Das folgende Dokument aus dem Oktober 1989 ist eine Ausgabe des Telegraphs, einer Untergrundzeitschrift der Umweltbibliothek. (Nicht nur) folgende Stellen sind interessant:
Wir wollen als selbstbewußte Bürger unseres sozialistischen Staates endlich glaubhaft in den Entscheidungsmechanismus im Lande einbezogen werden, statt ein Leben in privater Zurückgezogenheit zu führen.
Schreiben der Kulturbundgruppen
Diese Aussage entspricht dem, was Katja Hoyer in ihrem Buch Dieseits der Mauer betont: Es gab viele Menschen in der DDR, die sich einfach ausgeklinkt hatten und sich ins Private zurückgezogen hatten. Zum Ende der DDR schien das einigen nicht mehr genug zu sein.
Zum Statement der Kampfgruppen in der Leipziger Volkszeitung gibt es einen längeren Wikipedia-Artikel: Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden.
Stefan Müller, 08.12.2024
Aktuelle Blätter der Umwelt-Bibliothek Berlin
Griebenowstrasse 16. Berlin 1058
Reformunwillig
Der sowjetische Staatschef Gorbatschow hatte sich bereits an 6. Oktober bei Gesprächen mit jungen Leuten und Pressevertretern auf den Straßen indirekt für Reformen in der DDR erklärt. Wenn die Bürger es wollten, werde es auch in diesem Land eine Politik der Perestroika geben. Er habe Vertrauen, das es Korrekturen geben werde. Bei der Festveranstaltung zum 40. Jahrestag der DDR am 6. Oktober führte Gorbatschow aus, die DDR habe ihre eigenen Entwicklungsprobleme. Er bezweifle nicht, daß die SED im Stande sei, in Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen Kräften Antworten auf die Fragen zu finden, die durch die Entwicklung der DDR auf die Tagesordnung gestellt worden seien und ihre Bürger bewegten. Fragen, die die DDR betreffen, würden aber nicht in Moskau, sondern in Berlin beantwortet.
Honecker wußte darauf nur mit dem Hinweis auf den bewährten Kurs von langfristigen und tiefgreifenden Reformen zu antworten und beschuldigte die BRD, die Bürger der DDR durch eine zügellose Verleumdungskampagne verwirren zu wollen. Schon am Vormittag hatte Honecker gegenüber Journalisten das Vorhandensein eines Flüchtlingsproblems geleugnet und die Lage in Leipzig und Dresden als „normal“ bezeichnet.
Bei einem Gespräch mit Honecker am Nachmittag des 7. Oktober wurde Gorbatschow deutlicher. Nach Aussage des sowjetischen Regierungssprechers Gerassimow warnte Gorbatschow in Anwesenheit führender Politbüromitglieder: „Warten Sie nicht zu lange, sonst werden sie es bereuen! Er erläuterte die Fehler, die man in der SU in den siebziger Jahren begangen habe. Damals sei es klar gewesen, daß die UdSSR ihre Technologie revolutionieren mußte, wenn sie mit dem Westen Schritt halten wollte. Zu diesem Zweck habe die KPdSU ein Sonderplenum in Erwägung gezogen. Doch dazu sei es nie gekommen. Jetzt, ein Jahrzehnt später, sei dies zu bedauern. Erst in jüngster Zeit habe die KPdSU ein Sonderplenum zur Nationalitätenfrage verschoben, was dann dazu geführt hätte, daß das Nationalitätenproblem nur noch schlimmer geworden sei. Das Plenum im vergangenen Monat sei dann zu spät gekommen. Gorbatschow warnte, dem Regierungssprecher der UdSSR zufolge, davor, daß Regierungen, die sich nicht den Tendenzen der Gesellschaft anpaßten, sich selbst in Gefahr brächten. Honecker sei aber, so Gerassimow, nicht in der Stimmung gewesen, solchen Bemerkungen Aufmerksamkeit zu schenken. Er habe von der Notwendigkeit gesprochen, den Lenbensstandard in der DDR zu erhöhen.
ADN führte aus, Honecker habe betont, Hoffnungen auf bürgerliche Demokratie in der DDR bis hin zum Kapitalismus seien auf Sand gebaut.
Fluchtbewegung
Als ADN am 4. Oktober meldete, in Übereinkunft mit der CSSR habe sich die Regierung der DDR entschlossen, auch die Personen, die sich neuerlich wieder in der Botschaft der BRD in Prag aufhielten, über die DDR in die BRD auszuweisen (hauptsächlich aus menschlichen Erwägungen gegenüber den Kindern), konnte diese großmäulige nachträgliche Rationalisation nur noch einen peinlichen Eindruck hinterlassen.
Nach dem Abtransport der letzten 5.000 Botschaftsbesetzer durch die Deutsche Reichsbahn in den Westen war es sehr schnell zu neuen Aufläufen in den BRD-Botschaften in Prag und Warschau gekommen. BRD-Außerminister Genscher beeilte sich mit dem Wort von den “Nachzüglern” eine ähnliche Lösung vorzubereiten. Die DDR-Regierung protestierte und verwies auf ein Abkommen, nach dem die BRD in ihren Botschaften keine neuen Flüchtlinge aufnehmen wollte. Genscher wies zurück: Es könne keine Verträge mit der DDR über die Botschaften der BRD in souveränen Staaten geben. Die BRD sei nicht für den Flüchtlingsstrom verantwortlich.
Ob nun tatsächlich, wie aus osteuropäischen Botschaftskreisen zu hören war, Gorbatschow im Falle des anhaltenden Problems der DDR die Absage seines Besuchs zum 40. Jahrestag angedroht hat, bleibt unklar. Jedenfalls baute die DDR-Regierung zuerst neuen “Nachzügler” vor und sperrte einfach die Grenze für den visafreien Verkehr in die CSSR. Honecker habe, teilte der britische Medienzar Maxwell aus dem Inhalt eines Gesprächs mit, der riesige Zufluß beunruhigt und er entschloß sich, die Grenzen zur CSSR zu schließen, „damit der Fluß von Menschen über diesen Weg aufhört“. Eine offizielle Begründung gab es dazu auch noch: „Bestimmte Kreise in der BRD bereiteten weitere Provokationen zum Jahrestag der DDR vor, die gegen Ruhe und Ordnung gerichtet seien.” Jetzt ging es mit voller Energie an die Nachzüglerregelung. Nicht gedacht hatte man freilich daran, daß „Menschenströme“, die gestoppt werden, sich nicht etwa verlaufen, sondern in höchst staatsgefährdenderweise zu Staus neigen, in diesem Fall an Bahnhöfen und Strecken, die durch die Prager Flüchtlingszüge vermutlich durchquert werden mußten.
