Die Opfer der nationalsozialisitschen Diktatur und der Diktatur des Proletariats
(Vorweg: Ich habe die DDR, so wie sie war, abgelehnt und kann mit nostalgischer Verklärung nichts anfangen. Ich bin froh, dass sie Geschichte ist. Wie viele andere bin ich jedoch nicht glücklich damit, wie diese Geschichte von Westlern erzählt wird.)
In Beiträgen, in denen versucht wird, den Osten zu verstehen, wird oft davon gesprochen, dass die Ossis durch zwei Diktaturen geprägt wurden. Das ärgert mich immer wieder, weil es zwar faktisch richtig ist, dass Ostdeutsche in zwei Diktaturen gelebt haben, aber damit suggeriert wird, dass diese Diktaturen irgendwie von der gleichen Art sind. Meist wird das nicht explizit gesagt, aber hier in einem Leserbrief von Barbara Hartz aus Bremen zu einem Interview von Anne Fromm mit Anne Rabe und Katja Heuer findet man den Vergleich ziemlich offen:
Zur Meinung Katja Hoyers fällt mir meine politische Sozialisation in der Realschule ein: Unsere Lehrer machten uns durchgehend deutlich, dass all die gelobten Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierungszeit wie der viel gelobte Autobahnbau, die Kraft-durch-Freude-Ferien, die Gemeinschaftserlebnisse der Jugend und vieles mehr nicht gegen die generalstabsmäßig geplante und gnadenlos organisierte Ausrottung von Menschen und gegen die propagierte Menschenverachtung aufzurechnen sind.
Die Lehrer machten klar, dass diese Verbrechen so schlimm sind, dass sie durch nichts Gutes zu relativieren oder auszugleichen sind.
Wie fällt die Beurteilung der DDR aus, wenn man mit diesem moralischen Maßstab auf ihre Zeit blickt?
Ich bin in der DDR aufgewachsen und dazu erzogen worden, mit diesen Maßstäben auf die Welt zu sehen. Ich möchte dazu einige der Verbrechen auflisten, die in der Nazi-Zeit begangen worden sind. Nichts davon hat es in der DDR gegeben.
Nazi-Deutschland hat einen Weltkrieg begonnen, in dem 60 bis 65 Millionen Menschen gestorben sind. (Wikipedia: Tote des zweiten Weltkriegs)
Nazi-Deutschland hat systematisch und geplant und beschlossen 6 Millionen Juden ermordet.
Nazi-Deutschland hat 7 Millionen sowjetische Zivilisten ermordet.
Nazi-Deutschland hat 3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene ermordet.
Nazi-Deutschland hat 1,8 Millionen polnische Zivilisten ermordet.
Nazi-Deutschland hat 312.000 serbische Zivilisten ermordet.
Nazi-Deutschland hat 250.000 Behinderte ermordet.
Nazi-Deutschland hat 250.000 Sinti und Roma ermordet.
Nazi-Deutschland hat 1.900 Zeugen Jehovas ermordet, weil diese den Kriegsdienst verweigert haben.
Nazi-Deutschland hat 70.000 so genannte „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“ ermordet.
Der entsprechende Teil des deutschen Volkes hat für sich Ariernachweise erstellt, um zu zeigen, dass sie irgend etwas Besseres waren, als Menschen anderer „Rassen“.
Nazi-Deutschland hat Euthanasie-Programme (Aktion T4) durchgeführt und psychisch Kranke und Behinderte ermordet oder verhungern lassen. Es wurde von „unwertem Leben“ gesprochen.
Hier kann man die Zahlen der Ermordeten noch einmal in einer Grafik sehen:
In der Aktion T4 wurden Psychiatrie-Patienten systematisch umgebracht. Nach deren Ende, das eventuell damit zusammenhing, dass die Mörder in den neu eingerichteten Vernichtungslagern für die Ermordung der Juden und sowjetischen Bürger*innen und Kriegsgefangenen benötigt wurden, gab es den Hungerkost-Erlaß.
Der Hungerkost-Erlaß des Bayerischen Staatsministers des Inneren vom 30. November 1942 schloss an die Einstellung der Aktion T4 an. Die Kost psychiatrischer Patienten, die insbesondere nicht mehr arbeitsfähig waren, wurde infolgedessen so weit reduziert, dass nach drei Monaten mit ihrem Tod zu rechnen war. Der Erlass führte zum Tod vieler tausender Psychiatrie-Patienten in Bayern.
Unterzeichnet wurde der Erlass von Walter Schultze, der von 1933 bis 1945 als Ministerialdirektor die Abteilung Gesundheitswesen im Bayerischen Innenministerium leitete. Schultze war außerdem von 1935 bis 1944 als „Reichsdozentenführer“ Leiter des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes (NSDDB).
Nach heutigem Kenntnisstand[2] ist der von Schultze unterzeichnete Erlass gleichzeitig „eine Art nachträglicher Rechtfertigung für Handlungsweisen […], die schon längst praktiziert wurden“ und die „Anordnung von neuen und brutaleren Maßnahmen, die aber in dem Erlaß selbst nicht angesprochen sind, im Grunde also […] ein Dokument der Tarnung und Verschleierung.“[3] Der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, Valentin Faltlhauser, hatte bereits 1941 die Einschränkung der Kost der nichtarbeitsfähigen Patienten angeordnet. Seit August 1942 ließ Faltlhauser arbeitsunfähigen Patienten eine völlig fettlose „Sonderkost“ verabreichen, die Kranken starben innerhalb von drei Monaten an Hungerödemen. Faltlhauser referierte über seine Erfahrungen bei einer Konferenz der Anstaltsdirektoren mit Schultze am 17. November 1942, auf die im „Hungererlass“ Bezug genommen wird.
Alles bis hierher Geschilderte zeugt von einer unglaublichen Brutalität und Unmenschlichkeit des NS-Regimes. Man möge den Eintrag zur Aktion T4 lesen. Daraus geht hervor, dass ein einziger Richter sich den mit der Ermordung verbundenen Anordnungen widersetzte. 90 höchstrangige Richter wurden dann in die Aktion eingeweiht, waren also mitschuldig.
