Israel ist ein schönes Land. Ich war zweimal zu Workshops dort in Haifa. Einmal 2006 und einmal 2015. 2006 sind wir mit dem Bus zum See Genezareth gefahren. Ich habe die Orte gesehen, an denen der Jude Jesus Christus 5.000 Menschen gespeist und diverse andere Wunder vollbracht hat.
Ich war auch einige Tage in Jerusalem. Eine wunderbar verrückte Stadt. Sie ist wichtig für unglaublich viele Religionen.
Wenn man Bus fährt sitzen neben einem 18jährigen in Zivilkleidung mit großen automatischen Gewehren in der Hand.
Ich habe eine Freundin in Israel und einen guten Kollegen. Die Freundin hatte auch den Workshop 2015 organisiert. Ich war danach mit ihr und einem Kollegen am Toten Meer und wir haben Masada besucht. Masada ist eine Festung auf einem Tafelberg. Umgeben von Wüste.
Masada war lange der Ort, an dem die neuen Rekrut*innen der israelischen Armee vereidigt wurden. Das wurde dann irgendwann abgeschafft, weil die Massenselbstmordgeschichte der jüdischen Kämpfer, die diese Festung gegen die Römer verteidigt hatten, nicht so ganz zum gegenwärtigen Selbstverständnis der Armee passte.
Wir besuchten eine Oase in der Nähe von Masada. Wasser. Leben.
Der Vater meiner Schwiegermutter hat einem Juden das Leben gerettet. Er hat ihm ein Zug-Ticket durch die Sowjetunion nach Wladiwostok gelöst. Von dort floh er über Japan in die USA. Mithilfe meines israelischen Kollegen konnte ich seinen Neffen 2006 in Herzlia ausfindig machen. Mein Schwager hat ihn dann in Israel besucht.
Gaza
Ich habe eine Kollegin, deren Mann aus Gaza kommt. Die beiden haben einen Sohn. Meine Kinder haben mit ihm gespielt.
Gaza ist schon länger von Israel abgeriegelt. Es gibt dort nicht genügend Wasser. Amnesty International hat das im Juni 2022 beschrieben (AI, 2022). AI erklärt die Lage der natürlichen Wasservorkommen und die Verteilung des Wassers aus dem See Genezareth. 25% der Krankheiten in Gaza rühren von der mangelnden Wasserversorgung her. Mehr als die Hälfte der Kinder leiden unter Durchfallerkrankungen.
Deutschland leistet Entwicklungshilfe im Gaza-Streifen. Wasserwerke, Klärwerke werden gebaut (BMZ, 05/2023).
Nach den unglaublich brutalen Überfällen der Hamas, hat Israel nun zeitweilig Blockaden von Wasserzufuhr und Strom sowie Treibstoff verhängt. Strom oder Treibstoff braucht man für Pumpen und Meerwasserentsalzungsanlagen.
Wir hatten neulich einen Stromausfall. Meine Tochter sagte danach auch zu Gaza: Sie wüsste überhaupt nicht, was sie ohne Strom machen sollte. Der Stromausfall hat die Netzfreischaltung in meinem Zimmer geschrottet, so dass ich eine Woche im Zimmer keinen Strom hatte und Verlängerungskabel dorthin legen musste. Aber das alles, ein Leben ohne Computer oder Handy ist nichts im Vergleich zu einem Leben komplett ohne Strom. Krankenhäuser, Wasserpumpen, Klimaanlagen funktionieren nicht mehr und das inmitten zerstörter Häuser, fliehender Menschen usw. Letztendlich sind in solchen Situationen Telefone auch von anderen Bedeutung als hier bei uns, wo sie im Wesentlichen der Zerstreuung dienen.
Hört auf zu streiten!
