Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück

Anne Rabe hat in ihrem Buch Eine Mög­lich­keit von Glück ihre trau­ma­ti­schen Gewalt­er­fah­run­gen in ihrer Kind­heit in Wis­mar auf­ge­ar­bei­tet. Ihre Eltern und Groß­el­tern waren DDR-Kader, ihr Groß­va­ter in Sta­lin­grad gewe­sen und sie führt alle Gewalt auf die DDR-Zeit und die Kriegs­er­leb­nis­se zurück. Ich habe in Kei­ne Gewalt: Zu Mög­lich­kei­ten und Glück und dem Buch von Anne Rabe bereits dazu geschrie­ben, wel­che inhalt­li­chen Feh­ler ihr dabei unter­lau­fen sind und dass ihre Schluss­fol­ge­run­gen nicht trag­fä­hig sind. Hier möch­te ich noch eini­ge wei­te­re Punk­te dis­ku­tie­ren, die inhalt­lich nicht in den ers­ten Blog-Post gepasst haben. Dabei geht es mir vor allem um eine kor­rek­te Dar­stel­lung der DDR-Zeit aber es ist auch noch ein gra­vie­ren­der Feh­ler bezüg­lich der Vor­fäl­le in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen zu besprechen.

Nazis, Verantwortung und Scham

In die­sem ers­ten Abschnitt möch­te ich Rabes Ansich­ten bzgl. Kol­lek­tiv­schuld und ihre Scham bezüg­lich ihrer Eltern besprechen.

Schuld und Blut

Rabe schreibt, dass alle Deut­schen „qua ihres deut­schen Blu­tes“ zur SS, zur Wehr­macht, zu den Ver­bre­chern gehören:

Die Nazis waren immer die ande­ren. Die SS, die Wehr­macht, die Ver­bre­cher. Schlimm, schlimm das. So schlimm, dafür über­neh­men wir sogar dann gern die Ver­ant­wor­tung, wenn wir ganz sicher sind, dass unse­re Fami­li­en damit nichts zu tun haben. Aber qua Her­kunft, qua Abstam­mung, qua unse­res deut­schen Blu­tes gehö­ren wir eben dazu, sind wir eben mitverantwortlich.

S. 67

Ist das so? Ist das mit dem Blut nicht Nazi-Ideo­lo­gie? Und nie­mand hat’s gemerkt? Die Lek­to­rin nicht, kein Rezen­sent. War­um soll­te irgend­wer wegen Blut bes­ser oder schlech­ter sein? Tür­ke, Paläs­ti­nen­ser, Jude, Rus­se, Deut­scher? Ich emp­feh­le allen den Wiki­pe­dia-Arti­kel zur Kol­lek­tiv­schuld. Das Fol­gen­de steht dort gleich zu Beginn:

Kol­lek­tiv­schuld bedeu­tet, dass die Schuld für eine Tat nicht dem ein­zel­nen Täter (oder Tätern) ange­las­tet wird, son­dern einem Kol­lek­tiv, allen Ange­hö­ri­gen sei­ner Grup­pe, z. B. sei­ner Fami­lie, sei­nes Vol­kes oder sei­ner Orga­ni­sa­ti­on. Das beinhal­tet folg­lich auch Men­schen, die selbst nicht an der Tat betei­ligt waren. Das Straf­recht moder­ner Demo­kra­tien geht grund­sätz­lich von einer indi­vi­du­el­len Ver­ant­wort­lich­keit aus, so dass Kol­lek­tiv­schuld juris­tisch nicht rele­vant ist. Arti­kel 33 Gen­fer Abkom­men IV bestimmt, dass kei­ne Per­son für ein Ver­bre­chen ver­ur­teilt wer­den darf, das sie nicht per­sön­lich began­gen hat. Eine Kol­lek­tiv­stra­fe setzt Kol­lek­tiv­schuld vor­aus. Nach Art. 87 Abs. 3 Gen­fer Abkom­men III und Arti­kel 33 Gen­fer Abkom­men IV zäh­len Kol­lek­tiv­stra­fen zu den Kriegsverbrechen.

Nun könn­te man – völ­lig zu Recht – dar­über nach­den­ken, ob die Sache mit den Deut­schen viel­leicht doch etwas spe­zi­el­ler ist. Die Alli­ier­ten ver­folg­ten direkt nach dem Krieg einen Kol­lek­tiv­schuld-Ansatz. Das äußer­te sich unter ande­rem dar­in, dass die Wei­ma­rer Bevöl­ke­rung durch das befrei­te KZ Buchen­wald geführt wur­de. Den Etters­berg kann man von Wei­mar aus sehen. Buchen­wald hat­ten die Wei­ma­rer direkt vor der Nase. Sie haben den Rauch nicht gese­hen, das ver­brann­te Men­schen­fleisch nicht gero­chen. Oder es eben all die Jah­re aus­ge­blen­det. Es war rich­tig, sie alle sehen zu las­sen, was ganz in ihrer Nähe gesche­hen war. Film­ma­te­ri­al der US-Army und den Bericht einer Zeit­zeu­gin, die den KZ-Besuch mit­ge­macht hat, hat der Spie­gel veröffentlicht.

Im Urteil der Alli­ier­ten in den Nürn­ber­ger Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­sen steht 1948 Fol­gen­des zur Kollektivschuld:

Es ist undenk­bar, dass die Mehr­heit aller Deut­schen ver­dammt wer­den soll mit der Begrün­dung, dass sie Ver­bre­chen gegen den Frie­den began­gen hät­ten. Das wür­de der Bil­li­gung des Begrif­fes der Kol­lek­tiv­schuld gleich­kom­men, und dar­aus wür­de logi­scher­wei­se Mas­sen­be­stra­fung fol­gen, für die es kei­nen Prä­ze­denz­fall im Völ­ker­recht und kei­ne Recht­fer­ti­gung in den Bezie­hun­gen zwi­schen den Men­schen gibt.“ (aus dem Urteil der Alli­ier­ten in den Nürn­ber­ger Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­sen gegen die I.G. Far­ben, 29. Juli 1948).

Richard von Weiz­äcker schlägt statt Kol­lek­tiv­schuld eine Kol­lek­tiv­haf­tung vor:

auch Richard von Weiz­sä­cker beton­te in sei­ner viel beach­te­ten Rede „Zum 40. Jah­res­tag der Been­di­gung des Krie­ges in Euro­pa und der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewalt­herr­schaft“, die er am 8. Mai 1985 vor dem Deut­schen Bun­des­tag hielt: „Schuld oder Unschuld eines gan­zen Vol­kes gibt es nicht“, rief aber gleich­zei­tig dazu auf, kol­lek­tiv die Ver­ant­wor­tung für das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Unrecht zu akzep­tie­ren. Weiz­sä­cker bezeich­net die­se Hal­tung als „Kol­lek­tiv­haf­tung“.

Wiki­pe­dia über eine Rede von Bun­des­prä­si­dent Richard von Weiz­sä­cker Zum 40. Jah­res­tag der Been­di­gung des Krie­ges in Euro­pa und der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewalt­herr­schaft vom 8. Mai 1985 vor dem Deut­schen Bundestag

Die­se Kol­lek­tiv­haf­tung gab es für die DDR. Wäh­rend die West-Alli­ier­ten den West-Deut­schen den Mar­shall-Plan geschenkt haben, hat die Sowjet­uni­on Fabri­ken und Infra­struk­tur abge­baut und nach Russ­land ver­schickt. Im Fal­le von Carl Zeiss Jena haben sie sogar Men­schen mit­ge­nom­men, die die Fabrik in Russ­land wie­der auf­ge­baut und über Jah­re hin­weg die Rus­sen ein­ge­ar­bei­tet haben. Die Rus­sen haben alles mit­ge­nom­men, was ihnen nütz­lich erschien. In Wiki­pe­dia gibt es ein Lis­te aller seit 1882 still­ge­leg­ten Bahn­ver­bin­dun­gen in Ber­lin und Bran­den­burg. In die­ser Lis­te ist auch ver­merkt, was die Rus­sen mit­ge­nom­men haben.

Ich habe dazu auch eine per­sön­li­che Geschich­te: Ab der fünf­ten Klas­se bin ich von Buch zur Hum­boldt-Uni zur Mathe­ma­ti­schen Schü­ler­ge­sell­schaft gefah­ren. Es gab damals noch eine direk­te Ver­bin­dung von Buch zum Alex­an­der­platz. Die fuhr abwech­selnd auf dem lin­ken und auf dem rech­ten Gleis. Alle 20 Minu­ten. Dazwi­schen fuhr der Zug in die ande­re Rich­tung nach Ber­nau. Ein­mal war ich zu früh dran und sprang gera­de noch in einen Zug auf dem lin­ken Gleis. Die Türen schlos­sen sich, der Zug fuhr los. Lei­der in die fal­sche Rich­tung. Ich war­te­te auf die nächs­te Sta­ti­on, stürz­te aus dem Zug und rann­te hin­über zur ande­ren Sei­te, weil ich da den Zug in Gegen­rich­tung erwi­schen woll­te. Aber, oh Schreck, da war gar kein Gleis! Die Rus­sen hat­ten es mit­ge­nom­men. Von Rönt­gen­tal bis Ber­nau ist die Stre­cke nur eingleisig.

Im Wiki­pe­dia­ar­ti­kel kann man auch lesen, dass die Sowjet­uni­on fast die Hälf­te des ost­deut­schen Schie­nen­net­zes mit­ge­nom­men hat und min­des­tens 2000 der bes­ten Betrie­be. Und dann haben wir bis 1953 noch fast ein Vier­tel des Brut­to­so­zi­al­pro­dukts in die Sowjet­uni­on abgeführt:

Die Repa­ra­ti­ons­leis­tun­gen der spä­te­ren DDR an die Sowjet­uni­on gescha­hen bis 1948 haupt­säch­lich durch Demon­ta­ge von Indus­trie­be­trie­ben. Davon betrof­fen waren 2000 bis 2400 der wich­tigs­ten und best­aus­ge­rüs­te­ten Betrie­be inner­halb der Sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne Deutsch­lands (SBZ). Bis März 1947 wur­den zudem 11.800 Kilo­me­ter Eisen­bahn­schie­nen demon­tiert und in die Sowjet­uni­on ver­bracht. Damit wur­de das Schie­nen­netz bezo­gen auf den Stand von 1938 um 48 Pro­zent redu­ziert. Der Sub­stanz­ver­lust an indus­tri­el­len und infra­struk­tu­rel­len Kapa­zi­tä­ten durch die Demon­ta­gen betrug ins­ge­samt rund 30 Pro­zent der 1944 auf die­sem Gebiet vor­han­de­nen Fonds. Ab Juni 1946 begann sich mit dem SMAD-Befehl Nr. 167 die Form der Repa­ra­tio­nen von Demon­ta­gen auf Ent­nah­men aus lau­fen­der Pro­duk­ti­on im Rah­men der Sowje­ti­schen Akti­en­ge­sell­schaf­ten zu ver­la­gern, die von 1946 bis 1953 jähr­lich zwi­schen 48 und 12,9 Pro­zent (durch­schnitt­lich 22 Pro­zent) des Brut­to­so­zi­al­pro­dukts betru­gen. Die Repa­ra­tio­nen ende­ten nach dem Volks­auf­stand vom 17. Juni 1953. Auf der Grund­la­ge erst­mals erschlos­se­ner Archiv­ma­te­ria­li­en, vor allem in Mos­kau, kamen Lothar Baar, Rai­ner Karlsch und Wer­ner Matsch­ke vom Insti­tut für Wirt­schafts­ge­schich­te der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin etwa 1993 auf eine Gesamt­sum­me von min­des­tens 54 Mil­li­ar­den Reichs­mark bzw. Deut­sche Mark (Ost) zu lau­fen­den Prei­sen bzw. auf min­des­tens 14 Mil­li­ar­den US-Dol­lar zu Prei­sen des Jah­res 1938. 

Als die Repa­ra­tio­nen 1953 für been­det erklärt wur­den, hat­te die SBZ/DDR die höchs­ten im 20. Jahr­hun­dert bekannt­ge­wor­de­nen Repa­ra­ti­ons­leis­tun­gen erbracht.

Wiki­pe­dia-Arti­kel zu den Repa­ra­ti­ons­leis­tun­gen nach dem zwei­ten Weltkrieg

Dem Plus der BRD aus dem Mar­shall-Plan von 1,41 Mil­li­ar­den US-Dol­lar steht also ein Minus von min­des­tens 14 Mil­li­ar­den US-Dol­lar für die DDR gegen­über. (Neben­be­mer­kung: Ej, lie­be Wes­sis, „wir“ haben die aus der Haf­tung ent­stan­de­nen Schul­den über­nom­men und bezahlt und dann alles von vorn neu auf­ge­baut: die durch den Krieg zer­stör­te Infra­struk­tur und die demon­tier­ten Betrie­be, wohin­ge­gen „Ihr“ schö­ne Geschen­ke bekom­men habt bzw. Betrie­be und Per­so­nal aus dem Osten mit­ge­nom­men habt. Unter ande­rem auch einen Teil von Carl Zeiss, Sie­mens, Schott usw. Außer­dem konn­tet „Ihr“ „Eure“ Roh­stof­fe auf dem Welt­markt kau­fen (den glo­ba­len Süden aus­beu­ten), wäh­rend „wir“ unse­re Roh­stof­fe von „uns­ren Freun­den“ kau­fen muss­ten. Und zwar für West-Geld. Es gibt also kei­nen Grund zur Über­heb­lich­keit und Arro­ganz.) (Neben­be­mer­kung 2: Ins­ge­samt betru­gen die Wie­der­gut­ma­chungs­zah­lun­gen 2022 81,967 Mil­li­ar­den Euro. Die DDR hat sich an die­sen Zah­lun­gen nicht betei­ligt, weil sie das The­ma nach den Zah­lun­gen an die Sowjet­uni­on für erle­digt gehal­ten hat. Ab 1989 war „die DDR“ natür­lich an die­sen Zah­lun­gen betei­ligt. Die Zah­lun­gen wur­den zu unter­schied­li­chen Zei­ten geleis­tet, so dass die abso­lu­ten Zah­len nicht direkt ver­gleich­bar sind.1

Wei­ter schreibt Wiki­pe­dia zum The­ma Kollektivschuld:

Ralph Giord­a­no woll­te 1947 nicht von „Kol­lek­tiv­schuld“ spre­chen. Es habe eine Min­der­heit von Deut­schen gege­ben, die ihrem Gewis­sen und nicht dem Füh­rer gefolgt sei. Die Mehr­heit habe jedoch kein Recht, sich dadurch ent­las­tet zu füh­len und von deren Anstän­dig­keit zu pro­fi­tie­ren, beson­ders weil sie sich auch heu­te noch von die­ser Min­der­heit distanziere.

