiade fahren durfte, gut für uns, weil wir die Platten überspielen konnten.
Eine Kassette kostete 20 Mark (= mehr als 20 Brote), war also sehr teuer. Auf die Ost-Kassetten gingen 60 Minuten (2*30 min), das war für das Überspielen von Langspielplatten ungünstig, weil die meistens 45 Minuten lang waren. Dafür brauchte man eigentlich 90er Kassetten, die es im Osten nicht gab. Ich habe viel Geld in Musik angelegt. Eigentlich alles, was ich hatte. Der Kassettenrecorder kostete 1100 Brote, war aber Mist, so dass ich mir ein Stereoradio (Rema Andante) und den Geracord gekauft habe. Das waren zusammen ungefähr 2000 Brote.
Lizenz-Platten: Amiga
Bei Amiga gab es Platten von Bruce Springsteen, Tina Turner, Tomita, Tangerine Dream usw. Auch von Udo Lindenberg gab es einige Platten.
Das war Bückware, die Auflage betrug nur jeweils 10.000, die Bedürfnisse konnten nie vollständig befriedigt werden. Aber man konnte die Platten dann von Glücklicheren überspielen. Ich hatte mal Kate Bush ergattert, die habe ich dann gegen eine Jimmi Hendrix-Platte von Polydor (Westen) eingetauscht.
Bibliotheken
Neubau-Komplexe hatten meistens einen Dienstleistungskomplex mit Friseur, Jugendclub und Bibliothek. Die Amiga-Platten gab es auch in den Bibliotheken. Ich erinnere mich an Pink Floyd The dark side of the moon und eine Elivs-Platte. In die Pink-Floyd-Platte habe ich leider einen Kratzer reingemacht. Sorry an alle, die sie nach mir hatten.
Das Bild ist eine nicht ganz vollkommene Reproduktion des Bibliotheksexemplars der Udo-Lindenberg-Platte von Amiga. Fotografiert mit der Certo SL 110. Ich habe es in der Kassettenhülle der Kassette mit der überspielten Platte verwendet.
Duett: Musik für den Recorder
Auf dem Jugendsender DT64 gab es eine Sendung Duett: Musik für den Recorder, bei der Schallplatten zum Mitschneiden komplett gespielt wurden. Ob die DDR den Künstler*innen was dafür bezahlt hat, weiß ich nicht …
RIAS: Treffpunkt
Im RIAS Treffpunkt gab es am Sonnabend immer Wunschtitel zum Mitschneiden. Diese wurden ausgespielt. Es gab meist einen Titel von Udo Lindenberg. Ich weiß noch, dass es da bei uns immer Kaffee gab und ich eigentlich nur zu meinem Recorder wollte.
Es gab Tarnadressen, an die Ostdeutsche ihre Musikwünsche schicken konnten. Die Adressen änderten sich ständig und wurden jeweils in den Radiosendungen durchgesagt. Ich fand das merkwürdig, weil die Stasi ja auch Radio hören konnte. Ich habe natürlich nie an eine solche Adresse geschrieben.
Schlager der Woche
Schlager der Woche war eine Hitparade im RIAS, die der liebenswerte Chaot Lord Knud jede Woche veranstaltete. Es war keine Schlagersendung, sondern irgendwie so eine Hitparade, bei der die Hörerinnen sich etwas wählen konnten. Lord Knud hat leider oft in die Titel reingequatscht, aber wenn man es nicht besser hatte, musste auch das für Mitschnitte reichen.
Beatles-Jahr
Die Beatles-Alben wurden auch komplett im Rundfunk gespielt. Weiß nicht mehr, ob es SFB oder RIAS war. Es war jedenfalls im Lutherjahr 1983. Nach den Beatles kam immer „Wer Ohren hat, der höre.“ Ich hatte ja schon eine halbe Stunde gehört.