Am Dresdner Bahnhof etwa, wo sich nach verschiedenen Angaben 1.00 bis 3.00 Personen auf Bahnsteig 5 gesammelt hatten und probeweise erstmal einen Zug aus der Gegenrichtung stoppten, testete die ratlose Behörde das ganze Arsenal von Vertröstungen und Drohungen durch. Von „Bürger, wenden Sie sich mit ihrem persönlichen Anliegen an die Abteilung Inneres, treten Sie die Heimreise an!“ bis „Verlassen Sie sofort den Bahnhof, volkspolizeiliche Maßnahmen werden jetzt anlaufen!“. Nichts zog mehr und erst mit Knüppeleinsatz und zahlreichen Festnahnen gelang es, den Bahnhof vorläufig zu räumen.
Soviel „Technische Schwierigkeiten“ hatten die Züge schon auf den Weg nach Prag. Nachdem die Sonderzüge der Deutschen Reichsbahn dann endlich mit den Flüchtlingen Prag verlassen konnten, verschwanden sie 8 Stunden in der DDR, gejagt von tausenden von Ausreisewilligen, heimlich über verschlungene Strecken geführt, sorgsam verteidigt von den Genossen der Volkspolizei. In Dresden kam es während der Nacht erneut zu Demonstrationen von tausenden von Ausreisewilligen vor und auf dem Bahnhof. Bei zum Teil gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden Pflastersteine geworfen, ein Auto angezündet und Fensterscheiben des Bahnhofs eingeworfen. Nach Angaben aus Dresden gab es 45 verletzte Demonstranten und 45 verletzte Polizisten. Wie es scheint, wurde damit eine Demonstrationspraxis für Ausreisewillige eingeführt. Seitdem sammeln sie sich täglich vor dem Dresdner Bahnhof. Meldungen aus Dresden zufolge werden als Reaktion auf die Ereignisse jetzt im Dresdner Staatssicherheitsgebäude Ausreisegenehmigungen am Band verteilt. Andere Quellen sprechen immerhin von 2 Tagen Bearbeitungszeit. Und schon warten neue Flüchtlinge in Prag und Warschau, ganz zu schweigen von den täglichen 500, die über Ungarn gehen.
Offener Brief von Gewerkschaftsfunktionären
Erfreulich und für etliche erstaunlich zeigte sich, daß auch die Arbeiter in den Betrieben beginnen, sich ein wenig in die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen. Aus 2 Berliner Großbetrieben, dem VEB Transformatorenwerk „Karl Liebknecht“ und dem VEB Bergmann-Borsig z. B. gingen inhaltlich fast gleichklingende Briefe an den den FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch. Diese Briefe waren in den Betrieben selbst Anstöße zu weitergehenden Diskussionen, vor allem zur Rolle der Gewerkschaften, in denen unter anderem die Forderung nach Trennung von Gewerkschafts- und Parteiapparat deutlich wurde.
Sehr geehrter Kollege Harry Tisch! Berlin, den 29. 9. 1989
Stellvertretend für den überwiegenden Teil von 480 Gewerkschaftsmitgliedern wenden wir Vertrauensleute und AGL-Funktionäre der AGL-TK (Technischer Bereich) des VEB Bergmann-Borsig, Berlin, uns mit diesem offenen Brief an Sie, um auf einige sich in letzter Zeit verschärfende Probleme in unserer Arbeit hinzuweisen. Wir tun das in der Überzeugung, daß Sie in Ihrer Eigenschaft als Vorsitzender des FDGB-Bundesvorstandes und Mitglied des Politbüros des ZK der SED Einfluß auf die Überwindung der im folgenden dargelegten Situation ausüben können.
Mit großer Aufmerksamkeit verfolgen wir Gewerkschaftsmitglieder die derzeitige politische Entwicklung in unserem Lande. Viele unserer Kollegen treten zunehmend kritisch auf und bekunden Befremden und Unzufriedenheit. Insbesondere stößt die offizielle Interpretation der politischen Realität und aktueller Geschehnisse durch die Massenmedien der DDR mehr als bisher auf Unverständnis. Es liegt auf der Hand, daß sich in einem derartigen Stimmungsklima Wettbewerbsmüdigkeit und nachlassende Leistungsbereitschaft breit machen, wie es z.B. bei der Plandiskussion 1990 zutage trat.
In Diskussionen ist eine nahezu einhellige Ablehnung der Art und Weise festzustellen, wie Presse, Rundfunk und Fernsehen tiefgreifende und die Werktätigen bewegende aktuelle politische Probleme abhandeln oder zum Teil verschweigen. Dabei wird in keiner Weise der Tatsache Rechnung getragen, daß es sich bei unseren Menschen um politisch urteilsfähige, mündige sozialistische Persönlichkeiten handelt, die einen Anspruch auf objektive Information haben.
Besonders krass kommt im Zusammenhang mit der legalen und illegalen Ausreise vieler unserer Mitbürger in die BRD zum Ausdruck, wie weit Realität und Propaganda voneinander entfernt sind. Inzwischen sind auch aus unseren Reihen schmerzliche Verluste zu beklagen. Verlassen haben uns Menschen, die in unseren Schulen eine sozialistische Erziehung erhielten und die in unserem Land eine gesicherte Existenzgrundlage hatten.
Es trifft nicht im entferntesten die Überzeugung und Empfindungen der Mehrzahl unserer Kollegen, wenn die Medien nach peinlichem Schweigen nun den Versuch unternehmen, die Abkehr so vieler unserer Menschen ausschließlich als Machwerk des Klassengegners zu entlarven, bei dem diese DDR-Bürger nur Opfer oder Statisten sein sollen.
Wir sind auch nicht der Meinung, daß es nützlich ist, die Minderheit prozentual zu errechnen und im übrigen davon auszugehen, daß die Hiergebliebenen die Zufriedenen seien. Bei Anhalten dieser Situation werden über kurz oder lang schwerwiegende Folgen für viele Bereiche unserer Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben eintreten. Wir halten es deshalb für dringend erforderlich, daß die wahren Gründe, die zum Weggang unserer Bürger führen, sorgfältig und ehrlich untersucht und diskutiert werden.
Einer der Gründe ist mit Sicherheit die unzureichende ökonomische Stärke der DDR und die gesamte daraus resultierende Palette an Restriktionen für unsere Menschen, ein anderer, das gestörte Vertrauensverhältnis der Bevölkerung zum Staat und seiner führenden Partei.
Kollege Tisch, wir wenden uns an Sie, weil wir um die Entwicklung unseres Landes besorgt sind und nach Wegen suchen, weiteren Schaden abzuwenden. Wir erwarten von Ihnen, daß sie Ihre ganze Kraft und die Ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einsetzen, um den öffentlichen Dialog über dringend notwendige Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen einzuleiten und durchzusetzen. Dabei kommt nach unserer Überzeugung dem Einfluß der Gewerkschaft entscheidende Bedeutung zu. Wir müssen den Menschen neue Perspektiven bieten, die es ermöglichen, das bisher Erreichte auf der Basis wirklicher individueller Einflußnahme weiterzuentwickeln. Der Sozialismus muß zu einer neuen Attraktivität entfaltet werden, die alle motiviert, sich mit ihm zu identifizieren.