Nichts, nichts davon gab es in der DDR. Die DDR hat keinen Krieg begonnen. Die NVA war als Verteidigungsarmee konzipiert, deren Aufgabe es war, potentielle Angriffe aus dem Westen für 24 Stunden aufzuhalten. Die DDR war komplett durchmilitarisiert (Sport, Wehrkundeunterricht, Gesellschaft für Sport und Technik) aber das lief alles unter „Der Friede muss bewaffnet sein“. Krieg stand nicht auf dem Programm, was in der Nazi-Zeit definitiv anders war. Die Kommunisten hatten vor den letzten Wahlen gewarnt: „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“ Die Erziehung in der DDR war antifaschistisch, die Verbrechen der Nazis inklusive Holocaust wurden im Schulunterricht und an vielen anderen Stellen thematisiert, obwohl das von Menschen wie Anetta Kahane und Ines Geipel geleugnet wird (siehe Blog-Beitrag Der Ossi und der Holocaust). Die Völkerfreundschaft wurde offiziell befürwortet, was natürlich mit dem Befreiungskampf der entsprechenden Völker verknüpft wurde, aber es gab von staatlicher Seite keinen über Rassenkonzepte motivierten Rassismus (für Belege aus der Bummi-Zeitung, der Für Dich, der NBI und der Wochenpost zur internationalen Solidarität und zur medizinischen Versorgung von Menschen aus Afrika in der DDR siehe „Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern“: Kommentare zu einem Aufsatz von Patrice G. Poutrus, Jan C. Behrends und Dennis Kuck). Zum Umgang mit Behinderten habe ich in Mein Gott, Walther! Die DDR als prä-faschistischer, post-faschistischer und faschistischer Staat und überhaupt. geschrieben. Ich bin in Buch aufgewachsen, dort gab es ab 1976 staatlich geplante barrierefreie Wohnungen für Menschen mit Rollstühlen.
Es gab Menschen, die Opfer des DDR-Regimes geworden sind. Dazu gehören ganz offensichtlich die Mauertoten, aber auch Systemgegner*innen, die nach fragwürdigen Prozessen hingerichtet wurden oder irgendwo in Gefängnissen verschwanden und nie wieder gesehen wurden. Zur Zahl der Toten gibt es nur Schätzungen. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags geht von einigen Hundert bis zu 4.000 aus (Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages 2021). An der Mauer sind wohl weniger als 327 Menschen gestorben. Es gab 52 bis 72 Todesurteile für politisch Verfolgte. Ohne verlässliche Zahlen wird von bis zu 50 politisch motivierten Morden oder Mordversuchen durch das MfS (ohne Thüringen) ausgegangen. Die Todesursache für in der Haft Gestorbene lässt sich im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren. Man geht von einigen Hundert bis 2.500 aus. Nimmt man jetzt die Obergrenze der Schätzung, also den für die DDR am ungünstigsten Fall von 4.000 Opfern des DDR-Regimes an, so sieht man, dass das in absolut anderen Größenordnungen liegt als die Verbrechen der Nazis. Wenn in den 40 Jahren der DDR 4.000 Menschen umgekommen sind, dann sind das 100 pro Jahr. Das ist eine große Zahl, ohne Zweifel, aber in der Schlucht von Babyn Jar hat die SS und die Wehrmacht in 36 Stunden 33.000 Juden (Frauen, Kinder und Männer) erschossen.
Hoyers Arbeit
Ich habe das Buch von Hoyer noch nicht ganz gelesen. Bisher nur das Kapitel über die Mauer und das folgende Kapitel über Urlaubsplätze. Hoyer schreibt an keiner Stelle, dass die Mauer eine dufte Sache war. Sie erklärt, warum sie gebaut wurde und beschreibt ausführlich tragische Todesfälle. Hoyer erklärt im Kapitel Hart arbeiten und das Leben genießen, das dem Mauerkapitel folgt, warum der Ausbau des Urlaubssystems notwendig war: Ab 1961, als die Mauer stand, konnte Ulbricht bzw. die Staatsführung Missstände nicht mehr auf Konterrevolutionäre schieben und musste selbst dafür sorgen, dass sich das Volk wohlfühlte. Das herauszuarbeiten ist notwendig, wenn man eine Geschichte der DDR haben will und wenn man die DDR und das Handeln ihrer Bewohner*innen in der Gegenwart verstehen will. Auch im Interview mit der taz gibt es nichts, was man Katja Heuer als Ostalgie oder Verklärung von Tatsachen vorwerfen könnte.
Die DDR war der Staat mit dem größten Spitzelnetz, mit der größten Dichte an Geheimdienstmitarbeiter*innen pro Einwohner, weltweit (Wikipedia-Artikel MfS: ein hauptamtlicher Mitarbeiter pro 180 Einwohner*innen). Die DDR hat sich mit einer Mauer Richtung Westen abgegrenzt und ihr dahinter eingesperrtes Volk bespitzelt und unterdrückt. Das gehört zur Geschichte der DDR. Es gehört aber auch dazu, dass der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund Urlaubsplätze verteilt hat. Über die von Frau Hartz angesprochenen Fakten (Autobahnbau, Kraft-druch-Freude, Volkswagen, usw.) wird auch jede Geschichte des Nationalsozialismus berichten und wird diese historisch einordnen.
Wer war Hitler? Relativierungen
Auf die Frage: „Wer war Hitler?“ gibt es drei mögliche Antworten. Die erste kann man hier in diesem Beitrag des Hessischen Rundfunks aus dem Jahr 1959 bestaunen.
Drei Antwort-Arten sind:
Hitler hat die Autobahnen gebaut und viele Menschen in Arbeit gebracht.