Kulturzentren
In Kulturzentren der verschiedenen Ostblockländer konnte man Platten kaufen. Ich habe im Polnischen Kulturzentrum eine Platte von den Dead Kennedys und einen Sampler mit Psychobilly-Stücken gekauft: Psycho Attac over Europe.
Ungarn und ČSSR
In Ungarn und in der ČSSR konnte man Schallplatten kaufen, die es in der DDR nicht unbedingt gab. Die Beträge, die man umtauschen konnte waren begrenzt. Wenn man Omas oder Kumpels mit Omas hatte, die einem Zollerklärungen aus dem Westen mitbrachten, dann konnte man in Ungarn noch mehr Geld umtauschen. Das musste man aber irgendwie ins Land bekommen. Die Plattenläden hatten Visitenkarten, die sich die Ungarnbesucher weitergaben. Ich habe mir eine Doors-Doppel-LP gekauft (100 Mark) und eine Beatles-Kassette.
Omas und Opas
Die mit den Omas und Opas haben diese Platten mitbringen lassen, entweder für sich selbst oder für den Weiterverkauf auf dem Schwarzmarkt. Diplomaten haben den Schwarzmarkt wohl auch gefördert.
Zusammenfassung
Es gab Mittel und Wege, an West-Musik zu kommen. Die Puhdys hat niemand von uns gehört. (oder wenn, dann heimlich =:-)
Einstufung
Was man wissen muss über die Ostmusik, ist: Man konnte nicht einfach so auftreten. Während das im Westen der Markt regelte, regelte das im Osten der Staat. Man brauchte eine Einstufung.
Das bedeutete, dass nur Menschen, die ihre Instrumente beherrschten, auftreten konnten. Und dass nur Menschen, die irgendwie zensurkonforme Texte hatten, eine Einstufung bekommen haben bzw. behalten haben. Ohne Einstufung blieben nur Konzerte in Kirchenräumen. Die Kirchen waren in diesem Bereich autonom, in ihren Räumen durften sie machen, was sie wollten. Die Stasi war zwar immer überall dabei bzw. stand – wie beim Frühlingsfest der Erlöserkirche außen drum rum –, aber ansonsten wurde diese Übereinkunft eingehalten.
Die anderen Bands
Gegen Ende der DDR gab es die anderen Bands. Die wurden sogar im Jugendradio DT64 gespielt. Im Parocktikum von Lutz Schramm (auf dem schlechtesten Sendeplatz). So was wie Sandow, die Art, FeelingB, Die Vision, Die Skeptiker, Herbst in Peking, Ich-Funktion, Die Firma, Freygang, Dekadance, Hard Pop, Steve Binetti, Rosengarten (Bessere Zeiten), Freunde der Italienischen Oper, Dritte Wahl. Die hatten eine Einstufung und konnten in Jugendklubs, Kreiskulturhäusern oder im Palast der Republik bei Veranstaltungen von Lutz Schramm auftreten. AG Geige gehörte auch dazu. Diese Formation war ein Sonderfall: Sie hatten keine Einstufung, durften aber nach Intervention einer Galeristin als „Volkskunstkollektiv der ausgezeichneten Qualität“ auftreten. =:-)
Das war echt, das tat weh und ab und zu wurde mal eine von den Bands verboten oder hatte irgendwie Schwierigkeiten. Dekadance hatte Probleme mit der Zensur, weil die den Song Twenty Zigarillos nicht verstanden haben. Der Text bestand nur aus der Zeile „Twenty Zigarillos“. Herbst in Peking hatten 1989 eine Schweigeminute für die Opfer des Massakers am Tian’anmen-Platz gemacht und wurden verboten. Freygang war auch immer mal verboten.
