Mein langer Weg zur „Stunde Null“

Die­ses Doku­ment von Mari­an­ne Mey­er-Krah­mer beschreibt die letz­ten Stun­den in Sip­pen­haft im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger und ihre Erfah­run­gen in der Zeit danach. Mari­an­ne Mey­er-Krah­mer war eins der Kin­der von Carl Goer­de­ler, Ober­bür­ger­meis­ter von Leip­zig. Gör­de­ler war am Atten­tat auf Hit­ler am 20. Juli 1944 betei­ligt und wur­de hin­ge­rich­tet. Frau Mey­er-Krah­mer hat die­ses Doku­ment Bekann­ten von mir gege­ben und es ist schließ­lich zu mir gelangt. Ich den­ke, sie hat sich die Mühe gemacht, die­se Erin­ne­run­gen auf­zu­schrei­ben, damit sie ver­brei­tet wer­den und die Ver­öf­fent­li­chung hier ist in ihrem Sin­ne. Ste­fan Mül­ler, 27.09.2023

Es gibt einen ähn­li­chen Bei­trag bei der Stif­tung 20. Juli. Dort fin­den sich wei­te­re Details aus der Zeit vor dem Atten­tat und von der Ver­haf­tung und noch ein Zitat von Gör­de­ler zu Plä­nen für ein Nach­kriegs­eu­ro­pa und zum The­ma Opti­mis­mus. Hier gibt es Details zum Unter­richt (Goe­the gegen ein Nazi-Männ­lich­keits­bild). 04.10.2023

Doku­ment von Mari­an­ne Mey­er-Krah­mer über ihre Stun­de Null

Als Ange­hö­ri­ge von Carl Goer­de­ler waren wir unmit­tel­bar nach dem 20. Juli 1944 in Sip­pen­haft genom­men wor­den: zunächst in Straf­ge­fäng­nis­sen, dann in ver­schie­de­nen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern in Haft gehal­ten, die Kin­der mei­nes älte­ren Bru­ders, (neun Mona­te und drei Jah­re alt), ihrer Mut­ter weg­ge­nom­men, an einen unbe­kann­ten Ort gebracht. – Ich selbst war damals 24 Jah­re alt, also erwach­sen und bewußt genug, um mich mit dem Kampf mei­nes Vaters gegen Hit­ler voll iden­ti­fi­zie­ren zu kön­nen. Im Sin­ne der Gesta­po haben wir, mei­ne Mut­ter und mei­ne drei über­le­ben­den Geschwis­ter, uns nie als unschul­di­ge Opfer gefühlt.

Wir waren zunächst im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Stutt­hof bei Dan­zig. Als die Rus­sen sich im Janu­ar 1945 näher­ten, wur­den wir nach Buchen­wald trans­por­tiert. Als sich dort die Ame­ri­ka­ner näher­ten, nach Dach­au. Und als sie im April in Bay­ern ein­zu­drin­gen began­nen, brach­te man uns in die Dolomiten.

Dachau – Abtransport

Wir wur­den nicht wie ande­re KZ-Häft­lin­ge zur Arbeit gezwun­gen, hat­ten es dadurch phy­sisch zwei­fel­los leich­ter. Durch die streng mit vier bewaff­ne­ten Wach­män­nern besetz­ten Eck­tür­me unse­res Zau­nes um die Son­der­ba­ra­cke waren wir jedoch völ­lig von jeder mensch­lich mit uns füh­len­den Umwelt abge­schlos­sen; kei­ne Nach­richt von außen über die Kin­der, unse­re alte Groß­mutter, den bedroh­ten Onkel Fritz, von des­sen Hin­rich­tung wir erst nach unse­rer Befrei­ung erfah­ren soll­ten. Ihn und mei­nen Vater soll­te wäh­rend der mona­te­lan­gen Haft nie ein Zei­chen der ihnen liebs­ten Men­schen erreichen.

Jede, auch nur zag­haf­te, Fra­ge an die Wach­mann­schaf­ten unter­lie­ßen wir bald, denn nur ein zyni­sches Ach­sel­zu­cken wäre die Ant­wort gewe­sen. Sie hat­te uns schon zu oft in neue Ängs­te gestürzt. Auch das bar­sche Wort „Abtrans­port“ kann­ten wir nur zu gut, um noch nach dem Wohin oder etwa unse­rer fer­ne­ren Zukunft zu fra­gen. Wir waren recht­los und vogelfrei.

Heu­te, nach­dem wir so viel von dem erlit­te­nen Leid der geschun­de­nen und in den Tod getrie­be­nen Häft­lin­ge und der Todes­ma­schi­ne von Ausch­witz wis­sen, stel­len sich unse­re Ängs­te und Demü­ti­gun­gen anders, beschei­de­ner dar. Aber mit­ten in der Aus­ge­setzt­heit unse­rer dama­li­gen Exis­tenz ver­moch­ten wir nicht zu relativieren.

Am 30. April 1945, laut war die ame­ri­ka­ni­sche Artil­le­rie zu hören, wur­den wir aus dem
Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Dach­au abtrans­por­tiert. – Unver­geß­lich hat sich mir die­ser Abend ein­ge­prägt. Heu­te erscheint er mir stell­ver­tre­tend für alle Not jener Tage.

Dies­mal waren die Fens­ter des Bus­ses nicht ver­hängt und die Wach­mann­schaf­ten spürbar ner­vös. – Wir fuh­ren in den sin­ken­den Tag. Die schräg ein­fal­len­de Son­ne beleuch­te­te mit schar­fen Strah­len eine gespens­ti­sche Sze­ne: Wir fuh­ren eine Stun­de lang, kilo­me­ter­lang, vor­bei an mar­schie­ren­den, nein, sich hin­schlep­pen­den Häft­lings­ko­lon­nen. Zahl­los schie­nen die­se abge­ma­ger­ten Elends­ge­stal­ten, zu Num­mern ent­wür­digt mit ihren kahl gescho­re­nen Köp­fen und in der grau­ge­streif­ten Häft­lings­klei­dung. Bis in den Bus hör­ten wir den har­ten Tritt ihrer Holz­schu­he, halb schlur­fend, halb marschierend.

Ein grau­sa­mer Wider­sinn lag in dem Bild: Mit­ten im Cha­os des Zusam­men­bruchs und der Auf­lö­sung waren sie noch unter dem Kom­man­do ihrer Bewa­cher in Rei­hen und Blocks orga­ni­siert und geord­net. Am Stra­ßen­rand lagen tote Häft­lin­ge, erschos­sen oder vor Schwä­che umge­kom­men. – Wohin ging der Weg für die anderen?

War es ein Marsch in die Frei­heit? Oder — im Ange­sicht der Frei­heit — zum Erschie­ßen: in den Tod? Todes­furcht und Hoff­nung auf Frei­heit hiel­ten auch uns in äußers­ter Span­nung. Und die­se Span­nung wird die See­len vie­ler Men­schen damals fast zer­ris­sen haben. Auf der Flucht, im sinn­lo­sen Kampf, in der Angst der Bombennächte.

