Vor einiger Zeit sind die Sächsischen Separatisten aufgeflogen. Eine Gruppe Rechtsextremer, die mit Waffen für den Tag X trainiert haben, wurde festgenommen. Einige von ihnen AfD-Funktionäre. Heute schreibt die taz zu dieser Gruppe:
Zu den Festgenommen gehören auch die Brüder Jörg und Jörn S. aus Brandis, deren Vater in den 1980er Jahren bereits in der militanten Neonazi-Szene in Österreich aktiv war. Jörg S. gilt der Bundesanwaltschaft als Anführer der Gruppe.
Das heißt, das wieder eine Gruppe von in den Osten gekommenen West-Nazis geleitet wird. Ich bitte, das zu berücksichtigen, wenn über „die Ossis“ berichtet wird und versucht wird, die Existenz von Nazis im Osten irgendwie auf Eigenschaften von Ossis zurückzuführen.
Übrigens hat Peter Kurth, früher Berliner CDU-Senator, den Terroristen den Kauf eines Hauses finanziert. Ost-Nazis verfügen normalerweise nicht über ausreichend Mittel zum Kauf von Häusern.
Johannes Geck, Doktorand am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin, schreibt in einem Meinungsbeitrag in der taz, dass das rechtsextreme Institut für Staatspolitik ernster genommen werden sollte. Dem ist unbedingt zuzustimmen. Es gibt nur eine Kleinigkeit in seinem Beitrag, die mich extrem stört. Eigentlich sind es zwei Kleinigkeiten. Oder eine, die zweimal vorkommt.
Das Institut war eine rechtsextreme Denkfabrik, die rechtsextremen Politiker*innen der AfD zuarbeitete. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Landesverfassungsschutz Sachsen-Anhalt stuften die Gruppierung als „gesichert rechtsextrem“ und als verfassungsfeindlich ein. Es wurde 2024 aufgelöst, wohl um einem Verbot zuvorzukommen.
Geck schreibt:
In der deutschen Berichterstattung über das Umfeld des neurechten Verlegers Götz Kubitschek entsteht bisweilen der Eindruck, es handle sich um einen Kreis verwirrter Hochstapler. Zuletzt sprach etwa die Spiegel-Redakteurin Ann-Kathrin Müller schmunzelnd von „ganz viel pseudointellektuellem Gerede“, das aus dem sachsen-anhaltinischen Schnellroda zu vernehmen sei. Eine solche Verharmlosung des inzwischen formal aufgelösten Instituts für Staatspolitik verkennt jedoch dessen Bedeutung für die radikale Rechte und führt zu einer gefährlichen Unterschätzung der organisierten Gegner der liberalen Demokratie. Neben Maximilian Krah und Alice Weidel sind die Protagonisten der Wahlerfolge im Osten, Björn Höcke, Jörg Urban und Hans-Christoph Berndt, gern gesehene Gäste in der ostdeutschen „Denkfabrik“.
Johannes Geck verwendet die Wortgruppe ostdeutsche „Denkfabrik“ noch ein weiteres Mal in seinem Artikel. Es scheint ihm also wichtig zu sein, einen Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus und Ostdeutschland herzustellen. Das Fachwort dafür ist Framing und die Hebbsche Lernregel erklärt, was im Gehirn passiert: „What fires together wires together.“. Wenn Konzepte immer wieder in Beziehung zueinander gesetzt werden, reicht es irgendwann, eins der Konzept zu erwähnen. Im konkreten Fall wäre dann Ostdeutschland in den Gehirnen der Medienkonsument*innen untrennbar mit Rechtsextremismus verknüpft.
Im gesamtdeutschen Diskurs ist es bequem, das Gruselige auszulagern und zu externalisieren. Die Nazis sind ostdeutsch. Sie sind alle so geworden, weil sie zu heiß gebadet wurden (Rabe)/nebeneinander auf dem Töpfchen sitzen mussten (Pfeifer, siehe Decker, 1999)/unter den Kommunisten gelitten haben (der ganze Rest, siehe Zeitung, Fernsehen, irgendwas). Leider ist das zu kurz geschossen, denn Nazis bzw. Nazi-Wähler*innen gibt es auch in Westdeutschland (und in Frankreich, Italien, Österreich und in den USA, wo ja nun kaum die Kommunisten Schuld gewesen sein konnten). Die Gründe für entsprechendes Wahlverhalten sind oft ähnlich und solange das nicht erkannt wird, rutschen wir weiter in Richtung Faschismus.
Westdeutsche Denkfabrik und westdeutsche Nazis
Hier noch kurz die Erklärung, warum mich die Phrase ostdeutsche „Denkfabrik“ ärgert. Das Institut für Staatspolitik wurde im Mai 2000 von Götz Kubitschek, Karlheinz Weißmann und dem Rechtsanwalt Stefan Hanz gegründet. Das Institut hatte seinen Sitz am Anfang in Bad Vilbel (Hessen) und ist erst 2003 nach Schnellroda in Sachsen-Anhalt umgezogen. Die Gründer kommen aus Ravensburg (Baden-Württemberg) und Northeim (Niedersachsen). Die Herkunft von Stefan Hanz ist mir nicht bekannt, ich vermute aber, dass er ebenfalls aus dem Westen kommt. Das Staatspolitik-Institut ist also eine westdeutsche Denkfabrik, die seit 2003 im Osten angesiedelt ist.
Auch die aufgezählten Politiker*innen sind fast zur Hälfte aus dem Westen: Höcke und Weidel sind beide aus NRW.
Lilane Eierdiebe und ultimative Attributionsfehler
In der Berichterstattung über Straftaten ist darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.
Wenn über einen Eierdiebstahl berichtet wird, ist die Hautfarbe der Täter*in normalerweise irrelevant und soll nicht genannt werden. Der Grund dafür ist genau das, was ich oben ausgeführt habe: Wenn ständig von lilanen Eierdieben gesprochen wird, verfestigt sich das Bild, dass alle Menschen mit lilaner Hautfarbe Eierdiebe wären oder zum Eiderdiebstahl neigen. Es kommt dann zum ultimativen Attributionsfehler:
Erklärt man sich das Verhalten eines Menschen damit, dass er Mitglied einer sozialen Gruppe ist, spricht man seit Pettigrew (1979) vom „ultimativen Attributionsfehler“. Oft dient diese dispositionale Ursachenzuschreibung der Aufrechterhaltung von Vorurteilen („Er handelt so, weil er Ausländer ist“).
Folgt man diesen Grundsätzen (Ossis sind eine Minderheit, da es fünf mal mehr Wessis als Ossis gibt, und sie haben in der Presse keine Stimme) und bedenkt, worum es in diesem Meinungsbeitrag geht, wird klar, dass das Wort ostdeutsch in Gecks Aufsatz Fehl am Platze war. Die Lage des Instituts war für die Aussage, des Artikels irrelevant. Der Effekt des Wortes ist das Framing von Rechtsextremismus als spezifisch ostdeutsch. Ob das die Absicht Gecks war, weiß ich nicht, aber wenn einem Doktoranden in Neuerer und Neuester Geschichte das aus Versehen passieren würde, würde das auch nicht für ihn sprechen.
Schlussfolgerung
Hört bitte auf damit, Rechtsextremismus als ostdeutsches Problem zu framen. Es ist unser aller Problem. Guckt nach unten auf Eure Füße, sie stehen schon jetzt im braunen Matsch.
Ich habe vor Kurzem das Buch Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz erneut gelesen. Darin gibt es die folgende Passage:
Ein SS-Mann legt einem zweiten nahe, dass er sich schon auf eine möglichst unauffällige Existenz nach dem Krieg vorbereiten sollte. Das hat mich an meine Recherche zum SS-Personal des KZ Lichtenburg erinnert und ich habe beschlossen, auch für Buchenwald mal nachzusehen, was aus dem Personal geworden ist.
Die Struktur und die Namen der SS-Verwaltung des KZs Buchenwald habe ich von der Wikipedia-Seite Personal im KZ Buchenwald übernommen. Die Daten zum Verbleib der SS-Männer nach 1945 sind aus den einzelnen Einträgen der Personen.
Abteilung I: Kommandantur
Lagerkommandant
Karl Otto Koch, Juli 1937 bis Dezember 1941, im April 1945 in Buchenwald von der SS hingerichtet
Hermann Pister, Januar 1942 bis April 1945, zum Tode verurteilt und im Gefängnis an Herzinfrakt gestorben
Adjutanten
Hartwig Block, 1937, unbekannt
Johannes Wellershaus, 1937, unbekannt
Hans Hüttig, 1938 bis 1939, 1954 in Metz durch ein französisches Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt, lebte bis 1980 in Wachenheim an der Weinstraße, Rheinland-Pfalz
Hermann Hackmann, 1939 bis 1940, vor 1945 mehrfach zum Tode verurteilt, wegen Buchenwald zum Tode verurteilt, 1948 begnadigt in lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt, 1955 entlassen, gestorben 1994 in Uslar
Heinz Büngeler, 1941 bis 1942, 1943 in SS-Panzergrenadier-Division „Totenkopf“ in der Sovjetunion gefallen
Abteilung II: Politische Abteilung (Lager-Gestapo)
Wilhelm Frerichs, 1937 bis 1941, verbleib unbekannt, zuletzt im Sommer 1947 im Speziallager Nr. 2 Buchenwald lebend gesehen
Walter Serno, 1941 bis 1945, gestorben 1961 in Bremen
Abteilung III: Schutzhaftlagerführung
Arthur Rödl, 1937 bis 1940, Suizid im April 1945 mit Handgranate
Hermann Florstedt, 1940 bis 1942, Verbleib unklar, angeblich von SS hingerichtet, aber auch bei Schwägerin in Halle gesehen und dann untergetaucht, angeblich 1962 bei Kriminalpolizei in Mainz gearbeitet. Ermittlungen ergebnislos. Oberstaatsanwalt in Ludwigsburg sah Tod 1975 nicht als erwiesen an.
Max Schobert, 1940 bis 1942, 1942 bis 1945, 1948 nach Buchenwaldprozess hingerichtet
Jakob Weiseborn, 1937 bis 1938, 1939 Suizid wegen Unterschlagungen im KZ Buchenwald
SS-Sturmbannführer Hans Hüttig, 1938 bis 1939, 1954 in Metz durch ein französisches Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt. 1956 entlassen, gestorben 1980 in Wachenheim, Rheinland-Pfalz.
SS-Obersturmführer Erich Gust, 1942 bis 1944, Gust betrieb ab 1966 das Lokal „Heimathof“ in Melle, Niedersachsen. Dort speisten bekannte Bonner Politiker (z.B. Kai-Uwe von Hassel und Willy Brandt). Die Stasi wusste, wo Gust sich aufhielt und wollte die Politikerkontakte ausnutzen. Die westdeutsche Justiz hat ihn nie gefunden. Gust ist 1992 in Melle gestorben.
Hans Merbach, 1945, wegen Verbrechen bei Evakuierung von Buchenwald zum Tode verurteilt und 1949 hingerichtet
Abteilung III/E: Arbeitseinsatz
Philipp Grimm, 1940 bis 1942, Im Buchenwald-Prozess zum Tod verurteilt, in lebenslänglich umgewandelt, 1954 entlassen, 1984 in Bayreuth, Bayern, gestorben.
SS-Hauptsturmführer Albert Schwartz, 1942 bis 1945, Im Buchenwald-Prozess zum Tod verurteilt, zu lebenslänglich umgewandelt, 1954 entlassen, in leitender Position in der Industrie tätig,1984 in Ahrensbök, Schleswig-Holstein, gestorben.
Abteilung IV: Verwaltung (SS-Standortverwaltung)
Christian Mohr, 1937
Karl Weichseldorfer, 1937 bis 1942
SS-Sturmbannführer Otto Barnewald, 1942 bis 1945, Im Buchenwald-Prozess zum Tod verurteilt, 1948 in lebenslänglich umgewandelt, 1954 entlassen, 1973 in Rheinhausen, NRW, gestorben.
Abteilung V: Sanitätswesen (Standortarzt)
Standortarzt
SS-Obersturmbannführer Werner Kirchert, 1937 bis 1938, Inhaftiert in Eichstätt, 1953 in München zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, Geschäftsführer bei der O.W.G‑Chemie in Kiel. Gestorben 1987 in Eitorf, NRW, Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Würzburg 1995 nach dem Tod Kircherts eingestellt
Hans Schlosser, 1939
Gustav Busse, 1939 bis 1941
SS-Hauptsturmführer Waldemar Hoven, 1942 bis 1943, 1945 von SS-Richter wegen Mord zum Tod verurteilt im April 1945 aber wegen Ärztemangels entlassen. 1947 im Nünberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet.
SS-Hauptsturmführer Gerhard Schiedlausky, 1943 bis 1945, 1947 zum Tod verurteilt und gehängt.
Weitere
Lagerärzte
SS-Hauptsturmführer Heinrich Plaza, nach 1945 Arzt in Altötting, Bayern, Leiter der Pathologie in Buchenwald und beteiligt am Massenmord, wegen Multipler Sklerose Ermittlungsverfahren 1952 von der Staatsanwaltschaft Traunstein eingestellt, 1954 in Frankreich in Abwesenheit zum Tod verurteilt, 1968 in Altötting gestorben.
Erwin Ding-Schuler, Menschenversuche, 1945 Suizid in amerikanischer Haft
Erich Wagner, 1948 aus Haft entflohen, lebte unter Pseudonym sechs Jahre in Bayern, ab 1957 arbeitete er in der Praxis seiner Frau, 1958 Festnahme und Anklage, 1959 Suizid.
SS-Hauptsturmführer Hans Eisele, 1943 im Dachau-Prozess zum Tod verurteilt, Umwandlung zu lebenslänglich, 1947 erneut Todesurteil im Buchenwald-Prozess, nach Überprüfung in zehn Jahre Haft umgewandelt, 1952 entlassen. Kassenarzt in München mit Existenzaufbauhilfe. 1958 andere Anschuldigungen und Flucht nach Ägypten. Wikipedia schreibt: „Unter dem ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abdel Nasser waren seit Mitte der fünfziger Jahre deutsche und österreichische, zum großen Teil ehemals nationalsozialistische Wissenschaftler ins Land gekommen, die in militärischen Forschungseinrichtungen an der Konstruktion von Kampfflugzeugen und Mittelstreckenraketen beteiligt waren, die Nasser für den Ausbau der ägyptischen Vorrangstellung im Nahen Osten und speziell für den Kampf gegen Israel benötigte. In diesen Kreisen tauchte auch Eisele unter, nachdem ein deutsches Auslieferungsgesuch abgelehnt worden war.“ Anschlag des Mossad schug fehl. 1967 in Ägypten gestorben.
SS-Untersturmführer Werner Greunuss, zu lebenslänglicher Haft verurteilt, auf 20 Jahre reduziert, 1949 geflohen, Verbleib unklar.
Carl Eisen,
Ludwig Ehrsam,
Herbert Gräff,
Heinz Gudacker,
Aribert Heim, 1945 verhaftet, 1947 im Zuge einer Weihnachtsamnestie entlassen, Entnazifizierung, Haftbefehle, 1962 Flucht nach Ägypten, 1992 in Kairo gestorben. Der Wikipedia-Eintrag ist wild, unbedingt dort lesen.
Peter Hofer,
Konrad Köbrich,
Richard Krieger,
Viktor Lewe,
SS-Hauptsturmführer Karl-Werner Maaßen „Nach Kriegsende betrieb er eine Arztpraxis in Kiel.“
Walter Pongs, ab 1945 betrieb er eine Zahnarztpraxis in Wiesbaden, Hessen.
Paul Reutter
SS-Sanitätsdienstgrade
SS-Untersturmführer Friedrich Karl Wilhelm, 1947 im Buchenwald-Prozess verurteilt, 1948 hingerichtet.
Wachkompanie KZ Buchenwald
Paul Kröger
Arnold Büscher
Otto Förschner, 1942 bis 1943, 1945 im Dachauer Prozess zum Tod verurteilt und 1946 gehängt
SS-Obersturmführer Guido Reimer, 1943 bis 1944, 1947 zum Tod verurteilt, zu lebenslänglicher Haft begnadigt, 1952 entlassen, Verbleib unbekannt
Offizier der Wehrmacht ab 1944
Zusammenfassung
Wie auch beim Personal von Lichtenburg gab es unter den Buchenwald-Nazis keinen einzigen, der in den Osten gegangen ist. Die SS-Männer sind alle hingerichtet worden, nach Ägypten geflohen oder nach Begnadigung (im Westen) und Entlassung im Westen geblieben. Es gibt einige, die geflohen sind und andere, bei denen der Verbleib unklar ist. Aber es steht zu vermuten, dass keiner von ihnen an die schöne Oder gezogen ist. Die Buchenwald-SS war auch an der systematischen Ermordung von Sowjet-Bürgern beteiligt und so ist es nicht verwunderlich, dass sie nicht in die SBZ bzw. die DDR zurück wollten.
Das sollte man bedenken, wenn man diese Behauptungen hört, dass es in der DDR auch Nazis gegeben habe. Ja, hat es, immerhin gingen die Mitgliedsnummern der NSDAP bis 10 Millionen. Aber die Frage ist natürlich, was für Nazis, in welchen Organisationen sie wie mitgearbeitet haben, welche Dienstgrade sie hatten, wenn es militärische Organisationen waren, und was aus ihnen dann später in der DDR im Vergleich zur BRD geworden ist.
Und eine HIAG gab es in der DDR nicht.
Nachtrag
03.11.2024: Mithilfe von Leide (2011) habe ich einen KZ-Arzt gefunden, der in den Osten gegangen ist: Horst Fischer
Als KZ-Arzt im KZ Auschwitz III Monowitz und Stellvertretender Lagerarzt im gesamten Konzentrationslager Auschwitz war er von 1942 bis 1945 an Morden von Gefangenen in tausendfacher Zahl beteiligt.
Er hat bis 1964 unentdeckt als Landarzt in Brandenburg praktiziert.
Quellen
Leide, Henry. 2011. NS-Verbrecher und Staatssicherheit: Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR (Analysen Und Dokumente: Wissenschaftliche Reihe Der Bundesbeauftragten Für Die Unterlagen Des Staatssicherheitsdienstes Der Ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) 28). 2nd edn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Ein Mastodon-User hat mich um meine Meinung zu einem Post von Marius Sixtus gebeten.
Im Post schreibt Sixstus:
Die Ost-CDU ist eine Blockpartei, die für Mauer und Schießbefehl der DDR historisch mitverantwortlich ist. Es gab keine Aufarbeitung, keinen personellen Bruch, und es gab nie eine Entschuldigung. Das nur, falls sich jemand fragt, woher diese moralische Verrohtheit rührt.
Ich habe darauf in zwei Tröts geantwortet. Hier kommt alles noch einmal etwas sortierter und verlinkt.
Alexander Räuscher war zur Wende 19, ist also wohl eher kein Gewächs einer Blockpartei. Die Blockparteien hatten im Osten nur eine Alibifunktion. Niemand hat die ernstgenommen. Wenn man irgendwie behauptet, dass die CDU mitschuldig am Schießbefehl sei, dann muss man merkwürdige Vorstellungen davon haben, was die Volkskammer war und was für Entscheidungsmacht, die Delegierten dort hatten. Hier die Zusammenfassung aus Wikipedia:
Nach dem Verständnis der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED war die Volkskammer kein Parlament im bürgerlichen Sinne einer repräsentativen Demokratie, sondern sollte eine Volksvertretung neuen Typs darstellen. Sie sollte den postulierten Ansprüchen nach die im bürgerlichen Parlamentarismus nicht gegebene Einheit zwischen politischer Führung und Bevölkerung herstellen und Parteienegoismus, Parteinahme für das Kapital, persönliche Bereicherungssucht und Selbstblockade durch Gewaltenteilung ausschließen.