Das ist wahr. Ein Ver­wand­ter mei­ner Frau, soll­te in Nor­we­gen Zivilist*innen töten und hat sich gewei­gert. Er wur­de selbst erschos­sen. Der West­teils der Fami­lie hat sich dafür geschämt. Sie haben nie dar­über gespro­chen. Und sie­he auch den Bericht von Mari­an­ne Mey­er-Krah­mer Mein lan­ger Weg zur Stun­de Null, den ich hier im Blog ver­öf­fent­licht habe. Mey­er-Krah­mer ist die Toch­ter des Leip­zi­ger Ober­bür­ger­meis­ters Goer­de­ler, der als einer der Hit­ler-Atten­tä­ter hin­ge­rich­tet wur­de. Sie saß im KZ. Übri­gens ohne jeg­li­chen Grund. Es war Sip­pen­haft. Sip­pen­haft ist die klei­ne Freun­din von Kol­lek­tiv­schuld. Sie berich­tet davon, wie ihr Men­schen nach ihrer Befrei­ung begeg­net sind, wie sie die Ableh­nung der BDM-Mäd­chen, mit denen sie als Leh­re­rin zu tun bekam, über­wand. Mit Goethe.

In Wiki­pe­dia fin­det man auch fol­gen­de Aus­sa­ge des Neu­ro­lo­gen und Psych­ia­ters Vik­tor Frankl zum The­ma Kollektivschuld:

es gibt nur zwei Ras­sen von Men­schen, die Anstän­di­gen und die Unanständigen.

Frankl war Jude und hat The­re­si­en­stadt und Ausch­witz über­lebt. Sei­ne rest­li­che Fami­lie wur­de ermor­det. Vater, Mut­ter, Bru­der, Frau.

Rabe wirft ihren Lehrer*innen vor, dass die­se kei­ne vor­wurfs­vol­len All­aus­sa­gen über die Vor­fah­ren ihrer Schüler*innen gemacht hätten:

Die­se omi­nö­sen deut­schen Sol­da­ten. Kein Leh­rer sag­te: Eure Groß­vä­ter und Urgroß­vä­ter waren die deut­schen Sol­da­ten, die in Ost­eu­ro­pa und der Sowjet­uni­on alles abge­schlach­tet haben, was sich beweg­te, die geraubt und ver­ge­wal­tigt und gan­ze Dör­fer ange­zün­det haben.

S. 87

Viel­leicht lag das dar­an, dass das zu platt und im Ein­zel­fall auch nicht rich­tig gewe­sen wäre? Wenn wäre die Aus­sa­ge ja wohl auch „Unse­re Groß­vä­ter und Urgroß­vä­ter“ gewe­sen. Und folgt es nicht auto­ma­tisch, wenn man über die Ver­bre­chen die­ser Gene­ra­ti­on auf­klärt, dass die Groß­el­tern und Urgroß­el­tern von vie­len, vie­len Deut­schen Täter*innen waren? Muss man die­sen Gedan­ken nicht selbst denken?

Mein einer Opa war übri­gens kriegs­wich­tig (Inge­nieur bei Kör­ting in Leip­zig) und des­halb nicht im Krieg und mein ande­rer war zwar bei der Wehr­macht aber als Koch.

Bei­de haben somit zwar irgend­et­was zum Krieg bei­getra­gen, aber der Vor­wurf, den Rabes Lehrer*innen ihnen hät­te machen sol­len, hät­te auf sie wohl nicht zugetroffen.

Mein Opa war in der SPD, nicht in der NSDAP. Die SPD war ab dem 22. Juni 1933 als „volks- und staats­feind­li­che Orga­ni­sa­ti­on“ ver­bo­ten. Der Bru­der mei­nes Groß­va­ters war bis zum Ver­bot am 28. Febru­ar 1933 in der SAJ (Sozia­lis­ti­sche Arbei­ter-Jun­gend). Er hat ein Jahr und neun Mona­te im KZ Lich­ten­burg geses­sen, weil er Flug­blät­ter für eine Ein­heits­front aus KPD und SPD ver­teilt hat. 

Ankla­ge­schrift „gegen List und Genos­sen wegen Vor­be­rei­tung eines hoch­ver­rä­te­ri­schen Unter­neh­mens“ 19.09.1935

Der Groß­va­ter mei­ner Frau hat einem Juden ein Bahn-Ticket nach Wla­di­wos­tok gekauft, als Juden das schon längst nicht mehr konn­ten. Er hat ihm zur Flucht ver­hol­fen. Mit Hil­fe eines israe­li­schen Kol­le­gen habe ich sei­nen Nef­fen in Isra­el aus­fin­dig gemacht und mein Schwa­ger hat ihn dann dort besucht. Der Groß­va­ter war Lei­ter des Arbeits­am­tes in Ins­ter­burg. Er saß in der Nazi­zeit mehr­fach im Gefäng­nis und stand mehr­fach vor Gericht. Ein­mal hat ein Kind eines Men­schen aus sei­ner Freun­des­grup­pe sie ver­ra­ten: Sie hat­ten Radio Lon­don gehört. Er konn­te sich vor Gericht dar­auf beru­fen, dass die Aus­sa­ge eines Kin­des nicht zäh­len wür­de. Ande­re aus dem Freun­des­kreis kann­ten sich nicht aus und wur­den ver­ur­teilt. Er wur­de oft von Men­schen gewarnt, denen er frü­her Arbeit ver­schafft hat­te. Beim drit­ten Mal Schutz­haft half ihm der Poli­zei­di­rek­tor: Die ande­ren Ange­klag­ten wur­den ins KZ Dach­au abtrans­por­tiert, der Poli­zei­prä­si­dent hielt den Groß­va­ter zurück mit der Behaup­tung, es habe kei­nen Platz mehr in den Trans­por­ten nach Dach­au gegeben.

Ein Ange­hö­ri­ger der Fami­lie mei­ner Frau hat sich im Krieg gewei­gert, nor­we­gi­sche Zivilist*innen (Par­ti­sa­nen) zu erschie­ßen und wur­de selbst erschos­sen. Ein Cou­sin mei­nes Vaters ist in Nor­we­gen mit einer Nor­we­ge­rin deser­tiert und wur­de erschossen.

Schrei­ben der Deut­schen Dienst­stel­le für die Benach­rich­ti­gung der nächs­ten Ange­hö­ri­gen der ehe­ma­li­gen deut­schen Wehr­macht, 07.04.2017

Der Cou­sin scheint sei­ne Waf­fe mit­ge­nom­men zu haben. Also: ein­mal Ver­wei­ge­rung des Schie­ßens aus Mensch­lich­keit, ein­mal Fah­nen­flucht aus Lie­be. „Todes­an­zei­gen oder Nach­ru­fe in Zei­tun­gen, Zeit­schrif­ten und der­glei­chen sind verboten.“

Sind wir schul­dig? Als Men­schen mit deut­schem Blut? Was ist das für ein ras­sis­ti­scher Unsinn! Soll­ten wir uns nicht alle dar­an mes­sen, was wir jetzt tun? Wie wir die Taten ande­rer ein­ord­nen? An unse­rer Mensch­lich­keit? Am 4.11.1989 gab es eine gro­ße Demons­tra­ti­on am Alex­an­der­platz. Die ers­te freie Demons­tra­ti­on in der DDR. Ich lief im Anti­fa-Block mit. Die Sta­si hat Bil­der von die­sem Block gemacht (sie­he Wag­ner, 2018, Ver­tusch­te Gefahr: Die Sta­si & Neo­na­zis).

© BStU, MfS HAXX, Fo 1021, Bild 57

Bin ich schul­dig? Muss ich mich schä­men? Ich habe nichts getan! Ich war sie­ben Mal in Buchen­wald (sie­he Weim­ar­ta­ge der FDJ) und auch in Sach­sen­hau­sen, in Ausch­witz. Ich habe mich inten­siv mit der deut­schen Ver­gan­gen­heit aus­ein­an­der­ge­setzt, aber ich konn­te die 1000 Jah­re zwi­schen 1933 und 1945 an kei­ner Stel­le beein­flus­sen. Denn ich war da noch nicht geboh­ren. Für mei­ne Eltern kann ich nichts, aber für mei­ne Kin­der. Ich wür­de mich schä­men, wenn sie in die AfD ein­tre­ten wür­den und/oder die Ver­nich­tung von Men­schen pla­nen würden.

Demoteilnehmer*innen mit Schil­dern „‘Remi­gra­ti­on’ ??? No way, AfD!“, „Dan­ke! Mama & Papa, dass ich kein Nazi gewor­den bin!!!“ und „Oh Schie­ße.“ und einem aus AfD-Pfei­len zusam­men­ge­setz­ten Haken­kreuz. Reichs­tag, Ber­lin, 21.01.2024

Scham

Anne Rabe wird zum Opfer ihrer Vor­stel­lun­gen von Kol­lek­tiv­schuld. Wie ich oben geschrie­ben habe: Sip­pen­haft ist die fie­se klei­ne Schwes­ter von Kol­lek­tiv­schuld. Das schreibt Rabe selbst:

Mei­ne Eltern hat­ten stu­die­ren kön­nen und hat­ten es des­halb auch nach dem Sys­tem­wech­sel leich­ter. Wir waren pri­vi­le­giert und ret­te­ten einen Teil die­ser Pri­vi­le­gi­en mit in die neue Zeit. Mut­ter und Vater wür­den sich auf dem Arbeits­markt eta­blie­ren kön­nen. Nicht ohne Pro­ble­me, nicht ohne Arbeits­lo­sig­keit, nicht ohne Umschu­lun­gen und die berühm­ten Brü­che in den Erwerbs­bio­gra­fien, aber sie hat­ten bes­se­re Start­chan­cen als die meis­ten der­je­ni­gen, die das Sys­tem zum Ein­sturz gebracht haben. Bes­se­re Chan­cen als die­je­ni­gen, denen auch ich mei­ne Frei­heit zu ver­dan­ken habe. Ich schä­me mich dafür. Immer noch.

S. 155

Jedes Mal, wenn ich von Hohen­schön­hau­sen, Tor­gau oder ande­ren Dun­kel­or­ten der DDR hör­te, wur­de ich von einer Scham­wel­le fort­ge­schwemmt, aus der ich mich nur lang­sam her­aus­kämp­fen konn­te, indem ich sorg­sam alles studierte.

S. 99

Aber wie­so schämt sich Rabe für ihre Eltern? Sie kann nichts für ihre Eltern. Sie hat sich sogar von ihnen los­ge­sagt. Damit ist doku­men­tiert, dass sie deren Hal­tung und ihre Gewalt­tä­tig­keit ablehnt. Rabe soll­te sich nicht für ihre Eltern schä­men. Aber sie könn­te sich zum Bei­spiel für die inhalt­li­chen Feh­ler in ihrem Buch schä­men. Für ihre Unin­for­miert­heit. Für ihre nicht erfolg­te Recher­che zu The­men, über die sie geschrie­ben hat. Für den Scha­den, den sie damit ange­rich­tet hat. All ihre Feh­ler sind in Kei­ne Gewalt! Zu Mög­lich­kei­ten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch in die­sem Blog-Bei­trag doku­men­tiert. Oder für ihre Nai­vi­tät bzw. Durch­trie­ben­heit, auf die ich wei­ter unten zu spre­chen komme.

Reden

Anne Rabe mahnt in ihrem Buch an, dass wir doch mit­ein­an­der reden soll­ten. Dass wir Ossis unse­re dunk­le Ver­gan­gen­heit auf­ar­bei­ten soll­ten. Aber sie selbst hat nicht gere­det. Das Ver­sa­gen liegt auch bei ihr. Hier eini­ge Pas­sa­gen aus dem Buch:

Ich bin ein­fach wütend. Auch auf Adas Eltern. 

Auch sie haben uns im Stich und mit der gan­zen Geschich­te allein­ge­las­sen. Adas Vater hat über die roten Socken gespro­chen, über sein Radar, das da anging bei mei­nen Eltern und ande­ren. Sein Hass, sei­ne Wut, sie sind berech­tigt gewe­sen. Aber statt sich mit denen aus­ein­an­der­zu­set­zen, die dafür die Ver­ant­wor­tung tru­gen, statt mit ihnen die Din­ge zu klä­ren, hat er am Küchen­tisch sei­ne Reden geschwun­gen und eben mich spü­ren las­sen, wie wenig er mich lei­den konnte.

S. 155–156

Adas Eltern waren Systemgegner*innen. Sie durf­ten nicht stu­die­ren und haben unter der DDR gelit­ten. Unter Men­schen wie Rabes Eltern. Und jetzt ver­langt sie, dass die, die all das erlit­ten haben, zu denen gehen, die sich schul­dig gemacht haben, und sich mal aussprechen?