Wir sind mit einem Paar befreundet, das sich gelegentlich streitet. Wir haben neulich solch einen Streit miterlebt. Das Paar hat einen Sohn. Dieser rief mitten im Streit: „Hört auf zu streiten! Ihr seid beide Scheiße!“
Das beschreibt die Situation ganz gut, denke ich. Und so sitze ich in meinem Zimmer, lese die Zeitung, schaue Nachrichten und dreimal am Tag stehe ich auf und schreie: „HÖRT AUF ZU STREITEN! IHR SEID BEIDE SCHEISSE!“ Es hört mich niemand.
So, hier ist der Post zu Ende. Aber wie immer gibt es noch Gefundenes und Nach-Gedachtes.
Anhang
The Enshittenment
Sieg der Vernunft
Die Musiker von Knorkator sind sehr ernsthafte Menschen, die in einer Spaßband arbeiten. In den vergangenen Jahren haben sie immer wieder komplexe Themen wie Glück, Wohlstand, Fortschritt, Reichtum, Milliardäre, Klimakatastrophe und Krieg thematisiert. Sieg der Vernunft ist von 2022 und passt auch zum Israel-Hamas-Konflikt wie die Faust aufs Auge.
Literatur
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. 2023. Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen mit einem Fokus auf Wasser: Abwassermanagement Bessere Infrastruktur im Wassersektor. (https://www.bmz.de/de/laender/palaestinensische-gebiete/weiteres-engagement-17822) 30.05.2023
So, nun gibt es etwas Neues. Die Ossis bräuchten doch mal ein 1968, um mit ihren Eltern darüber zu reden, was die so während der DDR-Zeit gemacht hätten. 1968 wird auch immer wieder im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Faschismus erwähnt. Es wird behauptet, dass darüber im Osten genau so wenig wie im Westen gesprochen wurde und dass das eben daran läge, dass es im Osten kein 1968 gegeben hätte. Das ist Quatsch bzw. eine Lüge bzw. eine quatschige Lüge. Ich habe das ausführlich in meinem Blog-Post zum Umgang mit dem Holocaust in der DDR nachgewiesen: Im Osten wurde in der Schulbildung, mittels Briefmarken, Denkmälern, Straßennahmen, Schulnamen usw. auf die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus hingewiesen und zwar schon seit kurz nach dem Krieg, als es den Begriff Holocaust noch gar nicht gab. Es gab über 1000 Bücher zum Thema und über 1000 Filme. Das alles ist im Prinzip bekannt und gut dokumentiert durch zwei Bücher und eben auch diesen Blog-Beitrag, den es ja nun auch schon seit 2019 gibt. Jetzt sind zwei Bücher erschienen. Eins von einer Frau aus dem Westen, eins von einer Frau, die 1986, also drei Jahre vor der Wende, im Osten geboren wurde. Sie schreibt über eine Familie in der Kinder Gewalt ausgesetzt sind. Daraus werden dann diverse Schlussfolgerungen gezogen. Darüber, wie der Ossi so ist, dass es in den Familien Gewalt gab und letztendlich ergibt sich wieder die Erklärung dafür, warum die Ossis so scheiße sind.
Zwei Fragen hätte ich an Euch, liebe Wessis. Warum glaubt Ihr, mir mein Leben erklären zu dürfen? Woher nehmt Ihr die Gewissheit, nur irgendwie annähernd verstehen zu können, wie das war? Ihr regt Euch fürchterlich drüber auf, wenn ein Kind mit Federschmuck zum Fasching geht, Ausdruck großer Bewunderung für die amerikanischen Ureinwohner, oder wenn ein Kind im Kimono kommt. Aber Ihr kommt angeritten und wollt einem Fünftel der Landesbevölkerung erklären, wie es damals in deren Land war? Warum? Weil Ihr dieselbe Sprache sprecht? Ich sag jetzt jedes Mal, wenn Ihr wieder so einen Artikel verfasst habt, laut: Indianer. Drei Mal! Indianer, Indianer, Indianer. So, dit zeckt, wa?