Unser Bus fuhr dies­mal in einem Kon­voi mit drei ande­ren, deren Insas­sen uns unbe­kannt waren. (Nach der Befrei­ung erfuh­ren wir, daß es pro­mi­nen­te Häft­lin­ge wie Niem­öl­ler, Gene­ral Hal­der, der Prinz von Hes­sen u.a. waren.) Ein Füh­rungs­wa­gen mit SS-Offi­zie­ren war an der Spit­ze des Kon­vois. So sicher wir uns für den Augen­blick in unse­rem Bus füh­len konn­ten, so gab es die Sicher­heit und Gewiß­heit, am Leben zu sein, nur eben für den Augen­blick – wie so oft in die­ser Haftzeit.

Niederndorf – Befreiung

Da wir von Beginn unse­rer Haft an von jeder ver­läß­li­chen Nach­richt abge­schnit­ten waren, wuß­ten wir nicht, wie nahe das Kriegs­en­de schon war. Es mag Mit­ter­nacht gewe­sen sein, als uns Stim­men­ge­wirr aus dem Dahin­däm­mern auf­rüt­tel­te: Licht­strah­len gro­ßer Stab­lam­pen fuh­ren über unse­re Gesich­ter. Sol­da­ten waren zu erken­nen. Ver­dutzt, fast fröh­lich rie­fen sie zu uns her­ein: „Was machen hier Frau­en und Kin­der? Wollt ihr etwa noch über den Paß nach Süden? Von da kom­men wir doch! Zurück! Es geht zurück in die Hei­mat.“ – Es waren deut­sche Sol­da­ten, die von der ita­lie­ni­schen Front über den Bren­ner zurückfluteten.

Die Rufe ver­stumm­ten schnell, als die Sol­da­ten unse­re stren­ge Bewa­chung wahr­nah­men. Für uns war es aber die ers­te Begeg­nung mit frei­en Men­schen, wenn auch kein Zwie­ge­spräch. (Wir hat­ten Sprech­ver­bot.) Nun, wir wur­den nicht in den Süden gefah­ren, son­dern in schar­fem Bogen nach Osten; wie wir spä­ter erfah­ren soll­ten, ins öster­rei­chi­sche Pus­ter­tal. Es war schon Tag gewor­den, als unser Kon­voi in einem Wald­stück zum Ste­hen kam. Wir waren gewohnt, lan­ges War­ten hin­zu­neh­men. Hat­ten uns die fri­schen Stim­men aus der Außen­welt da oben auf dem Bren­ner­paß nicht Mut gemacht, eben nicht mehr alles hin­zu­neh­men? Jeden­falls bestürm­ten wir die bei­den jun­gen volks­deut­schen Wach­män­ner, uns wenigs­tens kurz ein­mal her­aus­zu­las­sen. Sie fühl­ten sich wohl schon recht hilf­los uns gegen­über, ver­stan­den sie doch kaum ihren Wacht­be­fehl bei die­sen Frau­en und jun­gen Men­schen, die ihnen völ­lig unge­fähr­lich erschie­nen sein müs­sen. So gaben sie nach. Zunächst such­te sich jeder von uns nur ganz rasch ein pri­va­tes Fleck­chen. Doch als wir uns wie­der zum Ein­stei­gen ver­sam­melt hat­ten, wur­den wir plötz­lich wider­spens­tig. Irgend­je­mand hat­te ent­deckt, daß der SS-Führungswagen fehl­te. Auch aus den ande­ren Wagen war man aus­ge­stie­gen; doch wir zöger­ten, Ver­bin­dung auf­zu­neh­men, nun doch noch im Gehor­sam gegen­über dem Ver­bot der Wach­män­ner. Nur woll­ten wir nicht sofort wie­der in den Bus. Wir „maul­ten“, wir hät­ten Hun­ger, hät­ten seit unse­rer Abfahrt aus Dach­au nichts mehr zu essen gehabt. Unser Eigen-Sinn wur­de des­to hef­ti­ger, je zöger­li­cher und ver­le­ge­ner die Wach­leu­te antworteten.

Heu­te – im Rück­blick – wür­de ich es eine Etap­pe auf dem Weg zur Stun­de Null nen­nen. daß sich spon­tan ein klei­ner Trupp von etwa fünf­zehn jun­gen Häft­lin­gen zusam­men­fand und trot­zig erklär­te, wir wür­den uns nun selbst um etwas zu essen küm­mern. Wir konn­ten sehen, daß die Stra­ße am Ende aus dem Wald­stück hin­aus­führ­te; dort­hin woll­ten wir gehen. Wir bra­chen auf, kein Wach­mann hob das Gewehr. Dies­mal hin­der­te uns nie­mand, fort­zu­ge­hen, aus eige­nem Wil­len, mit eige­nem Ziel. Das Fina­le die­ser Etap­pe ist rasch erzählt: nach etwa einer Vier­tel­stun­de schon begrüß­te uns das Orts­schild „Nie­dern­dorf“. Jetzt waren wir nicht mehr – wie bis­her – im Irgend­wo; jetzt kann­ten wir sogar den Ort, in dem wir waren. Nach all den Geheim­nis­krä­me­rei­en der Haft­mo­na­te gab es für uns wie­der ein Zei­chen selbst erfah­re­ner Außenwelt.

Rechts, gleich am Ein­gang des Dor­fes, ein Wirts­haus. Wir öff­nen die Tür zum Gast­zim­mer – da waren sie schon alle ver­sam­melt, „unse­re“ SS-Offi­zie­re. „Wir wol­len etwas zu essen haben!“ Trot­zig und doch noch im Bewußt­sein der Abhän­gig­keit begehr­ten wir auf. Erstau­nen. Bestür­zung, bei­na­he Ent­set­zen und zugleich eine merk­wür­di­ge Gefü­gig­keit zeich­ne­te die Gesich­ter unse­rer obers­ten Bewa­cher. Die Bus­se wur­den in das Dorf geholt, Bro­te und Geträn­ke ver­teilt. In der Schu­le erhiel­ten wir Quar­tier. Nur haben wir dort kei­ne Nacht ver­bracht: Als es Abend wur­de, kam mein ältes­ter Bru­der, Ulrich, lei­se eine Hin­ter­trep­pe her­auf­ge­schli­chen, Bro­te unter dem Man­tel ver­steckt, und flüs­ter­te, wir soll­ten ihm rasch fol­gen, es gäbe einen unbe­wach­ten Hin­ter­aus­gang. In klei­nen Grup­pen fan­den wir Unter­kom­men bei Nach­barn, die erstaun­lich spon­tan bereit waren, uns auf­zu­neh­men. Anders als uns muß ihnen das nahe Kriegs­en­de bewußt gewe­sen sein, und sie waren
nicht mehr bereit, sich auf die Sei­te der SS zu stellen. 