Die Volkskammer war also ein Winke-Winke-Gremium. Nicht im Sinne der Teletubbies, sondern im Sinne des Durchwinkens von Beschlüssen. Die einzige Ausnahme war die Änderung des Gesetzes zur Abtreibung im Jahre 1972. Und da spielte sogar die CDU eine Rolle:
Die einzige Abstimmung der Volkskammer, in der Konflikte öffentlich bekannt wurden, war im März 1972 die Abstimmung über das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft zur Einführung der Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbrüchen, bei der 14 Abgeordnete der CDU nach Absprache mit ihrer Parteiführung gegen das Gesetz stimmten. Diese Gegenstimmen und einige Enthaltungen blieben jedoch ohne Wirkung auf den Gesetzgebungsprozess zur Fristenlösung, erhöhten auf der anderen Seite aber die Legitimation der Volkskammer, da in diesem Fall in der Öffentlichkeit der Eindruck eines echten, streitenden Gremiums entstand.
Faktisch war die Volkskammer weitgehend ohne Einfluss auf das politische Geschehen, denn der seit 1968 in der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik auch offiziell verankerte Führungsanspruch der SED verhinderte von Beginn an eine echte politische Einflussnahme des Parlaments.
Was ich bisher selbst nicht wusste (Es war ja letztendlich auch egal.), war dass die SED als Block nicht die absolute Mehrheit hatte. Diese wurde aber durch SED-Mitglieder in anderen Blöcken gesichert, denn die Massenorganisationen waren ebenfalls als solche in der Volkskammer vertreten. Das waren die Urlaubsorganisierorganisation Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB), der Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD), die Freie Deutsche Jugend (FDJ), und der Kulturbund. Wenn also Sixtus’ Behauptung, die CDU sei an der Mauer und am Schießbefehl mitschuldig, irgendeine argumentative Kraft haben würde, müsste man genauso sagen können, dass der FDGB, der Frauenbund und der Kulturbund an Mauer und am Schießbefehl mitschuldig gewesen seien. Letztendlich waren sie systemtragend und erhaltend, insofern ist da ein Quäntchen Wahrheit dran, aber es gibt in diesem kurzen Post von Sixtus auch noch ein ganz anderes Problem. Es gab nämlich in der DDR keinen Schießbefehl, der irgendwie von der Volkskammer beschlossen worden wäre. Der Umgang mit der Schusswaffe war ab 1982 gesetzlich geregelt. Interessanterweise war das Gesetz aber genauso formuliert, wie das West-Gegenstück:
Im Wortlaut stimmten Vorschriften der DDR, soweit sie den Schusswaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze regelten, weitgehend mit den Vorschriften der Bundesrepublik in §§ 10–13 UZwG und §§ 15–17 UZwGBw überein.[30] Die weitgehende Anlehnung in der Formulierung war bewusst gewählt, um die DDR aus der Kritik zu bringen und die weiterhin unverändert geübte rechtswidrige Staatspraxis zu verschleiern.[31]
Das bedeutet also, dass weder die CDU noch der Kulturbund für die Mauertoten verantwortlich gemacht werden können, denn sie haben – Winke-Winke – ein Gesetz verabschiedet, das genau dem West-Gegenstück entsprach. Es gibt Dokumente, die Stasi-interne Anweisungen zum Schießen an der Grenze belegen (Zeit, 13.08.2007) und auch Aussagen von Honecker im Nationalen Verteidigungsrat von 1974 (mdr, 13.08.2023). Nur war der Nationale Verteidigungsrat per Gesetz nur mit SED-Mitgliedern und Angehörigen der bewaffneten Organe besetzt. Die CDU hatte damit also nichts zu tun.
Ein wichtiger Punkt noch: Liebe Wessis, Ihr könnt nicht einerseits behaupten, dass wir in einer Diktatur gelebt haben (Diktatur des Proletariats war die Eigenbezeichnung der SED) und andererseits den Scheinparteien, die da irgendwie mitgespielt haben, irgendeine Verantwortung zuweisen. Also eine Verantwortung, die über das Mitspielen im Allgemeinen hinausgeht. Ich würde als Ossi nie im Leben darauf kommen, von der Ost-CDU eine Aufarbeitung zu verlangen oder eine Entschuldigung. Diese Parteien waren zu DDR-Zeiten einfach absolut bedeutungslos und haben nach der Wende den Anschluss vollzogen.
Sixstus’ Post unterstellt ja irgendwie, dass die Ost-CDUler das Schießen an der Mauer gut gefunden hätten. Das war vermutlich nicht der Fall. Ich kenne nur zwei CDUler persönlich. Einer war mein Chef. Er ist in die Ost-CDU eingetreten, weil die SED ihn immer gefragt hat, ob er Mitglied werden wolle. Nachdem er in die CDU eingetreten war, war er ja in einer anderen Partei und hatte dann seine Ruhe. Ein Bekannter von mir war Christ und wollte den Sozialismus aufbauen. Er war in der CDU, aber ganz sicher gegen Schüsse an der Grenze. Diese Generation wollte noch die Wiedervereinigung.
Die Verantwortlichen und die Täter
Also: Stasi und Nationaler Verteidigungsrat. Die Befehle wurden innerhalb der bewaffneten Organe weitergegeben. Egon Krenz (SED) ist verurteilt worden und einige der Schützen.
94% der Offiziere der NVA waren in der SED. Verantwortlich für die Mauertoten sind neben der Staatsführung Offiziere der Grenztruppen. CDUler sind wahrscheinlich nicht zu den Grenztruppen gegangen. Zumindest zu meiner Zeit musste man das nicht und wenn man bei der Musterung bei der Erwähnung der Grenztruppen nicht in Begeisterung ausgebrochen ist, kam man da auch nicht hin. Der Staat war Christen gegenüber generell misstrauisch.
Die Ost-CDU
Sixstus sagt, dass es keinen personellen Bruch gegeben habe. Sicher gibt es in der CDU Menschen, die auch vor der Wende in der CDU waren. Ich würde gern mehr darüber erfahren, welche Ansichten sie damals vertreten haben, welche Rolle sie damals gespielt haben und welche Funktionen sie jetzt in der Partei spielen. Reiner Haseloff ist seit 1976 in der Ost-CDU. Aber die Ost-CDU war vor der Wende bedeutungslos. Es dürften nach der Wende viel, viel mehr Engagierte und Karrieristen in die CDU eingetreten sein, als vorher schon dabei waren. Zum Beispiel Angela Merkel (vorher Agitatorin in der FDJ) und Vera Lengsfeld (aus SED ausgeschlossen, Bürgerrechtlerin). Vielleicht gab es lokal Einflüsse von Einzelnen, aber es lässt sich wohl nicht leugnen, dass Angela Merkel die CDU in Ost und West zum Guten beeinflusst hat. Sie hat die CDU in die Mitte manövriert (vor ihr und nach ihr gab es Merz) und weniger rassistisch gemacht.
Auf die Schnelle konnte ich Folgendes herausfinden: Werner Münch (1991–1993), Thomas Webel (2004–2018), Holger Stahlknecht (2018–2020) waren Parteivorsitzende. Die Genannten sind allesamt aus dem Westen (Wikipedia CDU Sachsen-Anhalt#Personen). Joachim Auer (1990–1991) war Fraktionsvorsitzender und aus dem Westen. Das bedeutet insbesondere, dass 1991 sowohl Partei- als auch Fraktionsvorsitz in West-Hand waren. Von Kontinuität kann man wohl kaum sprechen. Die CDU war eine West-Partei geworden.
Gerd Gies (1990–1991 Parteivositzender) war seit 1976 in der CDU und in der Tat systemtreu. Karl-Heinz Daehre war von 1993–1998 Parteivorsitzender. Er ist aus Langenweddingen, aber erst 1990 in die CDU eingetreten. Wolfgang Böhmer ist aus Dürrhennersdorf bei Görlitz. Wikipedia schreibt: „In der DDR engagierte sich Böhmer in evangelischen Kirchenkreisen und wurde 1990 Mitglied der CDU der DDR. Von 1998 bis 2004 war er Landesvorsitzender der CDU Sachsen-Anhalt.“ Das bedeutet, dass Böhmer vorher in der Opposition war. Von 2002 bis 2011 war er außerdem Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt. Heike Brehmer trat 1989 in die CDU ein. André Schröder trat 1996 in die CDU ein. Marco Tullner trat 1996 in die CDU ein. Sven Schulze war zur Wende 10 Jahre alt. Er war mit 19 Gemeinderat. Das war 1998 und wahrscheinlich war er da schon in der CDU.
Christoph Bergner (1991–1993, 1994–2001 Fraktionsvorsitzender) ist seit 1976 Mitglied der Ost-CDU. Auch wie Gies systemtreu? Ungebrochene Kontinuität der Blockflöten? Hat Sixtus Recht? Nö. Denn Bergner war von September 1989 bis Januar 1990 im Neuen Forum in Halle (Saale). Das heißt er war in der Opposition und hat aktiv gegen die DDR-Regierung gekämpft. Jürgen Scharf (1993–1994, 2002–2011 Fraktionsvorsitzender) war seit 1976 in der CDU. Zu seinen Einstellungen während der DDR-Zeit steht nichts in Wikipedia. 2001–2002 war Wolfgang Böhmer Fraktionsvorsitzender, den ich oben schon besprochen habe. Er war Oppositioneller. Reiner Haseloff war 2011 Fraktionsvorsitzender. Er war seit 1976 in der CDU. Über seine Aktivitäten zu DDR-Zeiten steht nichts in Wikipedia. Andre Schröder (2011–2016) kam oben ebenfalls schon mal vor. Er ist erst 1996 in die CDU eingetreten. Siegfried Borgwardt (2016–2022) war ab 1979 in der CDU. Ab 1983 war er Regionalgeschäftsführer und Beisitzer in einem Kreisvorstand. Guido Heuer (seit 2022) ist 2009 in die CDU eingetreten.
Das heißt, dass die Liste der Parteivorsitzenden und der Fraktionsvorsitzenden mit Gies, Bergner, Scharf, Haseloff und Borgwardt fünf Ost-CDUler enthält. Davon war nur Gies erwiesenermaßen systemtreu. Borgwardt hatte eine niedrige Funktion innerhalb der Partei inne. Bergner war in der Opposition und von Haselhoff und Scharf weiß man nicht, was sie gemacht haben, außer Mitglied zu sein. CDU-Mitglied gewesen zu sein, war an sich noch nichts Verwerfliches. Vier Personen sind aus dem Westen, fünf erst nach der Wende eingetreten.
Jetzt da irgendwie eine Kontinuität ableiten zu wollen, ist an den Haaren herbeigezogen. Noch dazu, wo ja das, wozu die Kontinuität bestehen soll (Mitwirkung an Mauer und Schießbefehl), überhaupt nicht existiert.
Ich möchte hier nur noch schnell anmerken, dass ich kein CDU-Fan-Boy bin. Mir kommt es sehr komisch vor, dass ich hier quasi die CDU verteidige. Ich lehne die CDU in all ihren Formen und Varianten ab. 2021 bin ich deshalb gegen den Stefan Müller aus Erlangen angetreten. Leider hat er doch wieder gewonnen, aber wir hatten definitiv mehr Spaß als er.
2011hat Horst Seehofer, damals Bayrischer Ministerpräsident und später dann Bundesinnenminister, davon gesprochen, dass die Regierung sich bis zur letzten Patrone gegen Einwanderung (in die deutschen Sozialsysteme) wehren werde:
Horst Seehofer sollte es besser wissen. Vor vier Jahren handelte sich der CSU-Chef eine Anzeige wegen Volksverhetzung ein. Auch damals ging es um Migranten. „Bis zur letzten Patrone“ werde die Regierung sich gegen eine massenhafte Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme wehren, sagte der Bayer beim politischen Aschermittwoch am 9. März 2011. Auf den Tag genau 66 Jahre, nachdem Hitlers Generäle in Berlin mit genau dieser martialischen Wortwahl befahlen, die Reichshauptstadt „bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone“ zu verteidigen.
Inzwischen ist das Ausbau der Festung Europa weit fortgeschritten und Von der Leyen kuschelt mit der italienischen Postfaschistin Meloni.
Vor dem Hintergrund des Schießbefehls an der Mauer muss man sich die aktuellen Bemerkungen und die aktuelle Politik von CDU-Größen noch mal genau angucken. 1) Im Osten hat nie jemand öffentlich damit geprahlt, dass er Menschen an der Grenze erschießen will. Schon gar nicht CDU-Mitglieder. 2) Und jetzt muss ich Euch leider wehtun: Die Situation an der Grenze zwischen DDR und BRD ist leider mit der an den EU-Außengrenzen vergleichbar. Menschen fliehen, weil sie entweder politisch verfolgt werden oder weil es für sie ökonomisch in ihren Herkunftsländern keine Perspektiven mehr gibt. Das liegt zum Teil auch an der von uns im Norden verursachten Klimakatastrophe. Es handelt sich um so genannte Wirtschaftsflüchtlinge, denn die Klimakatastrophe ist kein anerkannter Fluchtgrund. Wirtschaftsflüchtlinge gab es auch bei DDR-BRD-Fluchten, nur dass es da um Farbfernseher und Videorecorder ging, während die Flüchtlinge aus dem Süden zum Teil aus Regionen kommen, die wegen der Erderhitzung unbewohnbar geworden sind. Beide Menschengruppen riskier(t)en ihr Leben, um in ein anderes Land zu kommen. An der DDR-BRD-Grenze sind von 1961–1989 327 Menschen gestorben, Grenzer eingeschlossen. Im Mittelmeer sind in den letzten zehn Jahren über 30.000 Menschen ertrunken (statista 2024). Das heißt 100 Mal so viele Menschen. Außerdem sterben schon jetzt Menschen bei Versuchen, die Grenzanlagen zu überwinden (23 Tote bei Versuch, Grenzanlagen bei Melilla zu überwinden, tagesschau. 29.06.2022).
Dass „wir“ die Tode von DDR-Flüchtlingen schlimmer finden als die an den europäischen Außengrenzen, ist Rassismus und Nationalismus.
Die DDR konnte ohne die Mauer nicht existieren. Die Menschen verließen einfach das Land. Gut ausgebildete Ärzt*innen und Ingenieur*innen. Auch mit Mauer gab es eine kontinuierliche Abwanderung. Ähnlich, mit anderem Vorzeichen, ist es jetzt an den EU-Grenzen. Menschen versuchen in Länder zu gelangen, in denen sie freier, ökonomisch besser oder einfach auch nur überhaupt leben können. Wenn „wir“ nicht bereit sind, mit ihnen zu teilen, müssen „wir“ sie erschießen.
Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem wir entscheiden müssen: Verrohung oder etwas von unserem Wohlstand bzw. dem unserer Milliardäre abgeben (durch Aufnahme von Flüchtlingen oder Finanzierung des Südens, zum Beispiel Schuldenerlass). Zur Zeit sieht es nach allgemeiner Verrohung aus. AfD, CDU/CSU und BSW arbeiten an der Festung Europa und SPD, FDP und Grüne helfen irgendwie mit. Einzig die sich in Selbstauflösung befindliche Linke hatte andere Vorstellungen und setzte die Seenotretterin Carola Rackete auf Platz 1 der Liste für die EU-Wahlen.
Das ist irgendwie interessant, wenn man darüber nachdenkt, wo die Wurzeln der Linken liegen, denn die haben ja das Vermögen der Mauer-Partei übernommen. Deprimierend an der Situation ist noch ein weiterer Punkt: 1961 hat eine Minderheit für den Rest der DDR den Mauerbau beschlossen, die Freiheit eines Volkes eingeschränkt und somit viele Tote auf dem Gewissen. Heute sind es demokratisch legitimierte Regierungen, die für Mehrheiten stehen, die für ein Vielfaches an Toten verantwortlich sind. Wir alle sind dafür verantwortlich und wir können nicht auf die SED oder irgendwen zeigen.
Ultimativer Attributionsfehler
Mario Sixtus unterläuft nicht zum ersten Mal ein Attributionsfehler. Er erklärt das Verhalten einer Person mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe:
Erklärt man sich das Verhalten eines Menschen damit, dass er Mitglied einer sozialen Gruppe ist, spricht man seit Pettigrew (1979) vom „ultimativen Attributionsfehler“. Oft dient diese dispositionale Ursachenzuschreibung der Aufrechterhaltung von Vorurteilen („Er handelt so, weil er Ausländer ist“).
Ich habe nach weiterem Nachdenken noch einen Tröt nachgeschoben: Letztendlich läuft der Beitrag von Sixtus nach dem alten Muster:
Ossi ist komisch.
Eigenschaft von Ossi wird pauschalisiert und mit irgendwas aus der Ost-Biografie zu erklären versucht.
Ich vermute, dass es im Westen fünfmal mehr schreckliche Menschen gibt als im Osten. Die Vermutung ist darauf begründet, dass die Bevölkerungszahl fünfmal so hoch ist.
Man stelle sich vor, ich würde immer, wenn sich einer schräg benimmt, das auf irgendeine Gruppenzugehörigkeit beziehen. In meinem Tröt habe ich Gauland als Beispiel gewählt. Gauland ist Mitgründer und Ehrenvorsitzender einer Nazipartei. Er war vorher in der (West-)CDU. Als CDU-Mitglied arbeitete er im Magistrat von Frankfurt/M. und im Bundesumweltministerium. Er leitete von 1987 bis 1991 die Hessische Staatskanzlei. Ich behaupte jetzt, dass der Gauland so komisch ist, weil er eben aus dieser West-CDU kommt, die alle Nazis sind, weil es im Westen zwar 1968 gab, aber das waren nur so ein paar links-grüne Hippie-Studenten, die Probleme mit ihren autoritären Eltern hatten. Die CDU-Familien sind einfach weiter Nazis geblieben. Wäre das eine gute Argumentation? Nö, irgendwie nicht, oder? Bisschen platt und pauschal, oder? Immerhin faktisch richtig, was Gauland angeht. Aber genauso platt sind die meisten Argumentationen gegen Ostler. Nur dann eben auch noch knapp an den historischen Fakten vorbei.
Das Beispiel, das ein Follower auf Mastodon gefunden hat, ist noch besser geeignet: Der ehemalige Kölner CDU-Bezirkspolitiker Hans-Josef Bähner hat drei Menschen rassistisch beleidigt und dann beschossen. „Das Projektil bohrte sich durch den rechten Oberarm und trat an der Schulter wieder aus.“ (Spiegel, 10.01.2022) Der Rassist und Fast-Mörder wurde zu zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Was nun? Wie wäre es, wenn ich schriebe:
Diese Tat ist das Ergebnis der Erziehung in einer rassistischen kalten Ellenbogengesellschaft, wie wir sie in den vergangenen 75 Jahren in der BRD beobachten konnten.
Oder: Hans-Josef Bähner war wahrscheinlich das Kind einer frustrierten Hausfrau. Er ist ohne Liebe aufgewachsen, weil seine Mutter sich beruflich nicht verwirklichen konnte. Das ist das Ergebnis einer durch und durch sexistischen und patriarchalischen Gesellschaft.
Oder: Hans-Josef Bähner ist ein Rassist, weil dieser Rassismus fest in der BRD verankert ist. Er kommt aus Nazi-Deutschland und wurde von Generation zu Generation weitergegeben.
