Ich gendere ja selbst (siehe Gendern, arbeiten und der Osten), aber gewisse Dinge bringe ich einfach nicht über das Herz bzw. den Verstand. Eins davon ist Beamtin. Das Nomen Beamter ist speziell. Es ist eines der wenigen Nomina mit adjektivischer Flexion: Beamter, Gesandter, Verwandter. Adjektive passen sich in ihrer Form an die Eigenschaften des Nomens an:
(1) a. ein grüner Ball
b. eine grüne Pflanze
Genauso ist das bei den Nomina mit adjektivischer Flexion:
(2) a. ein Beamter
b. eine Beamte
Das heißt, unsere liebe Grammatik sieht schon eine feminine Form für Beamter vor. Dummerweise gibt es Synkretismus in den Formen, die man braucht, wenn man den definiten Artikel verwendet:
(3) a. der Beamte
b. die Beamte
Aber da ist ja das Genus auch durch die Form des Artikel vorgegeben. Also: Beamtin, no way!
Edit: Man lernt nie aus. Durch die Diskussion auf Mastodon habe ich gelernt, dass Beamtin die normale Form ist und zwar schon 1946 belegt. Es ist also keine Form, die sich aus dem Gendern und der feministischen Linguistik ergeben hat. Mir war Beamtin 2009 zum ersten Mal aufgefallen.
Das andere sind die Mitglieder*Innen. Hier werden Verbrechen ohne Not begangen. Es ist das Mitglied, das heißt, hier liegt ein Neutrum vor. Der Mitglied und die Mitgliedin gibt es im Singular nicht und auch gegenderte Pluralformen sind Unsinn.
Ich fotografiere ja seit 2019 die Klimabewegung und war auch beim Gründungsparteitag der Berliner Klimaliste dabei. Ich bin als Fotograf strikt neutral, nie an irgendwelchen Diskussionen oder Aktionen beteiligt. Dokumentiere nur. Aber bei diesem Parteitag habe ich mich dann doch eingemischt und habe die Klimaliste davor bewahrt, das Wort Mitglieder:innen in ihrem Parteiprogramm zu haben.
Das Parteiprogramm mit meiner Änderung wurde dann fröhlich angenommen.
In der taz habe ich heute gelernt, dass es Menschen gibt, die statt MitgliedMitklit sagen. Liebe Frau*innen, ich muss Euch sagen, Ihr seid hier etwas zu sehr penisfixiert. Im Guten oder im Schlechten. Schaut man im DWDS bei Mitglied nach, kommt man auch zu Glied. Und Glied ≠ Puller, auch wenn diese Bedeutung wichtig ist und bei mancher oder manchem zuerst aufblinkert.
beweglicher, durch ein Gelenk mit dem Rumpf verbundener Körperteil des Menschen, der Tiere
einzelner, unabhängig bewegbarer Teil eines Körperteiles
einer von vielen ineinandergreifenden Ringen, die eine Kette bilden
[bildlich] …
[übertragen] Angehöriger, Mitglied
Reihe von zwei oder mehr Personen in einer in mehreren Reihen hintereinander aufgestellten Formation (von Personen)
⟨in Reih und Glied⟩
Generation, Geschlechterfolge
männliches Geschlechtsteil, Penis
Also: Wenn wir Mitglied bei der Klimaliste werden, sind wir einer von vielen ineinandergreifenden Ringen und bilden eine Kette. Wie schön! Das hat erst mal noch gar nichts mit Sex zu tun!
Als letzte Bemerkung: Mir ist schon klar, dass ich hier letztendlich dasselbe mache, wie viele meiner Megastars (siehe Das leidige Thema: Gendern, und ausführlicher hier: Das Theater mit dem Gendern). Meist sehr alte Linguist*innen versuchen uns zu erklären, dass Gendern doof ist und aus den Gründen X und Y systemwidrig und nicht in die deutsche Grammatik integrierbar. Meine Antwort darauf war, dass das natürlich Unfug ist, denn die Menschen gendern einfach, auch wenn es aus grammatischer Sicht ja das generische Maskulinum usw. gibt. Als deskriptive Linguist*innen ist es unsere Aufgabe, den Istzustand zu beschreiben und nicht irgendwem vorzuschreiben, was er oder sie oder es zu tun oder zu lassen hat. Das habe ich so von ebendiesen Superstars gelernt. Wenn es nun nur darum geht, irgendwie Stolperfallen in der Sprache auszulegen und zu nerven, dann ist natürlich auch die Verwendung von Beamtin und Mitklit völlig legitim. Lustigerweise kann auch Mitklit nicht von Merz und Baden-Württembergern verboten werden, denn es ist völlig orthografie-konform. Es stellt sich natürlich aber auch die Frage, was mit denen passiert, die weder Mitklit noch Mitglied sind. Die sind hier wohl in die Ritze gefallen.
Prof. (em) Dr. Heide Wegener schreibt Artikel über das Gendern in der WeLT und schickt sie dann an Kolleg*innen. Ich habe auf diesem Blog schon öfter über das Gendern geschrieben. Obwohl ich der Meinung bin, dass Fragen der Gleichberechtigung letztendlich Fragen der ökonomischen Abhängigkeit sind, gendere ich inzwischen auch (Gendern, arbeiten und der Osten). Da Heide Wegener in ihren Artikeln auch immer wieder Ost-Themen anspricht (z.B. den Gender Pay-Gap in Ost und West), kann ich nicht anders als die Artikel hier zu kommentieren.
Im jüngsten Aufsatz diskutiert Heide Wegener das Gendern an Theatern. Hierzu einige Anmerkungen:
noch dazu mit Formen, die nach geltender Rechtschreibung falsch sind,
Die gegenderten Formen sind nicht falsch. Es gibt dafür nur noch keine Normierung. Der Rat für Deutsche Rechtschreibung hat in seiner Äußerung dazu festgehalten, dass er eine Normierung zum jetzigen Zeitpunkt nicht für sinnvoll hält.
Der Rat hat vor diesem Hintergrund die Aufnahme von Asterisk („Gender-Stern“), Unterstrich („Gender-Gap“), Doppelpunkt oder anderen verkürzten Formen zur Kennzeichnung mehrgeschlechtlicher Bezeichnungen im Wortinnern in das Amtliche Regelwerk der deutschen Rechtschreibung zu diesem Zeitpunkt nicht empfohlen.
Hier kann man sich das von einem Volljuristen erklärt noch mal genau durchlesen: Kolter (2023). Noch mal zum Verständnis dieser Aussage: Wenn etwas nicht normiert ist, gibt es einfach keine offizielle Regel für die Schreibung. Zum Beispiel ist das Jugendwort des Jahres 2021 sus in allen Ausgaben des Dudens vor 2021 nicht enthalten. Wie auch? Dennoch gibt es natürlich Konventionen für die Schreibung. Aber keine verbindliche Reglung. Vielleicht wird/wurde es in spätere Auflagen aufgenommen. Genauso könnte eine Normierung für „mehrgeschlechtliche Bezeichnungen“ eines Tages erfolgen.
Und jetzt zum Kulturteil:
Bedauerlich ist, dass der Westen 1989 nicht wenigstens in der Sprache dem Osten gefolgt ist. Das Gegenteil ist der Fall, wie folgende Belege zeigen. Die Theater in Berlin Mitte stehen der Charlottenburger Schaubühne in puncto Gendern in nichts nach, sie unterscheiden sich lediglich durch das graphische Zeichen mitten im Wort, statt des Unterstrichs _ wird ein Doppelpunkt : eingefügt und wir erhalten am Deutschen Theater Aktivist:innen, Mechaniker:innen, Tüftler:innen, Künstler:innen, sogar in Zusammensetzungen, Kurator:innenteam, Autor:innentheatertage bzw am BE Zuschauer:innen, Freund:innen, und sogar Gäst:innen wird wiederbelebt.