Eigen­tüm­lich undra­ma­tisch ver­lief so das Ende unse­rer Haft­zeit. Doch mar­kier­te die­ses unver­mu­te­te Ende kei­nes­wegs die „Stun­de Null“. Wir waren zwar „frei“, unab­hän­gig aber noch nicht; unse­re Situa­ti­on, recht­lich, prak­tisch, war völ­lig undurch­sich­tig, Zukunft, nah oder fern, uner­kenn­bar. Auf uner­klär­li­che Wei­se waren die SS-Bewa­cher am nächs­ten Mor­gen ver­schwun­den. Oberst Bonin, der aus Dach­au zu uns gesto­ßen war, bewirk­te, daß wir unter die Obhut deut­scher Sol­da­ten gestellt wur­den. Nicht sofort begrif­fen wir, daß wir noch Schutz brauch­ten: der Krieg war an die­sem 4. Mai nicht end­gül­tig been­det, das Dorf weit­ge­hend in der Hand von Par­ti­sa­nen, unse­re Ver­sor­gung kei­nes­wegs gesi­chert. So fuh­ren uns die Sol­da­ten in ein nahe­ge­le­ge­nes, von Trup­pen gera­de geräum­tes Hotel am Prags­er Wildsee.

Ein paar Tage spä­ter erleb­ten wir die Kapi­tu­la­ti­on die­ser deut­schen Wehr­machts­ein­heit. Die Erin­ne­rung hat sich mir ein­ge­prägt wie ein Stand­bild: Im Hof une­res Hotels stan­den die Sol­da­ten im Kreis um die von ihnen in der Mit­te auf­ge­schich­te­ten Geweh­re. Nun waren auch sie offen­sicht­lich wehr­los – eine Wehr­lo­sig­keit hilfs­be­rei­ter Män­ner, die uns trotz allem rühr­te –, und die Ame­ri­ka­ner übernahmen das Kom­man­do. Wir, vor­dem Häft­lin­ge, viel­leicht auch Gei­seln, waren unter neu­er Aufsicht.

Warteschleife: Capri, Paris, Frankfurt

Unbe­schwert waren die­se jun­gen Ame­ri­ka­ner, die nun unse­re Betreu­er waren! Sie haben wohl gewußt, daß wir dem KZ ent­kom­men waren, ver­wöhn­ten uns, schaff­ten wär­me­re Klei­dung her­bei, sorg­ten für reich­li­che und aller­bes­te Kost. Ab und an ruder­te uns ein freund­li­cher GI über den Wild­see … Das Glück , freund­li­che, arg­lo­se Men­schen um uns zu haben, uns frei bewe­gen zu kön­nen, locker­te die eiser­nen Rei­fen, die sich nach vie­len Ängs­ten um unse­re Her­zen gezo­gen hat­ten. Kei­ne Wach­tür­me, kei­ne Zäu­ne – wir waren wirk­lich frei. Glück­lich­sein als schwe­re­lo­ses Gefühl, das wir mit der Vor­stel­lung von „Befrei­ung“ ver­bin­den, aber hat sich nicht gleich ein­stel­len kön­nen. Eher eine Benom­men­heit, in der unse­re Freu­de sich nur zag­haft vor­wag­te. Fast bru­tal überfiel uns die Gewiß­heit, daß mein Vater und sein Bru­der Fritz nicht überlebt hat­ten – ent­ge­gen unse­ren geheims­ten Hoff­nun­gen. Das Leben war nun ohne sie zu bestehen, und es war ein Leben unter dem Vor­zei­chen geschei­ter­ter Hoffnungen.

Nach zwei Wochen wur­de uns – gewohnt freund­lich – mit­ge­teilt, daß wir noch nicht nach Hau­se kämen, son­dern „in die Nähe von Nea­pel“. Wie­der war es schwie­rig, Grün­de oder Zusam­men­hän­ge zu ver­ste­hen, die über unser Dasein ent­schie­den; wenn wir auch spür­ten, daß die Ame­ri­ka­ner uns nicht wis­sent­lich quä­len woll­ten. Es ver­lau­te­te, wir soll­ten befragt wer­den, man wol­le Nähe­res über die Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger erfah­ren. Die bunt­ge­misch­te Gesell­schaft, zu der sich unser Gefan­ge­nen­korps seit Dach­au ver­grö­ßert hat­te, muß­te ja Inter­es­se wecken: ein eng­li­scher Oberst vom Secret Ser­vice, Mit­glie­der der Hor­thy-Fami­lie, Schu­sch­nigg, Gene­ral Hal­der und Pas­tor Niem­öl­ler. Wir selbst waren aber nicht im gerings­ten neu­gie­rig, wir woll­ten nur an den Ort, an den wir wirk­lich gehör­ten. In Ita­li­ens Süden kämen wir – mit wel­cher Vor­freu­de wür­de ich heu­te die Bot­schaft hören! Damals mach­te uns die Nach­richt nur trau­rig und auch zor­nig. Capri, die Traum­in­sel, wie­der nur ein Asyl.

Auch die aben­teu­er­li­che Fahrt in den ame­ri­ka­ni­schen Jeeps berg­ab in die Geröll­fel­der der Po-Ebe­ne konn­te uns nicht fes­seln; der Gene­ral­baß brumm­te nur, „es geht immer wei­ter weg von zuhaus.“ Dann tat sich wie ein Thea­ter­pro­spekt die Schön­heit die­ser Insel vor uns auf. Die Ame­ri­ka­ner hat­ten uns an einen ihrer schöns­ten Fle­cken gebracht, nach Ana­ca­pri, der Spit­ze der damals stil­len Insel. Bewun­dernd sahen wir abends die dunk­len Kon­tu­ren der Bergküste, den unge­wohnt hel­len Ster­nen­him­mel; die bunt fla­ckern­den Posi­ti­ons­lich­ter der Fischer­boo­te grüß­ten zu uns her­auf. Der metal­le­ne Glanz des Mee­res schim­mer­te besänf­ti­gend im Dun­kel der Nacht.

Der Tag bescher­te unschul­di­ge Urlaubs­freu­den. Prak­tisch und zupa­ckend, wie Ame­ri­ka­ner nun ein­mal sind, hat­ten unse­re Befrei­er bin­nen 24 Stun­den Biki­nis aus Armee-Hand­tü­chern nähen las­sen und lie­ßen es sich nicht neh­men, uns im Jeep ans Meer zu chauf­fie­ren. Freund­li­che Gast­ge­ber auch die ita­lie­ni­schen Bau­ern, die uns gera­de­zu ein­lu­den, in ihre Kirsch­bäu­me zu klet­tern und uns güt­lich zu tun. Abends aber, wenn wir ver­geb­lich Schlaf such­ten und unse­re Gedan­ken sich selb­stän­dig mach­ten konn­ten der Froh­sinn, das unbe­schwer­te Geläch­ter aus dem Innen­hof des Hotels zum Dis­ak­kord wer­den. Unse­re enge, letzt­lich erzwun­ge­ne Schick­sals­ge­mein­schaft bekam Ris­se. Ganz zu Recht freu­ten sich vie­le ihrer Frei­heit, der Aus­sicht auf das Wie­der­se­hen mit den Ihren. Weni­ge aber muß­ten sich auf die Endgültigkeit eines Ver­lus­tes vor­be­rei­ten, auf eine Zukunft, die im Schat­ten lag.