Wir und unsere Mitglieder wären Ihnen für eine baldige Antwort dankbar.
20 Unterschriften
Willenserklärung von Kulturbundgruppen
Wir, die Vertreter von 25 Arbeitsgemeinschaften des Kulturbundes aus großen Städten unseres Landes, die auf den Gebieten des Umweltschutzes, der Stadtökologie und der Stadtgestaltung tätig sind, haben während unseres Treffens in Potsdam am 7. und 8. Oktober 1989 einen Erfahrungsaustausch durchgeführt. Im Ergebnis der Diskussion stellten wir fest, daß uns alle die gleichen ernsten Probleme beschäftigen und die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen einen fruchtbaren Dialog und effektive Arbeit nicht zulassen. Deshalb wenden wir uns mit dieser Willenserklärung an Sie, mit der dringenden Bitte um Veröffentlichung:
Wir sind am Tage des 40. Geburtstages unserer Republik betroffen, traurig und auch wütend über den Zustand unseres Landes. Das Gehen vieler ist für uns der Ausdruck der Enttäuschung und der Abkehr, die schon seit Jahren Teile der Bevölkerung erfasst haben. Wir sind von Unehrlichkeit umgeben, wo Aufrichtigkeit lebenswichtig wäre. Wir müssen feststellen, daß Engagement und Sorgen um unser Dasein und das unserer Kinder bagatellisiert oder gar kriminalisiert werden. Weil die vorhandenen gesellschaftspolitischen Strukturen unglaubhaft sind und nicht den Erfordernissen unserer Zeit entsprechen, bilden sich neue Plattformen mit großem Zuspruch.
Wir wollen Wahlen, die durchschaubar sind, Alternativen bieten und von der Öffentlichkeit lückenlos kontrollierbar sind.
Wir wollen als selbstbewußte Bürger unseres sozialistischen Staates endlich glaubhaft in den Entscheidungsmechanismus im Lande einbezogen werden, statt ein Leben in privater Zurückgezogenheit zu führen.
Wir wollen ehrliche Analysen und Aussagen über den Zustand unserer Wirtschaft und unserer Umweltbedingungen. Wir wollen Medien, in denen wir uns, unser Leben und unsere Probleme wiederfinden.
Wir wollen im Beruf und in der Freizeit aktiv für eine sozialistische Gesellschaft arbeiten, die sich durch Ehrlichkeit, gegenseitige Achtung und Offenheit auszeichnet, die die ökologische Gefahr erkennt und produktiv verarbeitet, die durch eine menschenwürdige Perspektive Leistungsbereitschaft und Lebensfreude verbreitet.
Wir fühlen uns als Aushängeschild mißbraucht.
Wir wollen, daß der Kulturbund der DDR, sich auf seine Traditionen besinnend, eine wichtige Plattform zur demokratischen Erneuerung unseres Landes wird.
Wir wollen nicht, daß die von uns allen in 40 Jahren geschaffenen Werte in Gewalt und Chaos untergehen.
Potsdam, den 8. 10. 1989
58 Unterschriften
Weitere Reformerklärungen
Der Dresdener Physiker Manfred von Ardenne erklärte, in der DDR müsse die Wahrheit auf allen Ebenen durchgesetzt werden. Nur so könnten die Menschen auf breiter Basis wieder aktiviert werden. Nach den Schriftstellern und den Musikern haben in den letzten Tagen auch Schauspieler zahlreicher Theaterensembles in Berlin und anderen Orten einen öffentlichen Dialog über die Probleme des Landes gefordert. Am Abend des 5. Oktober hängte beispielsweise das Ensemble des Gorki-Theaters eine solche Erklärung offen im Foyer aus. Darin schließen sich die Schauspieler und übrigen Mitarbeiter einer vom Ostberliner Schriftstellerverband verfaßten Resolution von vor 3 Wochen an. Am 7. Oktober veröffentlichten die Schauspieler der Berliner Volksbühne und des Deutschen Theaters ihre Resolution. Eine derartige Resolution gab es auch im Staatsschauspiel Dresden. Sie wurde am 6. Oktober nach der Vorstellung verlesen. An 7. Oktober wurde wegen eines Verbots statt der Verlesung eine Schweigezeit eingelegt.
Drohgebärden
Der Superintendent von Berlin-Pankow, Werner Krätschell, erhielt von staatlicher Seite die Warnung, die Oppositionsbewegung in der DDR müsse eingestellt werden. In einem Interview mit der BBC erklärte Krätschell, ein führender Parteifunktionär habe ihm gegenüber zum Ausdruck gebracht, falls irgendwelche Gruppen die Absicht hätten, dem Sozialismus in der DDR Schaden zuzufügen, sollten sie sich daran erinnern, was in China passiert sei. Nach. Auffassung von Krätschell handelte es sich um eine bewußte Warnung, die verbreitet werden sollte.
In der SED-eigenen „Leipziger Volkszeitung“ vom 6. Oktober wurde in einem Aufruf von der Kampfgruppenhundertschaft „Hans Geifert“ erklärt: „Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um konterrevolutionäre Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden, wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand.“
Massendemonstrationen in der DDR
Dresden
Am 3. Oktober versammelten sich am Dresdener Hauptbahnhof noch mehr Menschen als am Tag zuvor. Nach Schätzungen sollen es fünf bis zehntausend gewesen sein. Gegen 21.00 Uhr wurden sie von Einheiten der Transportpolizei und der Kampfgruppen zum Verlassen des Bahnhofes gezwungen. Das gesamte Bahnhofsgelände wurde abgesperrt. Nach mehrmaliger Aufforderung seitens der Einsatzkräfte, die Versammlung vor den Bahnhof aufzulösen, gingen diese brutal gegen die Demonstranten vor. Aus einer Gruppe von 200 bis 300 Personen kamen Steinwürfe in Richtung des Bahnhofes. Zwei LOs wurden umgekippt, ein Wagen angezündet. Aus den Reihen der Demonstranten, die sich hauptsächlich aus Ausreisewilligen zusammensetzten, erklangen Rufe nach „Freiheit“ und der Zulassung des „Neuen Forum“. Die Polizei war an diesem Abend wie auch an den folgenden mit Helmen, Schilden und Gummiknüppeln ausgerüstet. Wasserwerfer wurden aufgefahren. In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag bildeten sich Menschenansammlungen in der Prager Straße und vor den Hauptbahnhof. Beide Gruppen wurden in der Prager Straße in einem Kessel zusammengetrieben. Wasserwerfer fuhren in die Menge und trieben sie auseinander. Danach erfolgten zahlreiche Festnahmen. Das Gelände des Dresdener Hauptbahnhofes war während der ganzen Zeit durch die dort stationierten Kampfgruppen abgeriegelt.