Es gab in der DDR eine ziemlich aktive Tape-Szene. Auf Konzerten wurden Kassetten der jeweiligen Bands verkauft. Von meinem Klassenkamerad mit ZK-Opa habe ich auch Tapes von Gefahrenzone bekommen. Gefahrenzone hatte nie eine Einstufung und ist nur in kirchlichen Kontexten aufgetreten. Sie sangen über Perestroika und Glasnost. Ich habe das Band zu einem Zeitpunkt überspielt, als die Stasi schon Zersetzungsmaßnahmen gegen die Band laufen hatte. Aber davon wussten wir nichts. (Gefahrenzone bei TapeAttack)
Geh zu ihr und lass Deinen Drachen steigen, geh zu ihr, denn Du lebst ja nicht vom Moos allein
Die Puhdys-Songs im Film Paul und Paula sind auf jeden Fall legendär. Der Film steht ja auch auf meiner Liste mit den Filmempfehlungen und Lesetipps.
Nachtrag
24.12.2024 Es gibt von Amiga eine Zusammenstellung der hundert besten Ostsongs. Die ist sehr gut. Man findet darin einiges von dem, was ich schrecklich fand. Aber auch, und das meiner Meinung nach überproportional, den DDR-Untergrund.
Irrenhaus von Keimzeit hatte ich schon vergessen. Das war erstaunlich kritisch! Auch einige Lieder von Pankow. Die Zöllner mit Käfer aufm Blatt. Schrecklich!
Die Opfer der nationalsozialisitschen Diktatur und der Diktatur des Proletariats
(Vorweg: Ich habe die DDR, so wie sie war, abgelehnt und kann mit nostalgischer Verklärung nichts anfangen. Ich bin froh, dass sie Geschichte ist. Wie viele andere bin ich jedoch nicht glücklich damit, wie diese Geschichte von Westlern erzählt wird.)
In Beiträgen, in denen versucht wird, den Osten zu verstehen, wird oft davon gesprochen, dass die Ossis durch zwei Diktaturen geprägt wurden. Das ärgert mich immer wieder, weil es zwar faktisch richtig ist, dass Ostdeutsche in zwei Diktaturen gelebt haben, aber damit suggeriert wird, dass diese Diktaturen irgendwie von der gleichen Art sind. Meist wird das nicht explizit gesagt, aber hier in einem Leserbrief von Barbara Hartz aus Bremen zu einem Interview von Anne Fromm mit Anne Rabe und Katja Heuer findet man den Vergleich ziemlich offen:
Zur Meinung Katja Hoyers fällt mir meine politische Sozialisation in der Realschule ein: Unsere Lehrer machten uns durchgehend deutlich, dass all die gelobten Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierungszeit wie der viel gelobte Autobahnbau, die Kraft-durch-Freude-Ferien, die Gemeinschaftserlebnisse der Jugend und vieles mehr nicht gegen die generalstabsmäßig geplante und gnadenlos organisierte Ausrottung von Menschen und gegen die propagierte Menschenverachtung aufzurechnen sind.
Die Lehrer machten klar, dass diese Verbrechen so schlimm sind, dass sie durch nichts Gutes zu relativieren oder auszugleichen sind.
Wie fällt die Beurteilung der DDR aus, wenn man mit diesem moralischen Maßstab auf ihre Zeit blickt?
Ich bin in der DDR aufgewachsen und dazu erzogen worden, mit diesen Maßstäben auf die Welt zu sehen. Ich möchte dazu einige der Verbrechen auflisten, die in der Nazi-Zeit begangen worden sind. Nichts davon hat es in der DDR gegeben.
Nazi-Deutschland hat einen Weltkrieg begonnen, in dem 60 bis 65 Millionen Menschen gestorben sind. (Wikipedia: Tote des zweiten Weltkriegs)
Nazi-Deutschland hat systematisch und geplant und beschlossen 6 Millionen Juden ermordet.
Nazi-Deutschland hat 7 Millionen sowjetische Zivilisten ermordet.
Nazi-Deutschland hat 3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene ermordet.
Nazi-Deutschland hat 1,8 Millionen polnische Zivilisten ermordet.
Nazi-Deutschland hat 312.000 serbische Zivilisten ermordet.
Nazi-Deutschland hat 250.000 Behinderte ermordet.