Hitler hat systematisch Millionen Menschen ermorden lassen, einen Krieg geführt, bei dem noch mehr umgekommen sind, aber er hat auch Autobahnen gebaut.
Hitler hat systematisch Millionen Menschen ermorden lassen, einen Krieg geführt, bei dem noch mehr umgekommen sind, und er hat Autobahnen gebaut.
Den Fall 1) kann man im Video sehen. Unakzeptabel. 2) Ist die Relativierung. Ebenfalls unakzeptabel. 3) mit und statt aber ist die Feststellung einer historischen Tatsache, die natürlich in einem Text entsprechend eingeordnet werden muss. Nach dem Muster 3) arbeitet Hoyer und das ist auch wissenschaftlich korrekt.
Schlussfolgerung
Nazi-Deutschland und die DDR sind unvergleichbar. Die Größenordnungen der begangenen Verbrechen ist um den Faktor 20.000 (80.000.000 zu 4.000) oder 133.000 (80 Mio zu 600) verschieden. In Nazi-Deutschland gab es eine größere Beteiligung der Bevölkerung schon allein durch die Kriegsbeteiligung aber auch durch die Konzentrationslager, den Umgang mit Zwangsarbeitern, Deportationen von Juden, die Euthanasie-Verbrechen.
Man sollte also Nazi-Deutschland und die DDR nicht in einen Topf werfen. Wer es tut, hat entweder keine Ahnung vom Umfang der Verbrechen in der DDR oder relativiert die Nazi-Verbrechen, die in den 1000 Jahren davor begangen wurden.
Ein Mastodon-User hat mich um meine Meinung zu einem Post von Marius Sixtus gebeten.
Im Post schreibt Sixstus:
Die Ost-CDU ist eine Blockpartei, die für Mauer und Schießbefehl der DDR historisch mitverantwortlich ist. Es gab keine Aufarbeitung, keinen personellen Bruch, und es gab nie eine Entschuldigung. Das nur, falls sich jemand fragt, woher diese moralische Verrohtheit rührt.
Ich habe darauf in zwei Tröts geantwortet. Hier kommt alles noch einmal etwas sortierter und verlinkt.
Alexander Räuscher war zur Wende 19, ist also wohl eher kein Gewächs einer Blockpartei. Die Blockparteien hatten im Osten nur eine Alibifunktion. Niemand hat die ernstgenommen. Wenn man irgendwie behauptet, dass die CDU mitschuldig am Schießbefehl sei, dann muss man merkwürdige Vorstellungen davon haben, was die Volkskammer war und was für Entscheidungsmacht, die Delegierten dort hatten. Hier die Zusammenfassung aus Wikipedia:
Nach dem Verständnis der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED war die Volkskammer kein Parlament im bürgerlichen Sinne einer repräsentativen Demokratie, sondern sollte eine Volksvertretung neuen Typs darstellen. Sie sollte den postulierten Ansprüchen nach die im bürgerlichen Parlamentarismus nicht gegebene Einheit zwischen politischer Führung und Bevölkerung herstellen und Parteienegoismus, Parteinahme für das Kapital, persönliche Bereicherungssucht und Selbstblockade durch Gewaltenteilung ausschließen.
Die Volkskammer war also ein Winke-Winke-Gremium. Nicht im Sinne der Teletubbies, sondern im Sinne des Durchwinkens von Beschlüssen. Die einzige Ausnahme war die Änderung des Gesetzes zur Abtreibung im Jahre 1972. Und da spielte sogar die CDU eine Rolle:
Die einzige Abstimmung der Volkskammer, in der Konflikte öffentlich bekannt wurden, war im März 1972 die Abstimmung über das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft zur Einführung der Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbrüchen, bei der 14 Abgeordnete der CDU nach Absprache mit ihrer Parteiführung gegen das Gesetz stimmten. Diese Gegenstimmen und einige Enthaltungen blieben jedoch ohne Wirkung auf den Gesetzgebungsprozess zur Fristenlösung, erhöhten auf der anderen Seite aber die Legitimation der Volkskammer, da in diesem Fall in der Öffentlichkeit der Eindruck eines echten, streitenden Gremiums entstand.
Faktisch war die Volkskammer weitgehend ohne Einfluss auf das politische Geschehen, denn der seit 1968 in der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik auch offiziell verankerte Führungsanspruch der SED verhinderte von Beginn an eine echte politische Einflussnahme des Parlaments.
Was ich bisher selbst nicht wusste (Es war ja letztendlich auch egal.), war dass die SED als Block nicht die absolute Mehrheit hatte. Diese wurde aber durch SED-Mitglieder in anderen Blöcken gesichert, denn die Massenorganisationen waren ebenfalls als solche in der Volkskammer vertreten. Das waren die Urlaubsorganisierorganisation Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB), der Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD), die Freie Deutsche Jugend (FDJ), und der Kulturbund. Wenn also Sixtus’ Behauptung, die CDU sei an der Mauer und am Schießbefehl mitschuldig, irgendeine argumentative Kraft haben würde, müsste man genauso sagen können, dass der FDGB, der Frauenbund und der Kulturbund an Mauer und am Schießbefehl mitschuldig gewesen seien. Letztendlich waren sie systemtragend und erhaltend, insofern ist da ein Quäntchen Wahrheit dran, aber es gibt in diesem kurzen Post von Sixtus auch noch ein ganz anderes Problem. Es gab nämlich in der DDR keinen Schießbefehl, der irgendwie von der Volkskammer beschlossen worden wäre. Der Umgang mit der Schusswaffe war ab 1982 gesetzlich geregelt. Interessanterweise war das Gesetz aber genauso formuliert, wie das West-Gegenstück:
Im Wortlaut stimmten Vorschriften der DDR, soweit sie den Schusswaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze regelten, weitgehend mit den Vorschriften der Bundesrepublik in §§ 10–13 UZwG und §§ 15–17 UZwGBw überein.[30] Die weitgehende Anlehnung in der Formulierung war bewusst gewählt, um die DDR aus der Kritik zu bringen und die weiterhin unverändert geübte rechtswidrige Staatspraxis zu verschleiern.[31]
Das bedeutet also, dass weder die CDU noch der Kulturbund für die Mauertoten verantwortlich gemacht werden können, denn sie haben – Winke-Winke – ein Gesetz verabschiedet, das genau dem West-Gegenstück entsprach. Es gibt Dokumente, die Stasi-interne Anweisungen zum Schießen an der Grenze belegen (Zeit, 13.08.2007) und auch Aussagen von Honecker im Nationalen Verteidigungsrat von 1974 (mdr, 13.08.2023). Nur war der Nationale Verteidigungsrat per Gesetz nur mit SED-Mitgliedern und Angehörigen der bewaffneten Organe besetzt. Die CDU hatte damit also nichts zu tun.