Am Freitag Abend soll sich ein Demonstrationszug von der Kreuzkirche in Richtung Prager Straße bewegt haben. Nähere Informationen sind bisher nicht bekamt. An 7. Oktober ab 20.00 Uhr formierte sich ein Demonstrationszug, der sich von Hauptbahnhof in Richtung Neustadt und wieder zurück bewegte. Die Zahl der Teilnehmer soll 20 bis 30 000 betragen haben. Auch an diesen Abend kam es zu übergriffen der Polizei, die teilweise mit Gasmasken ausgerüstet war und Knallkörper in die Menge warf, sowie zu zahlreichen Festnahmen.
Laut einer Information aus Dresden sollen ein Panzer- und ein Fliegerbatallion in höchste Alarmstufe versetzt worden sein.
Am 8. Oktober formierten sich mehrere Demonstrationszüge ausgehend vom Theaterplatz. Verschiedene Züge wurden gestoppt, dabei gab es 70 bis 100 Festnahmen. Weitere Gruppen versammelten sich am Busbahnhof. Gegen 20.00Uhr durchbrachen mehrere Menschen die Polizeikette in der Prager Straße und begannen einen Sitzstreik. Die Demonstranten formulierten Forderungen, die später dem Oberbürgermeister in Beisein von Bischof Hempel und Superintendent Ziemer übergeben wurden. Der Sitzstreitk wurde unter der Bedingung abgebrochen, daß der Rat der Stadt Gespräche mit den Demonstranten führt. Eine Delegation erhielt die Auskunft, daß an 9. 10. eine Information dazu von staatlichen Stellen komme. Die Ergebnisse der Gespräche werden in 4 Dresdener Kirchen am Abend in ausgesprochen politischen Veranstaltungen bekanntgegeben.
Leipzig
Am Montag, dem 2. Oktober, nach dem traditionellen Fürbittgottesdienst in der Nikolaikirche bewegte sich ein Demonstrationszug in Richtung Bahnhof. Binnen kürzester Zeit war er auf 10 bis 20.000 Menschen angewachsen. Die Innenstadt von Leipzig wurde vollständig abgeriegelt, trotzdem soll sich die Zahl der Demonstrationsteilnehmer auf 25 000 erhöht haben. Die Sicherheitskräfte gingen mit Brutalität gegen die Eingeschlossenen vor, es gab zahlreiche Verletzte und Festnahmen.
Am 7. Oktober gegen 14.00 Uhr diskutierten etwa 100 Personen vor der geschlossenen Nikolaikirche. Der Platz um die Kirche wurde abgesperrt und geräumt, dabei gab es eine unbestimmte Zahl von Festnahmen. Eine Stunde später versammelte sich in der Grimmaschen Straße eine große Menschenmenge. Sie wurde von Sicherheitskräften eingeschlossen und eine Panik brach aus. Später bewegte sich die Menge in Richtung Karl-Marx-Platz und obwohl die Innenstadt vollständig abgeriegelt war, wuchs die Menge auf ca. 10 000 Menschen an. Durch die teilweise mit Maschinenpistolen ausgerüsteten Polizeikräfte gab es regelrechte Hetzjagden auf Demonstranten. Trotzdem bildeten sich immer wieder Diskussionsgruppen und während der ganzen Zeit wurde nach der Zulassung des „Neuen Forum“ und „Schämt auch was“ gerufen. Wiederum gab es viele Festnahmen.
Arnstadt
Am 30. September trafen sich gegen 14.00 Uhr etwa 800 Menschen auf dem Marktplatz. Ein Redner sprach über das „Neue Forum“. Nach lebhaften Diskussionen löste sich die Menge nach etwa einer Stunde von allein auf.
Am 7. Oktober bewegte sich ein Demonstrationszug von etwa 600 Personen von Marktplatz aus durch die Stadt. Von der anrückenden Polizei wurde ein Kessel gebildet, die Demonstranten wurden zur Auflösung aufgefordert, die meisten folgten dieser Forderung, auf die übrigen wurde eine Hetzjagd veranstaltet.
Potsdam
In Potsdam versammelten sich am 7. Oktober 2 bis 3 000 Einwohner in der Nähe des Stadttores und zog danach singend in Richtung Platz der Nationen. Der Zug löste sich zum großen Teil vor dem Cafe Heyder von selbst auf; gegen die Übriggebliebenen ging die Polizei überraschend vor. Einige versuchten sich den Festnahmen durch Festhalten an Absperrungen zu entziehen, die Polizei schlug brutal auf die Menschen ein, dabei wurden selbst eine schwangere Frau und ein 12-jähriges Kind nicht verschont.
Karl-Marx-Stadt
Nach der Absage einer Veranstaltung des „Neuen Forum“ am Luxor-Platz versammelten sich spontan 500 bis 1.000 Menschen: Diese Versammlung wurde unter Einsatz von Wasserwerfern aufgelöst. Es gab Verletzte und Festnahmen.
Magdeburg
Nach dem traditionellen Shala-Gebet am 5. Oktober zog eine Gruppe von vorwiegend Ausreisewilligen in Richtung Rathaus, dabei vergrößerte sie sich auf etwa 300 bis 500. Rufe nach Demokratie und Freiheit in der DDR ertönten. Die Polizei löste den Zug auf und nahm etwa 250 Personen fest.
Am 7. Oktober versammelten sich ca. 500 Menschen in der Innenstadt. Sie wurden von Bereitschaftspolizei und Kampfgruppen der Arbeiterklasse auseinandergetrieben. Dabei gab es 50 bis 90 Festnahmen.