Fast vier Wochen dau­er­te es, bis wir die ersehn­te Nach­richt erhiel­ten, wir „Sip­pen­häft­lin­ge“ wür­den nach Deutsch­land geflo­gen. – Von unse­rem Gedächt­nis erwar­ten wir, daß es Fak­ten spei­chert, die wir abglei­chen und überprüfen kön­nen; Erin­ne­rung als Ver­ge­gen­wär­ti­gung aber hat ihre eige­nen Geset­ze: Sie sam­melt Erleb­nis­se und Ein­drü­cke, ande­re überläßt sie dem Ver­ges­sen. So habe ich kei­ne Ein­zel­hei­ten unse­res Auf­bruchs und Rück­flugs von Capri gespei­chert, wohl aber die Erin­ne­rung an eine kur­ze, wenn­gleich wesent­li­che Begeg­nung in Paris. Es war gegen Abend; ich stand am Ende eines Gan­ges vor mei­nem Hotel­zim­mer und schau­te durch ein gro­ßes Fens­ter auf einen Platz, der schon im Halb­dun­kel lag. Ein bri­ti­scher Offi­zier trat neben mich, wohl, um auch hin­aus­zu­schau­en. „Bon­jour, Madame“ – die Stim­me klang höf­lich, doch etwas ver­hal­ten. Ich wand­te mich ihm zu und erkann­te an einem Abzei­chen, er müs­se zur pol­ni­schen Divi­si­on inner­halb der bri­ti­schen Trup­pen gehö­ren. Spon­tan beglück­wünsch­te ich ihn: „Nun ist auch Ihr Land frei!“ „Sie irren sich, Madame“, kam es zurück, „Jetzt herr­schen bei uns die Bol­sche­wis­ten.“ Es klang tief­trau­rig und resi­gniert und signa­li­sier­te mir, einem Mene­te­kel gleich, daß Kriegs­en­de und Frei­heit noch lan­ge nicht mit­ein­an­der iden­tisch waren.

Am fol­gen­den Vor­mit­tag lan­de­ten wir in Frank­furt am Main und wur­den mit der lang ersehn­ten Nach­richt begrüßt: „Tomor­row we shall bring ever­y­bo­dy home.“ Selt­sam, wie Stim­mun­gen umkip­pen, wel­che Macht Gefüh­le haben kön­nen! Als die ersehn­te Heim­kehr greif­bar nahe war. spür­ten wir plötz­lich den Schmerz, gar kei­nen Ort zu wis­sen, der H e i m a t war. – Hei­mat der Fami­lie war und blieb Ost­preu­ßen, see­li­scher Ort das gelieb­te groß­el­ter­li­che Haus am Meer, mit dem wir alles Glück unse­rer behü­te­ten Kin­der- und Jugend­zeit ver­ban­den. Ost­preu­ßen aber war längst an die Sowjet­uni­on ver­lo­ren. – Leip­zig hät­te Wahl­hei­mat sein kön­nen, die Stadt unse­rer Schul- und Stu­di­en­jah­re, der wir viel ver­dank­ten. Aber das Haus in er ehe­ma­li­gen Rathen­au­stra­ße, das unse­re Eltern 1930 gemie­tet hat­ten, war jetzt merk­wür­dig bezie­hungs­los für uns: All unser Hab und Gut war durch das Volks­ge­richts­hofs­ur­teil gegen mei­nen Vater weg­ge­nom­men und abtrans­por­tiert war
uns durch das Volks­ge­richts­ur­teil gegen mei­nen V~ter weg­ge­nom­men und abtrans­por­tiert wor­den. Es gab dort also kein gemüt­li­ches Wohn­zim­mer mehr mit den alten Maha­go­ni-Möbeln, kei­nen run­den Tisch, an dem wir fröh­lich mit dem Vater Kar­ten gespielt hat­ten, kei­ne ver­trau­ten „Kinder“-Zimmer. Wir wür­den uns mit dem zufrie­den geben müs­sen, was der Auk­tio­na­tor noch nicht ver­stei­gert hat­te. Auch die Die­le zum Emp­fang hat­te ihren Sinn ver­lo­ren. Das Ver­hält­nis unse­res Eltern­hau­ses zu den meis­ten sei­ner ursprüng­li­chen Gäs­te hat­te sich schon in der NS-Zeit durch Anpas­sung und Oppor­tu­nis­mus der füh­ren­den Schich­ten auf­zu­lö­sen begon­nen. Selbst in der Not­zeit hat­te es nur eine Hand­voll treu­er Freun­de gege­ben. Aber wür­den wir sie überhaupt vorfinden? 

Ein ame­ri­ka­ni­scher Offi­zier gesell­te sich zu unse­rer klei­nen Fami­li­en­grup­pe. „Viel­leicht wis­sen Sie noch nicht, daß wir Ame­ri­ka­ner nur noch kur­ze Zeit in Leip­zig sind. Wir kön­nen Sie dort­hin brin­gen, aber Sie müs­sen damit rech­nen, daß uns Ende Juni die sowje­ti­sche Armee in Leip­zig ablö­sen wird.“ – So zart und leicht ver­letz­lich mei­ne Mut­ter war, in schwie­ri­gen Situa­tio­nen konn­te sie bewun­derns­wert gelas­sen sein und ihren kla­ren Ver­stand bewah­ren: Nur war sie bis­her gewohnt gewe­sen, wich­ti­ge Ent­schei­dun­gen zunächst mit mei­nem Vater zu überlegen. Jetzt übernahm sie ganz selbst­ver­ständ­lich und ruhig die Ver­ant­wor­tung für die Fami­lie: Auf jeden Fall wür­de sie selbst nach Leip­zig fah­ren; dort war­te­ten auf sie ihre alte Mut­ter, Jut­tas Schwes­tern und viel­leicht auch mein Bru­der Rein­hard (er hat­te Dach­au mit vier ande­ren jun­gen Sip­pen­häft­lin­gen zu Fuß ver­las­sen müs­sen). Dar­über­hin­aus war mei­ne Mut­ter fest ent­schlos­sen, sich von dort aus für die Reha­bi­li­tie­rung ihres Man­nes und unse­re Rech­te ein­zu­set­zen. Uns drei jun­gen „Mädels“ aber riet sie, nach Süd­deutsch­land auf „den Hof“ zu gehen, den mein Vater als Refu­gi­um für die Fami­lie erwor­ben hat­te. „Unter den Kom­mu­nis­ten wer­det ihr kei­ne Chan­ce haben, euch ein neu­es Leben auf­zu­bau­en!“ (Wie recht mei­ne Mut­ter mit ihrer Vor­aus­sa­ge hat­te, zeig­te sich bereits ein hal­bes Jahr spä­ter, als mein Bru­der Rem­hard auf Anra­ten eines alten Sozi­al­de­mo­kra­ten Leip­zig ver­ließ, um in Hei­del­berg sein Jura­stu­di­um wie­der aufzunehmen.) – 