Ihr habt die DDR übernommen. Die ahnungslosen Ossis haben sich Euch in die Arme geworfen. Die Bürgerbewegung wollte es mehrheitlich nicht, aber die Mehrheit wollte es schon. Nun isses so, wie es ist: Die Menschen sind arbeitslos geworden, die Industrie wurde abgewickelt, verschenkt oder zerstört. Wissenschaftler*innen wurden entlassen. Es bleiben ein paar still vor sich hinblühende Landschaften. Mit Männerüberschuss, komischer Altersstruktur, weil alle, die konnten, in den Westen zum Arbeiten gegangen sind. Und jetzt kommt Ihr an und wollt irgendwie herausfinden, warum wir so komisch sind? Ihr versucht das an einer Zeit festzumachen, die 34 Jahre zurückliegt und nur 40 Jahre lang war? Klingt irgendwie merkwürdig, zumal die entscheidende Zeit, die mit den größten Transformationen und den größten Brüchen ja für alle noch lebenden Ossis wohl die Wende 1989 sein dürfte.
Gewalt/Keine Gewalt
Anne Rabe verarbeitet ihre Gewalterfahrungen in einem Roman. Sie wurde 1986 geboren und war also zur Wende drei Jahre alt. Ich weiß nichts über die Familie und was da aus der DDR noch mitgekommen ist, aber die Eltern dürften vom Nachwendechaos beeinflusst gewesen sein, das natürlich ein zusätzlicher Stressfaktor für alle war und eventuelle Neigungen zu Gewalt verstärkt haben könnte. (Nachtrag: Ich habe das Buch jetzt gelesen und Rabe beschreibt darin keine Nachwendegewalt. Sie beschreibt eine gewalttätige Familie. Schlagende Großväter und eine psychopathische Mutter. Sie schreibt selbst, dass ihre Familie nicht normal war. siehe Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe, Nachtrag 2: Bereits 2021 gab es eine Studie der Uni-Leipzig, in der herausgefunden wurde, dass es im Westen mehr Gewalt als im Osten gab. Wie Sabine Rennefanz 2023 im Tagesspiegel anmerkte, wurde diese Studie in den Leitmedien komplett ignoriert (Rennefanz, 2023). Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre Anne Rabes Roman vielleicht nie geschrieben, veröffentlicht oder wahrgenommen worden.) Aus meinem Schulumfeld sind mir keine Fälle von Gewalt in Familien bekannt. Ich habe vor zwei Jahren von einer Bekannten von Gewalt in ihrer Familie erfahren, aber das jetzt als typisch für den Osten einzuordnen, wäre komplett verfehlt.
Dirk Knipphals, geboren 1963, in Kiel und Hamburg studiert, also wohl aus dem Westen, schreibt:
Die Privatheit, auch die Familie waren keine Schutzräume, die dem Zugriff des Regimes entzogen waren. Es gab den Überbau, für eine bessere, gerechtere antikapitalistische Welt zu streiten, und die Eltern der Ich-Erzählerin Stine glauben in dem Roman unbedingt daran – und zugleich fehlte die Möglichkeit, innerhalb der Familie nahe Beziehungen zwischen der Eltern- und der Kindergeneration aufzubauen. Das macht das individuelle Schicksal, das von Anne Rabe geschildert wird, allgemein interessant. Es trifft auf viele Familien der DDR zu.
Mit Verlaub, das ist einfach Quatsch. Viele Leute haben sich ausgeklinkt und ihr Ding gemacht. Es war klar, dass die Stasi versucht hat, alles zu unterwandern, was irgendwie dem System gefährlich werden konnte. Man musste dann damit rechnen, dass die Stasi irgendwo zuhört, aber man konnte eben doch sein Ding machen. Ich habe in den 70ern West-Bücher gelesen (Comics und Simmels Es muss nicht immer Kaviar sein), von Freunden geborgt. Ich habe 1988 Dialektik ohne Dogma von Robert Havemann und ein Buch von Rudolf Bahro von meinem Deutschlehrer geborgt bekommen. Mein Lehrer war sogar in der Partei, aber irgendwie trotzdem so eine Art Dissident.