Oder: Hans-Josef Bähner ist ein Rassist und Fast-Mörder. Um das zu verstehen, muss man sich nur ansehen, wo er herkommt. Er kommt aus Köln. Dort sind alle Rassisten und Nazis, also jedenfalls viele. Die tun immer so fröhlich, aber in Wirklichkeit sind sie alle Nachfolger von Faschisten, Menschen die Rassengesetze und Eugenik gut fanden und sich nie wirklich davon losgesagt haben.
Geht nicht? Warum nicht? Genau das ist es, was seit 35 Jahren mit Ossis gemacht wird. Sie sind angeblich komisch, weil sie gemeinsam auf dem Töpfchen saßen oder weil sie ihre Mutter zu heiß gebadet habe (Anne Rabe). Das wird permanent in allen Medien hoch und runtergetrötet. Und dann wundert sich jemand über das Ergebnis.
Was ist eigentlich passiert?
Aber dieser Ossi, der Alexander Räuscher, ist wirklich komisch. Er postet ein Foto mit Patronenhülsen als Mittel gegen Kopfschmerzen!?!
Christian Franke-Langmach postet diesen Tweet über seine Empfindungen beim Lesen von Tweets von Alexander Räuscher:
Alexander Räuscher gab ihm folgende Hinweise auf Mittel, die Schmerzen zu beenden.
Patronen! Nein! Also wirklich! Dafür muss es doch eine Erklärung geben!
Räuscher war zur Wende 19. Seit dem sind 35 Jahre vergangen. Das heißt, er hat zwei Drittel seines Lebens in diesem Land verbracht, in dem wir nun alle gemeinsam leben. Vielleicht ist er so, wie er ist, weil dieses Land so ist, wie es ist. Die beste Erklärung für sein Verhalten liefert der Betroffene selbst:
Franke-Langmach sagte der MZ, er fühle sich durch das Patronenfoto zwar nicht bedroht. „Aber ich finde es einfach dumm, so ein Foto zu posten. Er präsentiert sich, wie er ist. Das ist ein Hilferuf nach Aufmerksamkeit, weil ihn niemand ernstnimmt.“
Jemand wollte auf Social Media Aufmerksamkeit. Das ist eine einfache Erklärung, die ganz ohne Schießbefehl auskommt. Knallt halt nicht so schön. Auf Social Media.
West-Block und Ost-Blog
Mein zweiter Post (der Gauland-Vergleich) brachte mir dann die Blockierung ein:
Und so bleibt ein Account mit 31.000 Followern, der ungestört das Verhalten von CDU-Wirrköpfen mit Ereignissen und Traditionen von vor 35 Jahren zu erklären versucht. Ein Mensch, der Jagdschütze ist, wird in Zusammenhang mit dem Schießbefehl an der Mauer gebracht, für den weder er noch irgendwer anders aus seiner Partei irgendwie verantwortlich ist.
Ich kann wenigstens hier im Ost-Blog und auf Mastodon darauf hinweisen. Viele Menschen im Osten haben diese Möglichkeit nicht. Sie sind einfach nur frustriert. Sie haben es einfach so satt. Denn es ist nicht nur Mario Sixtus, der seinen 31.000 followern so etwas eintrötet, Ähnliches findet man auch in vielen westdeutschen Medien. Ostdeutsche Medien mit entsprechender Reichweite gibt es kaum noch.
Das Ergebnis sind dann die Wahlerfolge von AfD und BSW im Osten. Der maximale Stinkefinger. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, wo einzelne Bundesländer nicht mehr regierbar sind. Spätestens jetzt sollte man als Linke*r oder als Politiker*in seine Kommunikationsstrategie mal überdenken.
Danksagung
Dieser Post ist wieder mit Mithilfe meiner Mastodon-Freunde entstanden. Besonders die Hinweise auf Horst Seehofer, der bis zur letzten Patrone gegen Migrant*innen kämpfen will, und auf Hans-Josef Bähner, der wirklich auf Menschen mit Migrationshintergrund geschossen hat, waren wichtig. Danke Peer und Echo Zebra.
In den letzten Jahren gibt es mit dem Erstarken der AfD wieder eine größere Debatte zu Nazis in der DDR. Es wird immer wieder die offizielle Geschichte des nazifreien Landes zitiert. Dass die DDR nazifrei war ist sicher nicht richtig, aber dass die Nazi-Dichte geringer war und dass sie eben nicht – im Unterschied zu Nazi-Größen wie Hans Globke und Hans Filbinger – in Führungspositionen waren ist und bleibt wahr. Im Wikipdeia-Artikel zu Rechtsextremismus in der DDR werden drei Personen exemplarisch genannt: Arno von Lenski, Franz Fühmann oder Erhard Mauersberger. Personen wie Arno von Lenski habe ich schon in einem früheren Post besprochen. Lenski war in Stalingrad in sowjetische Gefangenschaft geraten und hat dann die Seiten gewechselt:
Wikipedia-Eintrag von Lenski, abgerufen 22.06.2024
Franz Fühmann war ebenfalls auf einer Antifa-Schule und hat dann als Assistenzlehrer an Antifa-Schulen gelehrt. Wenn wir über Faschismus und Faschisten reden, dann nicht über solche, die zu Antifaschist*innen wurden, sondern solche, die unbehelligt ihr Leben führen konnten und es zum Teil noch führen. Solche wie Karl M.:
Interessant ist, dass das Institut seine Mitarbeiter veröffentlicht hat, so dass man jetzt untersuchen kann, was aus den Nazis und Antisemiten, die bis 1945 im Osten gelebt haben, geworden ist. Wikipedia hat eine lange Liste mit Namen, von denen viele verlinkt sind. Um zu zeigen, dass nach dem Krieg weniger Nazis im Osten waren, muss man nur die Ost-Nazis anschauen und untersuchen, wie viele von ihnen in den Westen gegangen sind, denn es wird wohl kaum ein West-Nazi sein Leben aufgegeben haben, um zu den Russen in den Osten zu ziehen. (Das setzt natürlich eine Gleichverteilung von Nazis in Ost und West direkt nach dem Krieg voraus.)
Die Wikipedia-Seite listet die Mitarbeiter in drei Rubriken:
Mitarbeiter in kirchenleitender Funktion
Geistliche bzw. Pfarrer
Hochschullehrer bzw. Akademiker
Im folgenden sortiere ich die Listen nach Sterbe- oder Wohnort nach 1945 in West, Ost, unbekannt/irrelevant. Irrelevant ist der Sterbeort zum Beispiel bei Personen, die in Kriegsgefangenschaft gestorben sind. Irrelevant sind auch diejenigen, die schon vor Kriegsende im Westen waren.
In kirchenleitender Funktion
In den Westen gegangen
Bischof Friedrich Peter, Berlin, gestorben 1960, Gronau, NRW „Obgleich Peter 1948 aus dem Pfarramt entlassen wurde, blieben ihm die geistlichen Rechte erhalten. So erhielt er Beschäftigungsaufträge in der Evangelischen Kirche von Westfalen, zunächst in Oeding und seit 1953 in Gronau (Westf.).“
Landesbischof Walther Schultz, Schwerin, gestorben 1957 in Schnackenburg, Niedersachsen „Nach Kriegsende wurde Schultz, zusammen mit Konsistorialpräsident Hermann Schmidt zur Nedden, am 25. Juni 1945 von der britischen Besatzungsmacht verhaftet und interniert. Zwei Tage später legte er sein Amt nieder. Im Jahre 1948 wurde er aus dem Dienst der Landeskirche Mecklenburgs entlassen. Im Jahre 1950 wurde Schultz mit der pfarramtlichen Hilfeleistung in der St.-Dionysius-Kirchengemeinde Fallingbostel in der Lüneburger Heide beauftragt. Als für diese Aufgabe dort eine neue Pfarrstelle errichtet wurde, musste Schultz die Gemeinde verlassen und übernahm in Schnackenburg an der Elbe ein Gemeindepfarramt, das er bis zu seinem Tode innehatte.“
Oberkonsistorialrat Theodor Ellwein, Berlin, gestorben 1962 München „Nach der Entlassung im Dezember 1949 wurde er 1950 von kirchlicher Seite in den Ruhestand versetzt. Im Jahre 1951 wurde er Religionslehrer am Gymnasium Pasing und Lehrbeauftragter an der Lehrerbildungsanstalt München-Pasing. Von 1954 bis 1961 war er Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle der Evangelischen Akademie Bad Boll bei Göppingen. 1955 war er Mitglied der Studienkommission für Lehrerbildung („Tutzinger Empfehlungen“) in der Evangelischen Akademie Tutzing. 1961 trat er in den Ruhestand.“
Oberkonsistorialrat Hans Hohlwein, Eisenach, gestorben 1996 in Solingen „Nach 1945 wirkte Hohlwein als theologischer Hilfsarbeiter in der Propstei Halberstadt, und von 1947 bis 1951 verwaltete er die Pfarrstelle Heudeber in der Kirchenprovinz Sachsen. Im Jahre 1951 erfolgte seine Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland.“
Kirchenrat Wilhelm Bauer, Eisenach, gestorben 1969 in Bayern „In dem von ihm 1935 herausgegebenen Buch „Feierstunden Deutscher Christen“ kamen neben Bibelzitaten auch Autoren wie Adolf Hitler zu Wort. Zugleich betätigte er sich als Schriftleiter der Zeitschrift „Deutsche Frömmigkeit“, in der die Positionen der Deutschen Christen vertreten wurden. In einer ihrer Ausgaben bekundete er: „Wir sind Nationalsozialisten. Der Nationalsozialismus bedeutet uns die Wiederaufrichtung einer wahrhaften Volksordnung auf dem Grunde der ewigen Gesetze unseres Blutes und unserer Heimaterde.“ Im Jahre 1939 erklärte er seine Mitarbeit am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. Zu Beginn der 1940er Jahre wurde er stellvertretender Studienleiter des Thüringer Predigerseminars. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus lebte Bauer in der Bundesrepublik Deutschland, publizierte dort weiter und starb in einem Ort des Freistaats Bayern.“
Landessuperintendent Friedrich Kentmann, Güstrow, gestorben 1953 in Hamburg „Nach dem Ende von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg 1945 wurde er seines Amtes als Landessuperintendent enthoben und vom pfarramtlichen Dienst suspendiert. Sein Nachfolger als Landessuperintendent wurde mit Wirkung vom 1. Oktober 1945 der Güstrower BK-Pastor Sibrand Siegert (1890–1954). 1950 erfolgte die Entlassung Kentmanns aus dem Dienst der mecklenburgischen Landeskirche.“
Superintendent Gerhard Spangenberg, Altenweddingen, gestorben 1975 in Dülmen, NRW „Bis zum Antritt der Pfarrstelle im westfälischen Dülmen, wo er bis zu seinem Tod lebte, arbeitete er als Verwalter einer Obstfirma und später als Krankenhausverwalter. Die Kirchenleitungen verlangten zur Wiederaufnahme in den Dienst zunächst die Wiederholung des Ordinationsgelübdes, ein Kolloquium und die zeitweilige Tätigkeit als Hilfsprediger, was er ablehnte. Dennoch stimmte 1955 die Kirchenleitung in Bielefeld seiner Wahl zum Pfarrer der Gemeinde in Dülmen zu, wo er nach seinem Ruhestand auch als Militärpfarrer wirkte.“
Im Osten geblieben
Reichsvikar Fritz Engelke, Schwerin, gestorben 1956 in Schwerin „Nach 1945 wirkte er als Pastor der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs in Schwerin. Ab 1950 vertrat er den im Gulag Workuta inhaftierten Aurel von Jüchen an der Kirche St. Nikolai (Schelfkirche) Schwerin.
Oberlandeskirchenrat Willy Kretzschmar, Dresden, gestorben 1962 in Dresden „Nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 erfolgte zunächst seine Entlassung aus dem aktiven Kirchendienst. 1946 stellte er den erfolgreichen Antrag auf Rehabilitierung, in dem er seine Mitarbeit im „Entjudungsinstitut“ in Eisenach extrem herunterspielte. In seinem Rehabiltierungsantrag an das sächsische Landeskirchenamt in Dresden stellte er sich selbst „als Verführten der NSDAP“ dar. Spätestens seit 1939 habe er sich „zu aktiven Gegner des NS-Regimes gewandelt“ und sich antinationalistisch und parteischädlich verhalten sowie Grundsätze der NSDAP bekämpft. 1959 ging Kretzschmar als kirchlicher Finanzverwalter der Landeskirche Sachsens in den Ruhestand.“
Oberlandeskirchenrat Heinrich Seck, Dresden, gestorben 1947 in Stadt Wehlen „In dieser Eigenschaft und als Mitglied der Deutschen Christen war er Mitarbeiter am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben und wurde deshalb nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 aus dem aktiven Kirchendienst entlassen. Er zog in die Sächsische Schweiz, wo er im Alter von 51 Jahren in Stadt Wehlen starb.“
Oberkirchenrat Friedrich Buschtöns, Berlin, gestorben 1962 in Berlin „1945 übernahm er die Aufsicht über die kirchlichen Vermögenswerte im Schloss Ilsenburg und wenig später über das kirchliche Flüchtlingslager in Stolberg. 1946 wurde Buschtöns in den Ruhestand versetzt. Er hat aber auch danach noch pfarramtliche Dienste geleistet, so etwa in Kleinmachnow. 1955 gehörte er zum Herausgeber- und Redaktionskreis der vom ZK der SED angeregten Zeitschrift Glaube und Gewissen: eine protestantische Monatsschrift.“
Kirchenrat Erhard Mauersberger, Eisenach, gestorben 1982 Leipzig, Chorleiter, Leiter Bach-Komitee, 1972 bei politischer Säuberung aus Chorleitung entfernt.
Unbekannt / irrelevant
Landesbischof Martin Sasse, Eisenach, gestorben 1942 an Schlaganfall
Kirchenregierungsrat Erwin Brauer, Eisenach, gestorben 1946 Buchenwald „Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus verlor er seine Ämter und wurde von den sowjetischen Militärbehörden im Speziallager Nr. 2 in Buchenwald interniert, wo er am 19. Dezember 1946 verstarb.“
Zwischenfazit: Von den Nazi-Christen mit kirchlicher Funktion im Osten sind 7 in den Westen gegangen und 5 im Osten geblieben. Das bedeutet erstens, dass die Mehrheit in den Westen gegangen ist und zweitens, dass es im Osten sieben Nazis weniger und im Westen sieben Nazis mehr gab als vor der Befreiung.
Geistliche bzw. Pfarrer
Die Liste der Geistlichen ist lang. Nur wenige sind in Wikipedia verlinkt. Ich liste hier nur die verlinkten auf.
In den Westen gegangen
Pfarrer Hermenau, Potsdam, gestorben 1981 Wiesbaden „Im Jahre 1939 erklärte er seine Mitarbeit am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. In zahlreichen Publikationen vertrat er seine Überzeugung von der Rolle der deutschen Frau im Reich Adolf Hitlers. […] 1972: Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland“ Zur Entnazifizierung und zum Grund für das Bundesverdienstkreuz steht nichts in Wikipedia.
Pfarrer Hosenthien, Magdeburg, gestorben 1972 in Braunschweig „1949 folgte Albert Hosenthien seinem Sohn und zog nach Fort Bliss in El Paso (Texas), kehrte jedoch, da er mit den dortigen Gegebenheiten nicht zurechtkam, 1954 wieder nach Deutschland zurück. Da die Region Magdeburg jetzt in der DDR lag, siedelte er sich in Braunschweig, im westlichen Teil Deutschlands an. Er arbeitete hier auch wieder als Pfarrer.“
Pfarrer Hunger, Eisenach, gestorben 1995 Münster, NRW „Nach 1945 orientierte er sich auf das Gebiet der Sexualerziehung, was ihm den Spitznamen „Sex-Hunger“ eintrug. Bis Ende der 1960er Jahre publizierte er seine christlich-konservative Sexualmoral im Gütersloher Verlagshaus. Er wurde auch Redaktionsleiter der Zeitschrift Der evangelische Religionslehrer an der Berufsschule, die vom Schriftenmissionsverlag Gladbeck herausgegeben wurde.“
Pfarrer Kersten-Thiele, Köthen, gestorben 1988 Göttingen, Niedersachsen „Nach 1945 wirkte Kersten-Thiele im Vorstand der Deutschen Ostasien-Mission und publizierte in deren Sinne mehrere Bücher. 1948 war er Pfarrer in Göttingen-Grone und 1954 in Düsseldorf. Von 1960 bis 1964 war er Religionslehrer am Rethel-Gymnasium (bzw. Jacobi-Gymnasium) Düsseldorf und zwischen 1968 und 1973 war er als Pastor in Sereetz tätig. Anschließend ging er in die Rheinische Landeskirche zurück.“
Pfarrer Kuhl, Berlin, gestorben 1959 Kassel „Spätere Wohnsitze waren Nordkirchen, wo er von 1949 bis 1956 Pfarrer war. Hier gründete er einen Kirchbauverein, um in Nordkirchen ein Gemeindezentrum schaffen zu können. Im Jahr 1956 wurde ihm von der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn die Ehrendoktorwürde verliehen. Nachdem Kuhl 1957 in den Ruhestand gegangen war, lebte er bis zu seinem Tod 1959 in Kassel und hinterließ eine Frau und zwei Kinder. In seinen letzten Lebensjahren hatte er einen Lehrauftrag an der Georg-August-Universität Göttingen. Gemeinsam mit Bo Reicke arbeitete er ab 1958 am Biblisch-historischen Handwörterbuch für den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Kuhl war von 1921 bis zu seinem Tod Mitglied der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft.“
Pfarrer Schmidt-Clausing, Potsdam-Babelsberg, gestorben 1984 in West-Berlin „Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete Schmidt-Clausing den Wiederaufbau der Gemeinde von 1947 bis 1962 als Pfarrer an der Berliner Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche. In der Kirchenruine wurde die einzige verbliebene Glocke wieder gangbar gemacht und bis in die 1950er Jahre zum Begrüßungsläuten für die Berliner Russlandheimkehrer benutzt. Im beginnenden Kalten Krieg setzte Schmidt-Clausing damit ein politisches Zeichen und machte seine Gemeinde bekannt – bis hin zur US-amerikanischen Wochenschau, die das Thema dankbar aufnahm. Fritz Schmidt-Clausing starb in einem West-Berliner Pflegeheim und wurde auf dem Friedhof Wilmersdorf beigesetzt.“
Hans-Joachim Thilo hat sich neuorientiert, so dass ich ihn hier extra aufzähle. Prinzipiell ist das bei den sechs oben genannten Personen natürlich auch denkbar, es steht aber ncihts dazuin Wikipedia.