Ein wichtiger Punkt noch: Liebe Wessis, Ihr könnt nicht einerseits behaupten, dass wir in einer Diktatur gelebt haben (Diktatur des Proletariats war die Eigenbezeichnung der SED) und andererseits den Scheinparteien, die da irgendwie mitgespielt haben, irgendeine Verantwortung zuweisen. Also eine Verantwortung, die über das Mitspielen im Allgemeinen hinausgeht. Ich würde als Ossi nie im Leben darauf kommen, von der Ost-CDU eine Aufarbeitung zu verlangen oder eine Entschuldigung. Diese Parteien waren zu DDR-Zeiten einfach absolut bedeutungslos und haben nach der Wende den Anschluss vollzogen.
Sixstus’ Post unterstellt ja irgendwie, dass die Ost-CDUler das Schießen an der Mauer gut gefunden hätten. Das war vermutlich nicht der Fall. Ich kenne nur zwei CDUler persönlich. Einer war mein Chef. Er ist in die Ost-CDU eingetreten, weil die SED ihn immer gefragt hat, ob er Mitglied werden wolle. Nachdem er in die CDU eingetreten war, war er ja in einer anderen Partei und hatte dann seine Ruhe. Ein Bekannter von mir war Christ und wollte den Sozialismus aufbauen. Er war in der CDU, aber ganz sicher gegen Schüsse an der Grenze. Diese Generation wollte noch die Wiedervereinigung.
Die Verantwortlichen und die Täter
Also: Stasi und Nationaler Verteidigungsrat. Die Befehle wurden innerhalb der bewaffneten Organe weitergegeben. Egon Krenz (SED) ist verurteilt worden und einige der Schützen.
94% der Offiziere der NVA waren in der SED. Verantwortlich für die Mauertoten sind neben der Staatsführung Offiziere der Grenztruppen. CDUler sind wahrscheinlich nicht zu den Grenztruppen gegangen. Zumindest zu meiner Zeit musste man das nicht und wenn man bei der Musterung bei der Erwähnung der Grenztruppen nicht in Begeisterung ausgebrochen ist, kam man da auch nicht hin. Der Staat war Christen gegenüber generell misstrauisch.
Die Ost-CDU
Sixstus sagt, dass es keinen personellen Bruch gegeben habe. Sicher gibt es in der CDU Menschen, die auch vor der Wende in der CDU waren. Ich würde gern mehr darüber erfahren, welche Ansichten sie damals vertreten haben, welche Rolle sie damals gespielt haben und welche Funktionen sie jetzt in der Partei spielen. Reiner Haseloff ist seit 1976 in der Ost-CDU. Aber die Ost-CDU war vor der Wende bedeutungslos. Es dürften nach der Wende viel, viel mehr Engagierte und Karrieristen in die CDU eingetreten sein, als vorher schon dabei waren. Zum Beispiel Angela Merkel (vorher Agitatorin in der FDJ) und Vera Lengsfeld (aus SED ausgeschlossen, Bürgerrechtlerin). Vielleicht gab es lokal Einflüsse von Einzelnen, aber es lässt sich wohl nicht leugnen, dass Angela Merkel die CDU in Ost und West zum Guten beeinflusst hat. Sie hat die CDU in die Mitte manövriert (vor ihr und nach ihr gab es Merz) und weniger rassistisch gemacht.
Auf die Schnelle konnte ich Folgendes herausfinden: Werner Münch (1991–1993), Thomas Webel (2004–2018), Holger Stahlknecht (2018–2020) waren Parteivorsitzende. Die Genannten sind allesamt aus dem Westen (Wikipedia CDU Sachsen-Anhalt#Personen). Joachim Auer (1990–1991) war Fraktionsvorsitzender und aus dem Westen. Das bedeutet insbesondere, dass 1991 sowohl Partei- als auch Fraktionsvorsitz in West-Hand waren. Von Kontinuität kann man wohl kaum sprechen. Die CDU war eine West-Partei geworden.
Gerd Gies (1990–1991 Parteivositzender) war seit 1976 in der CDU und in der Tat systemtreu. Karl-Heinz Daehre war von 1993–1998 Parteivorsitzender. Er ist aus Langenweddingen, aber erst 1990 in die CDU eingetreten. Wolfgang Böhmer ist aus Dürrhennersdorf bei Görlitz. Wikipedia schreibt: „In der DDR engagierte sich Böhmer in evangelischen Kirchenkreisen und wurde 1990 Mitglied der CDU der DDR. Von 1998 bis 2004 war er Landesvorsitzender der CDU Sachsen-Anhalt.“ Das bedeutet, dass Böhmer vorher in der Opposition war. Von 2002 bis 2011 war er außerdem Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt. Heike Brehmer trat 1989 in die CDU ein. André Schröder trat 1996 in die CDU ein. Marco Tullner trat 1996 in die CDU ein. Sven Schulze war zur Wende 10 Jahre alt. Er war mit 19 Gemeinderat. Das war 1998 und wahrscheinlich war er da schon in der CDU.