Das zeigt ganz klar, dass sie das alles nicht ver­stan­den hat. Sie hat nicht ver­stan­den, was Bau­sol­dat-Sein bedeu­tet hat. Man hat­te sich kom­plett aus der rest­li­chen Gesell­schaft aus­ge­klinkt. Man konn­te höchs­tens noch Theo­lo­gie stu­die­ren. Ich war an einer Spe­zi­al­schu­le mathe­ma­ti­scher Rich­tung. Es gab dort einen Jun­gen, der nahm an inter­na­tio­na­len Mathe­olym­pia­den teil. Er war geni­al. Er hat sich schon in der Schu­le gewei­gert, an dem zwei­wö­chi­gen GST-Lager, in dem wir auch mit auto­ma­ti­schen Waf­fen geschos­sen haben, teil­zu­neh­men. Die para­mi­li­tä­ri­sche Aus­bil­dung in der Schu­le war Pflicht. Der Schü­ler ist dann Schä­fer geworden. 

Ada hat mir erzählt, dass er in der DDR den Wehr­dienst an der Waf­fe ver­wei­gert hat, was nur ging, wenn man sich den »Bau­sol­da­ten« zutei­len ließ. Das hat­te Kon­se­quen­zen. Mie­se Schi­ka­nen wäh­rend und nach der Dienst­zeit – ein sehr bewusst gewähl­tes Außen­sei­ter­tum, einer Gesell­schaft zum Trotz, die einem kei­ne Wahl las­sen woll­te. Der Preis, den Adas Vater für sei­ne mora­li­sche Inte­gri­tät hat­te zah­len müs­sen, war hoch. Sein gan­zes Leben wür­de davon bestimmt sein. Auf ein Stu­di­um brauch­te er nicht mehr zu hof­fen und über­all, wo es sich anzu­stel­len galt, hat­te er sich ganz hin­ten ein­zu­rei­hen. Das hat­te ihn den­noch nicht davon abge­hal­ten, für sei­ne Über­zeu­gun­gen einzustehen.

S. 154

Jeder Kon­takt mit dem Sys­tem und des­sen Kin­dern war poten­ti­ell gefähr­lich und in jedem Fall anstren­gend. Als Bau­sol­dat war man als Sys­tem­geg­ner akten­kun­dig gewor­den. Viel­leicht wur­de man bespit­zelt. Rund um die Uhr. Arbeits­kol­le­gen mel­de­ten Auf­fäl­lig­kei­ten. Und sie ver­langt jetzt von den Oppo­si­tio­nel­len, dass sie mit ihren Eltern spre­chen? Zwar nach der Wen­de, aber ???

Völ­lig unklar.

So wie Gei­pel und Kaha­ne es nicht ver­ste­hen kön­nen, dass sie als rote Socken abge­lehnt wur­den, hat Rabe nicht ver­stan­den, wie die DDR war und was man da nach der Wen­de gemacht hat und was nicht. Wir waren froh, dass wir Krenz & fri­ends los waren. Mit denen woll­te man nicht mehr reden. Ganz davon abge­se­hen, dass nach der Wen­de alle im Über­le­bens­kampf waren, was Rabe ja auch selbst schreibt.

Wie kann Rabe eine Blut­schuld für das gesam­te deut­sche Volk und alle Nach­fah­ren for­dern, für sich selbst aber ver­lan­gen, dass ihre Gegen­über ihr unvor­ein­ge­nom­men begeg­nen? Müss­te die­se Blut­schuld nicht auch für sie gel­ten? Und für Anet­ta Kaha­ne, deren Vater das Neue Deutsch­land, Zen­tral­or­gan der SED, gelei­tet hat? Und für Ines Gei­pel, deren Vater IM war und laut ihrem Wiki­pe­dia-Ein­trag für „das Aus­spä­hen von Objek­ten und die Vor­be­rei­tung von Sabo­ta­ge auf dem Gebiet der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land“ zustän­dig (Hart­wich & Mascher, 2007)? Ist Unfug, oder? Anet­ta Kaha­ne war übri­gens selbst IM, nicht ihre Eltern. Sie hat ihre jüdi­schen Kum­pels verpfiffen.

Ja, Adas Vater hät­te sie nicht ableh­nen sol­len, so wie es auch von ihrer Leh­re­rin unpro­fes­sio­nell war, sie auf­grund ihrer Her­kunft aus­zu­schlie­ßen. Gera­de in der Grund­schu­le, wo ein betrof­fe­nes Kind das wahr­schein­lich nicht ver­ste­hen kann. Aber als erwach­se­ne Frau, und das ist die Ich-Erzäh­le­rin ja, soll­te sie die Situa­ti­on damals so weit ein­schät­zen kön­nen, dass sie die Hand­lun­gen der Akteur*innen ver­steht. Aber das kann sie nicht, denn sie hat nicht mit ihnen gespro­chen (ja, ja, das ist nur ein Roman, aber sol­che Roma­ne wür­de man dann hal­te eben nicht schrei­ben, hät­te man mit Men­schen gesprochen):

Aber das ist nicht der ein­zi­ge Grund, war­um ich das Gespräch mit Adas Eltern plötz­lich scheue. Ich will kei­ne Abso­lu­ti­on von ihnen, kei­ne spä­te Ver­brü­de­rung mit den­je­ni­gen, die auf mei­ne Eltern und ihr gan­zes Sys­tem zu Recht wütend waren. Ich woll­te mich auch nicht als die­je­ni­ge pro­du­zie­ren, die nun ihre Haus­auf­ga­ben gemacht und im Gegen­satz zu den ewig Gest­ri­gen ver­stan­den hat­te, aus was für einem Land sie kam.

S. 155

Hät­te sie mit ihnen gespro­chen, wüss­te sie, dass Christ*innen in der DDR dazu genö­tigt wur­den, vor der gan­zen Klas­se auf­zu­ste­hen. „Wer von Euch glaubt an Gott? Du, Sabi­ne? Dann steh mal bit­te auf. Wer noch?“

Rabe schreibt:

Die Ange­hö­ri­gen der Opfer erfuh­ren nichts über den Ver­bleib ihrer Kin­der, Väter, Müt­ter, Tan­ten, Onkel, Nach­barn und Freun­de. Das Schwei­gen dar­über war so total, dass heu­te kaum noch jemand um die Ver­bre­chen der Anfangs­zeit der DDR weiß, obwohl es nahe­zu kei­ne Fami­lie geben kann, die davon unbe­rührt blieb.

S. 265

Ich habe es immer geahnt: Ich bin ein­zig­ar­tig! Ich bin der ein­zi­ge Ossi, der irgend­wie wuss­te, dass in den 50ern Men­schen abge­holt wur­den. Dass es Men­schen gab, die Angst hat­ten, wenn Auto­tü­ren klapp­ten, weil sie dach­ten, jetzt wür­den sie geholt.

Sor­ry, Frau Rabe. „Auf der Suche nach Gatt“ wur­de in der Schu­le behan­delt. Da wur­de uns natür­lich erklärt, dass das am 17. Juni die Kon­ter­re­vo­lu­ti­on war. Aber man konn­te sei­ne Eltern fra­gen, was da war, was sie gemacht haben.

Der ande­re Teil mei­ner Fami­lie kommt aus Frankfurt/Oder, einer Bezirks­haupt­stadt, der ach­zehnt­größ­ten Stadt in der DDR, von der Sie schrei­ben: „Irgend­was Klei­nes in Bran­den­burg“. Die Mut­ter hat in der Bahn­hofs­mis­si­on gear­bei­tet. Der Vater war in den letz­ten Kriegs­ta­gen gefal­len, als er sich vom Volks­sturm abge­setzt hat­te und von einer irr­lich­tern­den Gra­na­te erwischt wur­de. Allein­ste­hen­de Frau mit fünf Kin­dern. Sie wur­de ein­ge­sperrt. Das wis­sen wir, das weiß die gan­ze Fami­lie, das weiß deren Umfeld. Christ*innen in der DDR wis­sen das. Sie haben halt nicht mit Ihnen drü­ber gespro­chen und hät­ten das zu DDR-Zei­ten auch nicht getan. Weil sie aus einer Funk­tio­närs­fa­mi­lie kom­men. Mein Gott!

Sie for­dern eine Auf­ar­bei­tung der SED-Zeit und Rezen­sen­ten grei­fen das begeis­tert auf: Ja, die Ossis sol­len mal ihren Dreck im Kel­ler auf­ar­bei­ten, so wie wir es ja getan haben 1968.

War Ihre Fami­lie in das SED-Regime ver­wi­ckelt? Gab es in Ihrer Fami­lie Mit­ar­bei­ter der Staats­si­cher­heit? Wür­den Sie sagen, dass Ihre Fami­lie zu DDR-Zei­ten eher Täter oder Opfer waren? Gehör­ten Sie zu den Mit­läu­fern? Hat Ihre Fami­lie vom SED-Regime pro­fi­tiert? Gibt es in Ihrer Fami­lie Mit­glie­der, die auf Grund ihres Glau­bens oder ihrer poli­ti­schen Über­zeu­gung ver­folgt wur­den? Hat Ihre Fami­lie akti­ven Wider­stand gegen das SED-Regime geleis­tet? Ist es wich­tig, dass kom­men­de Gene­ra­tio­nen in der Schu­le über das Unrecht, das in der ehe­ma­li­gen DDR began­gen wur­de, auf­ge­klärt werden?

Die­se Fra­gen wer­den nicht gestellt. Man befragt uns nicht dazu und misst dar­an auch nicht den Grad unse­res poli­ti­schen Bewusst­seins oder den Zustand der Republik.

S. 73

Sor­ry, Frau Rabe, da haben Sie wohl einen Dit­sch von ihrem Eltern­haus mit­be­kom­men. Wer ist denn „man“? Wer soll denn was fra­gen? Der Staat uns? Soll­ten wir das nicht selbst tun? Und ja, 1) hat der Staat uns befragt bzw. unse­re Daten abge­fragt und 2) haben wir mit­ein­an­der gere­det. Das pas­sier­te in den 90ern ziem­lich inten­siv. Nur haben Sie davon nichts mit­be­kom­men, weil Sie da noch zu klein waren. Das kann man Ihnen nicht vor­wer­fen, was man Ihnen vor­wer­fen kann, ist, dass Sie selbst nicht reden woll­ten (sie­he oben) und dass Sie auch nicht recher­chiert haben. Über „Wir müs­sen alle mal reden und wir brau­chen ein 68 für den Osten“ habe ich auch in Gewalt­er­fah­run­gen und 1968 für den Osten noch aus­führ­li­cher besprochen.

Berlinerisch

Auf S. 210 schreibt Anne Rabe zum Berlinischen:

Zwar ist es in der intel­lek­tu­el­len Land­schaft Ost­ber­lins ganz schick gewe­sen, den Jar­gon der Arbei­ter zu imitieren

S. 210

Anne Rabe hat an der FU-Ber­lin ab 2005 Ger­ma­nis­tik und Thea­ter­wis­sen­schaf­ten stu­diert. Als ich dort 2007 anfing, war sie wahr­schein­lich schon weg. An der FU lehr­te damals noch Prof. Nor­bert Ditt­mar, der zum Ber­li­ni­schen geforscht hat. Aber eigent­lich braucht es kei­ne sprach­wis­sen­schaft­li­che Aus­bil­dung, um zu wis­sen, dass das Ber­li­nern in Ber­lin und Bran­den­burg in allen Bevöl­ke­rungs­schich­ten üblich war. Ich konn­te ber­li­nern, schon bevor ich mit Arbei­tern in Kon­takt gekom­men bin. Mei­ne Eltern sind aus Jena und Wit­ten­berg. Von denen habe ich es nicht gelernt. Das kam ganz nor­mal über den Kin­der­gar­ten und die Schu­le. So hat man gespro­chen. Ein Kol­le­ge, der in den 90ern an der HU stu­diert hat, hat Vor­le­sun­gen in der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft gehört, in denen der Dozent bes­tens ber­li­nert hat. Wir alle haben ber­li­nert. Vie­le sind zwei­spra­chig und kön­nen Stan­dard­spra­che und Dia­lekt spre­chen. Im Wes­ten hat man den Schüler*innen das Ber­li­nern aus­ge­trie­ben, so wie man in Bay­ern den Kin­dern das Bay­ri­sche abge­wöhnt hat. Ich habe genau einen Freund aus West­ber­lin, der ber­li­nert. Sonst spre­chen alle West-Ber­li­ner hochdeutsch.

Ein mög­li­cher Grund dafür, dass die Schu­len nicht ver­sucht haben, uns die Dia­lek­te abzu­er­zie­hen, könn­te natür­lich sein, dass auch Funk­tio­nä­re Dia­lekt spra­chen, aber das ist etwas Ande­res als das, was Anne Rabe geschrie­ben hat. 

Jugendweihe – unser erster subversiver Akt

Zur Jugend­wei­he schreibt Rabe:

Das zwei­te Bekennt­nis leg­te das Kind dann selbst ab. In der ach­ten Klas­se, also mit 14 Jah­ren, soll­te das sozia­lis­ti­sche Kind qua Jugend­wei­he in die Welt der Erwach­se­nen auf­ge­nom­men wer­den und muss­te dafür laut­hals gelo­ben, sich „mit gan­zer Kraft für die gro­ße und edle Sache des Sozia­lis­mus einzusetzen“.