Das ist ein lustiges Statement und es ist genauso schräg wie die Ausführungen zum Gender-Pay-Gap. Man kann in Wikipedia leicht eine Liste der Intendanten (keine weiter Endung nötig) des Deutschen Theaters und des Berliner Ensembles finden:
seit 2017: Oliver Reese (Schloß Neuhaus bei Paderborn)
Die Volksbühne und das Maxim-Gorki-Theater hat Heide Wegener nicht erwähnt. Vielleicht gendern die nicht oder sie hatte kein Programmheft. Der Vollständigkeit halber hier auch die Intendant*innen:
Seit dem Ausscheiden der Ossis, sind die Posten am BE und DT mit Ausnahme von Stephan Suschke alle von West-Männern besetzt gewesen. Am Gorki-Theater hat es immerhin eine Frau geschafft. Auch die ist nicht aus dem Osten. Man muss also bei Ost-West-Entwicklungen ein bisschen genauer hingucken. Was man auch herausbekommen müsste, bevor man solche Statements veröffentlicht, ist, wie das in den Häusern geregelt ist. Kann jeder schreiben, wie er bzw. sie will oder gibt es Hausregeln für das Gendern? Das machte einen gewaltigen Unterschied. Dazu unten mehr.
Wegener wiederholt ihr Argument aus dem früheren Aufsatz:
Etwa stellt die Paarform Schüler und Schülerinnen für Sprecher, für die „Schule“ ganz selbstverständlich Jungen und Mädchen einschließt (in Deutschland, nicht in Afghanistan!), keinen kommunikativen Nutzen, sondern eine Zumutung dar. Für sie ist die Information, dass neben Schülern auch Schülerinnen gemeint sind, überinformativ und führt deshalb zu Verdruss. Denn sie verstößt gegen Grices Zweite Konversationsmaxime der Quantität: „Do not make your contribution more informative than is required.“
Das Argument ist aber leider falsch. Für den konkreten Fall mag es zutreffend sein, dass keine neue Information in Bezug auf die Gruppenzusammensetzung mitgeliefert wird. Nur ist Sprache eben ein System und wenn ansonsten gegendert wird bzw. Paarformeln verwendet werden, dann wäre hier das Weglassen dieser längeren markierten Form ein Signal. Es ist alles nicht so einfach mit der Pragmatik.
Geglückte Kommunikation setzt voraus, dass die Information eine Informationslücke schließt, dass beim Gesprächspartner eine Lücke, Unwissenheit also besteht. Eine Information, die keine Lücke schließt, ist nicht nur überflüssig, sie ist beleidigend. Denn so dumm ist der Hörer nicht und will auch nicht so behandelt werden. Schon gar nicht mit moralisch erhobenem Zeigefinger.
Bei Kommunikation geht es nicht unbedingt um das Schließen von Informationslücken. Sprache und Sprechen hat viele Funktionen. Das müsste Heide Wegener auch wissen. Eine der Funktionen des Genderns nennt sie ja in ihrem Artikel selbst: „Gendern dient der Imagepflege, es soll den Sprecher als woke, als progressiv ausweisen“.
Woher weiß Heide Wegener, was Hörer*innen wollen? Das Gendern ist eine Sprachvariante und was Gendern-Gegner*innen tun, ist, Menschen, die anders sprechen, zu erklären, warum sie das, was sie tun, falsch finden. Das ist irgendwie ein interessanter Turn in der modernen Sprachwissenschaft, denn einige meiner Held*innen erklären nun, dass das, was Sprecher*innen tun, gar nicht ginge, denn es sei gegen das System der Sprache. Gegen die Theorien, die sie Zeit ihres Lebens ausgearbeitet haben. All die großartigen Grammatiker*innen wie Bierwisch, Eisenberg, Klein, Wegener, Wunderlich machen einen entscheidenden Fehler: Sie schreiben anderen Menschen vor, was sie zu tun oder zu lassen haben. Das ist preskriptive, normative Linguistik. Wir waren uns aber eigentlich immer einig, dass wir deskriptive Linguistik machen. Das heißt, wir beschreiben das, was Menschen tun. Die Graphematik beschäftigt sich mit Schreibvarianten. Mit dem, was Menschen tun. In Blogs und Foren. Die Rechtschreibfehler von heute sind die Orthographie von morgen. Genauso müssen wir als Syntaktiker*innen unsere Theorien ändern, wenn sie nicht mehr passen.
Ob die deutsche Sprache durch Genderformen ernsthaft Schaden nimmt, kann man erst dann beurteilen.
Das kann doch nicht sein. Das ist beste deutsche Sprachpflegerverein-Schreibe. Haben wir diese Leute nicht immer belächelt? Wie kann denn die Sprache Schaden nehmen? Was soll das denn bedeuten? Weil Menschen anderes sprechen, geht die Sprache kaputt? Dann sprechen sie eben anders. Wenn es irgendwann nicht mehr passt, wird es abgebaut oder es bilden sich andere, neue Formen. Nur weil es so ist, wie wir es nicht gewöhnt sind, so, dass es nicht zu unseren Theorien passt, ist es noch lange nicht kaputt.
Gendern ist eine Mode, und Moden sind endlich. […] Auch diese Mode wird, wie alle Moden, irgendwann untergehen.
Aber, liebe Heide, dann entspann Dich doch. Genieße Deinen Lebensabend und warte, bis es vorbei ist. Ich verstehe die Aufregung nicht.
Dein Unbehagen an der Verwendung des Partizips teile ich. Aber man kann ja auf andere Weise gendern. Auch diese Textteile sind Wiederholungen aus dem ersten Aufsatz und die Radfahrenden kommen hier wieder vor. Deshalb hier ein Kommentar dazu:
Dieselben Leute, die so viel von Differenzierung reden, opfern die durchaus sinnvolle Differenzierung zwischen der Bezeichnung für eine aktuelle Tätigkeit und der für die Rolle: wie kann ich, ohne generisches Maskulinum, noch sagen, dass „nicht alle Zuhörer auch Zuhörende waren“? Gilt das Schild „Radfahrer absteigen“ nicht auch für mich? Radfahrer bin ich auch dann, wenn ich mein Rad schiebe, aber Radfahrende eben nicht.
Das Argument verstehe ich nicht. Wenn Du Dein Rad schiebst, musst Du nicht mehr absteigen. Vielleicht wäre rollern hier besser für die Argumentation: Auch wenn Du nicht radfährst, sollst Du nicht auf dem Rad sitzend durch die Fußgängerzone rollern. Also „Radfahrer*innen absteigen!“. Problem ist hier die Länge. Bis man das gelesen hat, ist man schon vorbei geradelt. „Absteigen!“ mit Fahrradverbotszeichen ist eigentlich ausreichend.
Auch in den Newslettern und Programmheften der Theater schaffen es einige Wörter, in der Grundform zu überleben, beim BE beispielsweise Regisseure, Migranten, Juden, beim DT sogar die Bürger. Absichtlich oder versehentlich? Ausschließen kann man wohl, dass mit diesen Formen nur Männer gemeint sind.
Das ist auch ein interessantes Argumentationsmuster, das ich aus der Klimadiskussion kenne: Die Gegener*innen von XY finden irgendwo bei Aktivist*innen einen kleinen Fehler und leiten daraus ab, dass sie damit wohl nicht für Klimaschutz sein könnten, denn sonst würden sie ja (nicht) YZ.
Hier fordert ein Gender-Kritiker (Nein, das geht bei mir nicht mehr, ich muss eine Gender-Kritikerin schreiben, denn, liebe Heide, das ist Sprachwandel, auch wenn Ihr das bestreitet.), dass Institutionen konsequent gendern. Aber selbst die taz gendert nicht konsequent. Sie stellt es ihren Autor*innen frei. Und so muss das auch sein.