Christoph Bergner (1991–1993, 1994–2001 Fraktionsvorsitzender) ist seit 1976 Mitglied der Ost-CDU. Auch wie Gies systemtreu? Ungebrochene Kontinuität der Blockflöten? Hat Sixtus Recht? Nö. Denn Bergner war von September 1989 bis Januar 1990 im Neuen Forum in Halle (Saale). Das heißt er war in der Opposition und hat aktiv gegen die DDR-Regierung gekämpft. Jürgen Scharf (1993–1994, 2002–2011 Fraktionsvorsitzender) war seit 1976 in der CDU. Zu seinen Einstellungen während der DDR-Zeit steht nichts in Wikipedia. 2001–2002 war Wolfgang Böhmer Fraktionsvorsitzender, den ich oben schon besprochen habe. Er war Oppositioneller. Reiner Haseloff war 2011 Fraktionsvorsitzender. Er war seit 1976 in der CDU. Über seine Aktivitäten zu DDR-Zeiten steht nichts in Wikipedia. Andre Schröder (2011–2016) kam oben ebenfalls schon mal vor. Er ist erst 1996 in die CDU eingetreten. Siegfried Borgwardt (2016–2022) war ab 1979 in der CDU. Ab 1983 war er Regionalgeschäftsführer und Beisitzer in einem Kreisvorstand. Guido Heuer (seit 2022) ist 2009 in die CDU eingetreten.
Das heißt, dass die Liste der Parteivorsitzenden und der Fraktionsvorsitzenden mit Gies, Bergner, Scharf, Haseloff und Borgwardt fünf Ost-CDUler enthält. Davon war nur Gies erwiesenermaßen systemtreu. Borgwardt hatte eine niedrige Funktion innerhalb der Partei inne. Bergner war in der Opposition und von Haselhoff und Scharf weiß man nicht, was sie gemacht haben, außer Mitglied zu sein. CDU-Mitglied gewesen zu sein, war an sich noch nichts Verwerfliches. Vier Personen sind aus dem Westen, fünf erst nach der Wende eingetreten.
Jetzt da irgendwie eine Kontinuität ableiten zu wollen, ist an den Haaren herbeigezogen. Noch dazu, wo ja das, wozu die Kontinuität bestehen soll (Mitwirkung an Mauer und Schießbefehl), überhaupt nicht existiert.
Ich möchte hier nur noch schnell anmerken, dass ich kein CDU-Fan-Boy bin. Mir kommt es sehr komisch vor, dass ich hier quasi die CDU verteidige. Ich lehne die CDU in all ihren Formen und Varianten ab. 2021 bin ich deshalb gegen den Stefan Müller aus Erlangen angetreten. Leider hat er doch wieder gewonnen, aber wir hatten definitiv mehr Spaß als er.
2011hat Horst Seehofer, damals Bayrischer Ministerpräsident und später dann Bundesinnenminister, davon gesprochen, dass die Regierung sich bis zur letzten Patrone gegen Einwanderung (in die deutschen Sozialsysteme) wehren werde:
Horst Seehofer sollte es besser wissen. Vor vier Jahren handelte sich der CSU-Chef eine Anzeige wegen Volksverhetzung ein. Auch damals ging es um Migranten. „Bis zur letzten Patrone“ werde die Regierung sich gegen eine massenhafte Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme wehren, sagte der Bayer beim politischen Aschermittwoch am 9. März 2011. Auf den Tag genau 66 Jahre, nachdem Hitlers Generäle in Berlin mit genau dieser martialischen Wortwahl befahlen, die Reichshauptstadt „bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone“ zu verteidigen.
Inzwischen ist das Ausbau der Festung Europa weit fortgeschritten und Von der Leyen kuschelt mit der italienischen Postfaschistin Meloni.
Vor dem Hintergrund des Schießbefehls an der Mauer muss man sich die aktuellen Bemerkungen und die aktuelle Politik von CDU-Größen noch mal genau angucken. 1) Im Osten hat nie jemand öffentlich damit geprahlt, dass er Menschen an der Grenze erschießen will. Schon gar nicht CDU-Mitglieder. 2) Und jetzt muss ich Euch leider wehtun: Die Situation an der Grenze zwischen DDR und BRD ist leider mit der an den EU-Außengrenzen vergleichbar. Menschen fliehen, weil sie entweder politisch verfolgt werden oder weil es für sie ökonomisch in ihren Herkunftsländern keine Perspektiven mehr gibt. Das liegt zum Teil auch an der von uns im Norden verursachten Klimakatastrophe. Es handelt sich um so genannte Wirtschaftsflüchtlinge, denn die Klimakatastrophe ist kein anerkannter Fluchtgrund. Wirtschaftsflüchtlinge gab es auch bei DDR-BRD-Fluchten, nur dass es da um Farbfernseher und Videorecorder ging, während die Flüchtlinge aus dem Süden zum Teil aus Regionen kommen, die wegen der Erderhitzung unbewohnbar geworden sind. Beide Menschengruppen riskier(t)en ihr Leben, um in ein anderes Land zu kommen. An der DDR-BRD-Grenze sind von 1961–1989 327 Menschen gestorben, Grenzer eingeschlossen. Im Mittelmeer sind in den letzten zehn Jahren über 30.000 Menschen ertrunken (statista 2024). Das heißt 100 Mal so viele Menschen. Außerdem sterben schon jetzt Menschen bei Versuchen, die Grenzanlagen zu überwinden (23 Tote bei Versuch, Grenzanlagen bei Melilla zu überwinden, tagesschau. 29.06.2022).
Dass „wir“ die Tode von DDR-Flüchtlingen schlimmer finden als die an den europäischen Außengrenzen, ist Rassismus und Nationalismus.
Die DDR konnte ohne die Mauer nicht existieren. Die Menschen verließen einfach das Land. Gut ausgebildete Ärzt*innen und Ingenieur*innen. Auch mit Mauer gab es eine kontinuierliche Abwanderung. Ähnlich, mit anderem Vorzeichen, ist es jetzt an den EU-Grenzen. Menschen versuchen in Länder zu gelangen, in denen sie freier, ökonomisch besser oder einfach auch nur überhaupt leben können. Wenn „wir“ nicht bereit sind, mit ihnen zu teilen, müssen „wir“ sie erschießen.
Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem wir entscheiden müssen: Verrohung oder etwas von unserem Wohlstand bzw. dem unserer Milliardäre abgeben (durch Aufnahme von Flüchtlingen oder Finanzierung des Südens, zum Beispiel Schuldenerlass). Zur Zeit sieht es nach allgemeiner Verrohung aus. AfD, CDU/CSU und BSW arbeiten an der Festung Europa und SPD, FDP und Grüne helfen irgendwie mit. Einzig die sich in Selbstauflösung befindliche Linke hatte andere Vorstellungen und setzte die Seenotretterin Carola Rackete auf Platz 1 der Liste für die EU-Wahlen.
Das ist irgendwie interessant, wenn man darüber nachdenkt, wo die Wurzeln der Linken liegen, denn die haben ja das Vermögen der Mauer-Partei übernommen. Deprimierend an der Situation ist noch ein weiterer Punkt: 1961 hat eine Minderheit für den Rest der DDR den Mauerbau beschlossen, die Freiheit eines Volkes eingeschränkt und somit viele Tote auf dem Gewissen. Heute sind es demokratisch legitimierte Regierungen, die für Mehrheiten stehen, die für ein Vielfaches an Toten verantwortlich sind. Wir alle sind dafür verantwortlich und wir können nicht auf die SED oder irgendwen zeigen.
Ultimativer Attributionsfehler
Mario Sixtus unterläuft nicht zum ersten Mal ein Attributionsfehler. Er erklärt das Verhalten einer Person mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe:
Erklärt man sich das Verhalten eines Menschen damit, dass er Mitglied einer sozialen Gruppe ist, spricht man seit Pettigrew (1979) vom „ultimativen Attributionsfehler“. Oft dient diese dispositionale Ursachenzuschreibung der Aufrechterhaltung von Vorurteilen („Er handelt so, weil er Ausländer ist“).
Ich habe nach weiterem Nachdenken noch einen Tröt nachgeschoben: Letztendlich läuft der Beitrag von Sixtus nach dem alten Muster:
Ossi ist komisch.
Eigenschaft von Ossi wird pauschalisiert und mit irgendwas aus der Ost-Biografie zu erklären versucht.
Ich vermute, dass es im Westen fünfmal mehr schreckliche Menschen gibt als im Osten. Die Vermutung ist darauf begründet, dass die Bevölkerungszahl fünfmal so hoch ist.
Man stelle sich vor, ich würde immer, wenn sich einer schräg benimmt, das auf irgendeine Gruppenzugehörigkeit beziehen. In meinem Tröt habe ich Gauland als Beispiel gewählt. Gauland ist Mitgründer und Ehrenvorsitzender einer Nazipartei. Er war vorher in der (West-)CDU. Als CDU-Mitglied arbeitete er im Magistrat von Frankfurt/M. und im Bundesumweltministerium. Er leitete von 1987 bis 1991 die Hessische Staatskanzlei. Ich behaupte jetzt, dass der Gauland so komisch ist, weil er eben aus dieser West-CDU kommt, die alle Nazis sind, weil es im Westen zwar 1968 gab, aber das waren nur so ein paar links-grüne Hippie-Studenten, die Probleme mit ihren autoritären Eltern hatten. Die CDU-Familien sind einfach weiter Nazis geblieben. Wäre das eine gute Argumentation? Nö, irgendwie nicht, oder? Bisschen platt und pauschal, oder? Immerhin faktisch richtig, was Gauland angeht. Aber genauso platt sind die meisten Argumentationen gegen Ostler. Nur dann eben auch noch knapp an den historischen Fakten vorbei.
Das Beispiel, das ein Follower auf Mastodon gefunden hat, ist noch besser geeignet: Der ehemalige Kölner CDU-Bezirkspolitiker Hans-Josef Bähner hat drei Menschen rassistisch beleidigt und dann beschossen. „Das Projektil bohrte sich durch den rechten Oberarm und trat an der Schulter wieder aus.“ (Spiegel, 10.01.2022) Der Rassist und Fast-Mörder wurde zu zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Was nun? Wie wäre es, wenn ich schriebe:
Diese Tat ist das Ergebnis der Erziehung in einer rassistischen kalten Ellenbogengesellschaft, wie wir sie in den vergangenen 75 Jahren in der BRD beobachten konnten.
Oder: Hans-Josef Bähner war wahrscheinlich das Kind einer frustrierten Hausfrau. Er ist ohne Liebe aufgewachsen, weil seine Mutter sich beruflich nicht verwirklichen konnte. Das ist das Ergebnis einer durch und durch sexistischen und patriarchalischen Gesellschaft.
Oder: Hans-Josef Bähner ist ein Rassist, weil dieser Rassismus fest in der BRD verankert ist. Er kommt aus Nazi-Deutschland und wurde von Generation zu Generation weitergegeben.
Oder: Hans-Josef Bähner ist ein Rassist und Fast-Mörder. Um das zu verstehen, muss man sich nur ansehen, wo er herkommt. Er kommt aus Köln. Dort sind alle Rassisten und Nazis, also jedenfalls viele. Die tun immer so fröhlich, aber in Wirklichkeit sind sie alle Nachfolger von Faschisten, Menschen die Rassengesetze und Eugenik gut fanden und sich nie wirklich davon losgesagt haben.
Geht nicht? Warum nicht? Genau das ist es, was seit 35 Jahren mit Ossis gemacht wird. Sie sind angeblich komisch, weil sie gemeinsam auf dem Töpfchen saßen oder weil sie ihre Mutter zu heiß gebadet habe (Anne Rabe). Das wird permanent in allen Medien hoch und runtergetrötet. Und dann wundert sich jemand über das Ergebnis.
Was ist eigentlich passiert?