Nach den Mona­ten der Haft und des tröst­li­chen Zusam­men­seins muß­ten wir uns nun unver­mit­telt tren­nen, eine wenig überschaubare Zukunft vor Augen. Mei­ne Schwä­ge­rin Irma woll­te zu ihrer Mut­ter in Ham­burg, um von dort aus ihre bei­den von der Gesta­po nach Bad Sach­sa ver­schlepp­ten klei­nen Kin­der heim­zu­ho­len. Mein ältes­ter Bru­der Ulrich, schon fer­ti­ger Jurist, soll­te uns für ein paar Tage nach Süd­deutsch­land beglei­ten, um dort unse­re Wohn- und Eigen­tums­rech­te durch­zu­set­zen. Für den Augen­blick waren wir ja arm wie Kir­chen­mäu­se und muß­ten sehen, irgend­wie und irgend­wo zu exis­tie­ren.

Die „Stun­de Null“ könn­te nur eine Kurz­for­mel für Geschichts­bü­cher sein. Weder das kol­lek­ti­ve noch das indi­vi­du­el­le Bewußt­sein ken­nen die­se Zäsur. Wohl mag es Tage geben, an denen wir eine neue Sei­te im Buch unse­res Lebens auf­schla­gen, wenn wir an einem neu­en Ort, mit einem neu­en Berufs­ab­schnitt begin­nen. Immer aber beglei­tet uns unse­re Ver­gan­gen­heit. Sie beglei­tet uns nicht wie ein sanft dahin­flie­ßen­der Strom, natur­ge­ge­ben, unab­hän­gig von unse­rem Dasein. Oft kann sie sper­rig sein, die­se Ver­gan­gen­heit, dem nai­ven Sich-Erin­nern wider­ste­hen. Erin­ne­run­gen an Unwie­der­hol­ba­res kön­nen plötz­lich auf­stei­gen, Sehn­süch­te nach Unwie­der­bring­li­chem wecken. Die Furcht vor der Wie­der­kehr erleb­ter Schre­cken aber hat in mei­nem Gedächt­nis auch Luft­lö­cher des Ver­ges­sens ent­ste­hen las­sen. Dies möge der Leser beden­ken, der mit mir die Län­ge mei­nes Weges zur „Stun­de Null“ durch­mißt, in die­sen Mona­ten noch immer bedroh­ter Freu­de an der Freiheit.

Zabergäu — Sackgasse

Wie froh waren wir, daß unser gro­ßer Bru­der bei uns war, als wir zwei Tage spä­ter dem Ver­wal­ter und sei­ner Frau gegen­über­stan­den! Zuerst glaub­ten sie wohl an Geis­ter, als Jut­ta und Nina leib­haf­tig vor ihnen stan­den; war doch kein Jahr ver­gan­gen, daß die Gesta­po die bei­den mit mei­ner Schwä­ge­rin auf dem Hof ver­haf­tet und weg­ge­schafft hat­te. Dann aber wech­sel­te ihre Hal­tung zwi­schen ängst­li­cher Unsi­cher­heit und Unwil­len. Schnell aber wich die bestürzte Fas­sungs­lo­sig­keit wider­wil­li­ger Abwehr, ja Feind­se­lig­keit. Nur dem ener­gi­schen Auf­tre­ten mei­nes Bru­ders ver­dank­ten wir den Ein­laß in das gro­ße Haus, in dem über der Ver­wal­ter-Woh­nung dre Räu­me für unse­re Fami­lie bereit­stan­den. Wir soll­ten nur ja kei­ne Ansprü­che an Essens­vor­rä­te stel­len. Die sei­en sämt­lich von den ein­rü­cken­den Fran­zo­sen beschlag­nahmt wor­den. Man habe ja mit unse­rer Rückkehr nicht rech­nen kön­nen, des­halb sei­en die Wohn­räu­me noch in dem Zustand, wie die Gesta­po sie hin­ter­las­sen habe. (Daß sie eini­ge wert­vol­le Besitz­tü­mer mei­ner Schwä­ge­rin schon dem ihren ein­ver­leibt hat­ten, stell­te mein Bru­der wenig spä­ter fest.)

In die­sem schwä­bi­schen Dorf soll­ten wir nun end­lich, nach zehn Mona­ten Gefäng­nis- und KZ-Haft, wie­der unser eige­nes, aber auch ein neu­es All­tags­le­ben begin­nen. Für die­sen Ort einer ers­ten Zuflucht hat­te, wie erwähnt, noch mein Vater gesorgt. Mit­ten im Krieg hat­te er ein klei­nes Anwe­sen in Süd­deutsch­land gesucht; er wuß­te, Ost­preu­ßen, unse­re ursprüng­li­che Hei­mat, wür­de an die Sowjet­uni­on abzu­tre­ten sein, und was von Leip­zig nach den Bom­ben­an­grif­fen übrig blei­ben wür­de, war im Unge­wis­sen. – Nie hat­te mein Vater dar­an gezwei­felt, daß der Krieg, hat­te er erst ein­mal begon­nen, mit einer Kata­stro­phe enden wür­de, wenn Hit­ler nicht auf­ge­hal­ten wür­de. Ja, für ihn, den eher libe­ra­len Chris­ten, konn­te ein gerech­ter Gott die Ver­bre­chen des deut­schen Vol­kes nicht unge­straft las­sen. Gro­ßer Gna­de wür­de es bedür­fen, wenn die Völ­ker Deutsch­land ein­mal sei­ne Unta­ten ver­ge­ben wür­den. – Nahe­zu pro­phe­tisch hat­te unser sonst so rea­lis­ti­scher Vater vor­aus­ge­se­hen, wie flüch­ten­de Men­schen zu Fuß auf den Auto­bah­nen dahin­strö­men wür­den; auf Auto­bah­nen, die Hit­ler für angriffs­star­ke Pan­zer und Armee­ko­lon­nen in impe­ria­ler Hybris hat­te aus­bau­en lassen.

