Dieser Text wurde am 01.09.2019 begonnen und ist leider immer noch nicht ganz fertig, aber er soll jetzt mal sichtbar werden
Einleitung
Die Wessis versuchen jetzt, den Osten zu verstehen. Ein bisschen spät, denn das Kind ist in den Brunnen gefallen. Dazu gibt es verschiedene Analysen in Zeitungen, die für die Meinungsbildung relevant sind. Einen wichtigen Punkt aus zwei dieser Analysen möchte ich in diesem Beitrag besprechen: DDR und Holocaust. Die AutorInnen der besprochenen Beiträge sind jeweils aus dem Osten: Ines Geipel und Anetta Kahane. Das macht ihre Aussagen um so verwunderlicher. Sehen wir uns die Aussagen von Ines Geipel und Anetta Kahane im Detail an:
Die West-Gesellschaft des direkten Nachkriegs, die sich manisch schönputzte, die schier märchengleich Kohle machte und sich in ihrer Unfähigkeit zu trauern verpuppte. Die postfaschistische DDR der fünfziger Jahre dagegen wurde zur Synthese zwischen eingekapseltem Hitler und neuer Stalin-Diktatur, planiert durch einen roten Antifaschismus, der einzig eine Heldensorte zuließ: den deutschen Kommunisten als Überwinder Hitlers. Mit dieser instrumentellen Vergessenspolitik wurde im selben Atemzug der Holocaust für 40 Jahre in den Ost-Eisschrank geschoben. Er kam öffentlich nicht vor.
Ines Geipel, Das Ding mit dem Osten, Frankfurter Allgemeine, 14.08.2019
Im Osten war eine systemische und individuelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah nicht gewollt. Dies hätte zu Fragen nach Menschenrechten oder Minderheitenschutz geführt, die nur bei Strafe des Untergangs der DDR zu beantworten gewesen wären.
Anetta Kahane, Debatte Ostdeutsche und Migranten: Nicht in die Fallen tappen, taz, 12.06.2018
Die krasseste Behauptung ist die von Geipel, der Holocaust sei öffentlich nicht vorgekommen.1 Diese Behauptung ist leicht zu widerlegen und Matthias Krauß hat das bereits 2007 getan.2 Für die Behauptung von Kahane muss man etwas weiter ausholen.
Schulbildung: Literatur und Filme
Die Beschäftigung mit dem Holocaust zog sich durch die gesamte Schulbildung. Die Schulbildung war in der DDR zentral geregelt, d.h. alle Schülerinnen und Schüler wurden nach demselben Lehrplan und mit denselben Lehrmaterialien unterrichtet. Wir haben in der 9. Klasse Kinderschuhe aus Lublin von Johannes R. Becher gelernt. Viele haben das aufgesagt (33 Strophen). Die, die es nicht selbst gelernt haben, haben es zumindest viele Male gehört. Bechers Balade von den Dreien war ebenfalls im Lesebuch der DDR 9. Klasse enthalten. Dieses Gedicht hatte nur neun Zeilen. Das haben die aufgesagt, denen die Kinderschuhe zu lang waren. Ich habe es oft gehört.
Wir haben Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz gelesen. Im Buch geht es um ein jüdisches Kind, das im KZ Buchenwald versteckt wird. Der Mord an den Juden wird ganz klar thematisiert:
Unter den 6000 jüdischen Häftlingen des Lagers verursachte der Befehl einen Aufruhr der Angst und Verzweiflung. Zuerst war ein Schrei des Entsetzens in ihnen aufgebrochen. Sie wollten die schützenden Blocks nicht verlassen. Sie schrien und weinten, wussten nicht, was sie tun sollten. Wie ein wütender Wolf hatte der furchtbare Befehl sie angesprungen, hatte sich in sie verbissen, und sie konnten ihn nicht mehr abschütteln. Ungeachtet von Weisangks Befehl, die Blocks nicht zu verlassen, stürzten viele der jüdischen Häftlinge fort, kopflos und in höchster Not. Sie rannten in andere Blocks hinein, in die Seuchenbaracke des Kleinen Lagers, ins Häftlingsrevier. »Helft uns! Versteckt uns!« »Wie euch verstecken? Wir kommen doch selber dran.« Trotzdem, die Blocks nahmen sie auf. Man riss ihnen die jüdischen Markierungen von den Kleidern, gab ihnen andere dafür. Köhn {und der Kapo vom Revier} steckten die Hilfesuchenden als »Kranke« in die Betten, gab ihnen ebenfalls andere Markierungen und Nummern. Manche der Gehetzten versteckten sich auf eigene Faust und krochen in den Leichenkeller des Reviers. Andere wieder stürzten in die Pferdeställe des Kleinen Lagers, in der Masse untertauchend. Und doch war diese Flucht die sinnloseste, denn gerade hier steckten viele jüdische Angehörige fremder Nationen. Aber wer überlegte, wer dachte klar, wenn er vom Wolf gehetzt wurde … Was in den Blocks der jüdischen Häftlinge zurückblieb, unterlag schließlich der Lähmung des mörderischen Befehls. Verstört sahen sie dem Kommenden entgegen. Die Blockältesten, selbst jüdische Häftlinge, hatten nicht den Mut, zum Marsch nach dem Tor antreten zu lassen. Dort wartete der Tod! Konnte man ihn nicht auch hier erwarten?