Berlin
Aus Anlaß der traditionell am 7. jeden Monats stattfindenden Aktionen gegen den Wahlbetrug am 7. Mai 1989 fand am 7. Oktober eine kleine Gruppe Menschen auf dem Alexanderplatz ein. Sie forderten in Sprechchören „Freiheit“ und die Zulassung des „Neuen Forum“. Dadurch erhielten sie Zulauf von immer mehr Umstehenden. Es formierte sich ein Demonstrationszug, der sich in Richtung Staatsratsgebäudes bewegte. Auf der Höhe des Palastes der Republik, als der Zug bereits auf mehrere hundert Personen angewachsen war, wurden etwa 50 bis 60 Demonstranten von der Polizei eingekesselt. Nach Auflösung des Kessels zogen die Demonstranten am ADN-Gebäude vorbei in Richtung Prenzlauer Berg. Auf dem Weg zur Schönhauser Allee riefen Sprechchöre „Bürger laßt das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein“, „keine Gewalt” angesichts eines riesigen Polizeiaufgebots. Der Demonstrationszug bestand inzwischen aus 5 000 bis 10 000 Menschen. In Höhe der Gethsemane-Kirche, in der seit Montag, dem 2. Oktober, eine Mahnwache für politisch Inhaftierte in der DDR stattfindet, wurden beide Gruppen auf der Schönhauser Allee bzw. der Pappelallee gestoppt. Sie wurden zum Helmholtzplatz abgedrängt und wieder eingekesselt. Hier gab es wieder unter brutalstem Einsatz von Gummiknüppeln eine große Zahl von Festnahmen. Kleinere Gruppen wurden versprengt, sie fanden sich jedoch meist später in der Nähe des S‑Bahnhofes Schönhauser Allee wieder, auch weil viele in der Gethsemane-Kirche Schutz suchen wollten. Diese war jedoch vollkommen abgeriegelt. Unter Einsatz von Räumgitterfahrzeugen, Wasserwerfern, Hunden und Gummiknüppeln wurden die Demonstranten auseinandergetrieben und hunderte festgenommen. An den Einsätzen waren Ordnungsgruppen der FDJ (16 bis 20jährige!), Polizei, Bereitschaftspolizei und Armee beteiligt, die oftmals mit größter Gewalt auch gegen Frauen und Kinder vorgingen. Etwa gegen 23.30 Uhr führten ca. 350 Personen eine Sitzblockade vor dem S‑Bahnhof Schönhauser Allee durch. Sie wurden eingekesselt, in einen Hinterhof getrieben und von dort aus auf LOs verladen und abtransportiert. Insgesamt soll es an diesem Abend ungefähr 700 Festnahmen gegeben haben.
Am 8. Oktober nach der Andacht in der Gethsemane-Kirche wurde diese vollständig von Bereitschaftspolizei, Kampfgruppen der Arbeiterklasse, Soldaten des Wachregiments, Polizei und zivilen Staatssicherheitsmitarbeitern abgeriegelt. Auf der Schönhauser Allee versammelten sich spontan aus Solidarität mehrere hundert Menschen. Nach Verhandlungen mit den Sicherheitskräften wurde die Möglichkeit gewährt den Kessel um die Kirche in Richtung Schönhauser Allee zu verlassen.
Auf der Schönhauser Allee standen Räumgitterfahrzeuge, Wasserwerfer, Sonderkormandos mit Helm, Schild, Knüppeln, Stahlruten sowie Zivilkräfte. Es bildete sich ein Demonstrationszug, setzte sich in Richtung Zentrum in Bewegung mit Rufen wie: „Keine Gewalt“, „Gorbi“, „Bürger auf die Straße“ und „Väter, schießt nicht auf eure Söhne!“ Der Zug wurde in Richtung S‑Bahnhof Schönhauser Alle unter brutalsten Polizeieinsatz zurückgetrieben. Es gab viele Festnahmen sowie zahlreiche Verletzte.
Auch setzten Sicherheitskräfte mehrmals zum Sturm auf die Gethsemane-Kirche an, jedoch wurde kein Kirchengelände betreten.
Kommentar
China ist nicht fern
„In den Kämpfen unserer Zeit stehen DDR und VR China Seite an Seite“ (ND, 2. 10. 89)
Es ist nicht zu glauben: in einem sich sozialistisch nennenden Staat gehen BePo und Kampftruppen geschlossen gegen Bürger vor, die immer wieder in Sprechchören wiederholen: „Keine Gewalt, Keine Gewalt“, „Freiheit, Freiheit“. Was ist das für ein Machtsystem, das für sich den Anspruch erhebt, im Sinne und zum Wohle aller Bürger zu regieren? Kann man das Geschehene überhaupt noch in Worte fassen? Haß macht sich breit, wenn Menschen gejagt werden wie Hasen. Und ebenso wehrlos wie diese gegen die Gewehre der Jäger waren wir! Die Beine schlottern mir vor Angst vor diesem Aufgebot der Gewalt. Hilft es, sich zu verbarrikadieren? Warum? Wozu? Wen beschützen diese „Freunde und Helfer“? Doch nur ihre Menschen werden mißbraucht, um die Macht dieses überalterten, reformbedürftigen Apparates aufrechtzuerhalten. Junge Männer, die das Wohlergehen eines Landes mehren könnten, werden oder ließen sich in Uniformen pressen und mußten auf Befehl gegen friedliche Menschen vorgehen. Auf den Gesichtern dieser jungen Uniformierten spiegelte sich Naivität und Verwirrtheit wider. Einer, der die Uniformierten gefragt hatte, sagte: „Sie schämen sich“. Und dann Wasserwerfer, in Reihen marschierende Einheiten – kann man Assoziationen zu 1933 noch unterdrücken? Was geschieht mit den Leuten, die auf L0s unter Bewachung in Käfigen (man stelle sich das vor: in Drahtverschläge gepfercht!) weggefahren wurden? Es ist unfaßbar, was auf unseren Straßen, die von übelster Geschichte geprägt sind, passiert. Die Vorstellungskraft reicht nicht aus, wenn man es nicht selbst erlebt hat.
Berlin, 8. 10. 1989, 1.45 MEZ
Mahnwache in der Berliner Gethsemanekirche
An 2. Oktober um 16.00 Uhr begann in der Berliner Gethsemane-Kirche eine Mahnwache für die Inhaftierten der letzten Wochen. Die Beteiligung an den täglichen Andachten wuchs im Laufe der Zeit bis auf 2.500 Leute. Der Staat versuchte zunächst, über den Gemeindekirchenrat Druck auszuüben, Plakate am Kirchturm wurden kritisiert und mußten abgenommen werden. Die Mahnwache wollte informieren und dadurch Solidarisierung aus der Bevölkerung erreichen. In den Hauptverkehrszeiten wurden vor der Kirche Handzettel verteilt. Von fast allen Passanten wurden sie mit großem Interesse aufgenommen und die Reaktionen reichten von verbalen Solidaritätserklärungen bis zu Geld- und Essenspenden. Es gab nur sehr wenig Ablehnung und Unverständnis. Grundsatz der Mahnwache ist Gewaltlosigkeit. Sie will weder die Sicherheitskräfte provozieren, noch sich provozieren lassen.
Innerhalb der Mahnwache läuft eine Fastenaktion, der sich inzwischen ca. 20 Leute angeschlossen haben. Die Fastenden sind religiös motiviert, möchten sich von „Angst, Resignation, Haß, Gewalt, Ungeduld und Sensationslust reinigen“ und sehen im Fasten eine Protestmöglichkeit gegen „die Art und Weise, mit der unsere Politiker ungerührt den Schein aufrechterhalten, die den 40. Jahrestag als ihren Sieg feiern“. Außerdem geht es um Solidarität mit allen Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, die dafür leiden müssen und verfolgt werden.