Den Fehler habe ich übrigens selbst auch gemacht. In der Zeit, in der ich noch nicht gegendert habe, habe ich mich über einen taz-Artikel aufgeregt, in dem von Dieben und Mördern gesprochen wurde, obwohl es um ein Straflager für Frauen ging, in dem Diebinnen und Mörderinnen inhaftiert waren. Aber es schreibt eben nicht „die taz“, sondern verschiedene Autor*innen in der taz. Manche lehnen das Gendern konsequent ab, andere tun es bis zum Abwinken.
Prof. Dr. Helmuth Feilke (2022) argumentiert übrigens für ein maßvolles Gendern. Das Gendern setzt ein Signal. Es reicht aus, wenn nicht alle Formen gegendert werden, sondern ab und zu das Signal an die Empfänger*innen geschickt wird.
Daraus darf man den Schluss ziehen, dass man das Ganze nicht so ernst nehmen sollte. Alles nur Theater.
Die lustigste Stelle im Artikel hätte ich beinahe übersehen, weil ich Heide Wegener ja kenne und ihre Kurz-Biographie nicht gelesen habe. Dort steht: „Prof. Heide Wegener ist Linguistin.“
Im Text steht:
Blatz hatte Recht. Es gibt keinen Grund, das Generische Maskulinum zu meiden. Im Gegenteil: Die beste, klarste Art, die Kernbedeutung von Berufs-und Rollenbezeichnungen auszudrücken, ist die endungslose Grundform, Freund, Arzt, Virologe. Da diese Formen kein Merkmal für Geschlecht enthalten, unterspezifiziert also sind, schließen sie alle Geschlechter ein und sind dadurch inklusiv.
In der Kurz-Bio hätte also stehen müssen: „Prof. Heide Wegener ist Linguist.“ Nun hat Heide Wegener das wohl nicht selbst geschrieben, sondern ihre Freund*innen aus der WeLT-Redaktion. Die sind nun, was Feminismus und Gendern angeht, sicherlich komplett unverdächtig und haben aus freien Stücken die feminine Form gewählt. Wohl weil sie diese intuitiv angemessener fanden. Wenn die endungslose Grundform im Westen auch benutzt wurde, wäre das nun aber der Beweis dafür, dass es Sprachwandel in diesem Bereich gibt, etwas, was Wissenschaftler*innen wie Heide Wegener und Josef Bayer vehement bestreiten. Wenn nicht, ist es immerhin noch ein Beweis dafür, dass Sprecher*innen das Bedürfnis haben, eben nicht das völlig ausreichende generische Maskulinum, sondern eben die feminine Form zu benutzen.
Ost-Frauen erklären mir, sie hätten „das nicht nötig“, das = die Formen der Gendersprache, und ich denke, sie haben recht. Ich bewundere sie dafür, dass sie viel früher als die im Westen nicht nur Friseur, sondern auch Mechaniker lernten und nicht nur Pädagogik und Kunstgeschichte studierten, sondern auch Maschinenbau und Physik. Und anstatt den Kindern Formen wie dem/*der Patient*in beizubringen, sollten die Lehrer sie besser dazu animieren, auch die MINT-Fächer zu studieren.
Ja, ganz genau so habe ich auch Jahrzente lang gedacht. Das ist ja auch in meinem ersten Blog-Post zu dem Thema (Gendern, arbeiten und der Osten) beschrieben. Nach der Wende haben die Ostfrauen die Westfrauen überhaupt nicht verstanden, weil sie deren Probleme überhaupt nicht hatten. Wie Du sagst, liegt das eigentliche Problem viel tiefer, das bedeutet aber nicht, dass man nicht das, was man tun kann, schon machen kann. Ich kann nicht für mehr Kindergartenplätze sorgen, aber ich kann weiblichen und diversen Student*innen1 signalisieren, dass sie wertgeschätzt werden. (Einige, sehr wenige, kann ich auch einstellen. Das habe ich auch getan. Auch flexible Lösungen mit Kinderauszeiten gefunden usw. Aber darüber hinaus kann man eben noch Gendern.)
Der angeführte Test prüft musician, also Formen im Singular – und damit ist er völlig wertlos, was generische Lesart angeht, denn im Singular sind die Nomen nur in amtlichen Texten generisch, sonst fast nie (Mit dem Abitur erwirbt der Schüler…). Das zeigen auch die Ergebnisse des angeführten Tests S. 3 : „Es ergibt sich, dass Singularformen beider Wortklassen zu 83 Prozent als „männlich“, Pluralformen aber zu 97 Prozent als „neutral“ bewertet werden. Im Plural gelten Berufsbezeichnungen zu 94, Rollenbezeichnungen sogar zu 99 Prozent als „neutral““. Konsequenz: Im Singular muss man die movierte Form benutzen. Deshalb lässt sich auch der Chirurgentext nicht aufs Deutsche übertragen. Niemand würde eine Chirurgin (im referenziellen Modus!) mit Chirurg bezeichnen, nicht mal Ostfrauen. Die unterscheiden sehr genau zwischen referenzieller und generischer Lesart: „Ich bin / sie ist Arzt – aber: Meine Ärztin meint…
Man kann den Text übertragen: „Einer der Chirurgen soll operieren, sagt aber: ‚Ich kann nicht, das Kind ist mein Sohn.’“ Ja, aber dann ist es Plural, wie Du sagst.
Aber auch die Tests mit Pluralformen bestätigen nicht die Behauptung von Feministen, generische Maskulina würden eher spezifisch als ‚männlich‘ verstanden, weder die originalen Tests von 2001 oder 2008 noch die von Schunack/Binanzer durchgeführten Untersuchungen, s. ZS 2022. Es gibt keinen Grund, das GM zu meiden. Im Gegenteil: Die beste Art, die Kernbedeutung von Berufs-und Rollenbezeichnungen auszudrücken, ist die unmarkierte Grundform, Freund, Arzt, Virologe. Da diese Formen kein Merkmal für Geschlecht enthalten, unterspezifiziert also sind, schließen sie alle Geschlechter ein und sind dadurch inklusiv. Auch das Suffix der Nomina agentis -er ist kein Merkmal für ‚männlich‘, sondern für den Agens, im Gegensatz zu -ling für den Patiens, Lehrer — Lehrling. Wäre es anders, dann hätten wir in Lehr-er-in zwei sich gegenseitig ausschließende Morpheme hintereinander, etwas, was es m.W. in natürlichen Sprachen nicht gibt.
Das sind alles kluge Gedanken. Du und andere Linguist*innen können sich jetzt bis an ihr Lebensende damit beschäftigen, Laien zu erklären, warum die ungegenderten Formen perfekt funktioniert haben. Es wird aber dennoch Menschen geben, die gendern, weil sie einen Bedarf dafür haben. Siehe unten zur Pragmatik.
Ich bezweifle auch, ob nicht-binäre oder homosexuelle oder Trans-Menschen wirklich den ständigen Hinweis auf ihr Anderssein wollen. Wollen die nicht vielleicht lieber einfach nur dazugehören? Mit *Formen im Singular (die Autorin A und die Regisseur*in B) werden (nicht)binäre Menschen geradezu geoutet. Wollen die das überhaupt?
Das ist ein interessanter Punkt. Ich denke, dass auch gerade in der queeren Szene viel gegendert wird. Prof. Horst Simon, soweit ich weiß, ein glücklich verpartnerter cis-Mann, spricht von sich als Linguist*in. Mit dieser etwas extremen Art wäre es dann „die Autor*in A und die Regisseur*in B“. Junge Menschen stellen sich in Gesprächsrunden immer vor und geben zusätzlich zu ihrem Namen ihr bevorzugtes Pronomen an. Ich war neulich bei einem Treffen älterer Menschen (50–70) und eine männlich gelesene Person stellte sich mit Namen und Pronomen sie vor. Damit wussten alle Bescheid. Auf alle anderen männlich gelesenen Personen wird mit er verwiesen. Es ist ihre Wahl, wie offen sie leben wollen.