Bruno Apitz. 1958. Nackt unter Wölfen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale). Zitiert nach Ausgabe vom Aufbauverlag, 2012, S. 274–275
Zum Buch gab es 1963 eine Verfilmung von Frank Beyer für die DEFA (siehe Filme). Nackt unter Wölfen erschien in 30 Sprachen und erreichte eine Gesamtauflage von mehr als zwei Millionen.
Professor Mamlock (ein Theaterstück von 1934) wurde 1961 verfilmt und in Schulen gezeigt. Der Film handelt von einem jüdischen Klinikleiter und dessen Familie. Arbeitsverbot, Inhaftierung. Ein Sohn flieht. Professor Mamlock begeht Selbstmord.
Edu und Unku wurde ebenfalls im Literaturunterricht behandelt. Unku ist ein Sinti-Mädchen, das in Auschwitz ermordet wurde.
Die erstmals 1958 veröffentlichte Erzählung Frühlingssonate von Willi Bredel befand sich im Lesebuch der 9./10. Klasse.3 Es ging um einen jüdischen Politoffizier, der mit der Roten Armee nach Deutschland gekommen war. Er hört die Musik, die eine Familie mit Klavier und Fagott spielt, kommt in deren Wohnung, immer wieder, bringt Essen mit. Sie werden vertraut. Eines Tages fragt die Familie ihn nach seinem Lieblingsstück und er nennt Beethovens Frühlingssonate. Die Familie studiert das Stück ein, spielt es vor dem Offizier und dieser bricht zusammen und verwüstet die Wohnung. Daraufhin wird er verhaftet und eingesperrt und von seinen Vorgesetzten verprügelt. Der Familienvater – ein deutscher Professor – entschuldigt ihn. Hier Auszüge aus dem Text, der aus seiner Perspektive geschrieben ist:
Der Familienvater:
Ich beobachtete Ruthilde, sie spielte vortrefflich. Plötzlich aber sah ich sie erschrecken: Hauptmann Pritzker wankte an den Tisch und goss den Inhalt der Wodka-Karaffe in ein Bierglas. Der Hauptmann goss in einem einzigen Zug den Wodka in sich hinein. Aufhören! Um Gottes Willen aufhören, dachte ich. Ruthilde aber spielte weiter – und wie sie spielte. Meine Frau musste einsetzen. Der Hauptmann hatte beide Hände vors Gesicht gepresst, als litte er Qualen. Was bedeutete das alles nur? „Warum spielten sie noch?