In Zusammenhang mit den Demonstrationen am 7. Oktober kam es zu einem Übergriff einer Spezialeinheit auf die Gethsemanekirche, dabei wurden zwei Mitglieder des Gemeindekirchenrates „entführt“.
Seit dem 7. Oktober sind die Andachten von einem unvorstellbaren Aufgebot von Sicherheitsorganen begleitet. Es kam wiederholt zu Knüppeleinsätzen gegen Besucher der Andachten in der Gethsemanekirche. Die Gethsemanekirche war zeitweise regelrecht eingekesselt und nicht zu erreichen.
Das Kontakttelefon war oftmals längere Zeit nicht zu erreichen.
“Demokratischer Aufbruch”
Am 1. Oktober versuchte sich eine neue Plattform, „Demokratischer Aufbruch“, unter dem Berliner Pfarrer Eppelmann und dem Erfurter Pfarrer Edelbert Richter zu gründen. Die Plattform steht, wie Eppelmann mitteilte, für „sozialistisch, demokratisch, christlich, ökologisch“ und sieht sich nicht als Anlaufstelle für Konservative.
Aufgrund massiven Polizeieinsatzes konnte die Gründungsveranstaltung des „Demokratischen Aufbruch“ nicht stattfinden. Die Plattform soll, wie Eppelmann mitteilte, demnächst ebenso wie das „Neue Forum“ angemeldet werden und wird sich an den nächsten Wahlen mit einer eigenen Liste beteiligen. Am 3. Oktober traf das CDU-Mitglied und Bundesarbeitsminister Blüm, in der BRD bekannt als Vorreiter des Abbaus sozialer Rechte, mit vier Mitgliedern des „Demokratischen Aufbruch“ zusammen.
Linke Gruppen und Sympatisanten trafen sich
Eine Diskussion von linken Gruppen und Sympatisanten war für den 2. Oktober in der Berliner Kirche von Unten angesetzt. Leider war ein großer Teil der etwa 120 Teilnehmer in der Erwartung gekommen, es handle sich um eine Versammlung des „Neuen Forum“. So wurde von vielen immer wieder gefragt, ob denn nicht der Sozialismus bankrott sei. Auch Anhänger einer Wiedervereinigung versuchten sich Gehör zu schaffen. Es gelang nicht, zwischen den auseinanderstrebenden Parteien einen konstruktiven Diskussionsstrang zu entwickeln.
Erstaunlich genug war aber, daß sich die Versammlung auf fünf Essentials der Böhlener Plattform einigen konnte:
- gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln als die vorherrschende und perspektivische Grundlage sozialistischer Vergesellschaftung
- Ausbau der Selbstbestimmung der Produzenten in Verwirklichung realer Vergesellschaftung der gesamten ökonomischen Tätigkeit
- konsequente Verwirklichung des Prinzips der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Gesellschaftsmitglieder
- politische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, konsequente Verwirklichung der ungeteilten Menschenrechte und freie Entfaltung der Individualität jedes Gesellschaftsmitglieds
- ökologischer Umbau der Industriegesellschaft.
Arbeitsgruppen wurden zu Schwerpunktthemen wie Wirtschaft, Politik, Kultur gebildet. Bei einem Arbeitswochenende, das noch geeignet angekündigt wird, soll in Arbeitsgruppen und Plenum das Projekt einer vereinigten Linken eine Fortsetzung finden.
Kommentar: schlechte Aussichten?
Der erste Anlauf zur öffentlichen Diskussion einer vereinigten Linken ist, so muß man wohl sagen, gescheitert. Das lag sicher an einen großen Teil des Publikums, das ganz andere Erwartungen hatte, eine Debatte über nichtsozialistische Alternativen zum existierenden System wollte, und den Titel der Veranstaltung offenbar nur als augenzwinkerndes Ablenkmanöver verstand. Es war tatsächlich ein neues Publikum, nicht die anonymen Linken der „Böhlener Plattform“, auch nicht „die Massen“, auf die man gehofft hatte, sondern ganz normales DDR-Volk, das sich sonst in „Scene“-Veranstaltungen nicht blicken läßt. Auch die Umweltbibliothek erlebte überrascht diesen neuen Andrang aus dem Volk. Binnen vier Tagen waren die 2 000 Exemplare „Unweltblätter“ weg. Zum Zusammenlegen der Seiten stand eine Schlange an, als ob es Bananen gäbe und ohne Rücksicht auf die Nachfolger rissen die Leute ganze Stapel von für sie besonders interessanten Seiten an sich. Nebenan mußte trotz Arbeitsüberlastung nachgedruckt werden. „Egozentrisch“, „nicht gruppenfähig“, „politisch diffus“, „Kleinbürger“ – so waren Urteile von Mitarbeitern. Das war unser bisheriges Bild von Ausreisewilligen – so sind aber ganz normale DDR-Bürger und wir werden in Zukunft mit genau diesen Leuten rechnen und mit innen sprechen müssen. Das bringt uns zu den Linken zurück.
Verständlich ist der Ärger, eine Veranstaltung, die ein guter Anlauf werden sollte, in solcher Weise von breitesten Volksmassen und auch wohl zu viel verlangt, den Abend in eine Agitprop-Veranstaltung umzufunktionieren und Lieschen Müller und (einem ebenfalls erschienenen) Gesellschaftswissenschaftler zu erklären, daß das, was wir „Linke“ nennen, eine Menschheitsbewegung und ‑sehnsucht ist, die seit den ersten Sklavenaufständen datiert und nicht mit den perversen Interpretationen eines Stalin und seiner Nachfolger verwechselt werden darf. Aber daß nicht nur hinter den Kulissen sich schon wieder die Anhänger der einzelnen Systemchen in die Bresche werfen, um der noch gar nicht geschaffenen Bewegung ihr besonders wissanschaftliches oder besonders revolutionäres Modellchen aufzudrängen, – das war nicht nötig, das war peinlich, auch das hinterließ sicher beim Publikum einen negativen Eindruck.
Überwältigend aber war doch der Anblick eines mehrheitlich liberalen bis schweigenden Publikums, das sich im Laufe des Disputs um zwei Drittel verminderte, gegenüber einer Handvoll umso lautstärker agierender Linker, jeder auch noch von einer anderen Fraktion. Wenn das nicht so bleiben soll, wenn eine vereinigte Linke nicht als Sekte mit Spaltpilz enden soll, werden sich die Damen und Herren der „Böhlener Plattform“ schon aus ihren konspirativen Schützengräben ins Licht der Öffentlichkeit wagen müssen.
Nachsatz: Schon vor der Veranstaltung begann die Mahnwache in der Berliner Gethsemane-Kirche, ein Grund, warum viele besonders junge Leute nicht zur Kirche von Unten kamen. Es wäre eine Frage des (sagen wir mal) Anstands gewesen, daß die linken Theoretiker nach Abschluß der Veranstaltung bei der Mahnwache vorbei schauen. Es gab aber wohl Wichtigeres zu tun. Auch in den nächsten Tagen fand sich niemand ein, was dadurch ausgeglichen wurde, daß Vertreter des „Neuen Forum“ ebenfalls fehlten.