Es geht nicht nur um „Unterbrechung und minimale Verzögerung“, die massive Ablehnung durch die sprechende Mehrheit beruht u.a. auf der übertriebenen, da inhaltlich nicht gerechtfertigten Explizität der Genderformen. Etwa stellt die Paarform Schüler und Schülerinnen für Sprecher, für die ‚Schule‘ ganz selbstverständlich Jungen und Mädchen einschließt (in Deutschland, nicht in Afghanistan), keinen kommunikativen Nutzen, sondern eine Zumutung dar. Für sie ist die Information, dass neben Schülern auch Schülerinnen …, überinformativ und führt deshalb zu Verdruss. Sie verstößt gegen die Gricesche Konversationsmaxime der Relevanz, vgl. Grice (1975:45): „Do not make your contribution more informative than is required.“ Geglückte Kommunikation setzt voraus, dass die Information eine Informationslücke schließt, dass beim Gesprächspartner eine Lücke, Unwissenheit also besteht. Eine Information, die keine Lücke schließt, ist nicht nur überflüssig, sie ist beleidigend. Denn so dumm ist der Hörer nicht und will auch nicht so behandelt werden.
Ja, Verdruss. Das hatte ich ja gesagt (Das leidige Thema: Gendern). Das Gendern verstößt nicht gegen die Maxime der Relevanz, denn es geht den Sprecher*innen genau um diesen Effekt. Mit dem Umweg, der längeren Form wird etwas ausgesagt. Nämlich: „Ich, die Sprecher*in, gendere, weil ich möchte, dass Frauen und Trans-Personen explizit erwähnt werden.“ Es ist ein klassisches Form-Bedeutungspaar mit einer erweiterten Bedeutung und diese, dieses Das-immer-wieder-unter-die-Nase-gerieben-Bekommen nervt.
Wenn es darum geht, alle anzusprechen, wie oft behauptet, so tun wir das doch schon lange, indem wir Sehr geehrte Damen und Herren oder liebe Zuschauer und Zuschauerinnen sagen.
Ja. Wenn wir es sagen. Ich sage es manchmal in Lehrveranstaltungen statt Glottalverschluss. Dann fehlen die Transpersonen.
Wer so argumentiert und damit „geschlechtergerechte“ Sprache allgemein rechtfertigt, verkennt den Unterschied der drei Funktionen des Sprachzeichens (Organonmodell):
In der Anrede ist das Sprachzeichen Signal und erfüllt die Appellfunktion. Weit überwiegend, wenn wir über jn reden, ist es aber Symbol und erfüllt die Darstellungsfunktion. Schließlich ist es Symptom und erfüllt dann die Ausdrucksfunktion, sagt etwas über den Sprecher aus. Und in den meisten Fällen scheint mir das die eigentliche Motivation zu sein: Gendern dient der Imagepflege, es soll den Sprecher als woke, als progressiv ausweisen. Es ist eine Mode, und Moden sind endlich. Wer erinnert sich noch an das Pronomen “frau”?
Das ist ein Aspekt. Natürlich sagt meine Sprache auch etwas über mich aus.
Ich erinnere mich noch an „frau“. In der taz kommt es noch ab und zu vor. Auch sehr schön ist „maus“. Da gibt es aber nur eine Autorin, die das benutzt. Bzw. eine Autor*in. =:-)
Natürlicher Sprachwandel geht anders und hat andere Ziele, noch nie haben kompliziertere Formen die einfacheren verdrängt. Hier liegt Sprachlenkung, der Versuch einer Sprachlenkung vor.
Was ist, wenn Sprachlenkung von vielen Menschen angenommen wird und dann einfach Eingang in die Sprache findet? Esperanto war eine Plansprache. Künstlich. Inzwischen ist es eine lebendige Sprache. Und ich finde „Lehrer“ in Deinem ersten Zitat inzwischen schon komisch. Man gewöhnt sich an „Lehrer*innen“ und dann sind die „Lehrer“ eben nur noch männliche Personen. Das ist Sprachwandel.
Ob er dauert, bis die Frauen gleichberechtigt sind? In anderen Sprachen hat man die Suffixe längst abgeschafft, schon M. Thatcher wollte Prime Minister sein, nicht Ministress.
Oh, je. Thatcher als Beispiel für irgendwas zu benutzen, ist so, als würde man in der WeLT veröffentlichen.
Sind die Briten frauenfeindlich, sind sie noch stärker als wir unterdrückt vom Patriarchat? Oder sind sie im Gegenteil emanzipierter als wir?
Ich habe 1992 in Edinburgh studiert. Ein Dozent, den ich irgendwas zur Verwendung der Pronomina gefragt hatte, hat mir erklärt, dass manche auch das Pronomen ‘they’ verwenden. Ich habe das damals nicht verstanden, wusste es nicht einzuordnen. Aber diese Diskussionen gibt es auch in Großbritannien schon sehr lange. Insgesamt fällt das nicht so auf, weil das Englische eben viel weniger relevante grammatisch markierte Unterschiede hat.
Die „geschlechtergerechten“ Formen werden als diskriminierend empfunden: W. Goldberg „I’m an actor , I can play anything“, Cate Blanchett lehnt actress ab und besteht sogar als Dirigentin im Film auf der Anrede Maestro, nicht Maestra. Nele Pollatschek und Sophie Rois lehnen die deutschen Formen ab.
Ich denke, das sollte jede*r machen wie er/sie will. Horst ist eben Linguist*in, ich bin Linguist und Du Linguistin. Prima. Es gibt nur dann ein Problem, wenn jemand etwas vorschreiben will. Das sollte es nicht geben.
In der Schweiz, in der zunächst mehr gegendert wurde als in Deutschland, was verständlich ist, hatten dort die Frauen doch erst 1971 das Wahlrecht erlangt, wird jetzt eine “Renaissance des Generischen Maskulinums“ beobachtet, bei Studentinnen unter 25 (s. J. Schröter, A. Linke, N. Bubenhofer 2012: „Ich als Linguist“. Eine empirische Studie zur Einschätzung und Verwendung des Generischen Maskulinums, in: Susanne Günthner u.a. Genderlinguistik, Sprachliche Konstruktion von Geschlechtsidentität, Berlin: de Gruyter, 359–379, DOI :10.1515/9783110272901.359
OK. Siehe oben. Soll jeder machen, wie sie will. (Das war jetzt lustig, oder? =;-)
Ich habe keinen Zugang zu Studentinnen mehr, kann das aber durch einzelne Teenager bestätigen. Die finden Gendern doof und karikieren es durch die Kürzel die SuS und die LuL und dann weiter zu die Sus und die Lul.
Nun ja. SuS wird von Lehrer*innen bzw. an den Universitäten in der Lehramtsausbildung auch verwendet. Ist eine übliche Abkürzung. Ich habe auch noch mal bei Prof. Beate Lütke nachgefragt, die in der Lehrer*innenausbildung arbeitet. Hier ihre Antwort zu SuS und LuL und ihrer Sicht auf das Gendern:
SuS und LuL verwenden zumeist Studierende in Unterrichtsentwürfen, weil sie in den Planungstabellen wenig Platz fürs Ausschreiben haben. Diese Abkürzungen tauchen also eher im Rahmen schulpraktischer Materialien für den Einsatz in Schulen auf. In der wissenschaftlichen Kommunikation werden sie nicht verwendet, bei den Grundschulkolleginnen ist mir das bisher auch nicht aufgefallen. Als Referendarin habe ich ‘SuS’ auch in meinen tabellarischen Unterrichtsentwürfen verwendet, weil es darin so vorgegeben war; das ist aber 20 Jahre her.