Pastor Thilo, Pirna, gestorben 2003 in Lübeck „Thilos Erfahrungen im Kriegsdienst, seine Verwundung bei Kiew und seine Kriegsgefangenschaft, zunächst in Kanada, dann in England, führten ihn zu einem Umdenken und Neuanfang. Im Dezember 1947 kehrte er nach Deutschland zurück und erhielt eine Pfarrstelle der Kirchengemeinde am Lietzensee in Berlin-Witzleben. Gleichzeitig baute er hier die kirchliche Beratungsarbeit auf. Von 1956 bis 1961 wirkte er an der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Genf. Anschließend war er Referent an der Evangelischen Akademie Bad Boll, bis er 1966 zum Pastor der Marienkirche in Lübeck berufen wurde, wo er bis zu seiner Pensionierung wirkte. 1973 habilitierte er sich an der Universität Hamburg für das Fach Praktische Theologie. Er blieb Gemeindepastor, hielt jedoch regelmäßig Lehrveranstaltungen in Hamburg. 1979 wurde ihm der Titel Professor verliehen.“
Im Osten geblieben
Oberpfarrer Ungern von Sternberg, Ronneburg, gestorben 1949 in Gera „Noch im Januar 1945 gehörte er zu den Thüringer Pröpsten, die den DC-Kirchenpräsidenten Hugo Rönck dazu drängten, den Bischofstitel anzunehmen.[2] Aufgrund des Gesetzes zur Überprüfung der Pfarrerschaft und der Verwaltung der Thüringer evangelischen Kirche (Reinigungsgesetz) vom 12. Dezember 1945 wurde Ungern-Sternberg aus dem Pfarrdienst entlassen und die Dienstbezeichnung „Superintendent im Wartestand“ wurde ihm aberkannt. Er wurde aber zunächst kommissarisch als Pfarrer in Ronneburg weiterbeschäftigt, ab dem 1. Dezember 1947 wurde er dann wieder offiziell als Pfarrer in Niederpöllnitz eingesetzt.“
Pfarrer Delling, Leipzig, gestorben 1986 in Halle „Im Jahre 1945 geriet Delling in Dänemark in Kriegsgefangenschaft und wirkte bis 1947 als Seelsorger im Internierungslager Aarhus. Nach seiner Entlassung ging er nach Pommern und erhielt 1947 einen Lehrauftrag an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. 1948 habilitierte er sich hier mit der Schrift Gottesdienst im Neuen Testament (gedruckt 1952) für das Fach Neues Testament. Im Jahre 1950 wurde Delling als Professor mit Lehrauftrag an die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg berufen, 1952 bekam er den vollen Lehrauftrag, die Beförderung zum Professor mit Lehrstuhl für spätantike Religionsgeschichte erfolgte 1953. 1955 erhielt er durch Kurt Aland, dem Leiter der Kommission für spätantike Religionsgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, eine Stelle zur Reorganisation des Corpus Hellenisticum. 1955/56 übernahm Delling eine Gastprofessur an der Universität Leipzig, eine Berufung kam jedoch ebenso wenig zustande wie die von Teilen der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität in den 1960er Jahren gewünschte Versetzung nach Berlin. An der Universität Halle baute Delling das Institut für spätantike Religionsgeschichte auf, dem er seit 1963 als Direktor vorstand. Nach der IV. Hochschulreform wurde Delling 1969 zum ordentlichen Professor ernannt und 1970 emeritiert. Delling forschte vor allem zur Überlieferungsgeschichte des Neuen Testaments und zum antiken Judentum (Das Zeitverständnis des Neuen Testaments, 1940; Jüdische Lehre und Frömmigkeit in den paralipomena Jeremiae, 1967; gesammelte Aufsätze: Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum, 1950–1968, 1970; Studien zum Frühjudentum, 1971–1987, 2000). Außerdem gab er Bibliographien zur jüdisch-hellenistischen Forschung heraus und arbeitete am Corpus Hellenisticum Novi Testamenti mit. Die Universität Greifswald verlieh ihm 1964 die Ehrendoktorwürde. Delling verstarb am 18. Juni 1986, im Alter von 81 Jahren, in Halle.“
Pfarrer Ohland, Unkeroda (Thüringen), gestorben 1953 in Friedelshausen, Thüringen „Im Jahre 1946 verlor Ohland sein Amt, durfte aber seit 1948 in Behrungen als Pfarrvikar wieder amtieren, seit 1952 als Pfarrer in Friedelshausen.“
Pfarrer Joseph Roth, Diersheim, gestorben 1941 Tirol
Pastor Dungs, Weimar, gestorben 1947 durch Hinrichtung oder 1949 in Haft
Zwischenfazit: Von den Nazi-Pfarrern im Osten sind 7 in den Westen gegangen und 4 im Osten geblieben. Zählt man Hans-Joachim Thilo zu den irrelevanten Fällen, weil es bei ihm ein Umdenken und Neuanfang gab, bleiben 6 in den Westen gegangene, die zu den Nazis, die ohnehin aus dem Westen waren, dazugekommen sind und den Osten verlassen haben.
Hochschullehrer bzw. Akademiker
In den Westen gegangen
Johannes Hempel, Berlin, gestorben 1964 in Göttingen „Er übernahm die Herausgeberschaft der Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft. Im Jahre 1937 wurde er nach Berlin berufen und leitete das Institutum Judaicum zur Erforschung des Judentums „vom Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung aus“. Im Jahre 1939 erklärte Hempel seine Mitarbeit am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben als Leiter der Arbeitsgruppe Altes Testament. Auf der Arbeitstagung im März 1941 referierte er über Die Aufgabe von Theologie und Kirche von der Front her gesehen. Während des Zweiten Weltkrieges fungierte er als Militärpfarrer. Das Kriegsende erlebte er 1945 in einem Lazarett an der Nordsee. Im Jahre 1947 wurde Hempel Pfarrverweser in Salzgitter-Lebenstedt, einem Ort im Gebiet der Braunschweigischen Landeskirche. Im Jahre 1955 wurde er Honorarprofessor in Göttingen und betrieb ab 1958 als Emeritus seine wissenschaftliche Arbeit weiter, besonders für die von ihm betreute Zeitschrift.“
Wolf Meyer-Erlach, Jena, gestorben 1982 in Idstein, Hessen „Im Jahre 1945 ging er aller Ämter verlustig, auch eine Wiedereinstellung in der bayerischen Landeskirche blieb ihm versagt. 1950 flüchtete Meyer-Erlach aus der DDR. Von 1951 bis 1963 wurde er Pfarrverwalter in Wallrabenstein und Wörsdorf bei Idstein im Taunus (Evangelische Kirche in Hessen und Nassau). Von ihm wurden historische Sujets wie das Stück „Anno 1634“ aufgeführt.“
Max Adolf Wagenführer, Jena, gestorben 2010 irgendwo im Westen „Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam er an die Lutherkirche nach Köln-Nippes und wurde zunächst in den Pfarrdienst der Rheinischen Kirche übernommen. 1949 wurde er wegen seiner fehlenden Ordination vorübergehend suspendiert und wechselte in den Schuldienst. 1953 kam er zurück in den Pfarrdienst, wurde ordiniert und erhielt eine Berufung an die neuerbaute Erlöserkirche in Weidenpesch. Von 1970 bis 1982 war er Pfarrer in Prien am Chiemsee.“
Im Osten geblieben
Richard Barth, Jena, gestorben nach 1946 „Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus verlor er sein Amt. Ab 1946 arbeitete er als Grundschullehrer in Jena.“
Paul Fiebig, Leipzig, gestorben 1949 in Kalbe Sachsen Anhalt
Reinhard Liebe, Freiberg (Sachsen), gestorben 1956 in Freiberg. Der Wikipedia-Eintrag lässt zu wünschen übrig.
Heinz Erich Eisenhuth, Jena, gestorben 1983 Pferdsdorf/Werra, Thüringen „Nachdem er 1945 aus dem Universitätsdienst entlassen worden war, wurde er 1946 zunächst kommissarisch, später im Hauptamt Pfarrer in Jena-Zwätzen. 1952 wurde er Superintendent in Eisenach. Anders als in der Forschungsliteratur bisweilen behauptet wird, übernahm er jedoch nie die Leitung der Evangelischen Akademie Thüringen. Er gehörte aber zeitweise der Synode an und erhielt mehrere Lehraufträge am Theologischen Seminar Leipzig. Nachdem er 1967 in den Wartestand getreten war, ging er 1969 in den Ruhestand.“
Wilhelm Knevels, Rostock, gestorben 1978 in West-Berlin „Im Jahre 1950 erhielt er einen Lehrauftrag an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Nach seiner Emeritierung lebte er in West-Berlin und wirkte dort weiter an der Freien Universität Berlin. Er ist auf dem Waldfriedhof Dahlem bestattet. Auf dem Grabstein steht unter den Lebensdaten: „Theologe des dritten Weges / = Selbstbesinnung des Glaubens / zwischen Fundamentalismus / und Existenzialtheologie / Unser Glaube ist der Sieg / der die Welt überwindet“.“ Knevels ist 1897 gebohren, die Emeritierung muss also gegen 1962 gewesen sein. Ich liste ihn hier unter Im Osten geblieben, weil er sein gesamtes Berufsleben im Osten verbracht hat.
Wilhelm Koepp, Greifswald, gestorben 1965 Kleinmachnow „1952 erhielt er den Lehrstuhl an der Universität Rostock. 1954 emeritiert, lehrte er noch bis zu seinem Tode an der Universität Rostock weiter.“
Johannes Leipoldt, Leipzig, gestorben 1965 in Leipzig „Nach 1945 war er Domherr des Hochstifts Meißen und erhielt eine Professur mit Lehrstuhl für Neutestamentliche Wissenschaft in Leipzig. Er wurde als ordentliches Mitglied in die Sächsische Akademie der Wissenschaften aufgenommen und 1954 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Silber und 1960 in Gold ausgezeichnet. […] Leipoldt war von 1953 bis 1963 als Vertreter der CDU Abgeordneter der Volkskammer.“
Herbert von Hintzenstern, Eisenach, gestorben 1996 in Weimar „Seit August 1945 war er in Lauscha, ab 1948 als Pfarrer. Dort trat er der DDR-CDU bei, sein Parteiaustritt erfolgte zum 1. Mai 1947. Im Jahre 1952 wurde er zum Landesjugendpfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen berufen. Seit 1956 leitete er die Evangelische Akademie Thüringen und die Pressestelle der Kirche. Gleichzeitig wurde er zum Chefredakteur der Kirchenzeitung Glaube und Heimat berufen. 1962 wurde er zum Kirchenrat ernannt. Von 1968 bis 1986 war er nebenamtlicher Leiter des Pfarrhausarchivs im Lutherhauses in Eisenach. 1981 ging er in den Ruhestand.“
Rudolf Meyer, Leipzig, gestorben 1991 in Jena, Thüringen „Im Jahre 1947 wurde er außerplanmäßiger Professor und 1948 […] Ordinarius für Altes Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Hier unterrichtete er Generationen von Theologiestudenten in Hebräisch, der Geschichte des Volkes Israel und der Theologie des Alten Testaments. Zusammen mit […] wurde ihm 1952 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin die Ehrendoktorwürde verliehen. Meyer war seit 1959 ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und seit 1978 korrespondierendes Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.“
Siegfried Morenz, Leipzig, gestorben 1970 Leipzig „Morenz wurde 1946 Dozent an der Universität Leipzig und habilitierte sich im selben Jahr bei Wilhelm Schubart mit einer Schrift zu Ägyptens Beitrag zur werdenden Kirche. Ab 1948 leitete Morenz, zunächst kommissarisch, das Ägyptologische Institut der Universität Leipzig. Im Februar 1952 wurde er Professor mit Lehrauftrag, im September des Jahres mit vollem Lehrauftrag und zwischen 1954 und 1961 schließlich als Lehrstuhlinhaber für Ägyptologie und hellenistische Religionsgeschichte. Zwischen 1952 und 1958 nahm Morenz zudem nebenamtlich die Leitung der Ägyptischen Abteilung der Staatlichen Museen zu Berlin in Ost-Berlin wahr. Zwischen 1961 und 1966 lehrte Morenz als Lehrstuhlinhaber an der Universität Basel, leitete jedoch im Nebenamt weiterhin das Leipziger Ägyptologische Institut. Danach kehrte er nach Leipzig zurück, wo er bis zu seinem Tod 1970 wieder den Lehrstuhl für Ägyptologie innehatte.“
Konrad Weiß, Berlin, gestorben 1979 in Rostock „1946 wurde Weiß außerordentlicher Professor für neutestamentliche Theologie an der Universität Rostock, 1948 wurde er dort auf eine ordentliche Professur berufen und 1972 emeritiert. Die Universität Kiel zeichnete Weiß 1961 mit der Ehrendoktorwürde aus.“
Unbekannt / irrelevant
Adolf Bartels, Weimar, gestorben März 1945 in Weimar
Die Auswertung der Lebensdaten der Hochschullehrer ist verblüffend. Nur drei sind in den Westen gegangen. 11 sind im Osten geblieben. Man müsste die Einzelfälle näher ansehen und erforschen, wie intensiv ihre Mitarbeit im Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben war und was davon zu Lebzeiten bekannt war. Teilweise hatten die Wissenschaftler Ehrendoktortitle von Universitäten in Ost und West.
Weitere Nazis aus dem Umfeld der Deutschen Christen / dem Institut
In den Westen gegangen
Hugo Rönck deutscher evangelischer Pfarrer und Bischof, gestorben 1990, bis 1976 Pastor in Eutin, Schleswig-Holstein. „Im Jahre 1945 nahm er „kurz vor dem Einmarsch der amerikan[ischen] Truppen“ den Titel Landesbischof an. Im April 1945 wurde er von den Vertretern der innerkirchlichen Opposition um Moritz Mitzenheim, Erich Hertzsch und Gerhard Kühn zum Amtsverzicht gedrängt und wenige Tage später von US-amerikanischen Truppen verhaftet. Im August 1945 entließ ihn die Thüringer Kirche aus dem kirchlichen Dienst. Später war er von 1947 bis 1976 Pastor in Eutin.“
Im Osten geblieben
Johannes Klotsche gestorben 1963, Stadt Wehlen, Pirna, Sachsen, „Der „fanatische Antisemit“ Klotsche unterzeichnete im April 1939 gemeinsam mit zehn anderen Landeskirchenleitern die Bekanntmachung über Gemeinschaftsarbeit von Landeskirchenleitern, deren erste Maßnahme in der Gründung des Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben bestand. Im Dezember 1941 wurden Christen jüdischer Herkunft aus der Landeskirche ausgeschlossen, womit das Sakrament der Taufe in Sachsen partiell außer Kraft gesetzt war. Bis 1942 gehörte er dem Verwaltungsrat des sog. Entjudungsinstituts an. Nach Kriegsende absolvierte er 1951/52 eine Ausbildung zum volksmissionarischen Dienst an der Predigerschule Paulinum in Ost-Berlin.“
Walter Grundmann gestorben 1976 in Eisenach „1930 wurde er Mitglied der NSDAP und 1933 aktives Mitglied der Deutschen Christen, deren im ganzen Deutschen Reich gültige Richtlinien er verfasste. 1939 wurde er zum akademischen Direktor des neu gegründeten Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben in Eisenach ernannt, das im Dienst des staatlichen Antisemitismus die „Entjudung“ der Bibel und der theologischen Ausbildung betrieb. Ungeachtet seiner NS-Vergangenheit erlangte Grundmann in der DDR als Theologe erhebliches Ansehen: 1954 erteilten ihm das Katechetische Oberseminar Naumburg (Saale) und das Theologische Seminar Leipzig Lehraufträge und er wurde Rektor des Eisenacher Katechetenseminars; seine ab 1959 erschienenen Evangelienkommentare waren Standardliteratur und werden bis heute (2022) zitiert. Er arbeitete für das Ministerium für Staatssicherheit, unter dem Decknamen GI Berg. […] In der DDR galt Grundmann bis zu seiner Emeritierung 1975 trotz seiner NS-Vergangenheit als angesehener theologischer Lehrer. 1974 verlieh die Kirchenleitung ihm nochmals den Titel eines „Kirchenrats“, um seine Arbeit anzuerkennen und um seine Pension zu erhöhen.“ Seine Wikipedia-Seite enthält eine ausführlichere Schilderung der Stasi-Tätigkeit.
Irrelevant
Friedrich Coch gestorben September 1945 in amerikanischer Gefangenschaft „Führer der Glaubensgemeinschaft Deutsche Christen in Sachsen und Herausgeber der Monatszeitschrift Christenkreuz und Hakenkreuz.“
Schlussfolgerung
7 + 6 + 3 der Personen, die in der NSDAP waren und sich öffentlich zum Antisemitismus bekannt hatten, sind vom Osten in den Westen gegangen. Dazu noch mindestens ein leitendes Mitglied der Deutschen Christen. Damit hat sich die Anzahl der Antisemiten und Nazis im Osten verringert und im Westen erhöht. Von einigen dieser Personen ist klar, dass sie wirklich harte Nazis und Rassisten waren. Andere waren eventuell weniger involviert, einige haben sich vielleicht gewandelt. Das geht aus Wikipedia nicht hervor.
In Der Ossi und der Holocaust habe ich die Behauptungen von Anetta Kahane und Ines Geipel zum Umgang der DDR mit dem Holocaust untersucht und bin zum Schluss gekommen, dass beide Autorinnen entweder keine Ahnung haben oder lügen.
Die West-Gesellschaft des direkten Nachkriegs, die sich manisch schönputzte, die schier märchengleich Kohle machte und sich in ihrer Unfähigkeit zu trauern verpuppte. Die postfaschistische DDR der fünfziger Jahre dagegen wurde zur Synthese zwischen eingekapseltem Hitler und neuer Stalin-Diktatur, planiert durch einen roten Antifaschismus, der einzig eine Heldensorte zuließ: den deutschen Kommunisten als Überwinder Hitlers. Mit dieser instrumentellen Vergessenspolitik wurde im selben Atemzug der Holocaust für 40 Jahre in den Ost-Eisschrank geschoben. Er kam öffentlich nicht vor.
Im Blog-Post zeige ich recht deutlich, dass die Verbrechen an den Juden überall thematisiert wurden. In den Geschichtsbüchern der neunten Klasse, im Literaturunterricht, in Büchern, Filmen, Straßennahmen usw.
Beim taz-Lab gab es eine Podiumsdiskussion mit der Historikerin Katja Hoyer und dem Schriftsteller Marco Martin, bei der letzterer sagte, das mit der Geschichtsschreibung durch die Sieger im Vereinigungsprozess sei doch eine Mär, denn es gäbe doch auch ostdeutsche Stimmen wie Ines Geipel und Anne Rabe. Ich habe dann im Diskussionsteil darauf hingewiesen, dass Anetta Kahane und Ines Geipel keine glaubwürdigen Quellen seien, da sie entweder keine Ahnung hätten oder lügen würden, was zu großer Entrüstung führte. Leider kannte ich zu diesem Zeitpunkt eine Dokumentation des MDRs noch nicht, denn aus dieser geht hervor, dass Ines Geipel erhebliche Probleme mit der Wahrheit in Bezug auf ihr eigenes Leben hat. Auch die Zahlen der Dopingbetroffenen, die sie als Chefin der Dopingopferhilfe vertreten hat, hielten einer Überprüfung nicht stand.
Das ist der MDR-Beitrag:
Ines Geipel hat behauptet, dass die Stasi bei einer Blinddarm-Operation ihre Bauchmuskulatur und all ihre Organe zerschnitten habe.
Eine Unterleibsoperation 1984 bot die Gelegenheit, „sie zumindest für längere Zeit auf Eis zu legen“, wie sie aus den Akten zitierte. Ein Chirurg der Virchow-Klinik in Berlin stellte 2004, zwanzig Jahre nach der perfiden Tat, fest, was die Ärzte in der DDR ihr angetan hatten. „Mein gesamter Bauch war samt Muskulatur durchschnitten worden“, erfuhr sie. „Alle inneren Organe waren verletzt.“
In der Dokumentation wurde sie bei einem Sprint-Wettbewerb zwei Monate nach der OP gezeigt. Mit verletzten Organen läuft man keine 100m, weil man auch vor dem Wettkampf trainieren muss.
Den kompletten Bauch aufschneiden, wer glaubt in so einen Unsinn? Da könnte man nicht mehr laufen. Ich habe ja erst vor ein paar Tagen wieder gelesen, dass alle innere inneren Organe wurden verletzt. Das ist ein Unding. Das geht nicht und da kann man vor allen Dingen nicht sechs Wochen oder acht Wochen später laufen. Schlecht wie immer – aber gelaufen ist sie.