Sozialdemokratische Partei gegründet
„Wir wollen damit ein Hoffnungszeichen setzen in der Unruhe und Spannung dieser Tage und Wochen. Es soll ein Zeichen sein des beginnenden Endes einer entmündigenden Herrschaft und des notwenligen Anfangs einer wirklich demokratischen deutschen Republik.“
So heißt es in einer Erklärung jener Initiativgruppe zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei, die sich an 26. August 1989 mit ihrem Anliegen in einem Aufruf an die Öffentlichkeit gewandt hatte, zur Gründung der SDP am 7. Oktober. Besagte Erklärung wurde von den ca. 80 anwesenden der Gründungs-Traditionslinie der deutschen Sozialdemokratie in Punkten wie z. B. dem „Eintreten für die Benachteiligten im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozeß“ oder der Bindung der „Verfolgung ihrer Ziele an demokratische Wege und Methoden“.
Sie will sich in landesweiten und regionalen Strukturen aufbauen, die „den einzelnen Mitgliedern eine verbindliche Mitarbeit ermöglicht und durch sie in fester Verbindung zur Gesamtpartei stehen“. Zu programmatischen Konzeptionen wurden in den verschiedensten politisch wichtigen Bereichen Arbeitsgruppen gebildet. Formuliert sind in der Erklärung Grundsätze der demokratischen Ordnung in Staat und Gesellschaft, öffentlicher Kontrolle der Macht und eines demokratischen Rechtsstaats. Die Notwendigkeit einer neuen Verfassung wird hervorgehoben.
Die Frage, an der sich viele Gruppierungen scheiden – die wirtschaftlichen Perspektiven – wird in dem SDP-Papier im Wesentlichen in zwei Abschnitten behandelt. In dem Abschnitt
„Markt und Staat“ wird festgestellt, daß Marktmechanismen zu: Steuerung der Wirtschaft nicht durch staatliche Planung ersetzt werden können, aber für den Staat sich regulierende Aufgaben in Bezug auf die soziale Sicherung, die Einbeziehung ökologischer Kosten in das Marktgeschehen und den Erhalt des Wettbewerbs durch Verhinderung von Monopolen und wirtschaftlicher Machtkonzentration ergeben. Die Verantwortung des Staates für die Infrastruktur und für notwendige Gemeinschaftsgüter wird festgestellt und ebenso, daß das Finanz- und Kreditwesen in staatlichen Händen bleiben müssen. Eine entsprechende Rahmengesetzgebung soll ein willkürliches, rein profitorientiertes Wachstum verhindern.
Es werden im nächsten Abschnitt vielfältige Eigentumsformen in einer gemischten Wirtschaftsstruktur favorisiert. Unternehmensvielfalt soll gegen Machtkonzentration wirken; Mitbestimmung, Kapitalbeteiligung und Selbstverwaltung sind Wege zur Demokratisierung der Wirtschaft, für die die Verfasser eintreten. Durch ein klares Mitbestimmungsrecht soll die breite Beteiligung „aller, die die Werte im Produktionsprozeß erarbeiten“ bei Entscheidungen auf allen Ebenen garantiert werden. Freie, starke Gewerkschaften mit Streikrecht kommen als eigentlich selbstverständliche Forderungen am Schluß dieses Abschnitts.
Auf weitere Punkte kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden.
Die Gründungsversammlung bestimmte verschiedene Arbeitsgruppen und wählte die vorläufige Grundwertekommission sowie den Vorstand. Man möchte von Anfang an so gut wie „unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes“ (so ein Teilnehmer) möglich, in der Gestaltung der eigenen Strukturen an Verbindlichkeit und demokratischer Arbeitsweise festhalten Im Gegensatz zu den politischen Geplänkeln des „Neuen Forum“ plant die SDP nicht, sich als Vereinigung anzumelden, sondern beschränkt sich darauf, dem Ministerium des Inneren die Gründung fornell mitzuteilen.
Gleich am Gründungstag verabschiedete die SDP auch einen Aufnahmeantrag in die Sozialistische Internationale und ein kurzes noch zu ergänzendes Statut.
(Alle Zitate aus: „Programmatischer Vortrag zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR“)
Erklärung der SDP Berlin, den 9. 10. 1989
Wir erleben im Moment in der gesanten DDR, wie Menschen in ungeahntem Maße durch Denonstrationen grundlegende politische Veränderungen fordern.
Trotz brutaler Ausschreitungen und Gewaltprovokationen von Seiten der Sicherheitskräfte blieben die Demonstranten der letzten Tage in erstaunlichem Maße gewaltfrei.
Da die Grenze des allgemein gewaltlos Ertragbaren vorsätzlich weit überschritten wurde, müssen wir mit gewalttätigen Auseinandersetzungen von beiden Seiten rechnen, wenn sich der staatliche Ungang mit Demonstrationen nicht grundlegend ändert.
Die Verantwortung für eine Eskalation der Gewalt tragen allein die politisch Verantwortlichen.
Angesichts dieser Situation fordem wir die Bürger unseres Landes zur verstärkten Solidarität mit den in ihrer Würde zutiefst verletzten Menschen, insbesondere mit den politischen Gefangenen in der DDR, auf.
Für den Vorstand der SDP: Martin Gutzeit, Ibrahim Böhme, Angelika Barbe, Rainer Hartmann, Stefan Hilsberg.
Offener Brief der Mitarbeiter des Staatsschauspiels Dresden
Wir treten aus unseren Rollen heraus.
Die Situation in unserem Lande zwingt uns dazu.
Ein Land, das seine Jugend nicht halten kann, gefährdet seine Zukunft.
Eine Staatsführung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaubwürdig.
Eine Parteiführung, die ihre Prinzipien nicht mehr auf Brauchbarkeit untersucht, ist zum Untergang verurteilt.
Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden.
Die Wahrheit muß an den Tag.
Unsere Arbeit steckt in diesem Land. Wir lassen uns das Land nicht kaputt machen.
Wir nutzen unsere Tribüne, um zu fordern:
- Wir haben ein Recht auf Information.
- Wir haben ein Recht auf Dialog.
- Wir haben ein Recht auf selbständiges Denken und auf Kreativität.
- Wir haben ein Recht auf Pluralismus im Denken.
- Wir haben ein Recht auf Widerspruch.
- Wir haben ein Recht auf Reisefreiheit.
- Wir haben ein Recht, unsere staatlichen Leitungen zu überprüfen.
- Wir haben ein Recht, neu zu denken.
- Wir haben ein Recht, uns einzunischen.