Ich selbst gendere flexibel und verwende Genderformen wie Lehrkräfte, Schüler*innen und setze in der Doppelform in die Kasus (‘bei Schülern und Schülerinnen’). Ich mache mir keine Sorgen, dass die deutsche Sprache durchs Gendern beschädigt wird. Mein Lesefluss wird dadurch nicht gestört :). Mir ist wichtig, dass sich in meinen Uni-Kursen alle einbezogen und angesprochen fühlen. Eine queere Person sagte mir einmal in meiner Sprachbildungsvorlesung, dass sie sich durch das Gender-* erstmalig in Lehrveranstaltungen einbezogen und angesprochen fühle. Das hat mich veranlasst, dazu eine Umfrage zu machen. Die große Mehrheit der Gruppe hat sich für das * ausgesprochen.
Beate Lütke, p. M. 2023.
Außerdem gibt es Kollateralschäden. Die schon erwähnten Formen dem*der Arzt*in (in Papieren der Charité massenhaft) machen die deutsche Sprache nun wirklich nicht leichter für die (DaF)Lerner.
Ja. Ich schreibe immer die Ärzt*in. Dann hat man sich die Disjunktion beim Artikel gespart. Formal ist das für Grammatiker*innen natürlich die Hölle, weil es keine Kongruenz zwischen Artikel und Nomen mehr gibt, aber dann müssen sich diejenigen, die das modellieren wollen, eben etwas dafür ausdenken.
Und dieselben Leute, die so viel von Differenzierung reden, opfern die durchaus sinnvolle Differenzierung zwischen der Bezeichnung für eine aktuelle Tätigkeit und der für die Rolle: wie kann ich, ohne Generisches Maskulinum, sagen, dass “nicht alle Zuhörer auch Zuhörende waren“? Gilt das Schild “Radfahrer absteigen” nicht auch für mich? Radfahrer bin ich auch dann, wenn ich mein Rad schiebe, aber Radfahrende eben nicht mehr. Aber nach dem adfc Berlin sind sogar Getötete noch Radfahrende, nicht nur an Ostern, dem Fest der Auferstehung! Es ist grotesk. Und wenn Linguisten solche Formen empfehlen, ist das beschämend.
Ja. Das finde ich nicht gut und mache ich auch nicht. Das Beispiel ist schon älter und von Max Goldt: „In der Lobby lagen tote Studierende.“ Damit macht man das Partizip mehrdeutig. Das würde ich nicht so machen, aber wenn es sich durchsetzen würde, dann wäre es eben so. Ich muss es ja nicht aktiv so verwenden, denn die Form „Student*innen“ gibt es ja auch noch. Andererseits wird Lehrer dann eben eindeutig mit Bezug auf männlich gelesene Personen.
Beate Lütke hat mich auf einen Text von Helmuth Feilke (2022) aufmerksam gemacht, der im Wesentlichen genau die Punkte bringt, die ich hier auch vertreten habe, nur besser formuliert. Der Text weist im Vorübergehen auch auf ein lustiges neues Problem hin, das sich aus der Verwendung der Partizipformen ergibt: Im Singular gibt es einen Unterschied in der Flexion: ein Studierender vs. eine Studierende.
Soll jetzt dieser Pro-Gendern-Text mit einer Kritik an einer der verwendeten Formen enden? Nein. Er endet mit einem Ja. Ja, zum flexiblen Gendern. Wie das genau geht, hat Helmut Feilke gut beschrieben.
Heute Nacht habe ich von Prof. Dr. Heide Wegener eine Mail mit dem Betreff „Das leidige Thema“ bekommen. Heide Wegener schreibt immer wieder in der WeLT zu diesem leidigen Thema. Sie hat mir ein PDF eines WeLT-Artikels (paywall) geschickt, der eine kürzere Version eines Aufsatzes ist, der in einem linguistischen Sammelband erscheinen wird.
Ich gendere und habe das in einem Blogpost hier schon erklärt (Gendern, arbeiten und der Osten). Wie ich da geschrieben habe, bin ich der Meinung, dass die Frage der Gleichstellung eine ökonomische ist und dass es deshalb wichtig ist, die Infrastruktur, die Familien brauchen, damit alle arbeiten können, auszubauen und zu finanzieren.
Hier einige kurze Kommentare zu Heide Wegeners Artikel:
Wegener beschäftigt sich mit dem generischen Maskulinum und mit Studien, die zeigen sollen, dass es sich nur auf Maskulina beziehen würde. Ich habe das Gendern selbst lange abgelehnt und dann aber, weil ich durch Prof. Dr. Henning Lobin (Leiter des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim) auf folgende Studie aufmerksam geworden bin, mit dem Gendern begonnen:
Stahlberg, Dagmar, Sabine Sczesny & Friederike Braun. 2001. Name your favorite musician: Effects of masculine generics and of their alternatives in German. Journal of Language and Social Psychology 20(4). 464–469. DOI: 10.1177/0261927X01020004004.
Ich weiß noch genau, wie ich mich im DFG-Fachkollegium mit Prof. Helmuth Feilke über die Experimente unterhalten habe und er meinte, dass das nicht so einfach wäre, denn, was man experimentell nachweisen würde, wären Klischees. Das würde auch im Englischen funktionieren, wo es die entsprechenden Endungen ja gar nicht gibt. Hier ist das entsprechende Beispiel, das auf die Psychologinnen Mikaela Wapman und Deborah Belle zurückgeht.
Heide Wegener diskutiert nun einige Beispiele, die genau das auch für das Deutsche zeigen.
Eins der Experimente, die betrachtet werden, bestand darin, dass Proband*innen Schauspieler*innen, Politiker*innen und Superheld*innen nennen sollten. Dabei wurde die Aufgabe immer mit generischem Maskulinum, als Paarform (Politiker und Politikerinnen) und mit großem I gestellt.
Dies Ergebnis ist von grundsätzlicher Bedeutung, zeigt es doch: Real existierende Vertreter, zumal in Spitzenpositionen, mit Bildschirmpräsenz (Kanzlerin, Fußballstar), wirken prägend, beeinflussen Bedeutung und Veränderung von Berufs- und Rollenbildern stärker als sprachliche Änderungen. Die Grundannahme der Feministischen Linguistik, Sprache determiniere das Denken und dieses dann die soziale Realität, wird hier vom Kopf auf die Füße gestellt.
Dass die Wirklichkeit unsere Klischees formt, hat wohl niemand jemals wirklich in Frage gestellt. Dass die Art, wie wir über Personen und Dinge reden, die Welt beeinflusst, wird wohl aber auch keine Sprachwissenschaftler*in ernsthaft abstreiten wollen. Das Stichwort ist Framing und jede Linguist*in sollte das Buch LTI von Victor Klemperer kennen, der sich mit der Sprache der Nazis auseinandersetzt. Auch heute wird bewusst von Flüchtlingsströmen, Messermännern und so weiter gesprochen. Sprache beeinflusst unser Denken, das lässt sich nicht von der Hand weisen, auch wenn es einem beim Gendern gerade nicht passt.
Setzt man den Ost-West-Unterschied im Gebrauch von Gendersprache, die nach Entstehung und Verbreitung ein eher westdeutsches Phänomen ist, in Relation zu den Zahlen für den Gender Pay Gap in den alten und neuen Bundesländern, so zeigt sich: Wo gegendert wird, ist die Lohnlücke größer (alte Bundesländer 19 Prozent, neue Bundesländer 6 Prozent, unbereinigt). Der behauptete emanzipatorische Effekt von Gendersprache erscheint als fromme Schimäre.