Plötzlich geschah es. Ein Schrei dem unverständliche Worte folgten – und plötzlich riss der Hauptmann mit einem Ruck die Tischdecke samt allem, was darauf stand herunter. Meine Frau schlug mit dem Kopf auf die Tasten des Flügels – wie ohnmächtig. Irmgart und Hänschen, zu Tode erschrocken, rannten aus dem Zimmer. Der Hauptmann zog mit seinem ganzen Gewicht an dem Schrank, in dem unsere Gläser und etwas Geschirr standen, so dass er über den Tisch fiel. Er zerrte mit einem Griff Vorhänge und Gardinen vom Fenster. Einem Stuhl gab er einen Tritt. Und ununterbrochen schrie er Flüche oder Drohungen in seiner Muttersprache heraus. Ruthilde, Geige und Bogen noch in der Hand, stand da und rührte sich nicht. Gleich wird er über sie herfallen, dachte ich, bereit, mich ihm entgegenzuwerfen. Statt dessen aber hockte er sich plötzlich in den Sessel, legte den Kopf auf die Lehne und weinte, schluchzte herzzerreißend. Ich hatte meine Frau auf das Sofa gebettet, jetzt trat ich zu meiner Tochter und legte den Arm um ihre Schulter. So blickten wir auf den Unglücklichen, der den Kopf hin und her warf und wie ein Kind wimmerte. Endlich kamen Soldaten der Militärpolizei und führten ihn ab.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 164–165. (Zitat mit freundlicher Genehmigung der Willi-Bredel-Gesellschaft-Geschichtswerkstatt e. V., Hamburg)
Die Erklärung für das Verhalten wird am nächsten Tag von einem anderen Offizier geliefert:
Heute mittag nämlich hat mich ein junger Offizier von der Kommandantur aufgesucht. Er bat für seinen Landsmann um Entschuldigung und erbot sich, den Schaden zu ersetzen. Dann erzählte er mir das Schicksal des Hauptmanns. Es ist noch tragischer, als wir vermuten konnten. Hören Sie nur:
Hauptmann Pritzker war vor seiner Einberufung zur Sowjetarmee Musikpädagoge am Konservatorium in Kiew. Er war verheiratet, hatte eine Tochter und einen Sohn, beide noch schulpflichtig. Im Jahre 1942 haben deutsche Soldaten der Hitler-Wehrmacht in Kiew Zehntausende Juden, Männer, Frauen und Kinder, zusammengetrieben wie Vieh und unweit der Stadt vor ihren Gräbern erschossen. Unter den Opfern befanden sich des Hauptmanns Frau und Kinder. Die Familie hatte am Abend, bevor Pritzker einberufen wurde, die Frühlingssonate von Beethoven gespielt.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 165.
An einer anderen, aus der Sicht des Oberst der sowjetischen Militärkommandanturer, der den Hauptmann verhört und geschalgen hat, erzählten Stelle heißt es:
Der Oberst überlegte … Da liest man in den Zeitungen, hört in Rundfunksendungen, auch in Gesprächen: Bei Worowschilwograd zwölftausend Juden massakriert. In Kertsch Tausende Einwohner vor der Stadt füsiliert. In Kiew zehntausende Juden und Kommunisten gemeuchelt und in Massengräber verscharrt. Man liest es, ist entsetzt, aber es dringt nicht mehr richtig ins Bewusstsein; der Verstand wehrt sich diese Häufung von Verbrechen aufzunehmen.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 168.
Der Bericht des Professors endet damit, dass er den Hauptmann entschuldigt:
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 166.
„Die Schuldigen sind doch eigentlich wir“: sagte der Professor, „ich meine, wir Deutschen. ” Er blickte auf und fuhr fort: „Man stelle sich vor: Ein Offizier befindet sich als Sieger in dem Land, aus dem die Menschen kamen, die in seiner Heimat seine Frau und seine beiden Kinder umgebracht haben. Die Mörder sind besiegt, aber die Menschen dieses Landes sind den Mördern nicht in den Arm gefallen, sie haben sie gewähren, das heißt morden lassen. Und einsam geht er durch die Stadt der Besiegten. Da sitzt in ihrem Haus eine Familie – nicht einer fehlt: Mann, Frau, Töchter, Sohn – sie musizieren, spielen Schumann, Brahms und Mozart. Er steht auf der Straße und lauscht. Jeden Akkord kennt er,
er ist ja Musiklehrer, ein Freund der Hausmusik. Musik ist stärker als Hass. Gleich einem Bittsteller klopft er an die Tür der Besiegten und — ja, der Mitschuldigen an seinem und seines Landes Unglück. Er darf zuhören und ist glücklich. Bei Deutschen, den Landsleuten derer, die seine Frau und Kinder und ungezählte Tausende anderer Frauen und Kinder in seiner Heimat ermordet haben. Er denkt daran, er muss immer wieder daran denken, und ihn packt, ihn überwältigt das ihm zugefügte Leid. Er will es betäuben, er will nicht, dass seine deutschen Bekannten etwas davon merken. Er trinkt, um zu vergessen. Und gerade das Stück, das sie nichtsahnend ihm zur Freude spielen, wird ihm zur größten Qual … ja, wir sind die Schuldigen. Die Schuldigen sind wir.”
Man beachte, dass bei Bredel 1958 auch schon ganz klar auf die Rolle der Wehrmacht bei der Massenvernichtung der Juden hingewiesen wird. Die ganze Ungeheuerlichkeit ist im Artikel über Babyn Jar in Wikipedia ausführlich dokumentiert. SS und Wehrmacht haben gemeinsam 33.771 Juden in einer Schlucht bei Kiew ermordet und dann vor Kriegsende noch versucht, die Spuren zu beseitigen. Menschen aus dem Osten waren sehr erstaunt, was die Wehrmachtsausstellung noch 1995–1999 für einen Aufruhr erzeugen konnte. Wir wussten Bescheid. Wir hatten es spätestens in der 10. Klasse gelernt.