S. 114–115

Ja, die Jugend­wei­he war lus­tig! Und es war ganz prak­tisch, dass wir alle ber­li­ner­ten (sie­he vori­gen Abschnitt). Wir soll­ten alle die­ses blö­de Gelöb­nis spre­chen bzw. dann immer jeweils nach einem Stück Text sagen: „Ja, das gelo­ben wir!“

Was wir statt­des­sen sag­ten, war: „Ja, das glo­ben wir.“, was über­setzt ins Stan­dard­deut­sche „Ja, das glau­ben wir.“ heißt. Wir hat­ten alle Spaß. Für vie­le war das ihr ers­ter sub­ver­si­ver Akt. Hat kei­ner gemerkt.

Funktionärssprache

Ich hat­te oben schon das Zitat zum Reden mit Oppo­si­tio­nel­len. Dar­in war fol­gen­der Satz enthalten:

Ich woll­te mich auch nicht als die­je­ni­ge pro­du­zie­ren, die nun ihre Haus­auf­ga­ben gemacht und im Gegen­satz zu den ewig Gest­ri­gen ver­stan­den hat­te, aus was für einem Land sie kam.

S. 155

Ewig Gest­ri­ge ist für mich Funk­tio­närs­spra­che. Die­se Flos­kel kam über­all vor: im Geschichts­un­ter­richt, im Staats­bür­ger­kun­de­un­ter­richt, im FDJ-Stu­di­en­jahr. Es ging um Revan­chis­ten und Reak­tio­nä­re. Nun also Ossis. Hm. Viel­leicht kommt die­se Phra­se auch im Wes­ten vor. Ich hät­te sie aber nicht in solch einem Roman verwendet.

Ein Scherz, oder?

Rabe schreibt als Ich-Erzählerin:

Hans ist das Licht des Lap­tops zu hell im Bett. Er stöhnt und will schla­fen. Um sechs klin­gelt sein Wecker. Als du den Com­pu­ter zuklappst, ist es nicht weni­ger hell. Der Mond scheint dich an. Du stehst auf und ziehst ins Wohn­zim­mer und schreibst: „Vol­ler Mond, du dum­me Sau/zieh dich zurück in dei­nen Ver­hau.“ Es geht doch. Geht doch noch.

Das ist ein Scherz, oder? Ich bin in der Lage Humor zu erken­nen. Ist das der ein­zi­ge fik­tio­na­le Teil im Roman? Oder doch mehr? Oder alles? Oder ist alles ernst?

Spinnen und Bananen

Anne Rabe bzw. ihre Ich-Erzäh­le­rin hat­te es schwer. Ihre Kind­heit war ent­beh­rungs­reich und hart. Sie muss­te auf ein Außen­klo gehen, auf dem es Spin­nen gab. Und grü­ne Bana­nen essen.

Lie­be Frau Rabe, ich hab da ein paar Tipps für Sie: Wenn man nicht möch­te, dass es an einem Ort Spin­nen gibt, kann man sich ein Glas und Papier neh­men. Das Glas stülpt man über die Spin­ne. Das Papier schiebt man unter das Glas und dann kann man die Spin­ne zurück in die Natur beför­dern. Ich weiß, Ihre Kind­heit war schwer, aber es gab hof­fent­lich Papier (zu mei­ner Zeit war das Papier knapp). Min­des­tens Klo­pa­pier wird es wohl gege­ben haben und das sogar an dem Ort, wo sie es hät­ten benut­zen kön­nen. Wenn es bei Ihnen kein Glas gab, gab es viel­leicht die­se Punkte-Becher: 

DDR-Design­klas­si­ker: Punk­te-Becher aus Plas­te, 23.02.2024

Man hat­te mit solch einem Becher lei­der kei­nen Sicht­kon­takt zur Spin­ne mehr, aber hey, Not macht erfin­de­risch. Wir Ossis haben eigent­lich immer noch alles hinbekommen. 

Und mit den grü­nen Bana­nen, das kann ich voll nach­voll­zie­hen. Die sind dann so kleb­rig. Aber auch da gibt es einen Trick: Man lässt die Bana­nen etwas lie­gen. Dann sind sie reif. Sie schrei­ben ja selbst, dass Sie schon ein­mal brau­ne Bana­nen gese­hen hätten. 

Die Bana­nen, die ich nicht moch­te, weil wir sie geges­sen haben, wenn sie noch grün waren. Ich dach­te lan­ge, sie wären schlecht, sobald sie ein paar brau­ne Stel­len hatten.

S. 18

Dann müss­ten Ihnen doch eigent­lich auch Bana­nen in mitt­le­rer Rei­fe unter­ge­kom­men sein. Hät­ten Sie sys­te­ma­tisch getes­tet, hät­ten Sie her­aus­fin­den kön­nen, dass man Bana­nen weder grün noch braun essen muss.

Übri­gens: Bei uns damals war es so, dass wir über­haupt kei­ne Bana­nen hat­ten. Auch kei­ne grü­nen. Also, wir schon, denn wir leb­ten in Ber­lin und Ber­lin wur­de immer bes­ser ver­sorgt als der Rest der DDR. Das hing damit zusam­men, dass die Wes­sis nicht mer­ken soll­ten, dass es bestimm­te Din­ge in der DDR nicht gab, wenn sie mal kurz ihr Mäd­chen aus Ost­ber­lin besuch­ten. Also wir hat­ten wel­che, aber Ihre Eltern in Wis­mar nicht. 

Kari­ka­tur von Bernd A. Chmu­ra. Bana­nen-Repu­blik, 1986. Aus dem Kata­log der X. Kunst­aus­stel­lung der DDR, Dres­den. 1987/1988. S. 429. Ber­lin bekommt die Bana­nen, die rest­li­che DDR die Schalen.

Bzw. sie hat­ten sehr sel­ten wel­che. Ich erin­ne­re mich an Bana­nen bei einer Kur in Ahl­beck. Die waren noch grün!!! In Ber­lin gab es aber auch nicht immer Bana­nen. Eigent­lich gab es Süd­früch­te immer so um die Weih­nachts­zeit, wes­halb Obst­sa­lat noch heu­te für mich mit Weih­nach­ten ver­bun­den ist. 

Obst­sa­lat in einer Schüs­sel von Kahla Thü­rin­gen Por­zel­lan, Ber­lin, 18.12.2021. Kahla Thü­rin­gen Por­zel­lan wur­de nach der Wen­de für eine DM an einen Rechtstan­walt ver­kauft, des­sen einiz­ge Qua­li­fi­ka­ti­on dar­in bestand, einen Bru­der bei der Treu­hand zu haben. Na, ich schwei­fe ab. Und man soll auch nicht so viel Infor­ma­ti­on in Bild­un­ter­schrif­ten packen.

Dass es die Süd­früch­te nur zu Weih­nach­ten gab, lag dar­an, dass Erich Hon­ecker erst zum Jah­res­en­de genü­gend DDR-Oppo­si­tio­nel­le in den Wes­ten ver­kauft hat­te, so dass dann die Bana­nen und Apfel­si­nen gekauft wer­den konn­ten. (Das war Sarkasmus.)

Übri­gens: Die Sze­ne mit der Bade­wan­ne. Ist das nicht genau­so wie das mit den grü­nen Bana­nen? Sti­nes Mut­ter, die Mut­ter der Ich-Erzäh­le­rin, war in der Küche, ihr Vater im Wohn­zim­mer. Sie stand in dem sehr hei­ßen Was­ser. War­um hat sie nicht ein­fach kal­tes Was­ser nach­ge­füllt? War­um hat sie sich und ihren klei­nen Bru­der in das hei­ße Was­ser gestellt? Ich weiß, sie war noch klein und es war eine Stress­si­tua­ti­on. Aber wenn das immer wie­der pas­siert ist, hät­te sie ja mal drü­ber nach­den­ken kön­nen. Oder war es viel­leicht doch nicht so? Oder kann man das in die­sem Alter noch nicht? Sie muss ja min­des­tens vier gewe­sen sein.

Mangelnde Eigenverantwortung und die Fahrt in den Abgrund

Ein ähn­li­cher Fall liegt bei der Schlit­ten­sze­ne vor, auf die mich mein Klas­sen­ka­me­rad Peer in sei­ner Dis­kus­si­on von Anne Rabes Buch auf Mast­o­don hin­ge­wie­sen hat:

Wenn ich mich an Tim erin­ne­re, spü­re ich ihn hin­ter mir auf dem Schlit­ten sit­zen. Damals in Tsche­chi­en, im Rie­sen­ge­bir­ge. Er klam­mert sich an mich, und wir fah­ren im Affen­zahn einen Berg hin­un­ter. Er ver­traut mir, ver­traut dar­auf, dass ich die Kur­ve noch krie­ge vor dem Abhang. Ich brül­le: „Len­ken, Tim­mi, du musst den Fuß raus­hal­ten!“ Aber Tim, der jün­ger ist als ich, viel­leicht sechs oder sie­ben, weiß nicht, was ich mei­ne, und so grei­fe ich mit mei­nem rech­ten Arm hin­ter mich und rufe: „Spring!“ Der Schlit­ten saust ohne uns den Abhang hinunter.

S. 11

Die Fra­ge ist: Wie­so hat die Ich-Erzäh­le­rin nicht selbst die Füße raus­ge­stellt? Ist Sti­ne so? Ist Anne Rabe so? War­um greift sie nicht ein? Wenn so viel Zeit ist, dem zwei Jah­re jün­ge­ren Bru­der Anwei­sun­gen zu geben, war­um bremst SIE dann nicht? Ist das der bei Ossis immer wie­der kli­schee­haft beschwo­re­ne Man­gel an Eigen­ver­ant­wor­tung (sie­he auch Leser­brief zum mei­nem Arti­kel in der Ber­li­ner Zei­tung)? Oder nur ein schie­fes Bild im Roman? Schlech­te Literatur?

Schlagersüßtafel

Zum The­ma Schla­ger­süß­ta­fel schreibt Anne Rabe:

Dar­über, wie die Revo­lu­ti­on 89/90 auch durch die klei­ne Stadt gefegt war, schwieg sich mei­ne Fami­lie aus. Die DDR war den­noch oder gera­de des­halb selt­sam prä­sent. Ein ver­lo­re­ner Sehn­suchts­ort. Ein Ort, an dem alles gut war und »wisst ihr noch, die Schla­ger­süß­ta­fel?«. Die­se Scho­ko­la­de kam in fast allen Erzäh­lun­gen der Eltern vor. Auch wenn sie sich ganz gut ein­ge­lebt hat­ten im schlech­te­ren Deutsch­land, schien die Tat­sa­che, dass es die Schla­ger­süß­ta­fel nicht mehr zu kau­fen gab, von grö­ße­rer Bedeu­tung zu sein als das Haus, das sie nun bau­ten, die Urlau­be, in die wir fuh­ren, und der Ten­nis­kurs, den sie absol­vier­ten. Irgend­wann kamen sie zurück – die Ost­pro­duk­te. Sie füll­ten gan­ze Mes­se­hal­len und auch die Rega­le in unse­rem Super­markt. Plötz­lich gab es wie­der Bam­bi­na, Nudo­s­si, Puffreis und Fil­in­chen. Das ers­te Stück Schla­ger­süß­ta­fel aber war eine Ent­täu­schung. So hat­te sie also geschmeckt, die­se DDR? Nach nichts, noch nicht ein­mal nach Kakao­pul­ver. Ver­mut­lich war das gar kei­ne Schokolade.

S. 256

Schla­ger­süß­ta­fel wird in Wiki­pe­dia als Genuss­mit­tel gelis­tet. Aber ich muss Anne Rabe Recht geben: Schla­ger­süß­ta­fel war unge­nieß­bar. Ich habe in Schla­ger­süß­ta­fel und Klas­sen­kei­le bereits dar­über geschrie­ben: Wir hat­ten sie gekauft, weil wir dach­ten, es wären Bil­der von Schlagersänger*innen drin. Da sie zum Essen nicht taug­te, benutz­ten wir sie, um Bau­ar­bei­ter zu bewer­fen. Wie es dann wei­ter­ging, müsst Ihr in dem ande­ren Blog-Post lesen.

Wiki­pe­dia kann man auch die Zuta­ten ent­neh­men. Ein biss­chen Kakao war drin, aber nur 7%. Übri­gens lus­tig: Beim Lesen der Zuta­ten muss­te ich an die Mut­ter des Ich-Erzäh­lers von Stern 111 den­ken. Sie war Lebens­mit­tel­tech­ni­ke­rin und ihre Auf­ga­be war es, Ersatz­le­bens­mit­tel aus in der DDR ver­füg­ba­ren Roh­stof­fen zu kre­ieren. Viel­leicht war sie ja an der Krea­ti­on der Schla­ger­süß­ta­fel betei­ligt. Stern 111 ist übri­gens ein sehr gelun­ge­ner Nach­wen­de­ro­man. Wer wis­sen will, wie es vor der Wen­de war, soll­te Der Turm und Kro­ko­dil im Nacken lesen.

Plagiat? Nee! Oder doch?

In einem Bei­trag in der Neu­en Züri­cher Zei­tung schreibt Peer Teuw­sen, dass Anne Rabes Roman auf den Schul­tern von Ines Gei­pel ste­hen wür­de. Es wer­den drei Stel­len ange­führt. In einer fah­ren Kin­der Schlit­ten, in der zwei­ten trägt ein Vater sei­nen Sohn auf den Schul­tern und in der drit­ten spre­chen Kin­der über das Stern­bild gro­ßer Wagen. Pla­gi­at ist mein drit­tes Hob­by. Ich bin selbst pla­giert wor­den und habe ein ent­spre­chen­des Ver­fah­ren ein­ge­lei­tet. Ich war in einer Pla­gi­ats­kom­mis­si­on, die sich mit einer pla­gier­ten Dis­ser­ta­ti­on aus­ein­der­ge­setzt hat. Ich habe die­ses Jahr ein Pla­gi­at in einer BA-Arbeit gefun­den und ein 80seitiges Gut­ach­ten über ein Buch und das rest­li­che Werk eines sys­te­ma­tisch pla­gie­ren­den Autors ver­fasst. Der Vor­wurf des Pla­gi­ats gegen Rabe ist lächer­lich. (Nach­trag 29.06.2024: Aber sie­he unten.) Die Text­stel­len, die Teuw­sen anführt, sind kom­plett ver­schie­den, ja, sie haben inhalt­lich außer den oben genann­ten The­men selbst nichts mit­ein­an­der zu tun.