Immer wie­der hat­te mei­nen Vater die Sor­ge ver­folgt, uns in Deutsch­lands Zusam­men­bruch nicht mehr hel­fen und beschüt­zen zu kön­nen; dann soll­te uns im – weit­ge­hend vom Krieg ver­schon­ten – Süd­wes­ten auf dem Lan­de ein Dach über dem Kopf gesi­chert sein und, wenn wir selbst tüchtig zupack­ten, die nöti­ge Nah­rung und Wär­me. Was er nicht vor­aus­ge­se­hen hat­te, waren das Miß­trau­en und die Ableh­nung, die uns an die­sem klei­nen Ort, an dem es noch vie­le Nazi-Freun­de gab, begeg­nen wür­den. „Was hat­ten die Kin­der eines Vater­lands­ver­rä­ters bei ihnen zu suchen?“ Noch kein Jahr war seit dem miß­glück­ten Atten­tat ver­gan­gen, die­sem ver­zwei­fel­ten Ver­such, den Krieg und die Ver­bre­chen zu been­den; noch kein Jahr, daß auf den Kopf Carl Goer­de­lers eine Mil­li­on Reichs­mark aus­ge­setzt wor­den war, auf ihn, den füh­ren­den Geg­ner des Hit­ler-Regimes. Was wir als Befrei­ung erleb­ten, emp­fan­den vie­le Men­schen, die uns umga­ben, als demü­ti­gen­de Nie­der­la­ge. Und unter dem Schutz „der Fein­de“ waren wir in das Dorf gekom­men! Nun waren wir nicht mehr getra­gen von der Schick­sals­ge­mein­schaft der poli­tisch Ver­fem­ten des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers. Nun begrif­fen wir, daß uns die­se Gemein­schaft vor einer Außen­welt geschützt hat­te, die mit dem Selbst­op­fer unse­res Vaters und sei­ner Freun­de nichts im Sin­ne hatte. 

Nur eine jun­ge Frau half uns, wenigs­tens eini­ger­ma­ßen Ord­nung in das Tohu­wa­bo­hu zu brin­gen, daß die Gesta­po bei der Durch­su­chung unse­rer drei Wohn­räu­me hin­ter­las­sen hat­te. Jedoch soll­te sie die ein­zi­ge blei­ben, der wir etwas von der Trau­er, uns­rer Ver­stört­heit mit­tei­len konn­ten. Soll­te dies die „Stun­de Null“ gewe­sen sein, so war sie es – bit­ter noch heu­te – als ein Tief­punkt unse­res see­li­schen Lebens. Erwar­tet hat­ten wir, trös­tend für erdul­de­tes Leid emp­fan­gen zu wer­den, gehofft auf Dank­bar­keit und Ver­eh­rung für den Vater und alle Men­schen, die Deutsch­land hat­ten ret­ten wollen. 

Noch waren wir mit den eige­nen Ver­let­zun­gen beschäf­tigt, den­ke ich heu­te; sahen kaum, daß wir die frem­den Groß­städ­ter im klei­nen Bau­ern­dorf waren; fremd mit unse­rem distan­ziert klin­gen­den Hoch­deutsch mit­ten im herz­lich-der­ben Schwä­bi­schen. Fremd und fern für die Dorf­be­woh­ner war die Welt der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger, aus der wir kamen. Von ihr zu spre­chen, von ihr zu hören – das hät­te wohl noch zu vie­le Schat­ten auf eine Zeit gewor­fen, deren Glanz man sich noch in der Erin­ne­rung bewah­ren woll­te. Aber wir steck­ten nicht nur in see­li­schen Nöten, wir hat­ten auch die schon geschil­der­ten mate­ri­el­len Sor­gen. Alles, was wir besa­ßen, war an den Staat gefal­len. (Es soll­te noch fünf Jah­re dau­ern, bis mei­ne Mut­ter eine Pen­si­ons­zah­lung und mei­ne Schwes­ter Nina eine Wai­sen­ren­te erhielt.) Zwar hat­ten die ame­ri­ka­ni­schen Behör­den jeden von uns mit 150 Reichs­mark aus­ge­stat­tet, als sie uns in ein selb­stän­di­ges Leben ent­lie­ßen: ange­sichts des Wert­ver­falls baren Gel­des konn­ten wir davon unse­ren Lebens­un­ter­halt aber nicht bestrei­ten, geschwei­ge Hilfs­kräf­te auf dem Bau­ern­hof entlohnen.

Wie schwie­rig das Ver­hält­nis zu dem Ver­walt­er­ehe­paar auch war, das mit unse­rer Rück­kehr nicht gerech­net hat­te, wir muß­ten mit ihnen aus­kom­men – und voll mit­ar­bei­ten, wenn wir mit­es­sen woll­ten. Aus den Pflicht­zei­ten im Arbeits­dienst und wäh­rend der Semes­ter­fe­ri­en war ich mit StaII­ar­beit ver­traut und konn­te sogar eini­ger­ma­ßen mel­ken … Beim Füt­tern von Schwei­nen, Kühen und Hüh­nern und bei der vie­len Feld­ar­beit muß­ten mei­ne 16jährige Schwes­ter Nina und die 17jährige Kusi­ne Jut­ta hart mit­ar­bei­ten. Sicher stell­ten wir alle drei uns nicht all­zu geschickt an, hat­ten auch nicht Kraft genug nach Mona­ten der Haft. So san­ken wir abends immer tod­mü­de ins Bett. Die gro­ße Bean­spru­chung, möch­te man mei­nen, hät­te uns gut tun sol­len, hel­fen, las­ten­des Wis­sen zu ver­ges­sen. Aber wir sehn­ten uns gera­de nach Besin­nung, nach Stil­le, woll­ten wie­der zu uns kom­men, dem Gesche­he­nen einen Sinn abge­win­nen. Ja, wir woll­ten trau­ern dürfeh. 

Stuttgart – Neubeginn

Als ein Licht­strahl in die noch dunk­le Welt des Kum­mers und der Pla­gen brach die ers­te Nach­richt von mei­nem Ver­lob­ten. Er leb­te, war gesund und hoff­te, bald aus der bri­ti­schen Gefan­gen­schaft ent­las­sen zu wer­den. So gab es wie­der eine Zukunft; eine Zukunft mit einem ver­trau­ten Men­schen, der uns allen in der Haft­zeit uner­müd­lich bei­gestan­den, Sor­gen und Trau­er geteilt und Erleich­te­rung ver­schafft hat­te. Aber die­se Zukunft schien noch end­los fern. –