Bezüglich ihrer Blinddarmoperation gibt sie an, dass sie als Folge der durch die Stasi durchgeführten Operation keine Kinder mehr bekommen konnte (Einzelkämpfer bei 1:24:15). Laut MDR-Faktencheck (2023: 60) steht im OP-Bericht vom 17.01.2003 nichts von Verletzungen anderer Organe oder Verletzungen, die Kinderlosigkeit hätten verursacht haben können.
Geipel gibt mit Weltrekorden an und damit Olympionikin gewesen zu sein, sie hat aber nie eine gewonnen, ja, sie hat nicht einmal an einer Olympiade teilgenommen. Bei Sprint-Wettkämpfen landete sie trotz hoher Dopingwerte auf hinteren Plätzen. In die nationale Auswahl der Sprintstaffel kam sie nicht, weil es bessere Läuferinnen gab.
Nach Ausstrahlung der MDR-Doku legte Ines Geipel eine Programmbeschwerde ein (dokumentiert auf ihrer Web-Seite: Programmbeschwerde Doping und Dichtung). Diese ist eigentlich noch schlimmer, als das, was man aus der Doku erfährt, denn sie zeigt, wie Ines Geipel arbeitet. Mit bewussten Auslassungen, Verdrehungen und Manipulationen. Der MDR hat die Programmbeschwerde durch zwei renommierte Sportjournalist*innen prüfen lassen und auf 101 Seiten ist die ganze Ungeheuerlichkeit des Vorgangs dokumentiert. Die Autor*innen nennen Geipel darin eine Lügnerin und Hochstaplerin, die Wörter Unverfrorenheit und Dreistigkeit kommen vor. Nur ein Beispiel: In Geipels Stasi-Akte steht:
Dieser Darmverschluss ergab sich jedoch, da dies bei jungen Menschen noch der Fall ist oder möglich ist; ansonsten wäre eine weitere Operation nötig gewesen. Danach sollte Geipel wieder in ein Krankenhaus wegen ihrer .… Geschichte. Dies wäre die Chance gewesen, sie für längere Zeit auf Eis zu legen. Sie ist jetzt z.Z. in einer Phase der Rehabilitation …
BStU, nach Screenshot aus MDR-Doku.
Diese Aussage belegt, dass das eine Chance gewesen wäre, d.h. das Auf-Eis-Legen ist nicht erfolgt. Geipel lässt in ihren Zitaten das Wort gewesen einfach weg: „Das ist die Chance, sie für längere Zeit auf Eis zu legen.“ (In Einzelkämpfer, 2013: 1:26:15 kann man sehen, wie sie die Passage „vorliest“).
Man kann also schließen, dass Ines Geipel keine glaubwürdige Zeugin in Bezug auf die DDR-Geschichte ist.
Denn der verantwortungsvolle Umgang mit der Wahrheit gehört augenscheinlich nicht zu den Stärken der 62 Jahre alten Berlinerin.
Ich hatte ja in der Auseinandersetzung über den Umgang mit dem Holocaust in der DDR als Ergebnis die beiden Möglichkeiten „keine Ahnung“ und „lügen“. Theoretisch ist es immer noch möglich, dass Ines Geipel keine Ahnung in Bezug auf das Thema Holocaust hatte bzw. hat, aber die Lügen-Möglichkeit erhält mit dieser Information über Ines Geipel mehr Plausibilität.
Nachtrag
Die Dokumente auf Ines Geipels Web-Seite sind mir bekannt. Sie werden im Faktencheck in der Erwiderung auf die Programmbeschwerde gegen den MDR besprochen. Die von Geipel beigebrachten Dokumente widerlegen nichts von dem, was oben aus den Dokumentationen zitiert wurde.
Nachtrag 2: Manipulative Darstellung Nazis vs. Neulehrer
In ihrem Buch Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass schreibt Geipel auf S. 33 der e‑Book-Ausgabe: „Anfangs waren 80 Prozent der Lehrer im #Osten ehemalige Mitglieder der NSDAP.“ Diese Aussage ist eventuell wahr, wenn man die Zeit direkt nach dem Krieg betrachtet. Sie ist jedoch hochgradig manipulativ, da nichts weiter zu den Leher*innen gesagt wird. Es gab jedoch nach dem Krieg ein umfangreiches Neulehrer-Programm. Die Nazi-Lehrer*innen wurde entlassen. Manche durften nie wieder, andere erst erst Jahre später wieder als Lehrer*innen arbeiten. In Wikipedia steht unter Angabe von Quellen das Folgende zu Neulehrern:
Wurden im ersten Schuljahr noch einige Lehrer mit nationalsozialistischer Vergangenheit geduldet, so wurden die Richtlinien für den Verbleib im Schuldienst schrittweise verschärft. In den westlichen Besatzungszonen konnten einige Lehrer mit zweifelhaftem Hintergrund nach sogenannten „Entbräunungskursen“ ab 1947 wieder in den Schuldienst eintreten, während in der sowjetischen Besatzungszone das Neulehrerprogramm so umfangreich gestaltet wurde, dass große Teile der bisherigen Lehrerschaft von den rund 40.000 Neulehrern ersetzt wurden. Obschon die alte Lehrerschaft die Qualität einer höchstens einjährigen Umschulung anzweifelte, war aufgrund des zumeist akademischen Hintergrundes der Neulehrer das Ergebnis hinreichend gut und ermöglichte den sonst im Nachkriegsdeutschland aufgabenlosen Berufen eine feste Anstellung. Die große Mehrzahl der Neulehrer blieb auf Dauer im Schuldienst tätig.
In der sowjetischen Besatzungszone diente die Einstellung der Neulehrer auch dazu, die Kontrolle der SED über die Schulausbildung sicherzustellen. 1949 waren bereits 67,8 Prozent aller Lehrerstellen mit Neulehrern besetzt. 47,7 Prozent dieser Neulehrer gehörten der SED an, 13 Prozent der LDPD und 10 Prozent der CDU, die zu Blockparteien gleichgeschaltet waren. Damit war die Kontrolle der SED über das Schulwesen weitgehend erreicht.
Wikipediaeintrag zu Neulehrer, abgerufen am 11.11.2024.
Geipel schickt Ihre Leser*innen also bewusst auf den Holzweg.
Quellen
Geipel, Ines. 2019. Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass. Stuttgart: Klett-Cotta.
Ich möchte mich recht herzlich für alle Emails, Briefe und Päckchen bedanken, die ich nach der Veröffentlichung meines Artikels zu Anne Rabes Buch Die Möglichkeit von Glück erhalten habe. Ich hatte das nicht erwartet, aber das Feedback war im wahrsten Sinne des Wortes überwältigend. Von den Briefen waren sechs kritisch/negativ und 23 positiv. Ich habe die kritischen/negativen ungekürzt in meinen Blog aufgenommen und diskutiere sie dort detailliert: https://so-isser-der-ossi.de/2024/05/27/anne-rabe-leserbriefe/, auch den zum Jammer-Ossi. Auf die in der Berliner Zeitung abgedruckten Teile der Leserbriefe möchte ich im Folgenden eingehen. In meinem Blog und auch im veröffentlichten Beitrag in der BLZ geht es mir darum, welchen Eindruck Anne Rabe von der DDR vermittelt und was daraus abgeleitet wird. Den ersten Blog-Eintrag Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten habe ich auch zu einem Artikel in der taz geschrieben, bevor ich Anne Rabes Roman überhaupt gelesen hatte. Anne Rabe argumentiert grob vereinfachend für eine Töpfchentheorie 2.0: Weil es Familien gab, in denen es Gewalt gab, war der ganz Osten so und man kann daraus letztendlich alles ableiten: Rassismus, Faschismus, Nationalismus, Antisemitismus. Alles, wovor sich das Bildungsbürgertum zu Recht gruselt. Und es ist prima: Das alles ist nur im Osten zu verorten. Dunkeldeutschland eben. Dabei ist es leider so, dass es im gesamten Land ziemlich finster aussieht, ja, sogar in Europa. Die Rechtsextremismus-Studie hat das für Deutschland diskutiert. Der Autor der Studie hat in der Berliner Zeitung (BLZ, 08.07.2023) hervorgehoben, dass der Rechtsextremismus mit der Struktur der Bevölkerung im Osten zusammenhängt und in strukturell ähnlichen Gebieten im Westen ähnliche Einstellungen nachzuweisen sind. Das bedeutet also, dass man für die Wahlerfolge der AfD im Osten oder rassistische Einstellungen keine gewalttätigen Eltern als Erklärung benötigt. Die empirische Forschung liefert Gründe. Auch bricht Anne Rabes Töpfchentheorie sofort in sich zusammen, wenn man ihren autofiktionalen Roman genauer liest, denn dort findet sich die folgende Passage:
Alle Familien haben solche Geschichten. Gemeinsame Erlebnisse, die eine Familie zu einer Familie machen. Geschichten, die man sich immer wieder erzählt. Die Geschichten von einem missglückten Weihnachtsbraten, von Irrfahrten zu einem lang ersehnten Urlaubsziel, Missgeschicke und Tollpatschigkeiten, die einem noch immer die Lachtränen in die Augen treiben. Diese Geschichten, an die man denkt, wenn man Zuhause denkt.
Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 23
Das bedeutet, dass Anne Rabe bzw. die Ich-Erzählerin diese Familie als unnormal einstuft. Wenn sie aber unnormal war, dann kann man aus der Existenz dieser Familie nicht auf die Bevölkerung eines ganzen Landes schließen. Wie hoch die Anteile von auto und fiktional an der autofiktionalen Geschichte sind, werden wir nie herausfinden, denn Anne Rabe äußert sich in Interviews zu diesbezüglichen Fragen nicht (zum Beispiel beim taz-Lab-Gespräch mit Simone Schmollack).
Zwei Briefe sprechen die Frage nach den absoluten und den relativen Zahlen bei Kindstötungen an und einer unterstellt mir eine bewusste Falschdarstellung. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verwendet relative Zahlen, um die Zahlen überhaupt vergleichbar zu machen. Ich möchte das an einem Beispiel erklären: Im Fall der so genannten Neonatizide, also der Kindstötungen direkt nach der Geburt, sind absolute Zahlen nicht aussagekräftig, denn in Bremen wurden zum Beispiel im Jahr 2022 nur 6.720 Kinder geboren. In NRW waren es im selben Zeitraum dagegen 164.496 Kinder. Wenn in beiden Bundesländern jeweils ein Kind getötet worden wäre, wäre die absolute Anzahl gleich, aber für Bremen wäre die relative Anzahl, also die Anzahl im Vergleich zu den Kindern, die überhaupt Opfer hätten werden können, viel größer. Nehmen wir an, in Bremen wären 6.720 Kinder getötet worden, dann wären es 100% gewesen. 6.270 Kinder in NRW wären aber nur 4,1%. Der Vergleich absoluter Zahlen ist also offensichtlich unsinnig. In der PKS wird deshalb der absolute Wert auf Opfer pro 100.000 mögliche Opfer umgerechnet. In Bremen wäre die ermittelte Zahl dann also größer als die tatsächliche Zahl und in NRW kleiner. So werden die Neonatizide in Bremen und NRW vergleichbar. Das ist auch in der zitierten Studie zu den Kindstötungen auf S. 337 erklärt (Höynck, Behnsen & Zähringer, 2015). Ich zitiere genau diese Seite in meinem Blog-Post vom 20.02.2024, der die Kindstötungen ausführlicher bespricht, als das in der Berliner möglich war. Im Artikel, der als Print-Version erschienen ist, sind die Quellen aus Platzgründen ausgelagert worden. Wenn man nun über die Kindstötungen von Kindern unter 6 Jahren spricht, muss man als Bezugsgröße 100.000 Kinder in den jeweiligen Bundesländern annehmen. Ein Bezug auf die Gesamtbevölkerungszahl, wie von einem Leser vorgeschlagen, wäre nicht korrekt. In meiner Originaleinreichung war ein Satz zu den relativen Zahlen bzgl. 100.000 möglichen Opfern enthalten. Ich wurde gebeten, das noch besser zu erklären und habe deshalb die Sätze eingefügt, die darlegen, wie absurd das Ergebnis würde, wenn man von absoluten Zahlen ausginge. Die PKS und auch die Presseberichte darüber haben sich auf relative Zahlen (Fachwort Opferzahlen/OZ) bezogen, Anne Rabe hat aber geschrieben: „Die Zahl der Kindstötungen ist im Osten Deutschlands in den 90er und 00er Jahren doppelt so hoch wie im Westen und steigt im Jahr 2006 sogar auf das Vierfache an.“ Diese Aussage ist faktisch falsch. Ein Leser schrieb mir AR hätte die relative Zahl gemeint. Was jemand gemeint hat, ist aber nicht relevant, entscheidend ist, was jemand veröffentlicht hat. Als Sprachwissenschaftler kann ich einschätzen, was ein Satz bedeutet und als Mathematiker und promovierter Informatiker weiß ich, was Anne Rabe stattdessen hätte schreiben müssen. Dass ich das jetzt nicht hinterher irgendwie zurechtgebogen habe, sieht man, wenn man sich den Print-Artikel ansieht: Dort sind die Bevölkerungsgröße und die Geburtenraten erwähnt. Nur der eine Satz mit der Bezugsgröße 100.000 ist leider im Ping-Pong mit der Redaktion verloren gegangen. Ich hätte besser aufpassen müssen. Der Punkt mit den absoluten und relativen Zahlen hat jetzt in der Diskussion und auch im Artikel einen viel zu großen Raum eingenommen. Wichtig ist, und das sagen Höynck, Behnsen & Zähringer (2015: 337) auch sehr klar (auch an anderen Stellen in ihrem im renommierten Wissenschaftsverlag Springer erschienen Buch), dass man aus der PKS nichts ableiten kann. Der wichtigste Punkt ist, dass die Zahlen (glücklicherweise) zu klein sind. Die Autorinnen listen weitere Probleme auf, die zeigen, dass das Ziehen von Schlüssen aus der PKS zu Kindstötungen unzulässig ist. Es wurde in vielen Briefen kritisiert, dass ich auf Wikipedia verwiesen habe. Ich bin Professor und bilde zukünftige Wissenschaftler*innen aus. Ich weiß sehr wohl, was Wikipedia kann und was Wikipedia nicht kann. In meinem Blog-Beitrag zu den Leserbriefen gehen ich darauf auch genauer ein. Der Punkt ist hier, dass genau diese Studie und auch die entsprechende Seite im Wikipedia-Eintrag zu Kindstötungen zitiert wird. Wenn also jemand einen Quickcheck zu Anne Rabes Behauptungen hätte machen wollen (Verlag, Jury, Rezensenten), so wäre es ein Leichtes gewesen, in Wikipedia die Stelle für weitere Nachforschungen zu finden. Das Problem für dieses Land ist, dass niemand sich die Mühe gemacht hat. Die Gruselgeschichte war doch zu schön.
Bernhard Kavemann liest aus meinem Artikel, dass ich kein Verständnis für Kausalität hätte. Ich habe in mathematischer Logik eine 1,0 im Studium gehabt, habe ein System mit Diskursrepräsentationstheorie implementiert und Logik und Computationale Semantik an diversen Unis gelehrt. Wie Schlüsse funktionieren, weiß ich sehr wohl. Ich habe nirgends behauptet, dass es im Osten keine Nazis gab. Weshalb wäre ich sonst wohl 1989 im Antifa-Block marschiert (was ich im Artikel auch erwähnt habe). Ich habe behauptet, dass Anne Rabe faktisch falsche Behauptungen in ihren Roman eingebaut hat. Den Nachweis dafür haben ich im Artikel und noch detaillierter in den Blog-Posts erbracht. Bernhard Kavemann schreibt weiter: „Der Versuch mit den AfD-Politikern geht ebenfalls daneben: „Höcke und Kalbitz sind aus dem Westen.“ Ja, aber da sind sie nichts geworden, waren kleine Lichter, groß sind sie erst im Osten geworden.“ Im Artikel habe ich bereits Georg Maaßen erwähnt, der nicht im Osten groß geworden ist, sondern im Verfassungsschutz. Das Bundeskabinett hat ihn 2012 auf Vorschlag des Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich (CSU) zum Chef gemacht. Inzwischen wird Maaßen von der Behörde, der er vorsaß, beobachtet. Auch Dr. Alexander „Wir werden sie jagen“ Gauland ist nicht durch Ossis groß geworden. Vogelschiss-Gauland war von 1973 bis 2013 in der CDU, war im Magistrat von Frankfurt/Main, und leitete von 1987 bis 1991 die Hessische Staatskanzlei. Er ist jetzt Ehrenvorsitzender der Höcke-AfD und Vorsitzender der Bundestagsfraktion. Alle diejenigen, die noch ein bisschen Anstand haben, sind bereits aus der AfD ausgetreten. Wo kommen die führenden Nazis her? Wer hat sie groß gemacht? Gern bitte in meinem Blog in der Rubrik Nazis nachlesen.
Helgard Most merkt an, dass man bei der Diskussion mit Anne Rabe beim taz-Lab meine Behauptungen nicht nachprüfen konnte. Dafür habe ich den Blog geschrieben und den Artikel in der Berliner Zeitung veröffentlicht. Die Blog-Beiträge hatte ich ausgedruckt beim taz-Lab mit. 80 Seiten. Ich hätte sie Anne Rabe geschenkt. Wirklich. HM behauptet weiter: „Wir Leser*innen sind intelligent genug, zwischen einem Roman, der Anregungen für eigene Gedanken geben soll, und der Pauschalisierung einer ganzen Bevölkerung, wie Herr Müller sie behauptet, zu unterscheiden.“ Das mag für Frau Most zutreffen, ist aber im Allgemeinen leider nicht richtig. Mein erster Anne Rabe-Post im Blog bezog sich deshalb auch nicht auf den Roman, den ich damals noch nicht gelesen hatte, sondern auf die Diskussion, den dieser Roman ausgelöst hat. Da wird pauschalisiert, die Mär von der gewalttätigen DDR wird verbreitet. Endlich eine Erklärung dafür, wie komisch die Ossis sind. Ich möchte hier ein weiteres wichtiges Beispiel für die Roman/Sachbuch-Diskussion geben. Anne Rabe behauptet: „Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.“ Das ist eine Tatsachenbehauptung. Der Kontext ist:
In der DDR drohte die Diktatur zudem ständig, einen für die Vergangenheit zur Verantwortung zu ziehen. Auch deshalb wurde geschwiegen. In einem Land, in dem der Antifaschismus Staatsräson war, wie soll man da über das sprechen, was man in der »faschistischen Wehrmacht« getan hatte? Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
S. 215
Das ist nicht ein Satz, den irgendeine Person im Roman sagt. Das ist eine Erklärung für den Leser. Und sie ist faktisch falsch. Ich habe das in meinem Blog-Post zum Holocaust ausführlich besprochen und es gibt auch diverse andere Posts, zum Beispiel einen, der eine wissenschaftliche Studie zu Politikern in Ost und West auswertet. Im Osten gab es in den verschiedenen Regierungen neun, dann acht, dann einen jüdischen Politiker. Unter anderem Klaus Gysi. Im Westen gab es nie in irgendeiner Regierung einen. Null. Wichtige Politiker, Musiker, Künstler der DDR waren Juden. Der Vater von Anetta Kahane war ganz vorn mit dabei: Er hat die Nachrichtenagentur ADN aufgebaut und leitete das Neue Deutschland. Wolf Biermann hatte mit Margot Honecker mehrere Jahre in einem Haushalt gelebt. Marion Brasch hat als Jüdin Yassir Arafat am Werbellinsee begrüßt. Als ich einen Bremer Professor für Politikwissenschaft nach seiner Evidenz bezüglich tradierten Antisemitismus’ in der DDR fragte, schrieb er mir zurück, ich solle doch mal das Buch von Anne Rabe lesen. Das ist das Niveau, auf dem die Diskussion läuft. Ein Wissenschaftler verweist mich auf ein Buch, das nicht als Sachbuch bewertet wurde und deshalb auch nicht das wissenschaftliche Qualitätssicherungssystem durchlaufen hat. Beim taz-Lab gab es eine Diskussion zwischen dem Schriftsteller Marco Martin und der Historikerin Katja Hoyer. Ich habe Hoyers Buch noch nicht gelesen und kann zu seiner Qualität nichts sagen, aber Marco Martin behauptete, dass es nicht wahr sei, dass die Sieger die Geschichte schreiben, und führt zum Beispiel Ines Geipel und Anne Rabe als ostdeutsche Stimmen an, die ja den Gegenpart zu den Siegern übernähmen. Das heißt, dass Anne Rabe auf eine Stufe mit Historikern gestellt wird, die in einem Qualitätssicherungssystem arbeiten und veröffentlichen. So wird aus einem Roman ein Sachbuch. Zu Ines Geipel gibt es eine Dokumentation des MDR, die diskutiert, dass Geipel weder Olympionikin, noch Weltrekordhalterin war, dass die Zahlen der Dopingopfer, die sie als Chefin der Dopingopferhilfe genannt hat, viel zu hoch waren. Geipel hat eine Programmbeschwerde beim Rundfunkrat eingelegt. Die 101-seitige Erwiderung des MDR liegt mir vor. Die Autor*innen nennen Geipel darin eine Lügnerin und Hochstaplerin, die Wörter Unverfrorenheit und Dreistigkeit kommen vor. Wieso soll jemand, der in Bezug auf seine eigene Geschichte lügt, eine glaubwürdige Quelle für unser aller Geschichte sein? Über den Holocaust schreibt Geipel: „Mit dieser instrumentellen Vergessenspolitik wurde im selben Atemzug der Holocaust für 40 Jahre in den Ost-Eisschrank geschoben. Er kam öffentlich nicht vor.“ Das ist faktisch falsch, wie ich ausführlich in Der Ossi und der Holocaust nachgewiesen habe. Anne Rabe und ihre (ehemalige?) Freundin Ines Geipel sind keine verlässlichen Quellen, was die Geschichte der DDR angeht. Das in Bezug auf Anne Rabe zu zeigen, war das Ziel meines Beitrags in der Berliner Zeitung. Und dann bleibt die Frage: Wer schreibt unsere Geschichte?