Diese Aussage ist interessant, nur dass das Eine nichts mit dem Anderen zu tun hat. Ein Ziel des Genderns ist es, Wertschätzung für Frauen und Trans-Menschen auszudrücken, sie sichtbar zu machen. Gerade auch dort, wo sie entsprechend der Klischees nicht erwartet sind. Der Gender Pay Gap ist die unterschiedliche Entlohnung für dieselbe Arbeit. Eine Frau bekommt auf derselben Stelle weniger als ein gleich qualifizierter Mann. Professorinnen bekommen oft weniger als Professoren, auch weil sie das selbst anders verhandeln.
Schaut man sich den geographical pay gap, den Unterschied in der Bezahlung zwischen West und Ost für gleiche Arbeit an, so liegt der bei 22,5%. Dirk Oschmann schreibt Folgendes zu den Details:
Bei Textilfirmen sind die ungeheuerlichen Unterschiede mit 69,5 Prozent am größten, aber auch die beliebte Autoindustrie kann sich mit 41,3 Prozent noch sehen lassen, gefolgt von Maschinenbau mit 40,4 Prozent, der Herstellung von IT-Gütern mit 39,8 Prozent und der Schifffahrt mit 38,9 Prozent. Und natürlich bekommt der Osten signifikant weniger oder gar kein Weihnachtsgeld, wie der Spiegel im November 2022 meldet.
Dirk Oschmann, 2022, Der Osten – Eine Westdeutsche Erfindung, S. 66
Das bedeutet, das Frauen und Männer ohnehin schon weit unter dem West-Niveau bezahlt werden. Am größten ist der Unterschied übrigens in einem klassischen Frauenberuf: im Textilbereich bei den Näher*innen. Dass ein Mann in diesem Bereich dann nur unwesentlich mehr verdient … Tja. Vielleicht ist die Ausbeutung im Osten dann insgesamt so groß, dass man die Frauen schlecht noch schlechter bezahlen kann. Ein konkretes Beispiel aus meiner Verwandtschaft: Eine Frau arbeitet als Verkäuferin und fährt mit dem Fleischwagen übers Land. Wenn sie das Renteneintrittsalter erreicht haben wird, wird sie die Mindestrente bekommen, denn das Geld, das sie in die Rentenversicherung eingezahlt hat, reicht nicht für mehr und das, obwohl sie ihr Ganzes Leben Vollzeit gearbeitet hat. Wenn man vor diesem Hintergrund einen Artikel mit dem Titel Wo gegendert wird, ist die Lohnlücke größer in der Springer-Presse veröffentlicht, ist das an Zynismus eigentlich nicht zu überbieten. Aber wahrscheinlich ist es einfach nur Unwissenheit: Der Osten ist so weit weg, selbst für Professor*innen, die mitten drin wohnen.
Die Unterschiede zwischen West- und Ost-Gesellschaft sind so gewaltig, dass Wegeners Vergleich des Gender Pay Gaps ohne weitere Aufschlüsselung relevanter Faktoren einfach unzulässig ist. Im Osten kriegen die Frauen seit der Wende weniger Kinder, was vielleicht der Karriere förderlich ist. Die Kinderversorgung allgemein ist besser. In Bayern kann Mutti das Kind in der Kita abgeben und dann den Einkauf erledigen. Mittags kommen die Kinder zurück. Im Osten sind Einrichtungen mit Ganztagsbetreuung die Norm (Krippe, Kindergarten, Schule+Hort). Dass Frauen Vollzeit arbeiten, ist normal. All das müsste man in Überlegungen einbeziehen. Was Wegener vergleichen müsste, ist eine Westdeutsche Gesellschaft mit und ohne Gendern. Das ist nicht so einfach, aber vielleicht gibt es gesellschaftliche Bereiche, in denen man die Auswirkung von inklusiver Sprache experimentell nachweisen kann.
(Nachtrag vom 20.05.2023: Der MDR hat erklärt, wodurch der geringere unbereinigte Gender-Pay-Gap im Osten zustande kommt: Deutschlandkarte zum Gender Pay Gap: Lohnlücke im Osten kleiner. Es liegt daran, dass Männer im Osten in schlechter bezahlten Berufen arbeiten. Die gut bezahlten Industrie-Jobs sind im Westen. Ossis arbeiten z.B. bei Lagerwirtschaft, Post und Zustellung, Frauen in vergleichsweise besser bezahlten Berufen wie in der Verwaltung. Der bereinigte Gender-Pay-Gap [gleicher Beruf, gleiche Qualifikation] liegt bei 10,8 % im Osten und 15,3 % im Westen, ein Unterschied von nur 4,5%, der sich vielleicht über die von mir oben angesprochenen Faktoren erklären lässt.)
Das wirft die Frage auf, ob generische und gegenderte Sprachformen gleichwertig sind. Für diese Annahme spricht das derzeitige Nebeneinander beider Formen: Die meisten Deutschsprecher wechseln heute problemlos zwischen dem generischen Maskulinum und geschlechtergerechter Sprache hin und her, sie gebrauchen passiv in den Medien Genderformen, aktiv aber weiter das generische Maskulinum – ohne Verständigungsprobleme.
Dass es beim generischen Maskulinum Verständigungsprobleme geben würde, hat niemand behauptet, die Kommunikation funktionierte in den letzten Jahrhunderten auch. Es ist eine Frage der Inklusion, eine Frage der Höflichkeit, ob man eine umständlichere Form wählt und damit Frauen und Trans-Personen explizit mitnennt und explizit anspricht.
Vielleicht kann man das am besten mit einem Beispiel verdeutlichen: Wenn wir Behörden anschreiben oder Mails an Empfänger*innen, bei denen wir nicht wissen, wer die Mail letztendlich lesen wird, schreiben wir „Sehr geehrte Damen und Herren“. Ich habe 2021 eine Konferenz organisiert und eine Mail an den allgemeinen Konferenzaccount bekommen, die mit „Dear Sirs“ begann. Der Schreiber der Mail ist wohl davon ausgegangen, dass nur Männer diese Konferenz organisieren würden/könnten, was unangebracht und beleidigend für Frauen auf der Empfängerseite ist. Man kann andere Anreden wählen. „To whom it may concern“ oder „Hi“. Im Deutschen „Hallo“, „Liebes Globetrotter-Team“ oder eben die explizite Form „Sehr geehrte Damen und Herren“. Alles wird verstanden, aber es gibt Unterschiede im Stil und im Register.
Ein Abschnitt in Heide Wegeners Text trägt die Überschrift „Die Welt prägt die Sprache, nicht die Sprache die Welt“. Ich möchte behaupten, dass Sprache und Welt in einer Wechselwirkung zueinander stehen. Der Ton macht die Musik, wie oben bei den Anreden gezeigt. Ein weiteres Beispiel: Es gibt sehr viele Wörter, mit denen man sich auf Menschen mit Behinderung beziehen kann. Alle werden verstanden. Manche sind wertschätzend, manche verletzend. Ich möchte in einer inklusiven Welt leben, die es allen erlaubt, ihren Möglichkeiten entsprechend teilzuhaben, sich verstanden zu fühlen und mitgenommen zu werden.
Gendern und Klimakleber
Beim Nachdenken über das Gendern und die Aktionen der Letzten Generation, Extinction Rebellion und Scientist Rebellion ist mir klar geworden, dass die Ablehnung und der Hass wahrscheinlich Ergebnis ähnlicher Prozesse sind. Die Klimakleber gehen nicht weg. Das hört einfach nicht auf. So wie die Klimakrise auch nicht aufhört. Die Klimabürger*innen erinnern uns täglich daran, das wir als Gesellschaft, als der Norden eigentlich auf einem ganz anderen Kurs sein müssten und dass unsere Regierungen versagen. Genauso erinnern Menschen, die gendern, Menschen, die nicht gendern, in jedem Satz an ein strukturelles Unrecht, an Ungleichbehandlung, daran, dass mann Privilegien aufgeben muss. Es stört, es nervt. In etwas so Schönem wie der Sprache. Es stört, es nervt. Bei etwas so Schönem Notwendigem wie dem Weg zur Arbeit.