Und die meisten DDR-Menschen waren einfach unpolitisch, sind nicht angeeckt und haben sich ins Private zurückgezogen. Natürlich gab es da Privatheit. Und woher nimmt Dirk Kipphals die Gewissheit, dass irgendetwas auf viele Familien zutrifft. Indianer, Indianer, Indianer! Echt, wenn Ihr so was behauptet, möchte ich Quellen. Untersuchungen. Und als Sprachwissenschaftler weiß ich auch, dass „viele“ vom Kontext abhängt. Drei? Drei Millionen? Mehr als im Westen? 15 Millionen?
Zur Gewalt in der DDR hier noch folgendes Zitat vom unverdächtigen Bayrischen Rundfunk:
In der DDR wurde in antifaschistischem Selbstverständnis die Prügelstrafe an Schulen 1949 abgeschafft, als „Relikt inhumaner Disziplinierungsmethoden des NS-Regimes“ – während in Westdeutschland der Bundesgerichtshof Lehrern noch 1957 ein „generelles Gewohnheitsrecht“ zum Prügeln zusprach.
In den bundesdeutschen Ländern wurde die Prügelstrafe erst 1973 verboten, Bayern schaffte sie als letztes Bundesland 1983 ab – ein Verdienst der 68er-Bewegung und deren Wunsch nach gewaltfreier Erziehung. Auch die Schüler selbst forderten damals eine andere Pädagogik.
In meiner POS gab es den Chemielehrer Herr Keil, der mit dem Schlüsselbund warf. Das hätte ins Auge gehen können. Niemand hat jemanden geschlagen.
Im privaten Bereich wurde in der BRD das Prügeln übrigens erst 2000 verboten, weil die BRD eine UN-Vorgabe umsetzen musste. Ej, Mann! Und da kommt Ihr uns mit der Gewalt in der DDR wegen eines repressiven Systems? Papa gibt mal ne Schelle, war im Westen ganz normal. Übrigens: große Errungenschaft: Ab 1957 durfte Mama auch ganz offiziell mit zulangen. Vorher war das dem Herr im Hause vorbehalten:
In Deutschland sprach der Bundesgerichtshof Lehrern noch 1957 ein „generelles Gewohnheitsrecht“ zum Prügeln zu. Ein Jahr später wurden Männer und Frauen gleichgestellt. Nun durften auch Mütter Schläge austeilen, vorher war das Züchtigungsrecht den Vätern vorbehalten.
Welche Auswüchse diese Kinderfeindlichkeit auch nach dem Krieg noch hervorbrachte, zeigten die unhaltbaren Zustände in vielen Kinderheimen bis Mitte der 1970er-Jahre. Das Unrecht wurde erst 2006 durch das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ in seinem ganzen Ausmaß publik. Mehr als eine halbe Million Kinder in kirchlichen und staatlichen Heimen wurden allein in Westdeutschland körperlich und seelisch schwer misshandelt. Aber auch in anderen europäischen Ländern.
Der Westen hat das also ganz ohne Diktatur geschafft. Im Namen des Herren wurden die Kinder aus Barmherzigkeit verprügelt. Ja, ich weiß, es gab im Osten Jugendwerkhöfe, ich kenne auch jemanden, der dort war und jetzt arbeitsunfähig ist. Im Westen waren aber auch normale Heime und Kuren wohl nicht so schön, wie jetzt herauskommt. Ich habe über Kuren im Osten und meine Erfahrungen bereits geschrieben.