Den Leserbrief zu den Blumentöpfen verstehe ich nicht. Ich weiß nicht, warum die Leserbriefredaktion ihn ausgesucht hat.
Reinhard Brettschneider wirft mir vor, dass ich die Spaltung erhalten will. Nichts liegt mir ferner. Wie gesagt: Ich habe mich bis 2013 nicht als Ossi gesehen. Die Spaltung ist jedoch real. Vieles wird man nicht mehr reparieren können. Eigentumsstrukturen werden immer so bleiben: Vermieter wohnen im Westen, die Einnahmen fließen dorthin ab. Firmensitze liegen im Westen, Einnahmen und Patente gehen in den Westen. Steuern werden nicht im Osten gezahlt, sondern am Firmensitz. Aber man könnte einige Dinge ändern, die zur Verheilung einiger Wunden beitragen könnten. Dazu gehört, dass respektvoll über den Osten geschrieben wird, ja, dass die Menschen dort überhaupt als solche wahrgenommen werden. Ich habe in meinem Blog einige Fälle diskutiert, in denen West-Autoren und ‑Wissenschaftler über den Osten reden, als wäre er nicht Teil des Landes. Und das in Artikeln, die einen positiven Beitrag zur Ost-West-Debatte leisten wollen. Ich kämpfe dafür, dass für diese Probleme überhaupt erst mal ein Bewusstsein entsteht. Das ist dringend notwendig, denn ein vernünftiges Miteinander ist auch ein Betrag im Kampf gegen den Faschismus. In der taz schreibt Georg Seeßlen: „Die Menschen, die einem Maximilian Krah zujubeln, […] trotz der Nachrichten über diesen Mann, müssen einen fundamentalen Bruch vollzogen haben.“ Der Punkt hier ist: Diese Menschen wurden von den relevanten Nachrichten wahrscheinlich nicht erreicht, denn sie sind nicht mehr Teil des gesellschaftlichen Diskurses. 2021 schrieb Anne Fromm in der taz: „2,5 Prozent ihrer Gesamtauflage verkauft die Süddeutsche Zeitung in den Neuen Bundesländern. 3,4 Prozent sind es bei der FAZ, etwa 4 Prozent beim Spiegel. Bei der taz sind es, das steht nicht in der Studie, rund 6 Prozent. […] Die Ostdeutschen lesen also keine Zeitungen, zumindest keine überregionalen mit Sitz in der alten BRD.“ Warum soll ich Geld für Druckerzeugnisse bezahlen, in denen dauernd merkwürdige Dinge über mich stehen? Ich möchte, dass es wieder einen Diskurs gibt. Dass wir miteinander reden, nicht übereinander. Ich bin also kein Spalter. Ich kämpfe für ein Miteinander, eine Einigung, für die deutsche Einheit! Wer hätte das 1989 gedacht?
Höynck, Theresia & Behnsen, Mira & Zähringer, Ulrike. 2015. Tötungsdelikte an Kindern unter 6 Jahren in Deutschland: Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997–2006). Wiesbaden: Springer. (https://doi.org/10.1007/978–3‑658–07587‑3)
Ich habe schon im Beitrag über Kling Klang und den Osten darüber geschrieben, dass Zeitungsbeiträge die Ossis einfach nicht zur Leserschaft zählen. Es wird über sie geschrieben. Selbst in Fällen in denen die Autor*innen das eigentlich ändern wollen und auf eine bessere Verständigung und mehr Respekt hinarbeiten. Hier möchte ich ein paralleles Beispiel aus der Wissenschaft diskutieren.
Die Soziologin Prof. Jutta Allmendinger spricht über Kinderbetreuung und wie sich das alles bei „uns“ verändert und verbessert hat. Wie „wir“ mit gewissen Problemen umgehen und erwähnt dann lobend und vergleichend den Osten. Wenn man genau hinhört oder hinterher noch mal drüber nachdenkt, merkt man, dass der Osten nicht zu „wir“ gehört. Der Osten ist immer das Andere, das Abweichende. Etwas mit dem man sich vergleichen kann.
Wir sind halt keine doppelten Lottchen. Wir leben in unserer Gesellschaft. Wir können hier nur Vergleiche anziehn. Beispielsweise zu den ostdeutschen Ländern, wo immer noch es viel, viel selbstverständlicher ist, dass Frauen auch erwerbstätig, auch ganztags erwerbstätig sind.
Als Wissenschaftler*in müsste man sagen: Bei uns ist das so: Einerseits haben wir X im Westen und andererseits haben wir Y im Osten.
Dass es Unterschiede gibt, lässt sich nicht leugnen. Aber die gibt es auch zwischen Nord und Süd (zum Beispiel im Fleischverbrauch).
Viele Ossis wollten lange dazugehören. Jetzt haben sie aufgegeben. Die Schlumpfpartei hört ihnen zu. Alle anderen haben versagt. Versagen immer noch.
Und wie man sieht, ist das Ganze nicht nur ein Problem der (West-)Medien, sondern auch eins der Intelligenz, der wissenschaftlichen Elite.
Das war lustig: Peter Unfried fragt in der taz: „Wer von Ihnen hat schon zu „Kling Klang“ getanzt?“ Ich denk so bei mir: „Äh, Kling Klang? Was meint er? Keimzeit kann’s ja nicht sein, ist doch ein Wessi.“ Und dann geht es im Artikel darum, dass das ein Ossi-Wessi-Test ist, mit dem man ermitteln kann, wo jemand herkommt.
Keimzeit ist Schlager. Bisschen über banal. Das Lustige ist, dass mir Norbert Leisegang als Support von Sandow untergekommen ist, weshalb ich ihn sogar fotografiert habe.
Peter Unfried schreibt:
Eine volle Tanzfläche bei „Kling Klang“ wird es nicht reißen, aber es wäre ein Anfang, eine Geste des kulturell-biografischen Respekts, die du und ich uns echt abringen sollten.
Es gibt drei Möglichkeiten, wie ich auf diese Zeilen antworten kann.
Ich schreie drei mal Indianer! Weil die Wessis sich jetzt einfach unsere Kultur aneignen! Selbst #Keimzeit wollen sie uns wegnehmen.
Ich sage schlicht, dass ich nie zu Keimzeit tanzen werde. Dann lieber gleich zu Sandow.
Ich weise darauf hin, dass dieser verdammte Wessi Peter Unfried für dich und für sich selber geschrieben hat, aber nicht für uns, denn Wessis reden nicht mit uns, sondern über uns und dass sie mal nett zu uns sein sollten.
Ich habe das Ganze für Mastodon etwas zugespitzt, aber das Beispiel illustriert doch recht schön, dass „die Medien“ über uns schreiben, als wären wir nicht im selben (Diskurs-)Raum. Selbst wenn sie wie Peter Unfried im Konkreten und die taz im Allgemeinen das Problem erkannt haben und eine Wiedervereinigung herbeiführen wollen. Der Osten, das sind immer die Anderen. Selbst bei Wissenschaftler*innen, die doch neutraler und systematischer vorgehen sollten. Siehe Blog-Post über ein Radio-Interview mit Jutta Allmendinger.
PS: Mir ist erst später aufgefallen, dass das „Du und ich“ eine geschickte Wiederaufnahme des Liedtextes war. Nur ist sie leider für alle, die „Born in the GDR“ sind, daneben gegangen.
Ich habe viele, viele Reaktionen zu meinem Artikel über Anne Rabes Buch in der Berliner Zeitung bekommen: Leserbriefe über die BLZ, Emails direkt an mich, Briefe und Post-Karten, Anrufe, Hinweise auf Bücher mit eigenen Biografien, ja sogar ein Päckchen mit einem solchen Buch. Eine Zuschrift war eine Interviewanfrage eines Hamburger Radio-Senders. Das Interview in „Heiße Tasse“ hat inzwischen stattgefunden und ist auch Bestandteil meines Blogs geworden. Insgesamt waren von den Zuschriften 30 positiv und sechs in einzelnen Punkten kritisch oder insgesamt negativ (Stand 14.06.2024). Zu den negativen/kritischen möchte ich hier Stellung nehmen. Teile positiver und negativer Briefe wurden in der Berliner Zeitung am 01.06.2024 veröffentlicht. Dazu gibt es eine Antwort in der BLZ vom 15.06.2024. Der ursprüngliche Antworttext war 17.000 Zeichen lang und lag somit deutlich über den 5.000 zur Verfügung stehenden Zeichen. Dieser Text überlappt sich etwas mit den Antworten hier.
Saarbrücken ist nicht Neunkirchen
Auf Mastodon und von einem Leser wurde ich darauf hingewiesen, dass Erich Honecker nicht in Saarbrücken sondern in Neunkirchen geboren ist. Dieser Fehler tut mir Leid. Er war im ursprünglichen Blogpost nicht enthalten und meine Erinnerung hat mich wohl der Pointe wegen beim Schreiben des Artikels getäuscht. Da ich den gedruckten Artikel in der Berliner Zeitung nicht mehr ändern kann, werde ich den Honecker-Eintrag in der Wikipedia ändern. (Das war ein Scherz, der zum nächsten Abschnitt überleitet.)
Wikipedia ist keine wissenschaftliche Quelle
Mehrfach kam der Einwand, dass Wikipedia keine wissenschaftliche Quelle ist. Das ist mir durchaus bewusst. Ich bilde Student*innen im wissenschaftlichen Arbeiten aus (siehe hier meine Richtlinien für Hausarbeiten). In der Online-Version des Artikels sind die wissenschaftlichen Quellen zitiert. Im Druck-Artikel war dafür kein Platz, aber am Ende des Artikels gibt es einen Verweis auf die Online-Version.
Wikipedia ist auch für Wissenschaftler*innen ein erster Anlaufpunkt. Man kann dort nachlesen und dann die dort zitierte Fachliteratur konsultieren. Im Fall der Amokläufe und der Kindstötungen habe ich das getan. Der Verweis auf Wikipedia im BLZ-Artikel und hier im Blog-Post hatte den Sinn zu zeigen, wie einfach es gewesen wäre, einen Startpunkt für weitere Recherchen zu finden. Weder Anne Rabe noch irgendeine*r der Buchpreis-Juror*innen oder Rezensent*innen (Ausnahme Wiebke Hollersen) hat das getan. Ich zitiere hier meinen Artikel:
Zusammenfassend kann man sagen, dass Anne Rabes Buch an vielen wichtigen Stellen gravierende Fehler enthält, die oftmals durch nur einen Klick in die entsprechenden Wikipedia-Artikel oder einen zweiten Klick in die dort verlinkte Fachliteratur als solche erkannt werden können.
Ein weiterer Grund, Wikipedia in bestimmten Situationen zu verwenden, ist, dass Argumentationen nachvollziehbar sein sollen. Die verlinkten Dokumente müssen dazu zugänglich sein. Das ist bei Fachpublikationen leider immer noch nicht der Fall. Eine Zusammenstellung der Fakten über die Wehrsportgruppe Hoffmann wäre zum Beispiel nicht zu leisten. Ich müsste dazu im Prinzip Wikipedia replizieren.
Absolute und relative Zahlen
Ein Professor schreibt mir:
Wenn Herr Professor Müller so stark auf die Richtigkeit der Fakten abstellt, was die Aussagen von Frau Rabe in Ihrem Buch „Die Möglichkeit von Glück“ angeht, so ist das nicht zu beanstanden. Es stimmt mich aber bedenklich — und das stellt dann auch den ganzen Artikel in Frage — wenn die Aussagen der Autorin bewusst (?) nicht richtig interpretiert werden. Wenn im Jahre 2006 im Westen 48 und im Osten 34 Kindstötungen erfolgten, dann kann man nicht einfach sagen, dass dies 29% weniger Tötungen im Osten waren als im Westen. Wer diese Zahlen nämlich ins Verhältnis zum Bevölkerungsanteil setzt, der stellt fest, dass 2006 4x mehr Westdeutsche als Ostdeutsche in Deutschland lebten. Wenn ich die Zahl 48 mit 4 multipliziere, dann ist das Ergebnis 192. Die Aussage von Frau Rabe — richtig interpretiert — fällt sogar noch günstig für die Ostdeutschen aus.
Herr Professor Müller: Wenn man so anspruchsvoll daherkommt, sollte man sich schon etwas mehr Mühe geben.
Leserbrief OL
Diese Aussage enthält die Unterstellung, ich hätte die Autorin bewusst fehlinterpretiert. Hier ist die zitierte Stelle aus meinem BLZ-Artikel:
Als letzten Punkt möchte ich die Kindstötungen ansprechen. Anne Rabe behauptet in ihrem Nicht-Sachbuch, dass die Zahl der Kindstötungen in den 90er- und 2000er-Jahren im Osten doppelt so hoch war wie im Westen und im Jahr 2006 auf das Vierfache anstieg. Schaut man in Studien zur Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) dieser Jahre, stellt man fest, dass die Fallzahlen insgesamt so klein sind, dass man keine statistisch relevanten Aussagen machen kann.
Außerdem weisen die Autorinnen darauf hin, dass die Fälle mit dem Jahr der Erfassung in die PKS eingehen. Das war für die neun Kindstötungen, die in Frankfurt (Oder) zwischen 1988 und 1999 stattfanden, das Jahr 2006. Dadurch ist der extreme Anstieg von 2006 zu erklären, denn die Fallzahlen insgesamt sind sehr klein. Zu guter Letzt ist die Aussage von Anne Rabe, die Zahl der Kindstötungen sei im Osten doppelt so hoch wie im Westen gewesen, schlicht falsch. Wenn dem so wäre, wäre das wirklich extrem, denn im Osten gibt es viel weniger Menschen und viel geringere Geburtenraten als im Westen.
Die absoluten Zahlen für 2006 betragen 48 tote Kinder für Westdeutschland und 34 für Ostdeutschland – das sind 29 Prozent weniger. Wenn die absoluten Zahlen im Osten viermal so groß wie im Westen gewesen wären, hätten es 192 statt 34 Kindstötungen sein müssen.
Die Kritik des Lesers ist sehr merkwürdig, denn ich habe im Satz vor den absoluten Zahlen geschrieben, dass es im Osten viel weniger Menschen und viel niedrigere Geburtsraten gibt als im Westen und dass man, wenn man die absoluten Zahlen betrachten würde, nicht auf eine um den Faktor vier höhere Tötungszahl kommen könnte. Im von mir eingereichten Beitrag stand auch noch ein Satz zur Ermittlung der Opferziffern (OZ). Relevant sind die Kindstötungen pro 100.000 Menschen im relevanten Alter (Kinder unter sechs Jahren).
Leider ist dieser Satz im Redaktionsprozess verloren gegangen, was mir nicht aufgefallen ist. Ich hätte den ganzen Absatz noch einmal sorgfältig lesen müssen. Jetzt steht folgendes in der Online-Version:
Die absoluten Zahlen für 2006 sind für Westdeutschland 48 und für Ostdeutschland 34. Was untersucht wurde, ist die Anzahl der Kindstötungen pro 100.000 Kindern unter sechs Jahren.
Im Original-Blogpost zum Thema ist das richtig. Hier noch einmal die Grafik aus der Polizeistatistik mit den relativen und absoluten Zahlen:
Man sieht sehr schön, dass die relativen Zahlen (West 1,28 vs. Ost 5,76) sich anders verhalten als die absoluten (48 vs. 34). Die relativen Zahlen sind in der Tat um den Faktor vier höher, die absoluten Zahlen sind aber um 29 % niedriger.
Wer spricht?
Leser Reinhard Brettschneider schreibt:
Sehr geehrter Herr Müller, liebe Berliner Zeitung, es ist sehr gut, dass die Berliner Zeitung so vielfältig und frei Menschen ihre Meinung schreiben lässt. Ich finde es super, Herr Müller, dass Sie diesen Freiraum nutzen. Ich bin froh, dass ich, seinerzeit 29 Jahre alt, mit dem Ende der DDR diese Freiheiten auch dort erleben konnte.
Ich finde mich in Ihren Artikel in keiner Weise wieder. Für mich ein Artikel mehr, der Spaltung zwischen Ost und West erhalten will. Und ich persönlich bin sehr froh, dass ich sowohl persönlich als auch beruflich diesen Spaltergeist nicht erlebe.
Eine Sache hat mich besonders irritiert. Gleich am Anfang schließen Sie 2 Gruppen aus dem Diskurs aus und Ihre Begründungen klingen für mich wie „niedrige Beweggründe“ mit denen beide Gruppe, ihre Meinung zur DDR bilden.. Wenn ich ehemalige Oppositionelle in Medien oder anderswo erlebe, so haben sie sehr unterschiedliche und differenzierte Meinungen. Zu der anderen Gruppe hatte und habe ich zu wenig Kontakt.
Ich bin Physiker und deshalb etwas zahlenaffin. Herr Müller, Sie haben vollkommen recht, dass Frau Rabe falsch liegt, wenn sie behauptet hat, dass die absolute Zahl der Kindstötungen in in den neuen Bundesländern über den der alten Länder lag. Ich kenne das Originalzitat von Frau Rabe nicht, aber üblich sind in solchen Fällen für Vergleiche natürlich relative Zahlen. Grobe Zahlen zum einfachen Rechnen: Neue Länder ca. 14 Mio (inkl. 1,4 Mio Berlin), alte Länder 70 Mio., 25 (=34–9 wegen des Sondereffekts) vs. 48 macht einen Anteil von 1,8 pro Mio Einwohner gegen 0,7 pro 1 Mio. Das ist etwa das 2,5 fache. Das ist schon eine deutliche Korrelation, insbesondere wenn es über einen langen Zeitraum so war. Korrelation ist keine Kausalität. Und ich vermute, dass die absolute Zahl (zum Glück) so klein ist, dass die gewiss vielfältigen Ursachen nicht wissenschaftlich erforscht werden.