Ein wei­te­res Tor zur Zukunft öff­ne­te sich erst, als einer der alten Freun­de mei­nes Vaters uns auf dem Hof besuch­te: Theo­dor Bäu­erle, mei­nem Vater mensch­lich und poli­tisch eng ver­bun­den. Ich hat­te ihn schon 1942 ken­nen­ge­lernt, als ich mei­ne Eltern ein­mal nach Stutt­gart beglei­te­te. Bäu­erle war ein Mensch, mit dem wir über alles spre­chen konn­ten, was uns bedrück­te; gemein­sa­me Trau­er ver­band uns, sein warm­her­zi­ger Trost besänf­tig­te, sein Mit­ge­fühl ließ uns ruhi­ger wer­den. Dann erzähl­te er von sei­ner Arbeit. Da er unbe­las­tet war, hat­te man ihn mit der Posi­ti­on als Minis­te­ri­al­di­rek­tor in der Kul­tus­ver­wal­tung betraut. Er hat­te den Auf­trag, für ein bal­di­ge Öff­nung der Schu­len zu sor­gen, die in den letz­ten Kriegs­mo­na­te geschlos­sen wor­den waren. Er berich­te­te, wie schwie­rig es sei, den Auf­trag zu erfül­len. Ein Pro­blem was der Man­gel an Räu­men: Etwa ein Drit­tel der Schu­len war zer­stört oder schwer beschä­digt. Wäh­rend die Raum­not noch annä­hernd überbrückbar schien, war jedoch der Fehl­be­stand an Leh­rern ein­schnei­dend. Vie­le waren gefal­len oder noch in Kriegs­ge­fan­gen­schaft. Für die übrigen – das waren vor allem Frau­en – gal­ten die stren­gen Auf­la­gen der ame­ri­ka­ni­schen (bzw. fran­zö­si­schen) Besat­zungs­ver­wal­tung: Kein ehe­ma­li­ges NSDAP-Mit­glied durf­te vor­erst ein­ge­stellt wer­den. Über­prü­fun­gen waren im Lau­fe der Zeit vorzunehmen. 

Bäu­erle erzähl­te, er habe, um mehr Leh­rer ein­stel­len zu kön­nen, auf den gro­ßen Druck hin­ge­wie­sen, dem vor allem die Beam­ten durch die Par­tei aus­ge­setzt gewe­sen sei­en, habe aber dafür noch kein Ver­ständ­nis gefun­den. Eher soll­te der Unter­richt ganz aus­fal­len, als daß die Besat­zungs­mäch­te auf ihr Plan­ziel der Ree­du­ca­ti­on, ins­be­son­de­re der Jugend, ver­zich­tet hät­ten. Ich bedau­er­te, daß ich außer Pro­mo­ti­on und ers­tem Staats­examen päd­ago­gisch weder Aus­bil­dung noch Prü­fung vor­wei­sen könn­te. „Wir kön­nen Sie trotz­dem brau­chen!“, war Vater Bäu­er­les ermu­ti­gen­de Ant­wort. Und wirk­lich, ein paar Tage spä­ter rief er an und sag­te, am 1. Okto­ber kön­ne ich in Stutt­gart zu unter­rich­ten anfangen!!

Wo aber soll­ten wir drei Mäd­chen woh­nen? Denn daß wir zu dritt nach Stutt­gart gehen wür­den, war aus­ge­mach­te Sache. Ich könn­te ver­die­nen, und unse­re bei­den Jüngs­ten, Jut­ta und Nina, konn­ten dort end­lich wie­der zur Schu­le gehen – seit der Ver­haf­tung am 21. Juli 1944. Nun lie­fen die Dräh­te nach Stutt­gart heiß. Die alten Bosch-Freun­de tra­ten in Akti­on und ver­wand­ten sich für uns bei der Stadt­ver­wal­tung. Inner­halb von zwei Wochen erhiel­ten wir die begehr­te Zuzugs­ge­neh­mi­gung und ein Zim­mer in Feu­er­bach. Was mach­te es da, daß wir drei uns in nur zwei Bet­ten zu tei­len hat­ten! Mit sol­chen Ein­schrän­kun­gen fer­tig­zu­wer­den, hat­te uns die Haft­zeit gelehrt.

Am 1. Okto­ber 1945 fuhr ich von unse­rem Feu­er­ba­cher Qμar­tier zu mei­ner ers­ten Dienst­stel­le in Stutt­gart, dem Köni­gin-Char­lot­te-Gym­na­siwn. Die Stra­ßen­bahn fuhr die gro­ße Heil­bron­ner Ein­fall­stra­ße nach Stutt­gart ent­lang. Rechts und links der Tras­se wur­den schma­le Fahr­bah­nen von Schutt frei­ge­räumt. Gro­ße und klei­ne Trüm­mer­bro­cken zer­stör­ter Häu­ser und Fabrik­hal­len lagen hoch­ge­türmt am Ran­de. Unüber­seh­bar waren die Fol­gen des Krie­ges und sei­ner zer­stö­re­ri­schen Bom­ben­näch­te. Nun waren die Men­schen dabei, mit Kar­ren, Schip­pen und Krä­nen das Cha­os zu ord­nen; end­lich konn­ten sie den Auf­bau begin­nen, der wie­der eine Zukunft hatte.

Auch das Gebäu­de des Köni­gin-Char­lot­te-Gym­na­si­ums war nicht unver­sehrt. In einem Sei­ten­trakt waren für die Ober­stu­fen­schü­ler eini­ge Räu­me not­dürf­tig her­ge­rich­tet. Wenigs­tens die älte­ren Schü­ler soll­ten mit dem Ler­nen begin­nen. (Jut­ta und Nina waren erst vier­zehn Tage spä­ter an der Rei­he.) In die­ser Über­gangs­zeit zwi­schen dem Ende des Drit­ten Rei­ches und staat­li­chem Neu­be­ginn war auch die Schul­lei­te­rin vor­erst nur pro­vi­so­risch ein­ge­setzt. Sie brach­te mich in einen gro­ßen hel­len Dach­raum; vor­sorg­lich stand dort schon ein klei­ner eiser­ner Ofen für den Win­ter bereit – das Ofen­rohr führ­te durch ein Fens­ter. Etwa zwan­zig 18jährige Mäd­chen erwar­te­ten uns bereits. Brav, wie es damals zur Schul­sit­te gehör­te, waren sie auf­ge­stan­den. Sie waren vol­ler Taten­drang und Neu­gier nach der erzwun­ge­nen Lern-Abs­ti­nenz, auch wenn kaum eine von ihnen wohl wis­sen konn­te, wie es ein­mal mit ihr, mit der Erfül­lung von Berufs­wün­schen, gar mit einem Stu­di­um, wei­ter­ge­hen wür­de. Deutsch­land war ein besetz­tes Land. Die Alli­ier­ten wür­den über sei­ne wei­te­re Ent­wick­lung entscheiden. 