1968
Die Wessis finden, es müsse doch eine Aufarbeitung der DDR-Zeit in den Familien geben, so wie es eine Aufarbeitung der Nazi-Zeit 1968 in der BRD gegeben habe. Man muss nur kurz darüber nachdenken, was das bedeutet, um die Ungeheuerlichkeit dieses Ansinnens zu verstehen. Es wird auch nicht besser, wenn man das selbst wie Dirk Knipphals in seinem Artikel erwähnt. Deutsche hatten Millionen Juden bestialisch umgebracht. Sie waren jahrzehntelang in einer Art Euphorie Hitler hinterhergetaumelt. Sie hatten alle fleißig ihre Ariernachweise zusammengestellt, glaubten sie würden zur Herrenrasse gehören und wollten bessere Menschen züchten. Sie hatten einen zweiten Weltkrieg angefangen. Die Mehrheit fand das großartig! Die Mitgliedsnummern der NSDAP gingen über 10 Millionen. Noch 1943 freute sich der Sportpalast auf den Totalen Krieg, den Deutschland dann auch bekam.
Da muss man Fragen stellen!
Ich habe in der DDR gelebt. Es war eine Diktatur. Wir haben das in der Schule gelernt: die Diktatur des Proletariats. Die Stasi hatte ein riesiges Überwachungsnetz aus hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter*innen installiert. Es war ein Überwachungsstaat. Man konnte dort nur leben, wenn man sich sagte, dass es egal ist. Alle wussten, dass alles irgendwie bei der Stasi landen konnte. In den ersten Jahren nach dem Krieg wurden Menschen abgeholt und verschwanden dann. Es gab auch später noch politische Gefangene, die ein gelbes Quadrat auf dem Rücken hatten, damit man sie besser erschießen konnte, sollten sie eine Fluchtversuch unternehmen. (Sie wurden dann aber doch gegen Apfelsinen eingetauscht.) Auch an der Mauer wurden Menschen erschossen. Aber, hey, 6 Millionen vergaste, erschossene, an Krankheiten in KZs gestorbene oder verhungerte Juden, Schrumpfköpfe, Lampenschirme aus Menschenhaut sind ja wohl eine gaaaanz andere Hausnummer.
Wie sollte denn Eurer Meinung nach eine Aufarbeitung aussehen? Es ist eine Aufarbeitung direkt nach der Wende erfolgt. Die meisten Gräueltaten sind bestens dokumentiert: in den Stasiunterlagen. Die Stasi wollte sie 1989 noch vernichten, Bürgerrechtler*innen konnten das zum größten Teil verhindern. Mein Schwager hat die geretteten Akten in der Normannenstraße bewacht. Jeder, der eine Stasiakte hatte, konnte Akteneinsicht beantragen. Viele haben das gemacht. Vera Wollenberger hat erfahren, dass ihr Man sie bespitzelt hat. Mein Chef hat erfahren, dass seine Mutter Informationen über ihn an die Stasi geliefert hat. Wir wissen das. Wir wissen auch, ob unsere Eltern in der Partei waren oder nicht. Meine waren nicht in der Partei. Wir wissen selber, ob wir drei Jahre zur Armee gegangen sind, um studieren zu können. Wir kennen Menschen, die sich quergestellt haben und Schäfer geworden sind, statt Mathematiker. Ihrer Ideale wegen. Wir kennen Menschen, die vier Jahre zur Armee gegangen sind, weil sie dann ein Jahr vor den Dreijährigen die Bewerbung auf das Medizinstudium sicher hatten. Niemand, selbst die röteste Socke aus dem Osten war an einer industriellen Auslöschung eines Teils der Bevölkerung beteiligt.
Ich habe mit meinen Eltern schon zu DDR-Zeiten über 1953 geredet. Wir hatten Auf der Suche nach Gatt in der Schule. Ich habe sie gefragt, wie es bei ihnen war. Sie waren damals zehn Jahre alt. Ihre Eltern, meine Großeltern haben sich nicht am Aufstand beteiligt. Schlimm?
Die Mehrheit der Menschen in der DDR haben so ihr Leben gelebt, um den offiziellen Teil herum. Den hat man soweit es ging ausgeblendet. Ich war zum Beispiel bei vielen Demos am ersten Mai. Das Erscheinen dort war Pflicht. Ich fand die Demos immer großartig, weil ich dort meine Kumpels aus anderen Schulen wiedergetroffen habe. Man ist hingegangen, hat sich so verhalten, dass der Klassenlehrer einen wahrgenommen hat und ist dann wieder verschwunden.