Die Unterbrechung und minimale Verzögerung durch den Glotalverschluss ist dabei nicht gegen die Kommunikationspartner gerichtet. Selbiges gilt auch für die Vergrößerung der ohnehin schon vorhandenen Staus. Diese Unterbrechungen markieren einfach Ungerechtigkeiten und Probleme, die sich aus unserem Weiter-So ergeben.
Weil beides nervt, gibt es schlaue (und auch dumme) Menschen, die Gründe finden, warum das Gendern nicht „funktionieren“ würde, was daran falsch sei, einfach übersehend, dass Menschen es tun und verstanden werden. Und so gibt es schlaue (und dumme) Menschen, die der Letzten Generation erklären, was die doch gefälligst tun sollten, oft verkennend, dass sie all das auch tun oder schon getan haben.
Also: All das wird so lange bleiben, bis Frauen gleichberechtigt sind (oder länger, weil das Gendern dann normal geworden ist) und bis wir als Gesellschaften Wege gefunden haben, mit der Klimakatastrophe adäquat umzugehen und noch Schlimmeres zu verhindern (und hoffentlich nicht länger, weil die Störungen nicht normal werden).
Quellen
Wegener, Heide. 2023. Wo gegendert wird, ist die Lohnlücke größer. In Meinunger, André & Trutkowski, Ewa (eds.), Gendern – auf Teufel*in komm raus? Berlin: Kulturverlag Kadmos.
Oschmann, Dirk. 2023. Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Berlin: Ullstein Buchverlage.
Ich freue mich wie Bolle, dass jetzt viele Leute Twitter verlassen und zu Mastodon wechseln. Und die Blogs kann man auch vernetzen dank ActivityPub-Plugin für WordPress.
Also: Wenn Ihr Euch für den Osten aus Sicht eines eingeschnappten [=:-)] Ossis interessiert, folgt Stefan@so-isser-der-ossi.de.
Nochmal ohne Quatsch: Ossis sind in den Redaktionen unterrepräsentiert, sie haben in Firmen und öffentlichen Einrichtungen keine Stimme und ich kommentiere hier ab und zu grobe Falschdarstellungen. Zum Teil auch von Ossis selber. Es geht viel um Nazis, aber auch um Gendern, Gleichberechtigung, Kinderverschickungen/Kuren usw.
Vorweg: 1) Ich gendere. 2) Ich war eins der ersten Mitglieder in Prof. Dr. Gisbert Fanselows Gesellschaft gegen den Erhaltung der deutschen Sprache. Gisbert hatte auf einer Web-Seite „100 gute reasons gegen die preservation von der deutschen Sprache“. Mit irgendwelchen Sprachpfleger*innen habe ich also nichts zu tun.
Da bei der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) eine Satzungsänderung in Richtung gendergerechte Sprache anstand, habe ich im DGfS-Forum einen Beitrag geschrieben, den ich dann auch außerhalb veröffentlichen wollte (Gendern, arbeiten und der Osten). Ich habe erst darüber nachgedacht, den Blog-Bereich der HU dafür zu benutzen, habe den Beitrag aber dann auf diesen Ost-Blog getan, weil die darunterliegenden Fragen auch etwas mit dem Osten zu tun haben. Ich wollte eigentlich gar nicht weiter zum Thema schreiben, aber jetzt muss ich doch noch einmal. Auf Twitter und sonst wo kocht gerade die Diskussion über, ob man denn Prüfungsleistungen von Studierenden anders bewerten kann oder soll, wenn diese nicht gendern.
Bei der Universität Kassel findet man folgende Anleitung:
Hier stellt sich die Frage, wie man mit den Gender-Markern allgemein umgehen soll. Vor dreißig Jahren wurde das Binnen‑I z.B. bei der taz und die gesprochene Variante mit Glottalverschluß bei Radio 100 verwendet. Beides Avantgarde und Nischenangebote. Ansonsten kam es in entsprechenden Zirkeln vor, vereinzelt auch an Universitäten. Ich habe eine Leipziger Hochschulzeitschrift von 1992 mit Binnen-I-Beitrag. Inzwischen ist das Binnen‑I bzw. das Gendersternchen im Mainstream angekommen.
Es wird im Tagespiegel verwendet, von Nachrichtensprecher*innen u.s.w. Forschungsförderungseinrichtungen wie die DFG verwenden es schon mehrere Jahre standardmäßig, Universitäten geben Empfehlungen für gendergerechtes Schreiben. Vor einiger Zeit hat Ulrike Winkelmann, die Chefredakteurin der taz, einen weisen Beitrag dazu verfasst. In der taz gab es immer sone und solche. Manche haben das Gendern abgelehnt2, manche haben dafür gekämpft. Die taz ist ein bunter Haufen und das ist auch gut so. Ulrike Winkelmann hat dafür plädiert, das Gendern nicht vorzuschreiben und nicht zu erzwingen:
In dem Augenblick, da emanzipative Sprachpolitik zu einer von einem „Oben“ gesetzten Norm wird – und vieles sieht aktuell schon danach aus –, wird sie sich genau diesem Vorwurf aussetzen müssen: dass sie Wirklichkeiten konstruiert, die viele nicht als die ihren begreifen.
Ich denke, es ist wichtig, zwei Dinge zu unterscheiden: 1) gibt es Institutionen, die beschlossen haben, Gleichstellungsaspekte adäquat zu berücksichtigen und in der Innenkommunikation und nach außen gendergerechte Sprache zu verwenden. 2) gibt es Bestrebungen oder zumindest die Möglichkeit, gendergerechte Sprache bei anderen zu erzwingen. 1) ist normal und in Ordnung, 2) ist nicht in Ordnung. Warum nicht?
Wenn man versucht, Sprachwandel zu erzwingen, stößt man auf Ablehnung, bei denen, die solche Entwicklungen kritisch sehen oder sich eben einfach nicht umstellen wollen. Soll man sie einfach zwingen? Nein. Ich bin aus dem Osten. Damals war es üblich, zu Prüfungen ein FDJ-Hemd anzuziehen. Das war ein Bekenntnis zum Staat, das von Prüflingen verlangt wurde. Wenn nun gesetzte Gendersternchen in die Bewertung einfließen sollen, dann erinnert mich das sehr stark an diese Zeit. Es war eine widerwärtige Zeit. Die Politik war überall drin. Ich hatte als 13jähriger eine Aufnahmeprüfung für die Erweiterte Oberschule Heinrich-Hertz, eine Matheschule. Die Prüfung bestand aus zwei Teilen: einem Mathetest mit Knobelaufgaben und einem politischen Gespräch mit dem stellvertretenden Direktor. Der Mathetest war kein Problem, aber eine der Fragen im Aufnahmegespräch war, ob ich drei Jahre zur Armee gehen würde. Ich war 13 und hatte noch nie darüber nachgedacht. Spontan fand ich die Vorstellung nicht so prickelnd. Ich bin deswegen abgelehnt worden und nur dem enormen Einsatz meiner Eltern ist es zu verdanken, dass ich dann doch auf diese Schule gehen konnte. Und ich habe zugesagt, drei Jahre zur Armee zu gehen. Wie das im DDR-Bildungssystem lief, kann man sehr gut in Klaus Kordons Buch Krokodil im Nacken nachlesen. Kordon beschreibt ein Paar, das loyal und positiv zum Staat eingestellt ist, was sich in dem Moment ändert, als die Kinder in die Schule kommen und der Widerspruch zwischen Realität und Schulunterricht so groß wird, dass die Familie einen Fluchtversuch unternimmt. Der scheitert. Folgen: Trennung der Familie, Eltern einzeln im Gefängnis, Kinder im Heim. Ich bin sehr froh, dass diese Zeit vorbei ist, dass meine Kinder nicht in der Schule drei Fächer mit demselben Inhalt (Staatsbürgerkunde, Einführung in die sozialistische Produktion, Geschichte) haben, in denen man irgendwelche Grundsätze des Sozialismus auswendig lernen muss.