Liebe Berliner Zeitung, auch wenn Sie für die OS-Artikel inhaltliche Verantwortung ausschließen, wäre ein Faktencheck bei einem Artikel, der sich auf Fakten beruft, vielleicht doch angebracht.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Hier die einzelnen Punkte kommentiert:
Für mich ein Artikel mehr, der Spaltung zwischen Ost und West erhalten will. Und ich persönlich bin sehr froh, dass ich sowohl persönlich als auch beruflich diesen Spaltergeist nicht erlebe.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Sehr geehrter Herr Brettschneider, ein erster Beitrag zur Heilung wäre ein angemessene Wahrnehmung der Tatsachen, eine faire Berichterstattung in den Medien. Diese ist nicht gegeben, weshalb ich diesen Blog betreibe. Ich erlebe diesen Spaltergeist auch weder beruflich noch persönlich. Wir hatten gerade eine private Party mit ca. 70 Menschen, bei denen wahrscheinlich 80 Prozent aus dem Westen waren. Wir waren mit Familien aus dem Westen im Urlaub usw. In meinem Umfeld an der Humboldt-Uni komme ich primstens mit allen aus. Einige meiner Kolleg*innen haben mich auch auf den Artikel angesprochen. Positiv. Die Spaltung ist real. Gerade auch bei Professuren zeigt sie sich. Ich bin an unserem Institut an einer Ost-Uni der einzige Ossi von neun Professuren. Von 22 Jura-Professor*innen sind zwei aus dem Osten. Ich habe in Ich will was sagen über meine Entwicklung zum Ossi und die Gründe für diesen Blog geschrieben. Spaltung liegt mir fern. Wissenschaft geht auch ohnehin nur gemeinsam. Ich habe lange Jahre in Saarbrücken, Bremen, in Jena und auch an der FU-Berlin gearbeitet. Ausschließlich mit West-Professor*innen. Ich bin auch ins DFG-Fachkollegium gewählt worden. Das Fachkollegium vergibt die Forschungsmittel, die Wissenschaftler*innen beantragen können. Wählen dürfen alle im betreffenden Fach Promovierten. Auch dort war ich der einzige Ossi. Ich habe als Ossi im beruflichen Umfeld keinerlei Probleme. Ich möchte hier auf Missstände hinweisen und die Spaltung überwinden. Dazu ist es wichtig, dass tendenziöser Berichterstattung etwas entgegengestellt wird.
Eine Sache hat mich besonders irritiert. Gleich am Anfang schließen Sie 2 Gruppen aus dem Diskurs aus und Ihre Begründungen klingen für mich wie „niedrige Beweggründe“ mit denen beide Gruppe, ihre Meinung zur DDR bilden.. Wenn ich ehemalige Oppositionelle in Medien oder anderswo erlebe, so haben sie sehr unterschiedliche und differenzierte Meinungen. Zu der anderen Gruppe hatte und habe ich zu wenig Kontakt.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Ich habe zu diesem Punkt in einem Blog-Post über einen Artikel von Patrice Poutrus geschrieben. Ad hominem-Argumente sind immer schwach, in bestimmten Diskussionen sogar schlecht, eine Form von Whataboutism. Aber in der aktuellen Situation ist es schon wichtig zu schauen, wer spricht. Mir geht es um extreme Ansichten. Es gibt Historiker oder andere Autor*innen, die kein gutes Haar an der DDR lassen und eben auch faktisch Falsches oder logisch Unhaltbares von sich geben. Und man fragt sich dann, warum sie das tun. Patrice Poutrus war in der DDR hauptamtlicher FDJ-Sekretär. Er hat vor der Wende angefangen Geschichte zu studieren. Das waren nur die rötesten Socken. Genauso kommt Ines Geipel aus einem Elternhaus mit Stasi-IM, der für Terroranschläge auf dem Gebiet der BRD zuständig war. Kahane ist die Tochter eines führenden DDR-Journalisten. Diese Menschen haben sich irgendwann von ihrer Vergangenheit gelöst, sind dabei aber über das Ziel hinausgeschossen. Sie sind keine verlässlichen historischen Zeitzeugen, so wie Anne Rabe auch keine verlässliche Quelle in Bezug auf die DDR ist. Der Abschnitt mit der Selbstvorstellung in der Berliner Zeitung ist – gemessen an dem, was ich hätte auch noch sagen wollen und müssen – vielleicht etwas zu lang geraten. Er war nötig, um zu zeigen, dass ich kein „Im Osten war alles dufte“-Mensch bin, kein Ostalgiker und kein Jammer-Ossi (ein Begriff zur pauschalen Zurückweisung aller Klagen).
Übrigens war ich beim taz-Lab mit zwei Ostlerinnen, die beide in der Jungen Gemeinde waren. Eine der beiden ist in der zehnten Klasse aus politischen Gründen von der Schule geflogen. Sie hat einen Ausreiseantrag gestellt und durfte zwei Wochen vor Maueröffnung in den Westen ausreisen. Wir fanden es alle drei kurios, dass jetzt die Dissident*innen die DDR verteidigen müssen. Also: Es gibt immer sone und solche. Ich versuche, ein differenziertes Bild von der DDR zu zeichnen.
Ich bin Physiker und deshalb etwas zahlenaffin. Herr Müller, Sie haben vollkommen recht, dass Frau Rabe falsch liegt, wenn sie behauptet hat, dass die absolute Zahl der Kindstötungen in in den neuen Bundesländern über den der alten Länder lag. Ich kenne das Originalzitat von Frau Rabe nicht, aber üblich sind in solchen Fällen für Vergleiche natürlich relative Zahlen. Grobe Zahlen zum einfachen Rechnen: Neue Länder ca. 14 Mio (inkl. 1,4 Mio Berlin), alte Länder 70 Mio., 25 (=34–9 wegen des Sondereffekts) vs. 48 macht einen Anteil von 1,8 pro Mio Einwohner gegen 0,7 pro 1 Mio. Das ist etwa das 2,5 fache. Das ist schon eine deutliche Korrelation, insbesondere wenn es über einen langen Zeitraum so war. Korrelation ist keine Kausalität. Und ich vermute, dass die absolute Zahl (zum Glück) so klein ist, dass die gewiss vielfältigen Ursachen nicht wissenschaftlich erforscht werden.
Liebe Berliner Zeitung, auch wenn Sie für die OS-Artikel inhaltliche Verantwortung ausschließen, wäre ein Faktencheck bei einem Artikel, der sich auf Fakten beruft, vielleicht doch angebracht.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Lieber Herr Brettschneider, ich habe angefangen, Mathematik zu studieren, dann – als es den Fachbereich gab – zu Informatik gewechselt und in Informatik promoviert. Ich bin auch zahlenaffin. Im vorigen Abschnitt habe ich erklärt, was schief gegangen ist. Der Satz bezüglich der Kindstötungen pro 100.000 Geburten ist dem Ping-Pong mit der zuständigen Redakteurin zum Opfer gefallen. Sie hatte angemerkt, dass mit den absoluten Zahlen etwas unklar sei, weshalb ich dann noch eingefügt hatte, wie hoch die absoluten Zahlen sein müssten, wenn man Anne Rabes Aussage zugrundelegen würde. Hier können Sie auch sehen, dass die Redaktion durchaus auch inhaltlich mit mir an dem Artikel gearbeitet hat. Die Veröffentlichung wurde um mehrere Wochen verzögert, weil da noch Dinge geprüft wurden. Es wäre übrigens nicht korrekt, wie Sie vorgeschlagen haben, die Bevölkerungsgrößen zum Vergleich heranzuziehen. Das kann man sehen, wenn man sich überlegt, was wäre, wenn in den neuen Bundesländern in einem Jahr nur ein Kind geboren würde. Wenn dieses dann getötet würde, wäre die Zahl der getöteten Kinder pro Einwohner extrem gering. Die Zahl der Kindstötungen pro Geburt läge aber bei 100%. Was in der Polizeistatistik also angegeben wurde sind die Zahl der Kindstötungen pro 100.000 Geburten. Das wäre vergleichbar, wenn es nicht Probleme mit Dunkel- und Hellfeld in der Erfassung und das Problem der insgesamt zu niedrigen Fallzahlen gäbe, die Sie ja auch ansprechen. Man kann daraus absolut nichts ableiten. Das habe ich im Artikel auch geschrieben:
Die Autorinnen der zitierten Studie schreiben das auch explizit (Höynck, Behnsen & Zähringer. 2015: 337). Sie können in der Studie auch noch weitere problematische Aspekte finden. Zum Beispiel Aufnahme des Falls durch die Polizei vs. Anklage vs. Verurteilung. Die PKS listet die Fälle erst mal nur aus der Sicht der Polizei. Es kann sich dann immer noch herausstellen, dass die Sachlage anders war. Ich bitte Sie, noch meinen originalen Blog-Post zu dem Thema Kindstötungen zu lesen. Da sind die Gründe, warum man aus der PKS nichts ableiten kann, genau erklärt. Leider konnte ich auf der einen Seite, die mir zur Verfügung stand, nicht tiefer ins Detail gehen.
Kausalität und Faktencheck
Im folgenden Leserbrief geht es um die Tatsache, dass der Faschismus im Osten in seiner jetzigen Ausprägung nicht ohne den Westen möglich gewesen wäre. Wie ich im Original-Artikel ausgeführt habe, haben die Polizei und auch zuständige Politiker*innen in Rostock-Lichtenhagen massiv versagt. Alle beteiligten waren aus dem Westen und trotz Ankündigung der Ausschreitungen im Wochenende. Parteistrukturen wurden von Neonazis aufgebaut (Deutsche Alternative), rechte und rechtsextreme Aktivitäten von Gerichten und Verfassungsschutz geschützt oder gedeckt. Ich gebe hier einen Leserbrief komplett wieder und gehe dann auf Details ein:
Das Lesen des Beitrages von Herrn Stefan Müller hat mich doch etwas ärgerlich gemacht, denn von einem Hochschullehrer hätte ich doch ein wenig mehr erwartet. Aber mal im einzelnen: Ich fand den Ton des Beitrages schon etwas geifernd, was eigentlich unnötig ist, denn wenn man jemanden Fehler nachweisen kann, kommt das in sachlicher Tonlage durchaus besser an. Ein Verständnis von Kausalität, was ist Ursache und was ist Folge, hat Herr Müller offenbar auch nicht so recht. Denn zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen schriebt er triumphierend: „Die Neonazis aus dem Westen kam am zweiten Tag“ – ja, wenn es einen ersten Tag, völlig ohne Neonazis aus dem Westen nicht gegeben hätte, dann hätte es auch keinen zweiten Tag geben können. Der Versuch ging dann doch in die Hose. Und der Versuch mit Höcke und Kalbitz geht daneben: „Höcke und Kalbitz sind aus dem Westen“. Ja, natürlich, aber da sind sie nichts geworden, waren kleine Lichter, groß sind sie erst im Osten geworden. Und ein paar Zeilen später sieht Herr Müller das dann offenbar auch selbst ein: „Natürlich gehört zum Erfolg der Nazis in Ostdeutschland das Fußvolk, das begeistert mitmacht“. Ja, natürlich, ohne Fußvolk kann man in der Politik gar nichts werden.
Und dann die Geschichte mit den „Nazi-Aufmärschen“. Dass die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut ist, ist gerade erst zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes wieder betont worden, und dass es hohe Hürden gibt, bevor eine Demonstration verboten werden kann sollte auch bekannt sein. Dafür die Verwaltungsrichter in Gera zu schelten und dann auch noch darauf hinzuweisen, dass alle drei „Wessis“ sind, das geht nun wirklich an der Sache vorbei. Es gibt in der Bundesrepublik – anders als früher in der DDR – eine politisch unabhängige Justiz, die nach Recht und Gesetz zu entscheiden hat und nicht nach politischer Opportunität. Dass das manchmal schwer auszuhalten ist, verstehe ich, zumal der zitierte Jenaer Bürgermeister, der den Aufmarsch verbieten wollte, ein Parteifreund von mir ist. Aber das gehört leider nun mal zu einem freiheitlichen Rechtsstaat dazu.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Ich verstehe die Emotionalität des Leserbriefschreibers. Ich bin auch manchmal emotional.
Nun zu den Details:
Ein Verständnis von Kausalität, was ist Ursache und was ist Folge, hat Herr Müller offenbar auch nicht so recht. Denn zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen schriebt er triumphierend: „Die Neonazis aus dem Westen kam am zweiten Tag“ – ja, wenn es einen ersten Tag, völlig ohne Neonazis aus dem Westen nicht gegeben hätte, dann hätte es auch keinen zweiten Tag geben können.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Wer am ersten Tag da war, weiß ich nicht. Darum geht es auch in dem Beitrag nicht. Es geht um die Fakten bzgl. Rostock-Lichtenhagen und da liegt Anne Rabe falsch. Bitte lesen Sie auch den Blog-Abschnitt „Nazis aus dem Westen“ zu diesem Thema. Man hätte diese Ausschreitungen sofort unterbinden müssen. Das ist nicht geschehen, weil die Polizeiführung und Politiker allesamt zuhause waren und der Mob trotz monatelanger vorheriger Ankündigung ungehindert toben konnte. Nazi-Verbrechen sind nie konsequent verfolgt worden, weshalb sich das Problem immer weiter zugespitzt hat.
Und der Versuch mit Höcke und Kalbitz geht daneben: „Höcke und Kalbitz sind aus dem Westen“. Ja, natürlich, aber da sind sie nichts geworden, waren kleine Lichter, groß sind sie erst im Osten geworden. Und ein paar Zeilen später sieht Herr Müller das dann offenbar auch selbst ein: „Natürlich gehört zum Erfolg der Nazis in Ostdeutschland das Fußvolk, das begeistert mitmacht“. Ja, natürlich, ohne Fußvolk kann man in der Politik gar nichts werden.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Bitte lesen Sie die Zusammenstellung der rechtsextremen AfD-Politiker*innen und auch der Landesvorsitzenden, die auch aus der Online-Version des Artikels verlinkt ist. Da können Sie sehen, welche anderen AfDler es noch gibt und gab. Sie können ihre Lebensläufe studieren und selbst nachprüfen, ob aus den jeweiligen Personen im Westen nichts geworden ist. Die AfD ist von neoliberalen Professor*innen aus dem Westen gegründet worden. Diese waren Mitglieder der CDU/CSU, der FDP und ja, sogar der SPD. Die Partei wurde nach und nach immer extremer. Nicht nur im Osten sind extrem rechte Politiker*innen am Werk. Die im Westen werden auch von ihren Landesverbänden immer wieder gewählt. Auch trotz Ausschlussverfahren wegen Holocaust-Leugnung und so weiter. Alles bestens verlinkt. Ich erinnere nur an Dr. Alexander „Wir werden sie jagen“ Gauland, Oberst a. D. Georg Pazderski, Dr. Alice Weidel, Offizier Martin Reichardt, Doris von Sayn-Wittgenstein, PD Dr. phil. Hans-Thomas Tillschneider, Dr. Wolfgang Gedeon. Das sind Menschen mit hohem Bildungsniveau, aus denen im Westen schon was geworden war. Der eindrücklichste Beweis:
Gauland war von 1973 bis 2013 Mitglied der CDU. Er war im Laufe seiner Parteikarriere im Frankfurter Magistrat und im Bundesumweltministerium tätig und leitete von 1987 bis 1991 die Hessische Staatskanzlei unter Ministerpräsident Walter Wallmann, der sein Mentor war.
Und vielleicht sollte man auch den Chef des Bundesverfassungschutzes Hans-Georg Maaßen erwähnen, der durch Bundesinnenminister Horst Seehofer ins Amt geholt worden war und der nun selbst durch seine eigene Behörde beobachtet wird. Wie wird man groß?
Und dann die Geschichte mit den “Nazi-Aufmärschen”. Dass die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut ist, ist gerade erst zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes wieder betont worden, und dass es hohe Hürden gibt, bevor eine Demonstration verboten werden kann sollte auch bekannt sein. Dafür die Verwaltungsrichter in Gera zu schelten und dann auch noch darauf hinzuweisen, dass alle drei „Wessis“ sind, das geht nun wirklich an der Sache vorbei. Es gibt in der Bundesrepublik – anders als früher in der DDR – eine politisch unabhängige Justiz, die nach Recht und Gesetz zu entscheiden hat und nicht nach politischer Opportunität. Dass das manchmal schwer auszuhalten ist, verstehe ich, zumal der zitierte Jenaer Bürgermeister, der den Aufmarsch verbieten wollte, ein Parteifreund von mir ist. Aber das gehört leider nun mal zu einem freiheitlichen Rechtsstaat dazu.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Bitte lesen Sie den auch verlinkten Artikel über die drei Richter in der taz. Wenn man sich anguckt, wie ihre Urteile im Vergleich zum Bundesgebiet ausfallen, ist klar, wer da sitzt.
In Jena durfte die NPD Märsche im Gedenken an die Reichspogromnacht und an den Tod von Hitlerstellvertreter Rudolf Heß durchführen. Die Neonazi-Gruppe „Thügida/Wir lieben Ostthüringen“ durfte Hitlers Geburtstag am 20. April 2016 mit einem Fackelzug in Jena feiern. Das Gericht kassierte dabei immer wieder zuvor verhängte Versammlungsverbote des damaligen SPD-Oberbürgermeisters Albrecht Schröter.
Ist das von der Versammlungsfreiheit gedeckt? Freudenmärsche zur Reichsprogromnacht? Feiern zu Hitlers Geburtstag? Wirklich? Das Bundesverwaltungsgericht sah das bezüglich Heß-Aufmärschen in Wunsiedel anders:
Der erweiterte Paragraf 130 stelle tatsächlich einen Eingriff in die Meinungsfreiheit dar, urteilten jetzt die Leipziger Richter. Dieser sei jedoch gerechtfertigt, weil es dem Schutz des öffentlichen Friedens und der Menschenwürde der Opfer und ihrer Nachkommen diene. Der verbotene Aufmarsch in Wunsiedel hätte laut Urteil den öffentlichen Frieden gestört. Er hätte weit über die Stadt hinaus Beachtung gefunden und insbesondere bei Opfern des NS-Regimes die verständliche Furcht ausgelöst vor der gefährlichen Ausbreitung des Gedankenguts der Neonazis, hieß es.
Erleichtert reagierte Wunsiedels Bürgermeister Karl-Willi Beck (CSU): “Wir sind wirklich sehr froh. Damit ist ein gewichtiger Kelch an uns vorüber gegangen.” Die Entscheidung sei jedoch nicht nur für die Kommune von großer Bedeutung, sondern bundesweit.
“Wir freuen uns, dass der Spuk im August beendet ist”, sagte Wunsiedels Landrat, Karl Döhler (CSU). Die Richter hätten seine Behörde auf der gesamten Linie bestätigt. Bayerns Ministerpräsident Günter Beckstein (CSU) sprach von einem “guten Tag für den Rechtsstaat”. Die Entscheidung stärke diesen gegen Verfassungsfeinde.