Ich wüsste nicht, was es außer den Stasiakten noch aufzuarbeiten gäbe. Für mich sieht die gesamte Diskussion mit 1968 + Gewalt nach Töpfchentheorie 2.0 aus. Erinnert Ihr Euch noch? Der Kriminologe Pfeiffer hatte damals herausgefunden, warum wir Ossis alle so anders sind: Weil wir alle im Kindergarten nebeneinander auf dem Töpfchen gesessen hatten. Nein? Ihr erinnert Euch nicht? Dann lest mal den Oschmann, er erinnert Euch.
Nachtrag 1: Aufarbeitung Die Firma
Charlotte Gneuß wurde 1992 geboren. Ihre Eltern haben im Osten gelebt und sind dann ausgereist. Sie nutzt die Erfahrungen ihrer Eltern für den Roman. Das ist der zitierte Ausschnitt zum 1968 für die Ostgeschichte:
Ich glaube, dass wir endlich anfangen sollten, in unseren Familien Fragen zu stellen. Wo wart Ihr damals? Was habt ihr vor 1989 gemacht? Ich glaube, das findet nicht genug statt. Wir haben in Deutschland ein faschistisches Erbe, im Osten kommt noch die Gewalterfahrung bis 1989 hinzu. Natürlich müssen wir das angehen. Wir können doch nicht immer die Emanzipationserfahrung Ost gegen das Gewaltgedächtnis ausspielen, wir müssen das gleichzeitig denken, die Geschichte muss in ihrer Komplexität erzählt werden. Fortschritt und Rückschritt gehen Hand in Hand. Und ja, wir brauchen ein 1968 für unsere Ostgeschichte, davon bin ich überzeugt. Vielleicht wird es irgendwann heißen: 2023, das war das Jahr, als die Kinder und Enkel begannen, Fragen zu stellen, die ihre Vorgänger nicht fragen wollten oder konnten.
Charlotte Gneuß im Interview mit der FAZ, 25.09.2023
Ich finde es völlig legitim, dass die Kinder Fragen stellen. Meine beginnen jetzt, sich langsam für die Themen zu interessieren, die ich ihnen schon länger nahezubringen versuche. Vielleicht gibt es Fragen, die ich mir nicht vorstellen konnte. Mir fällt aber selbst bei großer Anstrengung nichts ein. Ich weiß auch nicht, welche Gewalterfahrungen sie meint. In der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, gab es keine Gewalt gegen DDR-Bürger*innen, von den Fällen, wo es gegen harte Oppositionelle ging, abgesehen. 99% der DDR-Bürger*innen dürften keine Gewalterfahrungen haben. Weder als Handelnde noch als Leidende.
Oben habe ich meinen Lehrer und das Firma-Konzert erwähnt. Nach der Wende kam raus, dass Trötsch, der Sänger der Band Die Firma, bei der Stasi war. Er hat die Band nach der Stasi benannt.
„Firma“ war ein üblicher informeller Begriff für die Stasi in der DDR. Tatjana, die Sängerin, hat sich dann auch geoutet. Darüber wurde gesprochen. Ein Interview mit der Firma/Freygang/Ichfunktion wurde in der Szene-Zeitschrift NMI Messitsch veröffentlicht.
Ich habe die Firma fotografiert. Im CD-Booklet von Kinder der Maschinenrepublik sind zwei Bilder von mir. Ich habe mich mit Tatjana getroffen und wir haben über die Stasi-Geschichte gesprochen, über den Beruf ihres Vaters und dass sie sehr jung zur Stasi gekommen ist. So ähnlich wie die Heldin des Romans.
Wir haben gesprochen. Darüber wie das passieren konnte, wer sie ist, wer sie war. Die Firma hat zu DDR-Zeiten Lieder über die Verweigerung des Militärdienstes gesungen (Boris Vian: „Der Deserteur“).