Aber dieser Ossi, der Alexander Räuscher, ist wirklich komisch. Er postet ein Foto mit Patronenhülsen als Mittel gegen Kopfschmerzen!?!
Christian Franke-Langmach postet diesen Tweet über seine Empfindungen beim Lesen von Tweets von Alexander Räuscher:
Alexander Räuscher gab ihm folgende Hinweise auf Mittel, die Schmerzen zu beenden.
Patronen! Nein! Also wirklich! Dafür muss es doch eine Erklärung geben!
Räuscher war zur Wende 19. Seit dem sind 35 Jahre vergangen. Das heißt, er hat zwei Drittel seines Lebens in diesem Land verbracht, in dem wir nun alle gemeinsam leben. Vielleicht ist er so, wie er ist, weil dieses Land so ist, wie es ist. Die beste Erklärung für sein Verhalten liefert der Betroffene selbst:
Franke-Langmach sagte der MZ, er fühle sich durch das Patronenfoto zwar nicht bedroht. „Aber ich finde es einfach dumm, so ein Foto zu posten. Er präsentiert sich, wie er ist. Das ist ein Hilferuf nach Aufmerksamkeit, weil ihn niemand ernstnimmt.“
Jemand wollte auf Social Media Aufmerksamkeit. Das ist eine einfache Erklärung, die ganz ohne Schießbefehl auskommt. Knallt halt nicht so schön. Auf Social Media.
West-Block und Ost-Blog
Mein zweiter Post (der Gauland-Vergleich) brachte mir dann die Blockierung ein:
Und so bleibt ein Account mit 31.000 Followern, der ungestört das Verhalten von CDU-Wirrköpfen mit Ereignissen und Traditionen von vor 35 Jahren zu erklären versucht. Ein Mensch, der Jagdschütze ist, wird in Zusammenhang mit dem Schießbefehl an der Mauer gebracht, für den weder er noch irgendwer anders aus seiner Partei irgendwie verantwortlich ist.
Ich kann wenigstens hier im Ost-Blog und auf Mastodon darauf hinweisen. Viele Menschen im Osten haben diese Möglichkeit nicht. Sie sind einfach nur frustriert. Sie haben es einfach so satt. Denn es ist nicht nur Mario Sixtus, der seinen 31.000 followern so etwas eintrötet, Ähnliches findet man auch in vielen westdeutschen Medien. Ostdeutsche Medien mit entsprechender Reichweite gibt es kaum noch.
Das Ergebnis sind dann die Wahlerfolge von AfD und BSW im Osten. Der maximale Stinkefinger. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, wo einzelne Bundesländer nicht mehr regierbar sind. Spätestens jetzt sollte man als Linke*r oder als Politiker*in seine Kommunikationsstrategie mal überdenken.
Danksagung
Dieser Post ist wieder mit Mithilfe meiner Mastodon-Freunde entstanden. Besonders die Hinweise auf Horst Seehofer, der bis zur letzten Patrone gegen Migrant*innen kämpfen will, und auf Hans-Josef Bähner, der wirklich auf Menschen mit Migrationshintergrund geschossen hat, waren wichtig. Danke Peer und Echo Zebra.
In Der Ossi und der Holocaust habe ich die Behauptungen von Anetta Kahane und Ines Geipel zum Umgang der DDR mit dem Holocaust untersucht und bin zum Schluss gekommen, dass beide Autorinnen entweder keine Ahnung haben oder lügen.
Die West-Gesellschaft des direkten Nachkriegs, die sich manisch schönputzte, die schier märchengleich Kohle machte und sich in ihrer Unfähigkeit zu trauern verpuppte. Die postfaschistische DDR der fünfziger Jahre dagegen wurde zur Synthese zwischen eingekapseltem Hitler und neuer Stalin-Diktatur, planiert durch einen roten Antifaschismus, der einzig eine Heldensorte zuließ: den deutschen Kommunisten als Überwinder Hitlers. Mit dieser instrumentellen Vergessenspolitik wurde im selben Atemzug der Holocaust für 40 Jahre in den Ost-Eisschrank geschoben. Er kam öffentlich nicht vor.
Im Blog-Post zeige ich recht deutlich, dass die Verbrechen an den Juden überall thematisiert wurden. In den Geschichtsbüchern der neunten Klasse, im Literaturunterricht, in Büchern, Filmen, Straßennahmen usw.
Beim taz-Lab gab es eine Podiumsdiskussion mit der Historikerin Katja Hoyer und dem Schriftsteller Marco Martin, bei der letzterer sagte, das mit der Geschichtsschreibung durch die Sieger im Vereinigungsprozess sei doch eine Mär, denn es gäbe doch auch ostdeutsche Stimmen wie Ines Geipel und Anne Rabe. Ich habe dann im Diskussionsteil darauf hingewiesen, dass Anetta Kahane und Ines Geipel keine glaubwürdigen Quellen seien, da sie entweder keine Ahnung hätten oder lügen würden, was zu großer Entrüstung führte. Leider kannte ich zu diesem Zeitpunkt eine Dokumentation des MDRs noch nicht, denn aus dieser geht hervor, dass Ines Geipel erhebliche Probleme mit der Wahrheit in Bezug auf ihr eigenes Leben hat. Auch die Zahlen der Dopingbetroffenen, die sie als Chefin der Dopingopferhilfe vertreten hat, hielten einer Überprüfung nicht stand.
Das ist der MDR-Beitrag:
Ines Geipel hat behauptet, dass die Stasi bei einer Blinddarm-Operation ihre Bauchmuskulatur und all ihre Organe zerschnitten habe.