Die Ant­wort des Ver­lags ist interessant:

„Die Ähn­lich­kei­ten sind aus unse­rer Sicht zufäl­lig und allen­falls dadurch bedingt, dass die Bücher der bei­den Autorin­nen the­ma­tisch so nahe bei­ein­an­der lie­gen. Die Autorin­nen haben einen ähn­li­chen Blick auf die DDR und es gibt bio­gra­fi­sche Par­al­le­len (so haben bei­de Autorin­nen jün­ge­re Brü­der und kom­men aus einem sys­tem­na­hen Milieu)“, schreibt Rabes Verlag.

Peer Teuw­sen. 2023. Ver­heim­lich­te Nähe. NZZ.

Die Brü­der sind viel­leicht rele­vant, DDR ist kom­plett irrele­vant und Sys­tem­nä­he auch. Schlit­ten, Brü­der und den Gro­ßen Wagen gibt es auch im Wes­ten. Jeden­falls kann man Teuw­sens Arti­kel ent­neh­men, dass Gei­pel und Rabe befreun­det waren: „Die Älte­re fand es wun­der­bar, dass eine jün­ge­re Autorin sich ihrer The­men annimmt und ihnen eine neue Stim­me verleiht.“

Also kein Pla­gi­at, aber der Ein­fluss von Ines Gei­pel ist wahr­schein­lich für das gesam­te Ideen­ge­flecht rele­vant: Funk­tio­närs­kin­der kri­ti­sie­ren den Osten. Wie ich in mei­nem Blog­post Der Ossi und der Holo­caust gezeigt habe, lügt Ines Gei­pel. Es geht Ihr und Anet­ta Kaha­ne, eben­falls Funk­tio­närs­kind, nicht um eine Auf­ar­bei­tung von Unrecht. Sie stel­len Din­ge wahr­schein­lich bewusst falsch dar. Wie ich damals schon sag­te: Ent­we­der sie lügen bewusst oder sie sind unwis­send. Bei­des wäre schlecht, wenn man sich so weit aus dem Fens­ter lehnt. Und das ist auch für Anne Rabe so, wie ich in Kei­ne Gewalt! Zu Mög­lich­kei­ten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch hier gezeigt habe: Ent­we­der sie lügt bewusst oder sie ist unwis­send. Wahr­schein­lich das Letz­te­re. Scha­de nur, dass sie damit solch einen Scha­den anrichtet.

Nach­trag vom 29.06.2024: In „Ines Gei­pel lügt“ habe ich eine Doku­men­ta­ti­on des MDRs zu Ines Gei­pels Behaup­tun­gen zu ihrer Ver­gan­gen­heit als Leis­tungs­sport­le­rin bespro­chen und auch wie sie gegen Gegner*innen vor­geht. Es sieht also so aus, als hät­te sie all­ge­mein Pro­ble­me mit der Wahr­heit und ihre Behaup­tun­gen in Bezug auf den Umgang mit dem Holo­caust gehen nicht auf Unwis­sen­heit zurück. Ich habe jetzt ihr Buch Umkämpf­te Zone. Mein Bru­der, der Osten und der Hass gele­sen und habe dort erfah­ren, dass sie das Buch Nackt unter Wöl­fen kann­te und auch in Buchen­wald war. 

Zum The­ma Pla­gi­at kann man fol­gen­des fest­hal­ten: Das Buch von Anne Rabe ist von der Struk­tur genau par­al­lel zu Ines Gei­pels Buch auf­ge­baut. Es gibt kur­ze Kapi­tel mit Impres­sio­nen aus dem Pri­vat­le­ben und dann län­ge­re essay­is­ti­sche Abschnit­te mit poli­ti­scher Ana­ly­se. Die The­men sind sehr ähn­lich. Ins­ge­samt gibt es einen ent­schei­den­den Unter­schied: Bei Ines Gei­pel gibt es ein rela­tiv lan­ges Quel­len­ver­zeich­nis mit 79 Ein­trä­gen, über­wie­gend Fach­auf­sät­zen zur DDR; das Quel­len­ver­zeich­nis von Anne Rabe ent­hält 14 Ein­trä­ge, von denen die meis­ten Gedicht­samm­lun­gen, Roma­ne oder Fil­me sind, aus denen sie ihren Kapi­teln Aus­zü­ge vor­an­ge­stellt hat: Bach­mann, Brasch, Brecht, Inge Mül­ler, Einar Schle­ef, Wera Küchen­meis­ter. Dazu ein Gesetz und ein all­ge­mei­ner Ver­weis auf das Sta­si-Unter­la­gen-Archiv. Die Qua­li­tät der Bücher ins­ge­samt spie­gelt sich an den Quel­len­ver­zeich­nis­sen: Pro­fes­so­rin mit Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik auf der einen Sei­te und Per­son mit abge­bro­che­nen Ger­ma­nis­tik­stu­di­um auf der ande­ren Sei­te. Rabes Aus­re­de, sie habe ja kein Sach­buch geschrie­ben, ist lahm. Sie hat bzw. woll­te genau so ein Buch schrei­ben wie Gei­pel. Sie hät­te ein Quel­len­ver­zeich­nis gebraucht und in die­sem hät­te Gei­pel zitiert wer­den müs­sen. Und Teuw­sen ist zuzu­stim­men: Ines Gei­pel hät­te in den Dank­sa­gun­gen als Ideen­ge­be­rin genannt wer­den müs­sen. Inter­es­san­ter­wei­se gibt es bei Gei­pel eine Behaup­tung, die Rabe von dort über­nom­men zu haben scheint. Sol­che Über­nah­men fal­len auf, wenn das Über­nom­me­ne falsch ist. Gei­pel schreibt:

26. April 2002. Der ers­te Schul­a­mok­lauf in Deutsch­land, die öffent­li­chen Mor­de eines Gym­na­si­as­ten, das Unvor­stell­ba­re schlechthin.

Ines Gei­pel, 2019: Umkämpf­te Zone. Mein Bru­der, der Osten und der Hass, Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S.110 des E‑Books.

Die­sel­be Behaup­tung fin­det sich bei Anne Rabe und wie ich im Bei­trag zu den Amok­läu­fen gezeigt habe, ist die Behaup­tung falsch: Der ers­te Amok­lauf war 1871 in Saar­brü­cken und dann gab es noch vie­le wei­te­re. Mit Schuss­waf­fen und Flam­men­wer­fern usw. Zum Bei­spiel 1964 in Köln, 1983 in Eppstein, Hessen. 

Also: Ja, es gibt auch hier ein Pro­blem bei Anne Rabe. 

Antisemitismus und Nationalismus

Auf S. 271 kommt mal eben so eine Aus­sa­ge zu Anti­se­mi­tis­mus und Nationalismus: 

Auch waren Anti­se­mi­tis­mus und Natio­na­lis­mus wich­ti­ge Bestand­tei­le der sowje­ti­schen und real­so­zia­lis­ti­schen Ideologie.

S. 271

Wo hat sie das nur her? Quel­len? Na, viel­leicht von Gei­pel. Dass Anet­ta Kaha­ne und Ines Gei­pel gelo­gen haben (oder extrem unwis­send sind), wenn sie behaup­ten, der Holo­caust sei im Osten nicht vor­ge­kom­men, habe ich schon in Der Ossi und der Holo­caust bespro­chen. Zum (fast) nicht vor­han­de­nen Anti­se­mi­tis­mus in der DDR hat die Jüdin Danie­la Dahn viel geschrie­ben. Man­ches ist auch im Holo­caust-Post erwähnt. Ande­re Sachen bespre­che ich im Post über die Aus­stel­lung über jüdi­sches Leben in der DDR, die vom jüdi­schen Muse­um orga­ni­siert wurde.

Ich habe diver­se Inter­views mit Anne Rabe gele­sen und in einem Inter­view von Cor­ne­lia Geiß­ler von der Ber­li­ner Zei­tung steht:

Auch der His­to­ri­ker Patri­ce G. Pou­trus, der eher Osch­manns Gene­ra­ti­on ange­hört, hat beob­ach­tet, dass Rech­te und Rechts­extre­me im Osten auf ein fes­tes natio­na­lis­ti­sches Welt­bild trafen.

Geiß­ler, Cor­ne­lia. 2023. Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzäh­len“. Ber­li­ner Zei­tung.

Ich bin ja immer bereit, Neu­es zu ler­nen und dach­te mir: „Gut, mal gucken, was der His­to­ri­ker Pou­trus her­aus­ge­fun­den hat.“ Als ers­tes: Kur­zer Chek: Er ist aus dem Osten. Also gut, mal gucken. Bei der Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung habe ich einen Auf­satz von ihm gefun­den, den er gemein­sam mit Jan C. Beh­rends und Den­nis Kuck ver­fasst hat: His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern. Ich hat­te erst vie­le Punk­te, die in die­sem Arti­kel dis­ku­tiert wer­den, hier bespro­chen, aber dadurch wur­de der Post hier zu lang und zu unüber­sicht­lich. Des­halb habe ich die Dis­kus­si­on in den Post „His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern“: Kom­men­ta­re zu einem Auf­satz von Patri­ce G. Pou­trus, Jan C. Beh­rends und Den­nis Kuck ausgelagert.

Einen mei­ner Mei­nung nach ent­schei­den­den Bestand­teil des Natio­na­lis­mus erwäh­nen die Autoren nur im Vor­über­ge­hen im Nach­wort: den natio­na­len Tau­mel in der Wie­der­ver­ei­ni­gung. Die­ser war vom Wes­ten gewollt und geför­dert. Die Ost-Lin­ken haben das damals gese­hen und sich davor gefürch­tet. Mein Freund Jan Pautsch hat mir die bei­den fol­gen­den Gra­fi­ken geschenkt.

Men­schen, die ihren Kopf in der Hand hal­ten. Ein Hit­ler­kopf liegt am Stra­ßen­rand. Der Him­mel ist schwarz.
1989

Dank ich an angst in der nacht Herz­li­chen Glück­wunsch zur Wiedervereinigung

Deutsch­tü­me­lei! Natio­na­lis­mus! Das kam von der Bun­des­re­gie­rung. Nicht in Ber­lin. In Ber­lin wur­de Kohl ausgebuht. 

In Sach­sen wur­de er mit offe­nen Armen emp­fan­gen. Er hat den Ossis blü­hen­de Land­schaf­ten ver­spro­chen. Von Oskar Lafon­taine, des­sen Herz links schlug, und der damals Kanz­ler­kan­di­dat der Par­tei war, in der auch Anne Rabe Mit­glied ist, woll­te nie­mand etwas Wis­sen. Er hat die Wahr­heit gesagt. Aber „die Wahr­heit ist häss­lich und hat stin­ken­den Atem“.

Sicher ist alles nicht mono­kau­sal. Ande­re mög­li­che Ursa­chen wer­den im genann­ten Blog-Post diskutiert.

Nazis aus dem Westen

Im Post „His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern“: Kom­men­ta­re zu einem Auf­satz von Patri­ce G. Pou­trus, Jan C. Beh­rends und Den­nis Kuck ver­lin­ke ich einen Fern­seh­bei­trag, der zeigt wie der CDU-Innen­mi­nis­ter Jörg Schön­bohm einen Jugend­club mit Nazi-Skins besucht und die Jugend­li­chen dort pri­ma fin­det. Schön­bohm war Gene­ral­leut­nant in der Bun­des­wehr und Lan­des­vor­sit­zen­der der CDU Bran­den­burg. Auch sieht man im Video, dass die Nazi-Par­tei Deut­sche Alter­na­ti­ve, die in Bran­den­burg aktiv war, von Men­schen aus dem Wes­ten auf­ge­baut wur­de (11:25). Rabe schreibt dazu auch an eini­gen Stel­len etwas und stellt das in Fra­ge. Die ras­sis­ti­schen Aus­schrei­tun­gen in Lich­ten­ha­gen erwähnt sie expli­zit. Auch Lich­ten­ha­gen ist ein schlim­mes Bei­spiel von Poli­zei­ver­sa­gen (sie­he Ros­tock-Lich­ten­ha­gen 1992: Ein Poli­zei­de­ba­kel). Poli­zei, Jus­tiz, Ver­fas­sungs­schutz, alle Insti­tu­tio­nen wur­den vom Wes­ten auf­ge­baut und waren von West­lern gelei­tet.2 Der Bru­der mei­ner Schwie­ger­mut­ter noch heu­te AfD-Wäh­ler hat zum Bei­spiel das Lan­des­ar­beits­ge­richt in Dres­den auf­ge­baut. Der für Lich­ten­ha­gen zustän­di­ge Poli­zist ist ins Wochen­en­de gefah­ren. Nach Bre­men. Er hat die bepiss­ten Nazis pöbeln und zün­deln las­sen. Im Wiki­pe­dia­ein­trag zu den Aus­schrei­tun­gen steht es noch kras­ser. Nach einer lan­gen, lan­gen Vor­ge­schich­te mit Ankün­di­gun­gen und Dro­hun­gen ist die gesam­te poli­ti­sche und poli­zei­li­che Füh­rung ins Wochen­en­de ver­schwun­den. In den Westen:

Trotz der ange­kün­dig­ten Kra­wal­le und der auf­ge­heiz­ten Stim­mung rund um die ZAst fuhr fast das gesam­te poli­tisch und poli­zei­lich lei­ten­de Per­so­nal, das nach der Wen­de nahe­zu voll­stän­dig mit west­deut­schen Beam­ten aus den Part­ner­län­dern Schles­wig-Hol­stein, Ham­burg und Bre­men besetzt wor­den war, wie üblich am Frei­tag zu ihren Fami­li­en nach West­deutsch­land. So waren am Wochen­en­de der Aus­schrei­tun­gen der Staats­se­kre­tär im Innen­mi­nis­te­ri­um, Klaus Balt­zer, der Abtei­lungs­lei­ter Öffent­li­che Sicher­heit, Olaf von Bre­vern, der Abtei­lungs­lei­ter für Aus­län­der­fra­gen im Innen­mi­nis­te­ri­um und zum dama­li­gen Zeit­punkt zugleich Aus­län­der­be­auf­trag­ter der Lan­des­re­gie­rung, Win­fried Rusch, der Lei­ter des Lan­des­po­li­zei­am­tes, Hans-Hein­rich Hein­sen, der Chef der Poli­zei­di­rek­ti­on Ros­tock, Sieg­fried Kor­dus, sowie der Ein­satz­lei­ter Jür­gen Deckert nicht in Schwe­rin bzw. Ros­tock zuge­gen. Deckert hat­te die Füh­rung an den noch in der Aus­bil­dung befind­li­chen Sieg­fried Trott­now übergeben.