Nazi-Deutschland hat 250.000 Sinti und Roma ermordet.
Nazi-Deutschland hat 1.900 Zeugen Jehovas ermordet, weil diese den Kriegsdienst verweigert haben.
Nazi-Deutschland hat 70.000 so genannte „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“ ermordet.
Der entsprechende Teil des deutschen Volkes hat für sich Ariernachweise erstellt, um zu zeigen, dass sie irgend etwas Besseres waren, als Menschen anderer „Rassen“.
Nazi-Deutschland hat Euthanasie-Programme (Aktion T4) durchgeführt und psychisch Kranke und Behinderte ermordet oder verhungern lassen. Es wurde von „unwertem Leben“ gesprochen.
Hier kann man die Zahlen der Ermordeten noch einmal in einer Grafik sehen:
In der Aktion T4 wurden Psychiatrie-Patienten systematisch umgebracht. Nach deren Ende, das eventuell damit zusammenhing, dass die Mörder in den neu eingerichteten Vernichtungslagern für die Ermordung der Juden und sowjetischen Bürger*innen und Kriegsgefangenen benötigt wurden, gab es den Hungerkost-Erlaß.
Der Hungerkost-Erlaß des Bayerischen Staatsministers des Inneren vom 30. November 1942 schloss an die Einstellung der Aktion T4 an. Die Kost psychiatrischer Patienten, die insbesondere nicht mehr arbeitsfähig waren, wurde infolgedessen so weit reduziert, dass nach drei Monaten mit ihrem Tod zu rechnen war. Der Erlass führte zum Tod vieler tausender Psychiatrie-Patienten in Bayern.
Unterzeichnet wurde der Erlass von Walter Schultze, der von 1933 bis 1945 als Ministerialdirektor die Abteilung Gesundheitswesen im Bayerischen Innenministerium leitete. Schultze war außerdem von 1935 bis 1944 als „Reichsdozentenführer“ Leiter des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes (NSDDB).
Nach heutigem Kenntnisstand[2] ist der von Schultze unterzeichnete Erlass gleichzeitig „eine Art nachträglicher Rechtfertigung für Handlungsweisen […], die schon längst praktiziert wurden“ und die „Anordnung von neuen und brutaleren Maßnahmen, die aber in dem Erlaß selbst nicht angesprochen sind, im Grunde also […] ein Dokument der Tarnung und Verschleierung.“[3] Der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, Valentin Faltlhauser, hatte bereits 1941 die Einschränkung der Kost der nichtarbeitsfähigen Patienten angeordnet. Seit August 1942 ließ Faltlhauser arbeitsunfähigen Patienten eine völlig fettlose „Sonderkost“ verabreichen, die Kranken starben innerhalb von drei Monaten an Hungerödemen. Faltlhauser referierte über seine Erfahrungen bei einer Konferenz der Anstaltsdirektoren mit Schultze am 17. November 1942, auf die im „Hungererlass“ Bezug genommen wird.
Alles bis hierher Geschilderte zeugt von einer unglaublichen Brutalität und Unmenschlichkeit des NS-Regimes. Man möge den Eintrag zur Aktion T4 lesen. Daraus geht hervor, dass ein einziger Richter sich den mit der Ermordung verbundenen Anordnungen widersetzte. 90 höchstrangige Richter wurden dann in die Aktion eingeweiht, waren also mitschuldig.