Wikipedia schreibt dazu:
Die breite Öffentlichkeit nahm so erstmals historisch gut erforschte, aber damals allgemein noch wenig bekannte Sachverhalte zur Kenntnis:
- den Beginn des Holocaust in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, den die Wehrmachtsführung mit plante und dann arbeitsteilig mit durchführte,
- die Beteiligung ganzer Truppenteile an diesen Verbrechen, wobei Widerstand bis auf wenige Ausnahmen ausblieb,
- den in Wehrmachtsführung wie einfachen Truppen weit verbreiteten Antisemitismus und Rassismus,
- die verbrecherischen Befehle (zum Beispiel den Kommissarbefehl) und ihre weithin widerspruchslose Ausführung und
- die als Kriegsziel beabsichtigte millionenfache Vernichtung der osteuropäischen Zivilbevölkerung.
In aktuellen politischen Diskussionen wird immer wieder behauptet, dass es in der DDR keine systematische Aufarbeitung des Faschismus gegeben habe, wohingegen das in der BRD nach 1968 geschehen sei. Wie das Wikipedia-Zitat nahelegt, waren die Fakten Experten bekannt, jedoch kein Allgemeinwissen. In der DDR kam niemand an diesen Fakten vorbei.
Überlebende wurden in die Schulen eingeladen. Schulen wurden nach Widerstandskämpfern benannt z.B. nach Herbert Baum (jüdischer Widerstandskämpfer). Nach der Wende zog das Heinrich-Hertz Gymnasium in die Gebäude der POS Herbert Baum. Es gibt jetzt keine Schule mehr, die nach ihm benannt ist.
Neulehrer
Bei der ganzen Sache mit der Schulbildung sollte man auch bedenken, dass Nazis nach dem Krieg im Bildungssystem der DDR systematisch durch sogenannte Neulehrer ersetzt wurden. 40.000 Neulehrer. Laut Wikipedia waren 1949 67,8 Prozent aller Lehrerstellen mit Neulehrern besetzt. Es war somit sichergestellt, dass die Personen auch das in den Lehrplänen Vorgegebene unterrichten würden, insbesondere dann, wenn es sich um antifaschistischen Lehrstoff handelte. LehrerInnen hätten den entsprechenden Stoff schon allein deshalb nicht weglassen können, weil in jeder Klasse Kinder mit Genosseneltern waren und es sicher Probleme mit der Schulleitung gegeben hätte. Das kann man finden, wie man will, aber daraus folgt, dass alle Kinder in der DDR die Materialien, die sich mit dem Faschismus beschäftigt haben, auch behandelt haben.
Bücher
LTI – Notizbuch eines Philologen von Victor Klemperer erschien 1947 im Aufbau Verlag und wurde dann 1966 in Reclams Universal-Bibliothek in Leipzig wiederveröffentlicht. 1990 wurde die 10. Auflage gedruckt. Papier war in der DDR knapp. Populäre Zeitschriften wie das Magazin waren deshalb Bückware. Es muss also erstens einen Bedarf für LTI gegeben haben und zweitens auch den politischen Willen der Staatsmacht, dieses Buch in großen Stückzahlen unters Volk zu bringen. Klemperer selbst war jüdischer Abstammung und hat sich dafür entschieden, in der DDR zu bleiben.

Außerdem gab es Jakob der Lügner von Jurek Becker Aufbau-Verlag, Berlin/DDR 1969. und auch Das Tagebuch der Anne Frank erschien bereits 1957.4
Weitere Bücher:
- Martin Riesenburger. 1960. Das Licht verlöschte nicht. Ein Zeugnis aus der Nacht des Faschismus, Berlin: Union Verlag. weiter Auflagen in den 1980ern.
- Arnold Zweig. 1960. „Beginn und ‚Endlösung‘“. In: Programmheft zu „Affäre Blum“, Volksbühne Berlin, Spielzeit 1960/61, S. 4–7., weitere Artikel im Neuen Deutschland etc.
- Kurt Pätzold. 1983. Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942. Berlin: Reclam.

Filme
Es gab diverse Filme, die die Judenverfolgung thematisierten oder in denen sie vorkam. Es gab in der DDR in vielen kleinen Orten Kinos und die Filme sind oft jahrelang durch die DDR getourt. Folgende Filme sind mir bekannt:
- Professor Mamlock, 1961, Konrad Wolf, DEFA
- Nackt unter Wölfen, 1963, Frank Beyer, DEFA.