Wiki­pe­dia­ein­trag Aus­schrei­tun­gen in Rostock-Lichtenhagen

Rabe lässt ihre Mut­ter bzw. Sti­nes Mut­ter sagen, dass man Nazis aus dem Wes­ten ange­karrt habe:

Mut­ter hat gesagt, dass man nichts gegen Aus­län­der haben darf. Die machen hier die Arbeit, auf die die Deut­schen kei­ne Lust mehr haben. Und die Viet­na­me­sen, wo sie in Ros­tock das Haus ange­zün­det haben, die sind sogar schon zu Ost­zei­ten in Ros­tock gewe­sen, die kön­nen gar nichts dafür. Außer­dem waren da auch vie­le Nazis aus dem Wes­ten dabei. Die hat man extra da hin­ge­fah­ren, damit sie Ran­da­le machen. Das waren Row­dys. Aber im Fern­se­hen sagen sie immer, dass die alle Ros­to­cker sind.

S. 88

Im Inter­view mit Cor­ne­lia Geiß­ler sagt Rabe: 

Als die Zen­tra­le Auf­nah­me­stel­le für Asyl­be­wer­ber in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen in Brand gesetzt wur­de, 1992, hieß es, die Neo­na­zis sei­en nur aus dem Wes­ten ange­fah­ren wor­den. Die Eltern, die Leh­rer, die woll­ten das immer von sich weg­hal­ten. Aber wir Jugend­li­chen kann­ten die Nazis ganz gut, die saßen neben uns am Strand, in den Klas­sen, im Sportverein.

Geiß­ler, Cor­ne­lia. 2023. Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzäh­len“. Ber­li­ner Zei­tung. Ber­lin.

In den bei­den Text­pas­sa­gen gibt es ver­schie­de­ne Aus­sa­gen. 1) Es waren vie­le Nazis aus dem Wes­ten dabei. 2) Die Neo­na­zis sei­en nur aus dem Wes­ten ange­fah­ren worden.

Das sind die Fakten:

Gegen 12 Uhr am Sonn­tag hat­ten sich bereits wie­der etwa 100 Per­so­nen vor der ZAst ver­sam­melt. Nun tra­fen Rechts­extre­mis­ten aus der gan­zen Bun­des­re­pu­blik in Ros­tock ein, dar­un­ter Bela Ewald Alt­hans, Ingo Has­sel­bach, Ste­fan Nie­mann, Micha­el Bütt­ner, Ger­hard End­ress, Ger­hard Frey, Chris­ti­an Mal­co­ci, Arnulf Priem, Erik Rund­quist, Nor­bert Weid­ner und Chris­ti­an Worch. Von die­sen wur­de nur End­ress wäh­rend der Aus­schrei­tun­gen festgenommen.

Wiki­pe­dia­ein­trag Aus­schrei­tun­gen in Rostock-Lichtenhagen

Also: Fakt ist, dass Neo­na­zis aus dem Wes­ten dabei waren. Ob die ange­fah­ren wor­den sind und wenn ja von wem, weiß ich nicht, aber ansons­ten hat­te Rabes (Roman-)Mutter Recht. Ja, auch ehe­ma­li­ge Funk­tio­nä­re kön­nen Recht haben.

Bei den NSU-Mor­den war der Ver­fas­sungs­schutz selbst dabei (taz, 03.04.2017). Maa­ßen, ein Neo-Nazi erst CDU, jetzt Wer­te­uni­on, war der, der den­je­ni­gen abge­löst hat, der wegen des Ver­sa­gens beim NSU gehen muss­te. In Leip­zig Con­ne­witz ist eine Hor­de von über 200 Nazis ein­ge­fal­len und haben den Stadt­teil ver­wüs­tet. Die Ver­fah­ren wur­den ver­schleppt, vie­le sind straf­frei davon­ge­kom­men. Einer war Jura-Stu­dent. Er hat danach wei­ter­stu­diert und trat 2018 sein Refe­ren­da­ri­at an. Ein JVA-Mit­ar­bei­ter und Täter arbei­te­te fröh­lich wei­ter in der JVA (taz: 11.01.2021, Schlep­pen­de Auf­klä­rung). Die AfD wur­de von Neo­li­be­ra­len Wirtschaftsprofessor*innen aus dem Wes­ten auf­ge­baut und nach und nach von West-Nazis über­nom­men. Das habe ich Osch­mann nach sei­nem ers­ten Arti­kel geschrie­ben und ihn auf mei­nen Blog-Bei­trag Der Ossi ist nicht demo­kra­tie­fä­hig. Merkt Ihr’s noch? mit den Quel­len ver­wie­sen. Er hat sich herz­lich bedankt und wird jetzt dafür zitiert. Die Quel­len­an­ga­be hat er wohl vergessen. 

Bei Ent­hül­lun­gen von Cor­rec­tiv zu den Depor­ta­ti­ons­plä­nen, die AfD-Mit­glie­der, CDU-Mit­glie­der und sons­ti­ge Neo­na­zis dis­ku­tiert haben, habe ich mir auch mal den Spaß gemacht, zu schau­en, wo die betei­lig­ten Per­so­nen her­ka­men. Über­ra­schung: Das Ver­hält­nis West zu Ost ist 19:1. Bit­te­schön: Cor­rec­tiv und die Nazi-Vor­stel­lun­gen bzgl. Remi­gra­ti­on.

In die­ser Auf­zäh­lung darf Karl-Heinz Hoff­mann nicht feh­len. Hoff­mann ist ein extre­mer Rechts­extre­mist. Er hat die Wehr­sport­grup­pe Hoff­mann gegrün­det und hat mit 400–600 Kum­pels bewaff­net für den End­sieg trai­niert. (Ej, lie­be Wes­sis, das gab es in der DDR wirk­lich nicht. Hört auf, vom „ver­ord­ne­ten Anti­fa­schis­mus“ zu faseln.) Hoff­mann ging dann irgend­wann doch in den Knast und kam schließ­lich 1989 wegen guter Füh­rung und posi­ti­ver Sozi­al­pro­gno­se pas­send zur Mau­er­öff­nung wie­der raus. Dan­ke­schön! Hoff­mann ist aus Kahla (Thü­rin­gen), ging sofort wie­der rüber, kauf­te die hal­be Stadt auf und begann Neo-Nazi-Struk­tu­ren aufzubauen.

So war es. Wir wis­sen das. Nur Anne Rabe tut so, als wäre es anders. Weil sie es nicht weiß? Weil sie nie mit jeman­dem gere­det hat? Außer mit Gei­pel? Weil sich das Gegen­teil bes­ser ver­kauft? Sie­he unten.

Verbot des Themas

Anne Rabe nimmt die Kri­tik an ihrem Buch vor­weg: Was wisst Ihr schon, Ihr Nachgeborenen!

„Ihr, die ihr auf­tau­chen wer­det aus der Flut
In der wir unter­ge­gan­gen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unse­ren Schwä­chen sprecht
Auch der fins­te­ren Zeit
Der ihr ent­ron­nen seid.“

Der blö­de Brecht macht mich noch wahn­sin­nig. Er mar­schiert mir gera­de rein in die Gedan­ken und mahnt und mahnt. Bil­de dir kein Urteil! Bil­de dir ja kein Urteil, du Nach­ge­bo­re­ne! Ja, wie­so eigent­lich nicht? Das ist doch ein bil­li­ger Trick. Hin­ter der wort­schö­nen Mah­ne­rei drei Kel­ler tief Schwei­gen. Dort habt ihr eure Schuld ver­bud­delt und ver­bie­tet uns, sie aus­zu­he­ben. Sprecht uns ab, dass wir zu unse­rem eige­nen Urteil kom­men. Was kümmert’s euch? Was geht’s euch an, was wir über euch denken?

Tja, Frau Rabe. Hätten’se mal mit Adas Eltern gespro­chen. Die hät­ten Ihnen erzählt, wie die DDR sich für Oppo­si­tio­nel­le ange­fühlt hat. Das woll­ten Sie aber nicht. Sie haben sich geschämt. Wenn Sie ein Sach­buch über den Osten schrei­ben wol­len oder einen sach­lich rich­ti­gen Roman, dann müs­sen Sie recher­chie­ren. Sie kön­nen sich nicht ein­fach etwas aus den Fin­gern sau­gen, von dem Sie anneh­men, dass es sich gut ver­kauft. Die „drei Kel­ler tief Schwei­gen“ fan­ta­sie­ren Sie her­bei. Oder sie sind da. Im Haus Ihrer Eltern. Aber da hät­ten Sie viel­leicht nicht suchen dür­fen. Es ist alles bespro­chen und Sie haben es avai­li­ble at your fin­ger­tips: einen Klick ent­fernt. Alles, was hier steht, kommt aus Wiki­pei­dia bzw. den dort ver­link­ten Quel­len. Sie habe es nicht für nötig gehal­ten, den Arti­kel über Lich­ten­ha­gen, den über Kinds­tö­tun­gen zu lesen. Sie dach­ten, dass Sie genug wüss­ten. So wie fast alle, die in Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten über Ihr Buch geschrie­ben haben, sich in ihren Vor­ur­tei­len bestä­tigt sahen. Ich wür­de Ihre Arbeit nicht als Pla­gi­at ein­ord­nen, aber als ein glat­tes „Durch­ge­fal­len“.

Unredlich oder naiv?

Eine Erklä­rung für den Erfolg die­ses Buches lie­fert wohl das Inter­view auf Deutsch­land­funk Kul­tur, das Mari­et­ta Schwarz geführt hat.

Schwarz: Das ist natür­lich ein Buch auch, was, und das sage ich jetzt mal ganz bewusst als West­deut­sche, die Bun­des­re­pu­blik total entlastet.

Rabe: Das ist aber inter­es­sant, weil das ist schön, dass man das immer, weil ich habe gar nicht an die Bun­des­re­pu­blik gedacht dabei und ich sage das auch immer wie­der, weil ja manch­mal auch so Leu­te kom­men ja aber in West­deutsch­land gab es das auch und so. Da sag ich immer ja wun­der­bar, bit­te schreibt die Bücher, weil ich fin­de, ich lese die auch ger­ne. Ich kann nur nichts dar­über schreiben.

Schwarz: Aber Sie wis­sen was mei­ne, ne?

Rabe: Ich weiß total, was Sie meinen.

Schwarz: Ich habe mir auch so gedacht, okay, war­um lade ich denn jetzt Anne Rabe ein, um mit ihr über die die­ses Buch zu reden. War­um spricht mich dann die­ses Buch an? Hat das damit zu tun, dass es sozusagen …

Rabe: Ich könn­te jetzt was ganz böses sagen.

Schwarz: Bit­te. Nur zu.

Rabe: Das ist wirk­lich inter­es­sant, weil des­we­gen mein­te ich, ich habe gar nicht an West­deutsch­land gedacht bei dem Schrei­ben. Und ich fin­de auch nicht, dass man immer, wenn man über den Osten schreibt, damit auto­ma­tisch was über den Wes­ten sagt. Aber, dass sie als West­deut­sche anschei­nend sofort den­ken, naja, das bedeu­tet was für mich als West­deut­sche, oder das bedeu­tet etwas Ent­las­ten­des für mich als West­deut­sche, wo der Wes­ten eigent­lich gar kei­ne Rol­le spielt in die­sem Buch.

Schwarz, Mari­et­ta. 2023. Anne Rabe: „In ver­wir­ren­den Zei­ten sind ein­fa­che Nar­ra­ti­ve ver­füh­re­risch“. 31.12.2023. Deutsch­land­ra­dio. (Zwi­schen­tö­ne.)

Das kann nicht sein. Rabe hat Ger­ma­nis­tik und Thea­ter­wis­sen­schaft stu­diert. Sie hat den PEN Ber­lin mit­ge­grün­det. Sie ist poli­tisch aktiv, Mit­glied der SPD. Sie ist ent­we­der abso­lut naiv oder durch­trie­ben. Das Buch schlägt genau in die Ker­be, in die von 60% der taz-Autor*innen und von weiß nicht wie vie­len Autor*innen in Zeit, FAZ, Spie­gel usw. geschla­gen wird. Die Wun­de ist tief und schmerzt. Und wenn kei­ne neu­en Schlä­ge kom­men, wird mal eben ein biss­chen Salz rein­ge­schüt­tet. Die­ser Blog ist voll von Bei­spie­len. Nur Frau Rabe hat von die­sem Ost-West-Dis­kurs noch nichts gemerkt, obwohl sie ja einen Ter­min mit Osch­mann auf der Leip­zi­ger Buch­mes­se hat­te (zu dem Osch­mann nicht gekom­men ist).