Nichts, nichts davon gab es in der DDR. Die DDR hat keinen Krieg begonnen. Die NVA war als Verteidigungsarmee konzipiert, deren Aufgabe es war, potentielle Angriffe aus dem Westen für 24 Stunden aufzuhalten. Die DDR war komplett durchmilitarisiert (Sport, Wehrkundeunterricht, Gesellschaft für Sport und Technik) aber das lief alles unter „Der Friede muss bewaffnet sein“. Krieg stand nicht auf dem Programm, was in der Nazi-Zeit definitiv anders war. Die Kommunisten hatten vor den letzten Wahlen gewarnt: „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“ Die Erziehung in der DDR war antifaschistisch, die Verbrechen der Nazis inklusive Holocaust wurden im Schulunterricht und an vielen anderen Stellen thematisiert, obwohl das von Menschen wie Anetta Kahane und Ines Geipel geleugnet wird (siehe Blog-Beitrag Der Ossi und der Holocaust). Die Völkerfreundschaft wurde offiziell befürwortet, was natürlich mit dem Befreiungskampf der entsprechenden Völker verknüpft wurde, aber es gab von staatlicher Seite keinen über Rassenkonzepte motivierten Rassismus (für Belege aus der Bummi-Zeitung, der Für Dich, der NBI und der Wochenpost zur internationalen Solidarität und zur medizinischen Versorgung von Menschen aus Afrika in der DDR siehe „Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern“: Kommentare zu einem Aufsatz von Patrice G. Poutrus, Jan C. Behrends und Dennis Kuck). Zum Umgang mit Behinderten habe ich in Mein Gott, Walther! Die DDR als prä-faschistischer, post-faschistischer und faschistischer Staat und überhaupt. geschrieben. Ich bin in Buch aufgewachsen, dort gab es ab 1976 staatlich geplante barrierefreie Wohnungen für Menschen mit Rollstühlen.
Es gab Menschen, die Opfer des DDR-Regimes geworden sind. Dazu gehören ganz offensichtlich die Mauertoten, aber auch Systemgegner*innen, die nach fragwürdigen Prozessen hingerichtet wurden oder irgendwo in Gefängnissen verschwanden und nie wieder gesehen wurden. Zur Zahl der Toten gibt es nur Schätzungen. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags geht von einigen Hundert bis zu 4.000 aus (Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages 2021). An der Mauer sind wohl weniger als 327 Menschen gestorben. Es gab 52 bis 72 Todesurteile für politisch Verfolgte. Ohne verlässliche Zahlen wird von bis zu 50 politisch motivierten Morden oder Mordversuchen durch das MfS (ohne Thüringen) ausgegangen. Die Todesursache für in der Haft Gestorbene lässt sich im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren. Man geht von einigen Hundert bis 2.500 aus. Nimmt man jetzt die Obergrenze der Schätzung, also den für die DDR am ungünstigsten Fall von 4.000 Opfern des DDR-Regimes an, so sieht man, dass das in absolut anderen Größenordnungen liegt als die Verbrechen der Nazis. Wenn in den 40 Jahren der DDR 4.000 Menschen umgekommen sind, dann sind das 100 pro Jahr. Das ist eine große Zahl, ohne Zweifel, aber in der Schlucht von Babyn Jar hat die SS und die Wehrmacht in 36 Stunden 33.000 Juden (Frauen, Kinder und Männer) erschossen.
Hoyers Arbeit
Ich habe das Buch von Hoyer noch nicht ganz gelesen. Bisher nur das Kapitel über die Mauer und das folgende Kapitel über Urlaubsplätze. Hoyer schreibt an keiner Stelle, dass die Mauer eine dufte Sache war. Sie erklärt, warum sie gebaut wurde und beschreibt ausführlich tragische Todesfälle. Hoyer erklärt im Kapitel Hart arbeiten und das Leben genießen, das dem Mauerkapitel folgt, warum der Ausbau des Urlaubssystems notwendig war: Ab 1961, als die Mauer stand, konnte Ulbricht bzw. die Staatsführung Missstände nicht mehr auf Konterrevolutionäre schieben und musste selbst dafür sorgen, dass sich das Volk wohlfühlte. Das herauszuarbeiten ist notwendig, wenn man eine Geschichte der DDR haben will und wenn man die DDR und das Handeln ihrer Bewohner*innen in der Gegenwart verstehen will. Auch im Interview mit der taz gibt es nichts, was man Katja Heuer als Ostalgie oder Verklärung von Tatsachen vorwerfen könnte.