- Jakob der Lügner, 1974, Frank Beyer, DEFA und Fernsehen der DDR, Oskar nominiert
- Ein Tagebuch für Anne Frank, 1958, DEFA Dokumentrafilme
- Ich bin klein, aber wichtig, 1988, Walther Petri und Konrad Weiß, DEFA Studio für Dokumentarfilme, biographischer Filmessay über Janusz Korczak
Zur Premiere des Anne-Frank-Films gibt es einen interessanten Beitrag in der ZEIT von 1959:
Vor der Uraufführung des Films „Ein Tagebuch für Anne Frank“ im Ostsektor Berlins betrat der greise Arnold Zweig die Bühne im „Haus der Presse“ am Bahnhof Friedrichstraße. Er sprach davon, daß mit diesem Film ein Beitrag zur moralischen Wiedergutmachung geleistet werden solle.
Anne Frank in West und Ost, Zeit 14/1959
Zu Ich bin klein aber wichtig gibt es einen Text von Konrad Weiß, der 1988 in Film und Fernsehen veröffentlicht wurde.
Theaterstücke
Der DEFA-Film Affäre Blum, 1948, Erich Engel, hatte zu DDR-Zeiten über 4 Mio Zuschauer. Es geht um einen antisemitischen Justizsakndal im Jahre 1925. Zum Film gab es auch ein Theaterstück und im Programmheft von 1960/1961 gab es einen Beitrag von Arnold Zweig: Beginn und ‚Endlösung‘. In: Programmheft zu „Affäre Blum“, Volksbühne Berlin, Spielzeit 1960/61, S. 4–7.
Skulpturen und Denkmäler
Ingeborg Hunzinger. 1970. Stürzende, Sandstein; für die Opfer des Todesmarsches des KZ Sachsenhausen vom April 1945 in Parchim in einer Parkanlage zwischen Goetheschule und Krankenhaus.
Der Bildhauer Will Lambert war mit einer jüdischen Frau verheiratet und floh 1933 aus Deutschland. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil und der Verbannung arbeitete er hauptsächlich an der Gestaltung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Die Jüdin Olga Benario war das Vorbild für die Skulptur Tragende (1957). Diese Skulptur wurde 1959 in Ravensbrück aufgestellt.

13 Figuren, die eigentlich mit der Tragenden kombiniert werden sollten (siehe auch Briefmarken), stehen seit 1985 zum Gedenken an die jüdischen Opfer des Faschismus am Alten Jüdischen Friedhof in Berlin-Mitte.

Briefmarken
Es gab Reihe von Sondermarken, die in der Zeit von 1955–1964 herausgegeben wurden. Mit einem Aufschlag konnten sich die KäuferInnen am Aufbau und der Erhaltung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück beteiligen. Die gesamten Marken inklusive Auflagenhöhe sind ausführlich in Wikipedia dokumentiert: Aufbau und Erhaltung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten. Laut dem Wikipediartikel zur Gedenkstätte Sachsenhausen sind allein 1955 2 Millionen Mark auf diese Weise gespendet worden. Zum Vergleich: Das Durchschnittseinkommen (brutto) betrug damals 432 Mark (Statistisches Jahrbuch der DDR, 1990, S. 52).



1963 wurde eine Briefmarke „Niemals wieder Kristallnacht“ in einer Auflage von 5 Millionen Stück herausgegeben.


Straßen, Schulen, Plätze
Im Abschnitt über Schulen wurde schon erwähnt, dass es Schulen gab, die nach Juden benannt waren, die in KZs ermordet wurden. Nach Herbert Baum wurde auch eine Straße benannt: Eine Gedenktafel für die Getöteten der Herbert-Baum-Gruppe und das Grab Baums befinden sich auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee. Das Grab ist als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet. Die auf das Hauptportal des Friedhofs führende Straße heißt seit 1951 Herbert-Baum-Straße.
Rudi Arndt (in Buchenwald ermordet) ist ein weiterer Jude, nach dem viele Straßen, Plätze, Theater und Jugednherbergen benannt wurden. Zu den Details siehe Ehrungen in seinem Wikipediaeintrag. Wie auch Herbert Baum war Rudi Arndt im kommunistischen Widerstand, aber bei einer Auseinadersetzung mit seiner Person stieß man auch auf seine Religionszugehörigkeit:
1938 wurde er als „politischer Jude“ ins KZ Buchenwald deportiert. Nach seiner Ankunft war Arndt zunächst kurze Zeit in einem Baukommando tätig. 1938/1939 arbeitete er als Krankenpfleger für jüdische Häftlinge und war Blockältester im Block 22. Er setzte sich sehr für die jüdischen Patienten ein, was der SS außerordentlich missfiel. Nach einer Denunziation durch kriminelle Häftlinge im Steinbruch wurde er von der SS vorgeblich „auf der Flucht“ erschossen.