Auch zu anderen Gelegenheiten wurden NPD-Demos verboten. Ich habe im folgenden nur Fälle aufgeführt, bei denen keine besonderen Verbotsgründe (Corona-Infektionsschutzmaßnahmen, polizeiliche Überlastung am 1. Mai usw.) angeführt wurden:
Rechtsextremistische Aufzüge an geschichtsträchtigen Orten und Gedenktagen sind künftig leichter zu verbieten. Laut einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss einer zuerst angemeldeten Demonstration nicht zwingend Vorrang gewährt werden.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVG) in Karlsruhe hat die für Samstag geplante Demonstration der rechtsextremen NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) in Berlin endgültig verboten. Das teilte ein Sprecher der Berliner Polizei mit. Das Gericht wies in letzter Instanz eine Beschwerde der Partei gegen das polizeiliche Verbot des Aufmarsches zurück und bestätigte damit eine entsprechende Entscheidung der Vorinstanzen.
Zuvor hatten bereits das Verwaltungsgericht (VG) und das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin das Verbot bestätigt. In den Vorinstanzen hatten die Gerichte das Verbot der Demonstration damit begründet, dass bei dem Aufmarsch mit Straftaten wie Volksverhetzung zu rechnen sei. Zudem ziele das Motto der gegen islamische Zentren in der Stadt gerichteten Demonstration — “Berlin bleibt deutsch” — darauf ab, Feindseligkeiten gegen moslemische Bürger und insbesondere gegen Türken zu schüren. Die Veranstalter hatten rund tausend Teilnehmer erwartet.
Es schockiert mich, dass ein SPDler im Eilentscheid aufgehobene Verbote von NPD-Demos zum Hitlergeburtstag normal findet, während sogar CSUler für ein Verbot von Demos am Todestag von Hitlers Stellvertreter gefochten haben und erleichtert sind, dass der Spuk vorbei ist.
Herr Kavemann, Mitglieder meiner Familie haben im KZ gesessen (siehe Blog-Post zur Kollektivschuld bei Anne Rabe) oder sind gerade noch so einer Verhaftung entgangen (aus beiden Teilen der Familie). Sie waren alle in Ihrer Partei bzw. deren Jugendorganisation SAJ. Und Sie schreiben mir, dass es schon ok ist, dass eine verfassungsfeindliche Organisation am Hitlergeburtstag mit Fackeln durch die Stadt zieht?
Wie die Zitate oben zeigen, gibt es Gestaltungsmöglichkeiten. Die rechten Richter hätten also anders entscheiden können. Und selbst wenn dem nicht so wäre: Die Richter sprechen unser Recht. Wir können es ändern. Wir könnten dafür sorgen, dass solche Aufmärsche verboten wären, so wie es für Wunsiedel ja auch getan wurde. Wenn so eine Rechtsanpassung für Verbote von NPD-Aufmärschen nötig wäre, so müsste das von den zuständigen Stellen umgesetzt werden, die hauptsächlich mit West-Jurist*innen besetzt sind. Wir sind also wieder da gelandet, wo wir angefangen haben: Das ganze Land hat ein Problem und an den Positionen, wo man etwas tun kann, sitzen überwiegend Westler.
Jammer-Ossi
Brief aus Rostock.
ich, „Wessi“ lebe und arbeite in Rostock.
Ich lebe hier gerne und bin dieses Ost- West ziemlich müde.
Was mich an diesem (leider pseudo- wissenschaftlichen) Artikel massiv stört, ist das was ich hier so oft höre.
Die mangelnde Übernahme der Eigenverantwortung. Man war ja doch nur Opfer, man bekam etwas übergestülpt, es gibt doch einen großen Wessi Plan hinter allem, dahinter stecken doch amerikanische Mulits und „es gab auch sehr viel Gutes in der DDR“.. das Softeis und der Original DDR Eierlikör…
Ich kann’s nicht mehr hören!
1. Es gab und gibt viele “Ossi” die Gewinner sind. Rostock ist voll von gut situierten gebürtigen Rostockern, auch die ehemaligen LPG Vorsitzenden im Landkreis haben sich gut bedient.
2. Zur Wahrheit gehört auch: MV ist das Bundesland mit der höchsten Alkoholikerquote, der höchsten Schulabbrecher Quote, die höchste Rate an Diabetikern,… ( Ich arbeite im Gesundheitswesen…). Das ist jetzt mal kein Wessi Ding aus, denn das war zu Zeiten der DDR nicht anders- nur besser vertuscht.
3. Fragt man nach Beweisen, wo genau die Wessi überall hinter stecken… Kommt nix! Auch mit den amerikanischen Multis… Nix.
Was für eine bequeme mär
4. Unwissenschaftlich: In MV (darüber weiß ich inzwischen gut Bescheid — auch über Lichtenhagen) leben 1.7 Mio. Menschen. Tendenz steigend — leider nur durch Zuzug 65+ Menschen aus dem Westen).
Wenn man schon Zahlen vergleicht, Herr Professor, dann sollte die Bezugsbasis stimmen. 1.7 Mio Menschen leben alleine in der Region Hannover mit Braunschweig, da komme ich ursprünglich her.
Es nervt total, dass sich die „Ossis“ selber gerne schön rechnen.…dann braucht man ja nicht ins Handeln zu kommen.
Wikipedia ist übrigens keine akzeptierte Quelle… Eher hier zur Verdummung des Lesers genutzt.
Auch das die linientreuen Richter, Polizisten, sprich der Kader, initial durch Wessis ausgetauscht wurde, ist jetzt kein Geheimnis und war auch richtig – oder sollten die SEDler weiter machen? Mein Onkel gehörte zum Kader auch dazu – und ist noch heute so was von linientreu… würde alles zurückdrehen. Echt unerträglich!
Es gibt hier (in MV) echt viele Probleme – genauso wie im Westen.
Mit dem Unterschied, daß sich dort niemand mit Wende, die Wessis, … rausreden kann.
Und dieses Narrativ sollte jetzt hier endlich auch mal aufhören.
Es gibt viele Rostocker die anpacken, die gestalten.
Es gibt aber auch viele, die genau so einen Artikel nutzen um sich entspannt zurück zu lehnen, als Opfer rumstöhnen, anstatt sich der eigenen Geschichte und Verantwortung kritisch zu stellen. Es gibt ihn schon: den Jammer Ossi.
Rechtfertigen tun sich die Ossis nur dauernd vor sich selber… und vergewissern sich, das sie ja nichts machen können.
Kann das endlich mal aufhören?!
Leserbrief HR
Ich war mir erst nicht sicher, ob der Vorstellungsteil, in dem ich über meinen Hintergrund geschrieben habe, nicht zu lang war. Jetzt bin ich froh, dass ich ihn geschrieben habe. Zur mangelnden Übernahme von Eigenverantwortung kann ich sagen, dass ich das aus eigener Anschauung bestätigen kann. Ich habe nach der Wende mit Glück eine Stelle im Wissenschaftlerintegrationsprogramm bekommen. Dieses Programm war für Ostwissenschaftler*innen als Brücke gedacht. Sie wurden drei Jahre finanziert und sollten diese Jahre dazu benutzen, sich in das neue akademische System zu integrieren. Ich hatte kurz nach der Wende bei Prof. Kunze an der Akademie der Wissenschaften eine Hilfskraftstelle und habe dann, als er an die Humboldt-Universität wechselte, eine Mitarbeiterstelle bekommen, weil seine Integrationsmittel frei wurden, da er einen Lehrstuhl an der HU bekam. Kurz vor Ablauf der Dreijahresfrist gab es ein Treffen all derjenigen, die in diesem Programm waren. Ich war auch dabei und war erschüttert: Alle klagten darüber, dass sie nun arbeitslos werden würden und fanden, die Politik müsse etwas tun. Dabei wäre es an ihnen gewesen, sich irgendwie innerhalb dieser drei Jahre zu bewerben.
Ich möchte Ihren Brief jetzt nach den Punkten beantworten:
1. Es gab und gibt viele „Ossi“ die Gewinner sind. Rostock ist voll von gut situierten gebürtigen Rostockern, auch die ehemaligen LPG Vorsitzenden im Landkreis haben sich gut bedient.
Leserbrief HR
Ich sehe mich als absoluten Gewinner an. Das habe ich auch in Ich will was sagen so geschrieben. Ich habe eine Familie, ein tolles Fahrrad (von 1997), eine Wohnung und eine Arbeit, die mir großen Spaß macht. Ich bin Professor am besten sprachwissenschaftlichen Institut, das es in diesem Land gibt. Zur Zeit bin ich sogar Direktor dieses Instituts. Ich habe über 500.000€ an Drittmitteln eingeworben und damit vielen Menschen eine Arbeitsstelle in meinen Projekten geben können. Seit 2014 bin ich Mitglied in der Academia Europaea, Section Linguistic Studies. Meine Erdős-Zahl ist 4. Mein h‑index liegt bei 35 (Google-Scholar-Profil). Ich habe mit meinem Leipziger Kollegen Prof. Dr. Martin Haspelmath (aus dem Westen und sehr in Ordnung) den wissenschaftlichen Verlag Language Science Press gegründet, der sprachwissenschaftliche Bücher im Open Access veröffentlicht. Über tausend Autor*innen haben bei uns veröffentlicht, der Verlag hat insgesamt über 2 Mio Downloads. Noam Chomsky ist einer unserer prominenten Unterstützer*innen. Steven Pinker gehört auch dazu. Ich habe mich nirgends bedient, das war alles harte Arbeit. Politisch aktiv bin ich auch: 2021 war ich Kanzlerkandidat für die Partei Die PARTEI. Außerdem arbeite ich nebenberuflich als Fotograf. Mein Leben ist erfüllt, man könnte auch sagen überfüllt. Mangelnde Eigeninitiative können Sie mir sicher nicht vorwerfen.
Mein kleiner Bruder ist Professor, meine kleine Schwester promoviert. Uns allen geht es gut. Meine Eltern sind bis auf kurze Unterbrechungen bei meiner Mutter sogar als Wissenschaftler*innen durch die Wende gekommen. Es tut mir Leid, wenn ich Sie nerve, aber ich jammere nicht. Ich beschwere mich! Ich tue das, um Probleme zu lösen, um Dinge zu ändern. Nicht für mich, sondern für dieses Land. Sehen Sie sich die Wahlergebnisse an, dann verstehen Sie vielleicht meine Motivation.
Zu 2. habe ich nichts zu sagen. Ich weiß nicht, was das mit meinem Beitrag zu tun hat.
3. Fragt man nach Beweisen, wo genau die Wessi überall hinter stecken… Kommt nix! Auch mit den amerikanischen Multis… Nix.
Was für eine bequeme mär
Leserbrief HR
Ich habe in meinem Beitrag konkrete Personen bzw. Ereignisse genannt, an denen West-Personen beteiligt waren. Politiker*innen und Polizisten in Lichtenhagen, Politiker, die ehemals Verfassungsschutzpräsidenten waren, die rechten Richter aus Gera, die Politiker der AfD.
Ansonsten gibt es inzwischen auch viel Information zur Treuhand. Der erste Chef von Kahla-Thüringen Porzellan hatte keine Ahnung von Porzellan. Seine einzige Qualifikation bestand darin, dass er einen Bruder bei der Treuhand hatte. Er hat dann auch sehr schnelle eine Pleite hingelegt. Zum Glück war sein Nachfolger ein Porzellaner von Rosenthal. Über die Abwicklung von Elmo in Wernigerode können Sie auch in der Berliner Zeitung lesen. Die Vorstellungen von Birgit Breuel und Detlef Rohwedder können Sie auch dem Artikel entnehmen. Aber eigentlich war das nicht Thema des Artikels.
Zu viertens: Was die Einwohnerzahl von MV mit irgend etwas, was in dem Artikel besprochen wurde, zu tun haben soll, ist mir unklar. Zu Wikipedia siehe oben.
Auch das die linientreuen Richter, Polizisten, sprich der Kader, initial durch Wessis ausgetauscht wurde, ist jetzt kein Geheimnis und war auch richtig – oder sollten die SEDler weiter machen? Mein Onkel gehörte zum Kader auch dazu – und ist noch heute so was von linientreu… würde alles zurückdrehen. Echt unerträglich!
Leserbrief HR
Ja, das stimmt, denn das Fachwissen war auf Ostseite außer bei ein paar Fachanwält*innen, die bei Schalk-Golodkowski gearbeitet haben, nicht vorhanden. Durch den selbst gewählten Anschluss galt plötzlich das westdeutsche Rechtssystem. Man hätte aber den Aufbau-Ost anders gestalten können und zum Beispiel Ost-West-Tandems für Posten bilden können. Ossi wird eingearbeitet und übernimmt dann später. Stattdessen gab es das Gefühl fremdbestimmt zu sein. Das rächt sich jetzt bitter, weil viele rechtsextrem wählen. Die AfD holt die Frustrierten ab.
Es gibt hier (in MV) echt viele Probleme – genauso wie im Westen.
Mit dem Unterschied, daß sich dort niemand mit Wende, die Wessis, … rausreden kann.
Leserbrief HR
Bitte schauen Sie sich statistische Karten an. Sie werden immer die Umrisse der DDR erkennen. Der Wohlstand ist verschieden verteilt. Die Firmen sitzen im Westen und besitzen den Osten. Steuern werden im Westen am Firmensitz gezahlt nicht vor Ort. Patente werden im Westen am Firmensitz angemeldet. Darüber kann man schon klagen. Übrigens ist der Passus mit den „gleichartigen Lebensverhältnissen“ in allen Landesteilen 1994 aus dem Grundgesetz gestrichen worden.
War in Artikel 72 Grundgesetz einst das Handlungsziel „einheitlicher Lebensverhältnisse“ verankert, wurde das Adjektiv „einheitlich“ 1994 durch das interprerarionsoffenere „gleichwertig“ ersetzt.
Mau, Steffen (2019). Lütten Klein. S. 163
Das Buch meines Kollegen Prof. Dr. Steffen Mau kann ich Ihnen nur wärmstens empfehlen. Er ist Soziologe und präsentiert Ihnen noch weitere Fakten. Auch zur Abwicklung der Eliten im Osten und zu den Transformationen im Ost-Block allgemein.
Es gibt aber auch viele, die genau so einen Artikel nutzen um sich entspannt zurück zu lehnen, als Opfer rumstöhnen, anstatt sich der eigenen Geschichte und Verantwortung kritisch zu stellen. Es gibt ihn schon: den Jammer Ossi.
Leserbrief HR
Das kann schon sein. Mir geht es um die andere Seite, die den gesamten Osten seit Jahrzehnten pauschal beschimpft. So wie auch Sie es getan haben. Ich weise darauf hin, dass die Schuld am Faschismus nicht der Osten allein trägt. Und ich kann das tun, weil ich kein Jammer-Ossi sondern ein erfolgreicher Wissenschaftler bin. Und nein, das hört nicht auf. Ich fange gerade erst an.
Kinderverschickung
Es erstaunt, dass ein deutscher professor ständig wikipedia als beweis bemüht. Seine meinung über kindstötungen ist einseitig: im westen hat niemand gleich mehrere neugeborene in blumentöpfen abgelegt. Aber im westen hat bisher niemand alle blumentöpfe untersucht und das ergebnis bei wikipedia verewigt. Die erwähnte „kinderlandverschickung“ fand übrigens im bombenkrieg statt. Gemeint ist hier schlicht die kinderverschickung – bei der es im osten wie im westen zu gewalt und missbrauch kam. Das sollte man bei wikipedia nachtragen.
Leserbrief F.F., Berlin-wilmersdorf
Es stimmt, es hätte Kinderverschickung heißen müssen. Vielen Dank für den Hinweis, das wurde jetzt im Artikel und überall hier im Blog korrigiert. Kinderverschickung habe ich in einem Blog-Post diskutiert. Soweit ich weiß, sind keine Fälle von Missbrauch bekannt. Das ganze Gesundheitssystem war anders organisiert. Nicht überwiegend kirchlich und nicht profitorientiert. Die Prügelstrafe war – anders als im Westen – bereits 1949 abgeschafft worden (siehe Blog-Beitrag Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten), die staatliche und gesellschaftliche Kontrolle war in allen Bereichen des Lebens strikter.
Was haben die Blumentöpfe mit der Diskussion zu tun? Es geht um die Anzahl der Kindstötungen pro 100.000 Geburten pro Jahr. Dazu gibt es die Polizeiliche Kriminalstatistik. Und Forschungsliteratur.
Dunkeldeutschland
Auch, dass es ein „Dunkeldeutschland“ gar nicht gab, sondern eine Erfindung von Anne Rabe ist. Ich war übrigens bei der Lesung und Diskussion des Romans auf dem taz Kongress und habe die aggressiven, atemlos vorgetragenen detaillierten Vorwürfe des Herrn Stefan Müller mit angehört. Seine Wut war kaum zu bremsen. Niemand konnte seine Behauptungen nachprüfen.
Wir Leser*innen sind intelligent genug, zwischen einem Roman, der Anregungen für eigene Gedanken geben soll, und einer Pauschalisierung einer ganzen Bevölkerung wie Herr Müller behauptet, zu unterscheiden. Herr Müller war touché.
Ich habe nicht gesagt, dass es Dunkeldeutschland nicht gab.
Weil es so eine schöne Geschichte ist, die zu allem passt, was man über Dunkeldeutschland zu wissen glaubt.
Zitat aus meinem Artikel
Ich verwende den Begriff ja sogar selbst. Wenn auch sarkastisch. Ich möchte vorschlagen, dass man seine Verwendung auf das ganze Land ausweitet, denn es sieht allgemein recht finster aus (Man rechne nur mal die Wahlergebnisse von CSU, Freien Wählern und AfD in Bayern zusammen.) Übrigens habe ich im dunkelsten Erlangen für einen Aufbau West gekämpft. Laut CSU hat Erlangen marode Straßenlampen, weshalb da nur ein Plakat dran hängen darf. Das von der CSU. Leider hat es nicht für eine Mehrheit gereicht.
Hier ist das Video vom taz-Lab an der Stelle mit meinem Kommentar. Ich hatte Anne Rabe angeboten, ihr einen 80seitigen Ausdruck meiner Blog-Posts zu überlassen. Sie wollte ihn nicht haben und auch nicht darüber reden. Damit man meine Behauptungen nachprüfen kann, habe ich die Blog-Posts mit Quellenangaben und dann den Artikel in der Berliner geschrieben. Die Behauptungen über den „Ossi an sich“ finden sich im Roman, der kein Sachbuch ist. Zum Beispiel an den Stellen über Amokläufe, zum Beispiel an den Stellen über die Kindstötungen. An Stellen, wo einfach mal behauptet wird, dass Antisemitismus Bestandteil der realsozialistischen Ideologie war:
Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 271
Anne Rabe wird dann von einem Bremer Politikprofessor als Quelle für seine nicht belegten Behauptungen bezüglich Antisemitismus zitiert. Das ist ein sich gegenseitig stützendes Netz von Falschbehauptungen. Hier der Blog-Post zum Politik-Professor. Und falls es Fragen zum Antisemitismus und zu offiziellen Einstellungen zum Holocaust in der DDR gibt, kann ich gleich noch den Blog-Beitrag Der Ossi und der Holocaust empfehlen.
Danksagungen
Ich möchte mich bei allen Leserbriefschreiber*innen bedanken. Außerdem danke ich allen Nutzer*innen von Mastodon, die sich an der Diskussion beteiligt haben und auch bei der Suche nach NPD-Gerichtsurteilen Tipps gegeben haben.
Karlsruhe erleichtert Verbot von NPD-Demos. 2005. Der Spiegel. Hamburg.
Höynck, Theresia & Behnsen, Mira & Zähringer, Ulrike. 2015. Tötungsdelikte an Kindern unter 6 Jahren in Deutschland: Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997–2006). Wiesbaden: Springer. (https://doi.org/10.1007/978–3‑658–07587‑3)