Und wei­ter:

Schwarz: Ja, das bedeu­tet halt etwas …

Genau! Das lernt man in Prag­ma­tik. Im Ger­ma­nis­tik-Stu­di­um. Als Autorin und poli­ti­scher Mensch soll­te man das aller­dings auch ohne Stu­di­um sehen können.

Rabe: Aber es ist ihr Zen­trum anschei­nend sofort wie­der und viel­leicht auch das Zen­trum die­ser Bun­des­re­pu­blik immer noch zum Teil.

Schwarz: Ja, glau­be ich jetzt nicht, dass es mein Zen­trum ist, aber es bedeu­tet etwas für den Dis­kurs über Ost­deutsch­land, das es mir nicht so gefällt …
[…]
Rabe: Das stimmt schon mit der Ent­las­tung, aber das wür­de ich mir nicht anziehen.

Das Buch ist ein Erfolg und wird gefei­ert, weil es den Wes­ten ent­las­tet. Die Ossis sind schei­ße, alles Psy­chos, die in Schu­len Amok lau­fen, ihre Kin­der mas­sen­wei­se töten, Natio­na­lis­ten und Anti­se­mi­ten. Wir haben es immer gewusst und Anne Rabe hat es in ihrem Nicht-Sach­buch noch ein­mal gut zusam­men­ge­fasst. Anschau­lich bebil­dert mit Mate­ri­al aus ihrer eige­nen Kind­heit. Ich habe in der ver­gan­ge­nen Woche einem Pro­fes­sor für Poli­tik­wis­sen­schaf­ten einen kri­ti­schen Brief geschrie­ben. Er hat mir eine lan­ge Ant­wort-Mail geschickt und mich dazu auf­ge­for­dert, doch ein­mal das Buch von Anne Rabe zu lesen. So gehen Fake News in unser All­ge­mein­wis­sen ein. Es wird in der Poli­tik­wis­sen­schaft und in der Geschichts­for­schung zitiert wer­den, obwohl es eben kein Sach­buch ist, obwohl es nicht von Fachwissenschaftler*innen begut­ach­tet wurde. 

Hier ein paar Aus­schnit­te aus den Rezensionen:

Die Zumu­tung die­ses Buches besteht dar­in, erschüt­tern­de Lieb­lo­sig­keit und rohe Gewalt als Regel­fall, nicht als Aus­nah­me dazu­stel­len. Zu die­sem Zweck durch­zie­hen Archiv­re­cher­chen, Geset­zes­tex­te und Umfra­ge­er­geb­nis­se die 50 kur­zen Kapi­tel. Sie ver­mi­schen sich mit Erin­ne­run­gen, Traum­se­quen­zen und lite­ra­ri­schen Zita­ten zu einem kalei­do­skop­ar­ti­gen Text.

Dirk Hohn­strä­ter, „Die Mög­lich­keit von Glück“ von Anne Rabe. WDR, 11.10.2023.

Archiv­re­cher­chen hat es zu Anne Rabes Ver­wand­ten gege­ben, aber wenn es Recher­chen zu Rechts­extre­men oder irgend­wel­chen DDR-The­men gege­ben haben soll­te, so sind sie nicht drei Kel­ler tief gegan­gen, son­dern waren ober­fläch­lich. Umfra­ge­er­geb­nis­se zum Osten gab es nicht. Rabe bezieht sich auf Umfra­gen wie den Erin­ne­rungs­mo­ni­tor der Uni Bie­le­feld und die von der Uni Han­no­ver gelei­te­te Mehr­ge­ne­ra­tio­nen­stu­die. Auf Ergeb­nis­se von 2018 aus Bie­le­feld und es geht dabei um Erin­ne­run­gen an die Nazi­zeit. Die­se sind „zu die­sem Zweck“ ungeeignet.

Mit den fol­gen­den Zita­ten wirbt Anne Rabe selbst auf ihrer Web-Sei­te:

Liest man die­ses Buch, sieht man Deutsch­land anders.

Dirk Hohn­strä­ter, WDR 3

Ich hof­fe, dass das Buch schnell in der Ver­sen­kung ver­schwin­det. Und dass Dirk Hohn­strä­ters Behaup­tung für die­sen Blog­bei­trag gilt.

Anne Rabe ver­bin­det Archiv­ar­beit mit poli­ti­schem Essay­is­mus und epi­so­discher Autofiktion.

Katha­ri­na Teutsch, DLF Büchermarkt

Das Buch, das man jetzt lesen muss, wenn man nicht nach schlich­ten Ant­wor­ten auf die schlich­ten Fra­gen sucht, was das Erbe des ers­ten sozia­lis­ti­schen Staats auf deut­schem Boden sein könn­te und war­um ›im Osten‹ heu­te ›die Leu­te‹ wäh­len, wie sie wählen.

Tobi­as Rüt­her, Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Sonntagszeitung

Ich wür­de ja die Ant­wort von Anne Rabe als schlicht bezeich­nen. Sie nimmt die Gewalt, die sie in ihrer Fami­lie erfah­ren hat, als mono­kau­sa­le Erklä­rung für alles.

Die Mög­lich­keit von Glück‹ (ist) ein Buch, das weit über sei­nen indi­vi­du­el­len Gegen­stand hin­aus­reicht. Es erklärt, war­um Ost­deutsch­land eine ande­re Gewalt­ge­schich­te nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung auf­weist als West­deutsch­land. (…) Und die auch den der­zeit boo­men­den Büchern, die einer Nor­ma­li­sie­rung der DDR-Erfah­run­gen (und damit ihrer Rela­ti­vie­rung) das Wort reden wol­len, den Boden ent­zie­hen. Gegen den pau­scha­li­sie­ren­den Blick hilft der aufs indi­vi­du­el­le Schick­sal. Dass es eines im Roman ist, nimmt ihm nichts an Wahr­haf­tig­keit. Oder an Erschütterungskraft.

Andre­as Platt­haus, FAZ

Ja. Ich bin erschüttert.

Wer sind eigentlich die Anderen?

Hier ist oft von „den Wes­sis“ und „den Ossis“, von „wir“ und „ihr“ die Rede. Das ist schlecht, denn die­se Grup­pen­ein­tei­lung ist Teil des Pro­blems, das auch in die­sem Bei­trag bespro­chen wur­de. Ange­fan­gen bei der Kol­lek­tiv­schuld, über die Scham Rabes, die angeb­li­che Gewalt­tä­tig­keit des gan­zen Ostens. Ich woll­te nie ein Teil von „wir“ sein. Die DDR war mir zuwi­der. Zumin­dest der obe­re Teil. Also nicht Ros­tock son­dern die Staats­füh­rung. In einem Gym­na­si­um in Gel­sen­kir­chen habe ich mal gesagt, dass das Pro­blem mit der DDR gewe­sen sei, dass die Herr­schen­den so doof gewe­sen sei­en. Das war sicher etwas ver­ein­fa­chend, aber es war mein Pro­blem. „Ihr“ habt mich zum Ossi gemacht. Prof. Dr. Nai­ka Forou­tan beschreibt das in ihrer Arbeit: „Ost­deut­sche sind auch Migran­ten“. Mit „ihr“ sind in ihren Kli­schees gefan­ge­ne Journalist*inne, Historiker*innen und sons­ti­ge Per­so­nen gemeint und ich hät­te gehofft, dass „wir“ uns irgend­wann auf­lö­sen, aber das ist nicht pas­siert. Wie ich an mei­nem eige­nen Bei­spiel erfah­ren habe, wer­den „wir“ mehr, weil „ihr“ dafür sorgt. „Ihr“ kon­stru­iert „Euch“ den Osten, so wie es der Osch­mann gesagt hat. Jetzt hel­fen „Euch“ „unse­re“ Kin­der. Ich wünsch­te, das alles wäre nicht so. Ich wünsch­te, alle wür­den mit­ein­an­der reden. Viel­leicht hilft die­ser Text.

Ich bin die Andern, Du bist die Ande­ren. Die Andern haben ange­fan­gen! COR: Leit­kul­tur. 2017.

„So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen.“

Ich bit­te um Ent­schul­di­gung für die­sen lan­gen Blog­post. Und das war ja nur der zwei­te Teil zu den Mög­lich­kei­ten für Glück.

Danie­la Dahn erklärt in ihrem 1997er Buch über meh­re­re Sei­ten, war­um ein ein­zi­ger Satz im West-Ost-Dis­kurs falsch gewe­sen ist, und schreibt danach:

So viel Rich­tig­stel­lung ist also nötig, um einen ein­zi­gen Zei­tungs­satz zu wider­le­gen. Viel­leicht ver­steht man, daß die Ost­ler zu sol­chem Kraft­akt auf die Dau­er kei­ne Lust haben und oft nur abwin­ken: Ihr wer­det es nie verstehen!

Dahn, Danie­la. 1997. West­wärts und nicht ver­ges­sen: Vom Unbe­ha­gen in der Ein­heit S. 68

Ich muss­te vie­le Sät­ze in Anne Rabes Buch kom­men­tie­ren. Ent­spre­chend lang sind die Blog-Posts gewor­den. Ich wür­de mich freu­en, wenn sie von genau­so vie­len Men­schen gele­sen wer­den wie Anne Rabes Buch. Das wird wahr­schein­lich nicht pas­sie­ren, denn ich habe kei­ne Buch­preis-Jury und kei­ne Mar­ke­ting­ma­schi­ne auf mei­ner Sei­te. Nur Euch. Aber viel­leicht schaf­fen wir es ja. Emp­fehlt die Posts wei­ter. Dan­ke. Bitte.

Schlussfolgerung

Anne Rabe hat Recht mit ihrer Aus­sa­ge bezüg­lich Schlagersüßtafeln!

Danksagungen

Ich dan­ke mei­ner Such-Maschi­ne Peer für vie­le Bele­ge und auch für die immer kri­ti­sche Dis­kus­si­on. Ich dan­ke mei­nem klei­nen Bru­der dafür, dass er mir die Bum­mi-Hef­te gekauft hat, weil die alten, an die ich mich erin­nert hat­te, irgend­wann mal weg­ge­wor­fen wor­den waren. Ich dan­ke mei­ner Frau für die fort­wäh­ren­de Dis­kus­si­on von Ost­the­men. Wenn wir nicht über die Kli­ma­ka­ta­stro­phe reden, reden wir eigent­lich nur über den Osten. (Hat eigent­lich schon mal jemand ver­sucht, dem Osten die Kli­ma­ka­ta­stro­phe anzu­hän­gen? Ach ne, geht ja gar nicht, denn Deutsch­land steht ja nur des­halb halb­wegs gut in der Kli­ma­bi­lanz da, weil die Ost-Indus­trie in den 90ern abge­wi­ckelt wurde.) 

Und ich dan­ke mei­nem Vater und mei­ner Mut­ter für die Erlaub­nis, allein als Sechs­zehn­jäh­ri­ger bis ans Schwar­ze Meer zu fah­ren, und dafür, dass sie mich nicht zum Nazi erzo­gen haben.

Und Ihnen/Euch dan­ke ich dafür, dass Ihr bis hier­her gele­sen und alle Vide­os ange­se­hen und alle ver­link­ten Wiki­pe­dia­ar­ti­kel gele­sen habt.

Quellen

Bal­ser, Mar­kus & Stein­ke, Ronen. 2022. Ver­fas­sungs­schutz: See­ho­fer ließ Ver­fas­sungs­schutz­kri­tik an AfD abschwä­chen. Süd­deut­sche Zei­tung. (https://www.sueddeutsche.de/politik/afd-verfassungsschutz-seehofer-gutachtenvergleich‑1.5511775)

Geiß­ler, Cor­ne­lia. 2023. Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzäh­len“. Ber­li­ner Zei­tung. Ber­lin. (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/literatur/osten-interview-schriftstellerin-anne-rabe-es-reicht-nicht-die-ddr-immer-nur-vom-ende-her-zu-erzaehlen-debatte-dirk-oschmann-li.341318)

Gold­mann, Sven. 2013. Welt­fest­spie­le der Jugend 1973: Love & Peace in Ost-Ber­lin. Tages­spie­gel. Ber­lin. 22.07.2013 (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/love-peace-in-ost-berlin-8099431.html)

Gosch­ler, Con­stan­tin. 1993. Pater­na­lis­mus und Ver­wei­ge­rung: Die DDR und die Wie­der­gut­ma­chung für jüdi­sche Ver­folg­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus. In Benz, Wolf­gang (ed.), Jahr­buch für Anti­se­mi­tis­mus­for­schung, vol. 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.