Wikipediaeintrag von Rudi Arndt, 03.03.2020
Nach Olga Benario waren Schulen, Kindergaärten und Straßen benannt.
Ich selbst bin in der Georg-Benjamin-Straße aufgewachsen, einer Straße, die 1974 in einem Neubaugebiet nach dem jüdischen Arzt und Widerstandskämpfer Georg Benjamin benannt wurde. Zu weiteren Ehrungen siehe Wikipedia. In Wikipedia steht übrigens auch, dass eine im Sommer 1951 am Weddinger Nettelbeckplatz aufgestellte Gedenktafel für „Hingerichtete und ermordete Weddinger Antifaschisten“, die Georg Benjamins Namen enthielt, von Unbekannten recht schnell entfernt wurde.
Weimartage der FDJ und Besuche im KZ Buchenwald
Die FDJ hat jedes Jahr in Weimar ein großes dreitägiges Festival veranstaltet. Theater, Musik, Museen. Man konnte für 21 Mark alles besuchen, bekam Essen und konnte in Weimarer Schulen schlafen. Auf Probebühnen und den Hauptbühnen fanden gleichzeitig mehrere Vorstellungen pro Tag statt. (Merkwürdig, dass man dazu im Netz bis auf eine Seite des Nationaltheaters in Weimar und das Archiv des Neuen Deutschlands nichts, aber auch gar nichts, finden kann.)

Obligatorisch mit im Programm war immer ein Besuch im KZ Buchenwald inklusive Film in der Gedenkstätte. Gezeigt wurde Filmmaterial, das die Amerikaner nach der Befreiung angefertigt haben. Leichenberge, fast verhungerte KZ-Insassen und die Weimarer Bevölkerung, die auf Anordnung der Amerikaner durch das Lager geführt wurde, um zu sehen, was dort passiert war. Der Spiegel hat ein Interview mit einer Frau, die als 17jährige Teil dieses KZ-Besuches war. Ich war sieben Mal bei den Weimartagen. Ich sage immer, dass die Weimartage das einzige Gute sind, was die FDJ zustande gebracht hat. Sechs Mal war ich mit im KZ. Einmal habe ich geschwänzt. Man möge es mir verzeihen. Ich kannte da schon jedes Detail. Ich habe die Öfen gesehen, die Schrumpfköpfe, die Lampenschirme aus Menschenhaut.5

Obligatorische Besuche in KZs
Meine Mutter hat einen großen Teil ihrer Jugend in Jena verbracht. Im Rahmen ihrer Jugendweihe war sie Ende der 50er Jahre auch im KZ Buchenwald. Der Besuch eines Konzentrationslagers war für alle Schülerinnen und Schüler in der DDR obligatorisch. (Siehe Wikipedia-Artikel zu Jugendstunden, die in Vorbereitung auf die Jugendweihe stattfanden.)
Die Berliner und Brandenburger Schüler waren alle im KZ Sachsenhausen. Ich war dort wahrscheinlich in der 8ten Klasse. Es gab (und gibt) in Sachsenhausen Ausstellungsteile, die auf das Leid der jüdischen Bürger hingewiesen haben: Die Baracke 38 war das „Museum des Widerstandskampfes und der Leiden jüdischer Bürger“.
Ich war außerdem noch in Lublin-Maidanek (1984 bei einer Reise im Rahmen einer Schulpartnerschaft in Polen). Ich habe die Baracken mit den deutschen Aufschriften gesehen. Ich habe die Haare und die Schuhe gesehen. Baracken voll damit.

Es gab übrigens eine interessante Umfrage des chrismons, einer Beilage der ZEIT, die von der Evangelischen Kirche herausgegeben wird. Nach dieser Umfrage sagen 89 % der Ostdeutschen, man solle unbedingt einmal im Leben eine KZ-Gedenkstätte besuchen. Im Westen sind das nur 77 %.