Hier eine Aufnahme von 1988 mit schlechtem Ton, aufgenommen in einem Jugendklub in Friedrichsfelde-Ost:
Auf Verweigerung stand Gefängnis. Zivildienst gab es nicht. Die Firma war extrem wichtig für eine ganze Szene von Menschen. Sie hat Menschen Kraft gegeben. Dennoch: Sie ist jetzt auch im Stasimuseum in der Normannenstraße.
Alles ist im Prinzip bekannt, alles wurde besprochen. Nur hat es damals niemanden interessiert oder es wurde eben vergessen. Es ist nicht so, dass wir Leichen im Keller hätten. Ich kann verstehen, dass Menschen, die heute aufwachsen, Fragen haben und ich wäre auch jederzeit Bereit als Zeitzeuge zu berichten. Ich war vor einigen Jahren mal in der Schule einer befreundeten Lehrerin in Gelsenkirchen. Aus dem Informationsbedarf der jüngeren Generation jetzt aber abzuleiten, wir müssten etwas aufarbeiten und wir wären so komisch, weil da etwas Unverarbeitetes sei, ist einfach … Quatsch.
Nachtrag 2: Regelabfrage
Noch ein weiterer Punkt zur Aufarbeitung: Für alle, die im öffentlichen Dienst arbeiten wollten, gab es bis 2007 eine Regelanfrage beim Stasi-Unterlagen-Archiv. Belastete Personen wurden nicht eingestellt. Kam bei Personen im öffentlichen Dienst heraus, dass sie für die Stasi tätig waren, wurden sie entlassen. Ich habe im April 2007 einen Ruf an die FU-Berlin bekommen und wollte zum 01.08. dort anfangen. Der Fachbereichsleiter informierte mich, dass daraus wahrscheinlich nichts werden würde, da die Regelabfrage erst noch erfolgen müsse. Es sah so aus, als würde noch 18 Jahre nach der Wende die Stasi mein Leben negativ beeinflussen. Dann wurde aber gerade noch rechtzeitig die Regelabfrage aufgehoben, so dass dieser Schritt im Einstellungsverfahren wegfiel und ich im August beginnen konnte.
Der Punkt ist: Es gab staatliche vorgeschriebene Aufarbeitung für alle, die im öffentlichen Dienst arbeiten wollten. Die Arbeitsgruppe, in der ich nach der Wende gearbeitet habe, kam von der Akademie der Wissenschaften. Einige Mitglieder der Gruppe sind in die Industrie gegangen, weil ihnen klar war, dass sie die Regelanfrage nicht überstehen würden. Wir wussten, wer das war.
Nachtrag 3: Aufarbeitung Sascha Anderson
Im Prenzlauer Berg gab es zu DDR-Zeiten eine rege Kunstszene. Musiker*innen, Dichter*innen, bildende Künstler*innen usw. usf. Eine wichtige Figur war Sascha Anderson. Nach der Wende stellte sich heraus, dass Anderson IM war. Das ging groß durch die Medien. Wolf Biermann bezeichnete ihn als Sascha Arschloch. Alles wurde aufgearbeitet und besprochen. Es war ein großer Skandal. Viele Freundschaften sind zerbrochen. 2014 ist ein Film darüber erschienen.
Ich war zur Premiere. Viele der Betroffenen und auch Sascha Anderson selbst waren vor Ort.
Und obwohl die DDR da schon 25 Jahre Geschichte war, war alles immer noch sehr schmerzhaft und emotional für die Anwesenden.
Also: Es wurde gesprochen. Über große und über kleine Begebenheiten in der Vergangenheit. Anne Rabe schreibt in ihrem Roman selbst oder lässt die Ich-Erzählerin sagen, dass sie nicht reden wollte. Das kann sein, aber sie sollte es dann nicht anderen vorwerfen. Und ahnungslose Wessis sollten sich hüten, aus Anne Rabes Roman irgendetwas abzuleiten. Ich habe das in Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück genauer ausgeführt.