Hart­wich, Doreen & Mascher, Bernd-Hel­ge. 2007. Geschich­te der Spe­zi­al­kampf­füh­rung (Abtei­lung IV des MfS): Auf­ga­ben, Struk­tur, Per­so­nal, Über­lie­fe­rung. Ber­lin. (Sta­si-Unter­la­gen-Archiv.) (https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/archiv/fachbeitraege/geschichte-der-spezialkampffuehrung-abteilung-iv-des-mfs/#c2565)

Lit­sch­ko, Kon­rad. 2017. Neu­es Gut­ach­ten zu NSU-Mord. taz. 03.04.2017. Ber­lin. (https://taz.de/Archiv-Suche/!5397496/)

Mau, Stef­fen. 2020. Lüt­ten Klein: Leben in der ost­deut­schen Trans­for­ma­ti­ons­ge­sell­schaft (Schrif­ten­rei­he 10490). Bonn: Zen­tra­le für Poli­ti­sche Bil­dung. (https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/303713/luetten-klein)

mh. 2022. Ros­tock-Lich­ten­ha­gen 1992: Ein Poli­zei­de­ba­kel. (https://www.mdr.de/geschichte/zeitgeschichte-gegenwart/politik-gesellschaft/was-wurde-aus-der-volkspolizei-rostock-lichtenhagen-randale-100.html)

Pou­trus, Patri­ce G., Beh­rends, Jan C. & Kuck, Den­nis. 2002. His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern. Aus Poli­tik und Zeit­ge­schich­te (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25428/historische-ursachen-der-fremdenfeindlichkeit-in-den-neuen-bundeslaendern/).

Schulz, Dani­el. 2018. Pro­fes­so­rin über Iden­ti­tä­ten: „Ost­deut­sche sind auch Migran­ten“. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Professorin-ueber-Identitaeten/!5501987/)

Schwarz, Mari­et­ta. 2023. Anne Rabe: „In ver­wir­ren­den Zei­ten sind ein­fa­che Nar­ra­ti­ve ver­füh­re­risch“. 31.12.2023. Deutsch­land­ra­dio. (Zwi­schen­tö­ne.) (https://www.deutschlandfunk.de/anne-rabe-in-verwirrenden-zeiten-sind-einfache-narrative-verfuehrerisch-dlf-84b94bff-100.html)

Teuw­sen, Peer. 2023. Ver­heim­lich­te Nähe. Neue Züri­cher Zei­tung. 30.09.2023 (https://www.nzz.ch/feuilleton/anne-rabe-verheimlichte-naehe-ld.1782626)

Wag­ner, Bernd. 2018. Ver­tusch­te Gefahr: Die Sta­si & Neo­na­zis. (https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/stasi/218421/vertuschte-gefahr-die-stasi-neonazis/)

Schlagersüßtafel und Klassenkeile

Nach dem Tod mei­nes Opas habe ich es oft bedau­ert, dass ich ihn nicht mehr zu sei­nem Leben befragt habe. Ich habe mei­ne Eltern gebe­ten, etwas aus ihren Erin­ne­run­gen auf­zu­schrei­ben, aber das wird wahr­schein­lich nichts. Ich muss sie fra­gen. Mich kann ich selbst fra­gen und ich kann auch Din­ge auf­schrei­ben. Ich habe beschlos­sen, das hier zu tun. Klei­ne Erin­ne­run­gen schaf­fen ein Bild unse­rer Ver­gan­gen­heit und ich möch­te, dass mei­ne Teil die­ses Bil­des sind, sonst schrei­ben ande­re unse­re Geschichte.

Schlagersüßtafel

Es gibt im Netz einen Ossi­la­den. Mit all dem Zeug, das ich nie mehr sehen woll­te. Es gab eine Kos­me­tik­se­rie, die hieß Action. Hm.

Schla­ger­süß­ta­fel! Konn­te man alles Mög­li­che mit machen nur nicht essen. Ich hat­te mit einem Kum­pel (C.) eine Tafel gekauft, weil wir dach­ten, dass da Bil­der von Schlagersänger*innen drin wären.1 Was für ne Ent­täu­schung. Wir haben dann Passant*innen vom Bal­kon aus damit bewor­fen. Irgend­wann kam ein Trupp Bau­ar­bei­ter. Die hat­ten offe­ne Farb­ei­mer auf einem Wagen. Die Scho­ko­la­de flog da rein. Splash. Sie fan­den es nicht gut und muss­ten gera­de noch gese­hen haben, wo die Scho­ko­la­de her­kam, obwohl wir uns urst schnell geduckt hat­ten. Sie kamen ins Haus zu uns hoch und klin­gel­ten Sturm. Ich dach­te mir, die machen ja das gan­ze Haus ver­rückt und stell­te die Klin­gel ab. Das war nicht so schlau, denn nun wuss­ten sie ja, dass sie an der rich­ti­gen Tür klin­gel­ten. Sie klopf­ten statt­des­sen. Damals waren die Woh­nungs­ein­gangs­tü­ren noch wenig wider­stands­fä­hi­ge Papp­tü­ren. Ich hat­te Angst. Auch um die Tür. Irgend­wann zogen sie ab. Wie immer haben die Nach­barn von unter uns mich an mei­ne Eltern verpetzt.

Die Siedlung

Den Klas­sen­ka­me­rad C. hab ich auch zu Hau­se besucht. Er wohn­te in einem Haus in der Sied­lung am Lin­den­ber­ger Weg und ich im Neu­bau (Es gab die „alten Neu­bau­ten“, die „Neu­bau­ten“ und die „neu­en Neu­bau­ten“. Wir wohn­ten in den „Neu­bau­ten“, die 1976 fer­tig gewor­den waren.) Die Fami­lie mei­nes Kum­pels hat­ten da noch Öfen und wir haben Wat­te ver­ko­kelt. Hat Spaß gemacht. 

Klassenkeile

Irgend­wann spä­ter gab es in unse­rer Klas­se eine Situa­ti­on, in der die Mäd­chen plötz­lich alle ein ande­res Mäd­chen B. schei­ße fan­den. Sie kam aus einer bil­dungs­fer­nen Fami­lie. Die Schul­klas­sen in mei­ner Schu­le bestan­den aus Schüler*innen, deren Eltern in der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten oder in den Kran­ken­häu­sern in Buch arbei­te­ten. In mei­ner Klas­se sind 8 von 31 Schüler*innen nach der ach­ten Klas­se abge­gan­gen. Zwei an die erwei­ter­te Ober­schu­le (Schli­e­mann und Hertz) und sechs Jun­gen in die Pro­duk­ti­on. Zu die­ser Zeit begann die nor­ma­le EOS ab der zehn­ten Klas­se. Die Schli­e­mann­schu­le war eine Spe­zi­al­schu­le mit Spra­chen­aus­rich­tung und die Hertz-Schu­le eine mit mathe­ma­tisch-natur­wis­sen­schaft­li­cher Aus­rich­tung. Die Klas­se war jeden­falls wild gemischt. Die Jungs, die die Klas­se ver­lie­ßen, waren zum Teil schon ein­mal sit­zen geblie­ben. Vie­le waren Früh­ent­wick­ler, super gut in Sport. Beim 100 Meter­lauf konn­te ich ihnen nur hinterhergucken.

An besag­tem Tag hat­te sich die gesam­te Klas­se gegen das Mäd­chen zusam­men­ge­tan. Heu­te wür­de das wohl alles unter Mob­bing lau­fen. B. soll­te Klas­sen­kei­le bekom­men. Ich habe ver­sucht zu ver­ste­hen, wie­so und war­um und habe gesagt, sie soll­ten sie mal in Ruhe las­sen. Das führ­te dazu, dass ich plötz­lich im Zen­trum des Inter­es­ses stand. Kei­ne Ahnung wie. Grup­pen­dy­na­mik halt. Ich weiß noch, dass es in der Turn­hal­le begann. Ich ging dann ein­fach los. Nach Hau­se. Die Klas­se kam mir hin­ter­her. Ich bin so ca. zehn Minu­ten gelau­fen, dann wur­de ich umstellt und eins der Mäd­chen nahm mei­nen Schul­ran­zen. Klassenkeile.

C. soll­te mich irgend­wie ver­hau­en. Wir stan­den in der Mit­te eines Krei­ses unse­rer Klas­sen­ka­me­ra­den. Ich habe ihn umfasst, sei­nen Ober­kör­per nach hin­ten gebo­gen und er fiel um. Ich nahm H. mei­ne Map­pe aus der Hand und ging nach Hau­se. Ich habe mich nicht umge­dreht. Sie sind mir nicht hin­ter­her gekom­men. Ich wüss­te gern, was sie gedacht und gesagt haben.

Zu Hau­se saß ich auf dem Sofa. Ich habe drei Stun­den lang gezit­tert. Es war kei­ne Mut­ter da und kein Vater. Wie auch, sie haben gear­bei­tet. Das war gut und nor­mal so. Ich glau­be, ich habe auch spä­ter nicht mit ihnen dar­über gesprochen.

Am nächs­ten Tag bin ich nor­mal in die Schu­le gegan­gen. Kann mich nicht erin­nern, dass die Vor­gän­ge vom Vor­tag the­ma­ti­siert wor­den wären. Auch nicht an Angst. Viel­leicht verdrängt. 

Ich habe gelernt, dass man als Ein­zel­ner auch etwas gegen eine Grup­pe aus­rich­ten kann. Dass es merk­wür­di­ge grup­pen­dy­na­mi­sche Pro­zes­se gibt.

Und eine nicht ganz erns­te Bemer­kung zum Schluss. Die Nach­ge­bo­re­nen fin­den ja, wir soll­ten jetzt mal 1968 im Osten machen und über unse­re Gewalt­er­fah­run­gen reden (Blog­post Gewalt­er­fah­run­gen und 1968 für den Osten). Das hier sind mei­ne Gewalt­er­fah­run­gen. Die­se sind natür­lich nicht gemeint. Es gab alle mög­li­chen Zwän­ge im Osten, mili­ta­ri­sier­ter Sport­un­ter­richt, Wehr­un­ter­richt, Ver­wei­ge­rung von Bil­dungs­mög­lich­kei­ten, wenn man nicht mit­ge­spielt hat usw. Nur ist das alles bekannt. Da muss man nichts aufarbeiten.

Berliner und Breschnew

Nach dem Tod mei­nes Opas habe ich es oft bedau­ert, dass ich ihn nicht mehr zu sei­nem Leben befragt habe. Ich habe mei­ne Eltern gebe­ten, etwas aus ihren Erin­ne­run­gen auf­zu­schrei­ben, aber das wird wahr­schein­lich nichts. Ich muss sie fra­gen. Mich kann ich selbst fra­gen und ich kann auch Din­ge auf­schrei­ben. Ich habe beschlos­sen, das hier zu tun. Klei­ne Erin­ne­run­gen schaf­fen ein Bild unse­rer Ver­gan­gen­heit und ich möch­te, dass mei­ne Teil die­ses Bil­des sind, sonst schrei­ben ande­re unse­re Geschichte.

Berliner

Es ist etwas Schlim­mes pas­siert! Ich woll­te gera­de beim Bäcker #Ber­li­ner kau­fen. Dazu muss man wis­sen: Wir in #Ber­lin sind gewalt­frei und kei­ne #Kan­ni­ba­len. Wir essen köst­li­che #Pfann­ku­chen und kei­ne Berliner.

Ich stand also vor der Ver­käu­fe­rin und dach­te dar­über nach, wie es denn sein kön­ne, dass ich Ber­li­ner zu die­sem Gebäck gesagt hat­te. Ich dreh­te mich um und schau­te auf die Wer­bung und frag­te sie, ob da tat­säch­lich „Ber­li­ner“ gestan­den hat­te. Aber nee, da stand „Pfann­ku­chen“.

Wer­be­pla­kat am Bäcker: Köst­li­che Pfann­ku­chen, Ber­lin 11.11.2023

Beim Raus­ge­hen hab ich’s dann ver­stan­den: Drau­ßen wur­de mit „Ber­li­ner“ und drin­nen mit „Pfann­ku­chen“ geworben.

Außen Ber­li­ner, innen Pfann­ku­chen. Wer­bung am Bäcker im Prenz­lau­er Berg, Ber­lin, 11.11.2023

Den­noch wer­de ich mir nie ver­zei­hen, dass ich das Wort „Ber­li­ner“ benutzt habe.

Ich habe von 1992–1993 in Edin­burgh stu­diert. Am Anfang, als wir noch kei­ne Woh­nung hat­ten, schlief ich in der Jugend­her­ber­ge. Bei der Anmel­dung in der Jugend­her­ber­ge mein­te der Mann an der Rezep­ti­on: „Ah, you’­re from Ber­lin. This is whe­re Ken­ne­dy said: ‘I am a donut.’“. Ich habe nicht ver­stan­den, was er woll­te. Ken­ne­dy hat­te natür­lich gesagt: „Ich bin ein Ber­li­ner!“. Das wuss­te ich.

Ken­ne­dy sagt: Ich bin ein Donut.

Aber ich habe das nicht mit Donuts zusam­men­be­kom­men, weil wir in Ber­lin zwar Ber­li­ner sind, aber kei­ne Ber­li­ner essen. Donuts ab und zu schon.

Übri­gens, lie­be Wes­sis, noch zum ers­ten Bild: Wir sind ver­rückt, aber wir sind nicht när­risch. Kar­ne­val wird hier nicht ver­stan­den und fin­det nicht statt. Wir sind das gan­ze Jahr über lustig.

Breschnew

Ges­tern vor 41 Jah­ren starb Leo­nid Bre­sch­new und heu­te vor 41 Jah­ren wur­de sein Tod bekannt. Wir woll­ten um 11:11 Par­ty machen und Pfann­ku­chen essen, aber irgend­wann um 10:00 wur­de ver­kün­det, dass Bre­sch­new gestor­ben war. Unser Phy­sik­leh­rer Herr F. hat geweint. Wir waren sau­er und etwas ver­wun­dert über Herrn Fs. Trauer.

Gewis­ser­ma­ßen als spä­te Rache ver­lin­ke ich eine Rede Bre­sch­news, die die Noto­ri­schen Refle­xe 1983 ver­tont haben. Sol­che Sachen lie­fen damals im SFB in der Sen­dung Dau­er­wel­le, die ich begeis­tert gehört und in Tei­len mit­ge­schnit­ten habe.

Noto­ri­sche Refle­xe — BREZHNEV RAP — 1983