Zeitzeugen
Auch Zeitzeugen spielten im Osten eine Rolle. Wie schon gesagt, wurden sie z.B. in Schulen eingeladen. Meine Mutter berichtete mir von einem Konzertabend 1959 im Volkshaus Jena, bei dem die Pianistin ihre eintätowierte KZ-Nummer gezeigt hat. Sie hat nur überlebt, weil sie für die Nazis gespielt hat.
Holocaust im West-Fernsehen
Die amerikanische Mini-Serie Holocaust wurde im Jahr 1979 im West-Fernsehen gezeigt (da sich einige Sendeanstalten der ARD weigerten, die Serie im Hauptprogramm zu zeigen, kam sie dann in den dritten Programmen). Da bis auf die Sachsen im Tal der Ahnungslosen alle DDR-Bürger West-Programme empfangen konnten, dürften einige die Serie gesehen haben. Nein, jetzt bitte keinen Zusammenhang zwischen schlechtem Fernsehempfang und Wahl von Nazi-Parteien herstellen.
Der Begriff Holocaust wurde durch diesen Film sowohl im Osten als auch im Westen bekannt. Im Osten wurde sonst von Völkermord gesprochen.
Wiederaufbau der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin
Diskussion
Das war der Osten. Im Osten kam man als Schüler nicht am Holocaust vorbei. Ich war übrigens auch bei Führungen in einer jüdischen Synagoge in Berlin. Ich wusste, dass es in Ost-Berlin noch zweihundert in der jüdischen Gemeinde organisierte Juden gab. Und ich wusste auch, warum das so wenige waren.
Zum Vergleich möchte ich von einem persönlichen Erlebnis in einer süddeutschen Stadt Ende der 90er Jahre berichten. Wir durften bei Nachbarn von Bekannten übernachten. Dort hing an der Wand ein Bild des Vaters in Uniform. Waffen-SS. Mit Totenkopfsymbol. Eine ganz normale nette Nachbarin (Lehrerin), die andere in ihrer Wohnung wohnen lässt. Kein normaler Mensch hätte sich im Osten seinen Vater in SS-Uniform ins Wohnzimmer gehängt. So etwas hätte es im Osten nie gegeben. Nie. [Inzwischen ist mir noch ein weiterer solcher Fall bekannt.]
Kahane schreibt weiter: „Dies [die Auseinandersetzung mit dem Holocaust] hätte zu Fragen nach Menschenrechten oder Minderheitenschutz geführt, die nur bei Strafe des Untergangs der DDR zu beantworten gewesen wären.“ Das ist einigermaßen bizarr, denn damit relativiert sie den Holocaust. In der DDR wäre niemand im Traum darauf gekommen so ein bisschen Redefreiheit und Publikationsfreiheit, Reisefreiheit mit der systematischen Ermordung von Millionen Menschen zu vergleichen. Solche Einschränkungen zu erklären, war für die Staatsmacht kein Problem. Sie wurden ja sogar auch damit erklärt, dass verhindert werden sollte, dass sich so etwas wiederholt. Damit das ganz klar ist: Ich war 1989 auf der Straße für Redefreiheit, Reisefreiheit und nicht als Stasi-Mitarbeiter. Ich verstehe nicht, warum Kahane schreibt, was sie schreibt. Es entspricht jedenfalls nicht der Wahrheit.
Auch legt ihr Satz nahe, dass es in der DDR keine Diskussionen über Menschenrechte gegeben hätte. Es gab sehr wohl Menschen, die sich mit Fragen der Menschenrechte beschäftigt haben. Die Initiative für Frieden und Menschenrechte wurde 1986 offiziell gegründet. Vorher gab es Gruppen, meist unter dem Dach der Kirche organisiert aber nicht notwendigerweise religiös, die den Einsatz für Menschenrechte als ihr Hauptanliegen sahen. Dafür brauchte es keine Holocaust-Diskussion.
„Lügenpresse“ bzw. Pfuschpresse
Der Westen wundert sich, warum der Osten sich anders benimmt, als man das vielleicht erwarten würde. Ein Grund dafür sind solche Artikel in der Presse. Sieht man vom Neuen Deutschland ab, gibt es keine Ost-Presse mehr. Die West-Medien haben immer nur über den Osten geschrieben. Die Wessis haben über die Ossis geredet, nicht mit ihnen. Das beginnt sich nun gerade zu ändern. Es gibt tolle Artikel von Anja Maier, Simone Schmollack und Sabine am Orde in der taz6, gute Artikel im Spiegel, von Sabine Rennefanz in der Berliner Zeitung und auch die Zeit ist aktiv um Änderungen bemüht. Aber die oben zitierten Beiträge enthalten grobe Unwahrheiten und das macht die, über die geredet wird, wütend. Es verletzt sie, sie wenden sich ab und sind nicht mehr erreichbar. Ein Viertel der Menschen, die in diesem Land leben. Unglaublich, oder?