Ulke, C. & Fleischer, T. & Muehlan, H. & Altweck, L. & Hahm, S. & Glaesmer, H. & Fegert, J.M. et al. 2021. Socio-political context as determinant of childhood maltreatment: A population-based study among women and men in East and West Germany. Epidemiology and Psychiatric Sciences (30). 1–8. (doi:10.1017/S2045796021000585)
Heute vor 34 Jahren war Michael Gorbatschow in Berlin. Zum 40 Geburtstag der DDR. Eine gute Bekannte von mir, die heute meine Frau ist, hatte irgendwann 1989 eine Wohnung bekommen und einen Termin für die Einweihung gesucht. Da der 7.10. ein Feiertag war und niemand von ihren Freunden zu irgendwelchen der offiziellen Feiern gehen würde, hatte sie den 7.10. gewählt. Am 07. Mai 1989 fanden in der DDR Kommunalwahlen statt (Wikipedia-Eintrag zu diesen Wahlen). Die Bürgerbewegung organisierte zusammen mit der Kirche eine flächendeckende Präsenz bei den Auszählungen. Das war im Wahlgesetz der DDR so vorgesehen. Der Beschiss fand bei der Zusammenführung der Wahlergebnisse auf Stadtbezirks- bzw. Bezirksebene statt, wo dann ein Wahlergebnis von 98,85% für die Kandidat*innen der Nationalen Front (SED + Blockparteien) herauskam. Meine Schwester war bei den Auszählungen in Buch dabei. Dort waren 70% der Wähler*innen für die Blockparteien. Von der Kunsthochschule in Weißensee ist auch bekannt, dass nur 50% der Wähler*innen dafür waren. Seit dem 7. Juni gab es deshalb jeden Monat Proteste der Opposition an der Weltzeituhr am Alexanderplatz. Es war klar, dass es am 7.10. eine Terminkollision gab. Gorbatschow in der Stadt. 40 Jahre DDR. Jubelfeiern mit ein paar Sachsen, die zum Feiern herangekarrt worden waren.
Honecker feierte im Palast der Republik. Andrej Hermlin trat dort auf. Er hat Honecker gesehen, als die Proteste von draußen drinnen wahrgenommen worden waren. Honecker saß allein an einem Tisch. Hermlin wusste da schon, dass das das Ende der DDR war. (Bericht in der taz, 07.10.2009) Wir waren auf dem Weg nach Hellersdorf.
Viele der Partygäste, die Freunde von der Jungen Gemeinde, kamen erst kurz vor Zwölf. Sie waren am Alexanderplatz gewesen. Sie berichteten von Wasserwerfern, Polizisten mit Schutzhelmen. Ich wusste von den Wasserwerfern, aber niemand hatte sie je gesehen. Im Einsatz gesehen. Polizisten mit Schutzhelmen gab es nur im Westfernsehen.
Wir saßen um ein kleines Küchenradio und versuchten irgendwie Information zu bekommen. Jede halbe Stunde Nachrichten: SFB. Rias. Wie eine kleine Verschwörung. Mit der letzten U‑Bahn verließ ich Hellersdorf und war gegen 1:30 Uhr Schönhauser Allee. An der Gethsemanekirche war alles abgesperrt. Eine Polizeikette stand in der Stargarder. Ich hatte Befürchtungen, dass ich meine Wohnung nicht mehr erreichen würde. Aber ich kam unbehelligt an LKWs und Streifenwagen vorbei, sah noch drei voll besetzte Mannschaftswagen in die Gleimstraße einbiegen und war dann im rettenden Hauseingang verschwunden. Ich war sehr froh, dass ich da durchgekommen war, denn ich war noch in Buch gemeldet und wie hätte ich der Staatsgewalt erklären sollen, dass ich „da hinten“ in einer besetzten Wohnung wohnte?