Ich denke, das Gendersternchen hat sich durchgesetzt oder ist zumindest kurz davor und wir sollten den Rest nicht erzwingen. Zumindest der Osten hatte solchen Zwang schon und wir würden damit nur die noAfD stärken.
Aktualisierung 31.07.2022: Auf der Mitgliederversammlung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft, die am 24.02.2022 online stattfand, haben 122 für die neue gendergerechte Satzung gestimmt. Es gab 10 Gegenstimmen und 7 Enthaltungen (88% dafür 7% dagegen). Zum Hintergrund Zitat aus Wikipedia: Anders als die sprachpflegerisch oder laienorientierten Sprachvereine ist bei der DGfS ein akademischer Beruf im Bereich der Sprachwissenschaften Voraussetzung für den Status als ordentliches Mitglied. Somit fungiert die DGfS auch als Berufsverband der deutschen Sprachwissenschaftler.
Auf der letzten Konferenz der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft wurde der Vorstand damit beauftragt, einen Vorschlag für eine gendergerechte Satzungsänderung zu machen. In Vorbereitung auf die im März stattfindende Jahrestagung fand in einem geschlossenen Online-Forum eine Diskussion dazu statt. Hier ist mein Beitrag:
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Ich hasse es, wenn mir Menschen vorschreiben wollen, was ich zu tun und zu lassen habe. Das kommt noch aus meiner Kindheit und Jugend, die ich im Osten verbracht habe. Bis vor einigen Jahren habe ich deshalb auch genauso argumentiert wie XY das in seinem Beitrag getan hat und wie Peter Eisenberg es in diversen Veröffentlichungen getan hat. Als taz-Leser habe ich schon sehr lange mit dem Binnen‑I und seinen Freund*innen zu tun. Ich habe mich zum Beispiel über einen Artikel sehr geärgert, in dem es um Straflager für Frauen ging und dann von Dieben und Mördern geschrieben wurde, denn wo, wenn nicht da, hätte man von Diebinnen und Mörderinnen schreiben müssen. Der Gipfel war dann ein Bild mit einem Schild, das als Wegweiserin bezeichnet wurde. Ich habe damals mit den Student*innen darüber gesprochen und ihnen erklärt, dass die entscheidende, die alles entscheidende Frage die ökonomische ist. Frauen werden nie gleichberechtigt sein, wenn sie nicht arbeiten, wenn sie nicht Kranführerin, nicht Firmenleiterin, nicht Klinikchefin, nicht Lehrerin, nicht Kindergärtnerin, nicht Professorin werden. Frauen waren im Osten in einer ganz anderen Position, weil sie ökonomisch unabhängig waren. Wenn der Macker genervt hat, sind sie halt gegangen bzw. haben ihn rausgeschmissen.
Die Frauen aus der Ost-Frauenbewegung haben nach der Wende die West-Frauen gar nicht verstanden (und andersrum), weil die ganz andere Probleme hatten. Es gibt eine sehr gute Dokumentation vom MDR zu diesem Thema und dem Roll-Back nach der Wende: Ostrauen: Selbstbewusst. Unabhängig. Erfolgreich.
Hier auch aus der Emma:
Die Frauen der DDR waren Kranführer, Maurer, Elektriker, Schlosser, Ingenieur oder Agrartechniker. Ihre Arbeit war das Herzstück der sozialistischen Lebensweise. Wo der Sozialismus ArbeiterInnen brauchte, da unterschied er nicht nach Frau oder Mann. Konsequenterweise war das „in“ in der Berufsbezeichnung überflüssig.
Ich habe das Binnen‑I also Jahrzehnte abgelehnt und die Kämpfe darum für vergeudete Zeit gehalten. Vor ungefähr drei Jahren habe ich meine Meinung geändert. Der Grund dafür war ein Tweet von Henning Lobin, durch den ich auf folgende Studie aufmerksam geworden bin:
Stahlberg, Dagmar, Sabine Sczesny & Friederike Braun. 2001. Name your favorite musician: Effects of masculine generics and of their alternatives in German. Journal of Language and Social Psychology 20(4). 464–469. DOI: 10.1177/0261927X01020004004.
Die Autorinnen haben Personen gebeten, ihre Lieblingsmusiker zu nennen. Das Ergebnis war, dass Musiker genannt wurden, nämlich vorwiegend männliche. Wurde dagegen nach Lieblingsmusikern bzw. Lieblingsmusikerinnen gefragt, war der Anteil der Musikerinnen größer. Das heißt, dass all das, was Peter Eisenberg und XY geschrieben haben, zwar richtig ist, also alles, was das grammatische System angeht, dass aber dennoch bei den Empfänger*innen etwas im Gehirn passiert, das nicht dem „mitgemeint“ entspricht (oder doch, siehe unten). Kolleg*innen haben mich dann darauf hingewiesen, dass dieses Phänomen nicht spezifisch für das Deutsche ist. Was abgebildet wird, sind unsere Stereotype. Das Beispiel mit dem Chirurgen kommt ursprünglich auch aus dem Englischen. Es stammt von den beiden Psychologinnen Mikaela Wapman und Deborah Belle.
Also: Die ganze Sache hat nichts mit dem Deutschen zu tun, die Stereotypen sind ein Abbild unserer Gesellschaften. Man kann sich das leicht vor Augen führen, indem man über nurse nachdenkt. Die ist natürlich weiblich. Jedenfalls blinkern zuerst die entsprechenden Stellen in unseren Gehirnen auf. Um das zu ändern, müssen wir dafür sorgen, dass Frauen in allen Positionen sichtbar sind, damit sie nicht nur von der Grammatik mitgemeint sind, sondern auch von den Empfängern unserer Nachrichten mitgedacht werden. Das ist letztendlich wieder die ökonomische Frage und dazu brauchen wir Quoten und Kinderbetreuung und die Quoten haben wir ja inzwischen auch, die Kinderbetreuung wird auch langsam besser. Wenn Frauen in Parlamenten gleich vertreten sind, ändert sich vielleicht auch irgendwann die Bezahlung für die typischen Frauenberufe und es stellt sich insgesamt eine fairere Verteilung ein.
Wir als DGfS wollen Frauen. Wir wollen Frauen im Vorstand, wir wollen Frauen auf Professuren, wir wollen Frauen als Leiterinnen großer Forschungsverbünde. Wenn wir Studentinnen erreichen wollen, wenn wir wollen, dass sie sich angesprochen fühlen, dass sie denken: „Ja, hier bin ich richtig!“, dann müssen wir sie explizit adressieren. Ich habe das bis vor einigen Jahren gemacht, in dem ich wie oben in der Anrede die weibliche und die männliche Form benutzt habe. Seit einiger Zeit mische ich das mit der Form mit Glottalverschluss. Ein Kollege hat prophezeit, dass der dann irgendwann als unökonomisch abgeschafft wird und so ist es in der Tat: Dann kommt eben das generische Femininum raus.
In der Schriftform verwende ich das Gendersternchen. Es ist kürzer als Kolleginnen und Kollegen und man hat die Nicht-Binären noch mit dabei.
Aber es wurden ja schon Vorschläge gemacht, wie man das Problem umschiffen kann, so dass wir […] zu einer Form kommen, die Frauen und Nicht-Binären zeigt, dass wir sie in der DGfS gern sehen.
Herzliche Grüße
Stefan
PS: Das i mit Sternchen oben drauf finde ich herzallerliebst, schön ist auch das i mit zwei Punkten drüber. Ist aber nichts für normale Menschen. Ich setze Bücher, glaubt mir.