Es ist ein Armutszeugnis, dass die FAZ einen Artikel wie den von Geipel einfach so veröffentlicht. Wenn sie irgendwas über den Osten wüssten, wüssten sie eben auch, wie die Schulbildung aussah, was die Menschen gemacht und gedacht haben. Ich habe für das Schreiben dieses Artikels einen Sonntag gebraucht. Die Quellen sind im Netz verfügbar. Es gibt sogar ein Buch, das sich mit dem Holocaust im DDR-Unterricht auseinandersetzt. Wenn es der FAZ wichtig wäre, würden sie Menschen einstellen, die das nötige Wissen für entsprechende Diskussionen haben. So ist es einfach nur unterirdisch.
Wenn Ostdeutsche behaupten, der Holocaust wäre in der DDR nicht thematisiert worden, dann gibt es dafür zwei mögliche Gründe: Sie verfolgen politische/persönliche Ziele und lügen bewusst oder sie haben die Behandlung des Holocaust vergessen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.
Literatur
Bodo von Borries
Krauß, Matthias. 2007. Völkermord statt Holocaust. Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR. Leipzig: Anderbeck Verlag.
Krauß, Matthias. 2012. Völkermord statt Holocaust. Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR. Schkeuditz: Schkeuditzer Buchverlag. Überarbeitete Version von Krauß (2007).
Danksagung
Ich habe nach der Erstellung einer Entwurfsfassung dieses Textes mit vielen Menschen gesprochen bzw. Mail ausgetauscht und den Text dann entsprechend angepasst. Dafür danke ich ihnen. Besonderer Dank geht an XY für den Hinweis, mal nach Plastiken und Briefmarken zu suchen. Über die Wikipediaseite zu den Briefmarken bin ich dann auch auf die Plastiken von Will Lambert gestoßen. Ich danke der Willi-Bredel-Gesellschaft für prompte Auskunft zu Erscheinungsdaten der Frühlingssonate.
Links
- Jüdische Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern: Vom Überleben einer Minderheit, Deutschlandfunk, 17.10.2015.
- Johann Niemann, der Lagerkommandant des Vernichtungslagers Sobibor, in dem 180.000 Juden ermordet wurden steht auf dem Kriegerdenkmal im ostfriesischen Völlen mit der Inschrift „Unseren gefallenen Helden“. taz, 26.02.2020
- Auch in anderen Zeitungsartikeln wird von Ostdeutschen die Aussage vertreten, der Holocaust wäre im Osten nicht vorgekommen (taz, 13.10.2019).
- Matthias Krauß. 2007. Völkermord statt Holocaust. Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR. Anderbeck Verlag, Leipzig. Das Buch enthält einen Dankesbrief der Bildungsministerin der DDR Margot Honecker, was wohl dazu beitragen dürfte, dass es nicht oft zitiert wird. Ich bin über eine Webseite der AG Friedensforschung darauf gestoßen.
- Laut Auskunft der Willi-Bredel-Gesellschaft erschien Die Frühlingssonate erstmals als Vorabdruck aus dem Roman Ein neues Kapitel in der DDR-Kulturzeitschrift Sonntag, Berlin, Jg. 13 (1958), Nr. 29, 20. Juli, S. 8 und Nr. 30, 27. Juli, S. 7–8. Ein weiterer Vorabdruck wurde in: Die Zaubertruhe. Ein Almanach für junge Mädchen. Band 5, Berlin 1959, S. 34–48 veröffentlicht. Die Novelle erschien dann in diesem Jahr auch als Bestandteil des Romanes Ein neues Kapitel, der lose mit den Hauptlinien des Werkes verknüpft ist.
- Das Tagebuch der Anne Frank, 1957, Berlin (DDR): Union.
- Hier noch Anmerkungen der Gedenkstätte Buchenwald zu den Lampenschirmen aus Menschenhaut, die es wohl gegeben hat, die aber nicht im Museum ausgestellt waren, weil sie noch im Krieg vernichtet wurden. Das Ausstellungsexponat im Museum war höchstwahrscheinlich nicht aus Menschenhaut gefertigt.
- Die taz hatte direkt nach der Wende einen Ost-Ableger. Es gab in der taz immer wieder gute Artikel, aber eben auch Eberhard-Seidel-Pielen, der den Ossis mal die Subventionen streichen wollte, wenn sie sich nicht wohlverhalten.