Offe­ne. freund­li­che Gesieb­ter begrüß­ten uns. Die Direk­to­rin stell­te mich als die neue Deutsch- und Geschichts­leh­re­rin mit mei­nem Mäd­chen­na­men vor (ich war ja noch nicht ver­hei­ra­tet). Viel­leicht war sie genau so wenig dar­auf vor­be­rei­tet wie ich, daß die Mie­nen der Mäd­chen sich plötz­lich skep­tisch ver­schlos­sen. Eini­ge Mäd­chen schau­ten ver­le­gen zu Boden, wäh­rend ande­re sich straff­ten, um mit einer leich­ten Bewe­gung des Kop­fes Abstand von uns zu neh­men. Nur scho­ckier­te mich die­se Ges­te der unaus­ge­spro­che­nen Zurück­wei­sung einer Goer­de­ler-Toch­ter nicht, wie sie mich noch bei den Dorf­be­woh­nern scho­ckiert hat­te. Die­sen jun­gen Men­schen gegen­über spür­te ich auf ein­mal Kraft und Mut, sie gewin­nen zu kön­nen. Ich war jung, kaum acht Jah­re älter als mei­ne zukünf­ti­gen Schü­le­rin­nen, und trau­te mir zu, eine Brü­cke zu ihnen zu fin­den. Ich war sicher, daß mei­ne Eltern im Kampf gegen Hit­ler den rich­ti­gen Weg gegan­gen waren, hat­te als jun­ge Schü­le­rin selbst die Ver­füh­rungs­küns­te des Hit­ler-Rei­ches erlebt und war mir des­sen gewiß, daß ich ihnen hel­fen könn­te und muß­te, einen Weg in die Nach-Hit­ler-Zeit zu finden.

Die anfäng­li­che Miß­stim­mung begann sich ganz all­mäh­lich zu lösen, als ich mit den Mäd­chen allein war und sie ruhig bat, mir zu erzäh­len. wie sie die letz­ten Mona­te des Krie­ges und die ers­ten Mona­te der Frie­dens­zeit erlebt hät­ten. Dabei erwähn­te ich, daß ich die­se für uns alle so bedeut­sa­me Zeit gewiß völ­lig anders durch­lebt hät­te und ich ihnen davon auch erzäh­len wol­le. So wären die nächs­ten Schul­ta­ge vom Zuhö­ren bestimmt. Ich erfuhr, daß fast alle Mäd­chen BDM-Führerinnen gewe­sen sei­en, meist die letz­ten Mona­te auf dem Land ver­bracht hat­ten. Meh­re­re von ihnen hat­ten den Vater, Brü­der oder Freun­de ver­lo­ren. Jedoch trau­er­ten sie nicht nur um die ver­lo­re­nen Men­schen. Sie betrau­er­ten einen noch umfas­sen­de­ren Ver­lust: Die meis­ten von ihnen hat­ten an den Natio­nal­so­zia­lis­mus geglaubt, dar­an geglaubt, daß es not­wen­dig sei, sich mit aller Kraft für die Grö­ße des deut­schen Vol­kes und Rei­ches ein­zu­set­zen. Nun waren sie nicht nur in ihren Hoff­nun­gen getäuscht, sie muß­ten auch an den Men­schen zwei­feln, die sie ihnen ver­mit­telt hatten.

„Es war eine furcht­ba­re Lee­re in uns“, erin­ner­te sich noch nach vie­len Jah­ren eine mei­ner
Schü­le­rin­nen. In die­se Lee­re galt es, ein wenig Wär­me und mensch­li­ches Mit­ge­fühl zu brin­gen. Das war damals für mich – zum Glück – nicht bewuß­te Pla­nung, son­dern etwas Selbst­ver­ständ­li­ches. Viel­leicht des­halb selbst­ver­ständ­lich und kein kunst­vol­les Mich-Hin­ein­ver­set­zen, weil ich mich – bei aller äuße­ren Ruhe – immer wie­der von dem glei­chen Gefühl umfas­sen­den Welt-Ver­lus­tes bedroht wuß­te: An jenem 20. Juli vor einem Jahr hat­te Gott nicht denen bei­gestan­den, die unse­re Welt vom Bösen hat­ten befrei­en wollen.

Es war gewiß kein Zufall, daß ich als ers­te Lek­tü­re für mei­ne jun­gen Schü­le­rin­nen „Die Lei­den des jun­gen Wert­her“ aus­such­te. Ich wuß­te nur zu genau, daß sie jah­re­lang gelehrt wur­den, jene mar­tia­li­schen Lie­der von stets kampf­be­rei­ten Män­nern zu sin­gen, die sich trot­zig und mit aller phy­si­schen Kraft Schick­sal und Fein­den ent­ge­gen­zu­stel­len oder stolz unter­zu­ge­hen hat­ten. Der ver­zwei­feln­de jun­ge Wert­her soll­te nicht zum neu­en Vor­bild wer­den, aber das Tor zu einer ande­ren Sprach- und Gefühls­welt öff­nen. All­mäh­lich wich die Lee­re aus den Gemü­tern; jun­ge Men­schen erlaub­ten sich nun Emp­fin­dun­gen, die sie auch aus­spre­chen durf­ten. Sie spür­ten den lyri­schen Zau­ber der Spra­che überschwenglichen Glücks, das Ver­stum­men des Worts in Zwei­fel und Trauer.

Heu­te. im Rück­blick, zie­hen sich die­se ers­ten Wochen päd­ago­gi­scher Tätig­keit zu mei­ner „Stun­de Null zusam­men. Zum Beginn eines nun selbst­be­stimm­ten Lebens und selbst­be­stimm­ter Zie­le. Es erschloß sich mir ein Beruf, der mich ein Leben lang aus­füll­te, in dem mich die Hoff­nung nie ver­ließ. In mei­nem klei­nen, begrenz­ten Umfeld etwas bewir­ken zu kön­nen. War ich auch nach dem Krieg in eine im dop­pel­ten Sin­ne kaput­te Welt ent­las­sen – hat­te die nach­wir­ken­de Hit­ler-Ver­eh­rung in einem Dorf erlebt, war durch Trüm­mer zu mei­ner Schu­le gefah­ren – mit die­ser kaput­ten Welt brauch­te ich mich nicht abzu­fin­den. – Es galt, Leid und Ängs­te jun­ger Men­schen, ihre Ver­lus­te und Scmer­zen wahr- und ernst­zu­neh­men, Ermu­ti­gung den Zag­haf­ten zu geben, Freu­den mit den Glück­li­chen zu tei­len. Es galt aber auch, auf der Hut zu sein, die Macht als Leh­rer nicht zu miß­brauchen, Ein­fluß nur zu üben, um auf dem Weg zum Erwach­sen-Wer­den zu hel­fen Mei­ne sper­ri­ge Ver­gan­gen­heit hat mir gehol­fen, mei­ne Schü­ler anspre­chen und ver­ste­hen zu können.

In den Mona­ten der Haft hat­te ich selbst erfah­ren, was es heißt, gede­mü­tigt und mit zyni­scher Freu­de geängs­tigt zu wer­den. Im Eltern­haus war mein Sinn gegen die Erbärm­lich­keit von Oppor­tu­nis­mus, vor­aus­ei­len­der Anpas­sung und kon­ven­tio­nel­ler Glät­te geschärft wor­den. Mit ihrer Lie­be und Für­sor­ge hat­ten die Eltern uns immer beschützt, Maß­stä­be und Wer­te mit­ge­ge­ben, an denen wir auch als selb­stän­di­ge Men­schen fest­hal­ten konnten.