Wir nutzen unsere Tribüne, um unsere Pflichten zu benennen:
- Wir haben die Pflicht, zu verlangen, daß Lüge und Schönfärberei aus unseren Medien verschwinden.
- Wir haben die Pflicht, den Dialog zwischen Volk und Partei- und Staatsführung zu erzwingen.
- Wir haben die Pflicht, von unserem Staatsapparat und von uns zu verlangen, den Dialog gewaltlos
zu führen. - Wir haben die Pflicht, das Wort Sozialismus so zu definieren, daß dieser Begriff wieder ein annehmbares Lebensideal für unser Volk wird.
- Wir haben die Pflicht, von unserer Staats- und Parteiführung zu verlangen, das Vertrauen der
Bevölkerung wiederherzustellen.
Nachträge
- Zusätzlich zu den erwähnten Briefen von Gewerkschaftsfunktionären des VEB Bergmann-Borsig und des VEB TRO ist uns auch bekannt, daß ein ähnlicher Brief von Gewerkschaftern des VEB EAW Berlin-Treptow existiert.
Ein Demonstrant konmentierte die Ereignisse: „Wir brauchen kein Westfernsehen mehr zu sehen, jetzt sitzen wir ohnehin in der ersten Reihe.“
In eigener Sache
Aufgrund der gegenwärtigen Situation war es für uns nicht möglich, sämtliche uns vorliegenden druckenswerten Beiträge aufzunehmen. Es fehlt beispielweise ein Bericht über die Erklärungen des „Neuen Forum“ in den letzten Tagen sowie der gesamte Auslandsteil. Wir hoffen, das teilweise in den nächsten Ausgaben nachholen zu können.
Redaktionsschluß: 9.10.89, vormittags
Kant auf Abwegen?
Der Präsident des DDR-Schriftstellerverbandes und bekannter Honecker-Intimus, Hermarn Kant, forderte in einem in der „Jungen Welt“ am 9.Oktober abgedruckten Leserbrief die SED-Führung auf, Fehler einzugestehen und eine offene Diskussion über die gegenwärtige Krise in der DDR zu beginnen. Kant, selbst in der Vergangenheit Träger und Vollstreckungsgehilfe der Regierungspolitik, beklagte die Selbstgefälligkeit und Selbstherrlichkeit in den Medien der DDR. Wichtiger als Bevormundung seien harte und geduldige Bemühungen der DDR-Bürget, um einander besser zu verstehen.
Demonstrationen am 9.Oktober
In Leipzig verlief am 9.Oktober eine Massendenonstration im Anschluß an das montägliche Friedensgebet ohne Auseinandersetzungen mit den Sicherheitsorganen. Die Leipziger Gruppen hatten zur Gewaltlosigkeit aufgerufen. Das war schwierig genug, denn die Sicherheitsorgane
waren mit starkem Aufgebot erschienen. Schützenpanzerwagen der Armee durchzogen am Nachmittag Leipzig. Kindergärten und Betriebe in der innenstadt mußten bis 15 Uhr geräumt werden. Als sich der Markt mit Menschen füllte, wurde er von BePos mit Schutzmasken und Kampfgruppen umstellt. Elos mit Chemikalien standen bereit. Es gab mindestens zwei zentrale Truppenstützpunkte.
Erstaunlicherweise verlief die Demonstration dennoch friedlich. Mehr als 70.000 Menschen formierten sich nach Andachten in verschiedenen Kirchen zu einem Demonstrationszug, der über den Ring zog. Die Friedfertigkeit ging dann soweit, daß am Hauptbahnhof eine Gruppen mit Polizisten diskutierten.
In den Kirchen, über Lautsprecher in der Innenstadt und über den lokalen Leipziger Sender war ein Aufruf von Profesor Kurt Masur, Dr. Peter Zimmermann, des Kabaretisten Lutz und der Sekretäre der SHD-Bezirksleitung Dr. Kurt Weier, Jochen Pomert und Roland Notzel verlesen worden.
Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns zusanmengefthrt. Wir sind über die Intwick-Jung in unserer Stadt betrofiten and suchten nach einer lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinngsaustausch über die Weiterentwicklung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die genannten Leute alien Birgern, ihre ganze kraft und Autorität dafür einzusetzen, daß dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.
Beobachter raten allerdings zur vorsichtigen Bewertung, da eventuell die riesigen Massen der Demonstranten die lokaien SED-Führer zu einer bloßen Beschwichtigungstaktik veranlaßt haben könnten.
In Dresden infornierten sich an Abend des 9.Oktober mehrere tausend Menschen in vier großen Kirchen über die Gespräche von 20 Vertretern der Demonstranten und der Kirchenleitung mit Vertretern des Stadtrates, darunter der Oberbürgermeister von Dresden. Dem Stadtrat war ein 9‑Punkte-Katalog vorgelegt worden, in dem es u.a. um die Zulassung des Neuen Forums, eine wahrheitsgetreue Berichterstattung in den DDR-Medien, Demonstrations- und Reisefreiheit, Wahlprobleme, Zivildienst und die Freilassung der Inhaftierten ging. Der Oberbürgereister versprach, sich für weitere Gespräche einzusetzen und die angesprochenen Punkte pluralistisch zu lösen. Eine nächste Gesprächsrunde wurde für den 16. Oktober vereinbart.
In Ost-Berlin versammelten sich an Abend vor der Gethsenanekirche 3000 Menschen. Bischof Forck verlas einen Aufruf der Kirchenleitung und des Gemeindekirchenrats der Gethsemanegemeinde:
„Fünf dringende Bitten
- Alle Bürgerinnen und Bürger bitten wir dringend, ab sofort angstfrei Meinangsfreiheit auszuüben damit das Gespräch über unsere Zukunft in Gang kommt.
- Die Staats- und Parteiführung der DDR bitten wir dringend, ungehend deutliche und glaubhafte
Schritte einzuleiten, eine breite Übereinstimming für eine rechtsstaatliche, denmokratische, sozialistische Perspektive der DDR gefunden wird. - Die Ordnungs- und Sicherheitskräfte bitten wir dringend, der Ungeduld kritischer Bürger, die sich auf den Straßen zeigt, mit gößtmöglicher Zurückhaltung zu begegnen, damit nicht wieder gutzumachender Schaden vermieden wird.
- Die beunruhigten Menschen unseres Landes bitten wir dringend, jetzt von nicht genehmigten Demonstrationen auf den Straßen abzusehen, damit die politisch Verantwartlichen nicht sagen können, sie ließen sich im Blick auf anstehende Veränderungen nicht unter Druck setzen.
Berlin, den 9. Oktober 1989, 17 Unterschriften
Die in der Ungebung der Kirche aufgezogenen Sicherheitskräfte hielten sich zurück.
Wichtig: Die Umwelt-Bibliothek sucht dringend Offset-Maschine oder Druckerei