Die DDR war der Staat mit dem größten Spitzelnetz, mit der größten Dichte an Geheimdienstmitarbeiter*innen pro Einwohner, weltweit (Wikipedia-Artikel MfS: ein hauptamtlicher Mitarbeiter pro 180 Einwohner*innen). Die DDR hat sich mit einer Mauer Richtung Westen abgegrenzt und ihr dahinter eingesperrtes Volk bespitzelt und unterdrückt. Das gehört zur Geschichte der DDR. Es gehört aber auch dazu, dass der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund Urlaubsplätze verteilt hat. Über die von Frau Hartz angesprochenen Fakten (Autobahnbau, Kraft-druch-Freude, Volkswagen, usw.) wird auch jede Geschichte des Nationalsozialismus berichten und wird diese historisch einordnen.
Wer war Hitler? Relativierungen
Auf die Frage: „Wer war Hitler?“ gibt es drei mögliche Antworten. Die erste kann man hier in diesem Beitrag des Hessischen Rundfunks aus dem Jahr 1959 bestaunen.
Drei Antwort-Arten sind:
Hitler hat die Autobahnen gebaut und viele Menschen in Arbeit gebracht.
Hitler hat systematisch Millionen Menschen ermorden lassen, einen Krieg geführt, bei dem noch mehr umgekommen sind, aber er hat auch Autobahnen gebaut.
Hitler hat systematisch Millionen Menschen ermorden lassen, einen Krieg geführt, bei dem noch mehr umgekommen sind, und er hat Autobahnen gebaut.
Den Fall 1) kann man im Video sehen. Unakzeptabel. 2) Ist die Relativierung. Ebenfalls unakzeptabel. 3) mit und statt aber ist die Feststellung einer historischen Tatsache, die natürlich in einem Text entsprechend eingeordnet werden muss. Nach dem Muster 3) arbeitet Hoyer und das ist auch wissenschaftlich korrekt.
Schlussfolgerung
Nazi-Deutschland und die DDR sind unvergleichbar. Die Größenordnungen der begangenen Verbrechen ist um den Faktor 20.000 (80.000.000 zu 4.000) oder 133.000 (80 Mio zu 600) verschieden. In Nazi-Deutschland gab es eine größere Beteiligung der Bevölkerung schon allein durch die Kriegsbeteiligung aber auch durch die Konzentrationslager, den Umgang mit Zwangsarbeitern, Deportationen von Juden, die Euthanasie-Verbrechen.
Man sollte also Nazi-Deutschland und die DDR nicht in einen Topf werfen. Wer es tut, hat entweder keine Ahnung vom Umfang der Verbrechen in der DDR oder relativiert die Nazi-Verbrechen, die in den 1000 Jahren davor begangen wurden.
Vor einiger Zeit sind die Sächsischen Separatisten aufgeflogen. Eine Gruppe Rechtsextremer, die mit Waffen für den Tag X trainiert haben, wurde festgenommen. Einige von ihnen AfD-Funktionäre. Heute schreibt die taz zu dieser Gruppe:
Zu den Festgenommen gehören auch die Brüder Jörg und Jörn S. aus Brandis, deren Vater in den 1980er Jahren bereits in der militanten Neonazi-Szene in Österreich aktiv war. Jörg S. gilt der Bundesanwaltschaft als Anführer der Gruppe.
Das heißt, das wieder eine Gruppe von in den Osten gekommenen West-Nazis geleitet wird. Ich bitte, das zu berücksichtigen, wenn über „die Ossis“ berichtet wird und versucht wird, die Existenz von Nazis im Osten irgendwie auf Eigenschaften von Ossis zurückzuführen.
Übrigens hat Peter Kurth, früher Berliner CDU-Senator, den Terroristen den Kauf eines Hauses finanziert. Ost-Nazis verfügen normalerweise nicht über ausreichend Mittel zum Kauf von Häusern.