Eine Unterleibsoperation 1984 bot die Gelegenheit, „sie zumindest für längere Zeit auf Eis zu legen“, wie sie aus den Akten zitierte. Ein Chirurg der Virchow-Klinik in Berlin stellte 2004, zwanzig Jahre nach der perfiden Tat, fest, was die Ärzte in der DDR ihr angetan hatten. „Mein gesamter Bauch war samt Muskulatur durchschnitten worden“, erfuhr sie. „Alle inneren Organe waren verletzt.“
In der Dokumentation wurde sie bei einem Sprint-Wettbewerb zwei Monate nach der OP gezeigt. Mit verletzten Organen läuft man keine 100m, weil man auch vor dem Wettkampf trainieren muss.
Den kompletten Bauch aufschneiden, wer glaubt in so einen Unsinn? Da könnte man nicht mehr laufen. Ich habe ja erst vor ein paar Tagen wieder gelesen, dass alle innere inneren Organe wurden verletzt. Das ist ein Unding. Das geht nicht und da kann man vor allen Dingen nicht sechs Wochen oder acht Wochen später laufen. Schlecht wie immer – aber gelaufen ist sie.
Bezüglich ihrer Blinddarmoperation gibt sie an, dass sie als Folge der durch die Stasi durchgeführten Operation keine Kinder mehr bekommen konnte (Einzelkämpfer bei 1:24:15). Laut MDR-Faktencheck (2023: 60) steht im OP-Bericht vom 17.01.2003 nichts von Verletzungen anderer Organe oder Verletzungen, die Kinderlosigkeit hätten verursacht haben können.
Geipel gibt mit Weltrekorden an und damit Olympionikin gewesen zu sein, sie hat aber nie eine gewonnen, ja, sie hat nicht einmal an einer Olympiade teilgenommen. Bei Sprint-Wettkämpfen landete sie trotz hoher Dopingwerte auf hinteren Plätzen. In die nationale Auswahl der Sprintstaffel kam sie nicht, weil es bessere Läuferinnen gab.
Nach Ausstrahlung der MDR-Doku legte Ines Geipel eine Programmbeschwerde ein (dokumentiert auf ihrer Web-Seite: Programmbeschwerde Doping und Dichtung). Diese ist eigentlich noch schlimmer, als das, was man aus der Doku erfährt, denn sie zeigt, wie Ines Geipel arbeitet. Mit bewussten Auslassungen, Verdrehungen und Manipulationen. Der MDR hat die Programmbeschwerde durch zwei renommierte Sportjournalist*innen prüfen lassen und auf 101 Seiten ist die ganze Ungeheuerlichkeit des Vorgangs dokumentiert. Die Autor*innen nennen Geipel darin eine Lügnerin und Hochstaplerin, die Wörter Unverfrorenheit und Dreistigkeit kommen vor. Nur ein Beispiel: In Geipels Stasi-Akte steht:
Dieser Darmverschluss ergab sich jedoch, da dies bei jungen Menschen noch der Fall ist oder möglich ist; ansonsten wäre eine weitere Operation nötig gewesen. Danach sollte Geipel wieder in ein Krankenhaus wegen ihrer .… Geschichte. Dies wäre die Chance gewesen, sie für längere Zeit auf Eis zu legen. Sie ist jetzt z.Z. in einer Phase der Rehabilitation …
BStU, nach Screenshot aus MDR-Doku.
Diese Aussage belegt, dass das eine Chance gewesen wäre, d.h. das Auf-Eis-Legen ist nicht erfolgt. Geipel lässt in ihren Zitaten das Wort gewesen einfach weg: „Das ist die Chance, sie für längere Zeit auf Eis zu legen.“ (In Einzelkämpfer, 2013: 1:26:15 kann man sehen, wie sie die Passage „vorliest“).
Man kann also schließen, dass Ines Geipel keine glaubwürdige Zeugin in Bezug auf die DDR-Geschichte ist.
Denn der verantwortungsvolle Umgang mit der Wahrheit gehört augenscheinlich nicht zu den Stärken der 62 Jahre alten Berlinerin.
Ich hatte ja in der Auseinandersetzung über den Umgang mit dem Holocaust in der DDR als Ergebnis die beiden Möglichkeiten „keine Ahnung“ und „lügen“. Theoretisch ist es immer noch möglich, dass Ines Geipel keine Ahnung in Bezug auf das Thema Holocaust hatte bzw. hat, aber die Lügen-Möglichkeit erhält mit dieser Information über Ines Geipel mehr Plausibilität.
Nachtrag
Die Dokumente auf Ines Geipels Web-Seite sind mir bekannt. Sie werden im Faktencheck in der Erwiderung auf die Programmbeschwerde gegen den MDR besprochen. Die von Geipel beigebrachten Dokumente widerlegen nichts von dem, was oben aus den Dokumentationen zitiert wurde.
Nachtrag 2: Manipulative Darstellung Nazis vs. Neulehrer
In ihrem Buch Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass schreibt Geipel auf S. 33 der e‑Book-Ausgabe: „Anfangs waren 80 Prozent der Lehrer im #Osten ehemalige Mitglieder der NSDAP.“ Diese Aussage ist eventuell wahr, wenn man die Zeit direkt nach dem Krieg betrachtet. Sie ist jedoch hochgradig manipulativ, da nichts weiter zu den Leher*innen gesagt wird. Es gab jedoch nach dem Krieg ein umfangreiches Neulehrer-Programm. Die Nazi-Lehrer*innen wurde entlassen. Manche durften nie wieder, andere erst erst Jahre später wieder als Lehrer*innen arbeiten. In Wikipedia steht unter Angabe von Quellen das Folgende zu Neulehrern:
Wurden im ersten Schuljahr noch einige Lehrer mit nationalsozialistischer Vergangenheit geduldet, so wurden die Richtlinien für den Verbleib im Schuldienst schrittweise verschärft. In den westlichen Besatzungszonen konnten einige Lehrer mit zweifelhaftem Hintergrund nach sogenannten „Entbräunungskursen“ ab 1947 wieder in den Schuldienst eintreten, während in der sowjetischen Besatzungszone das Neulehrerprogramm so umfangreich gestaltet wurde, dass große Teile der bisherigen Lehrerschaft von den rund 40.000 Neulehrern ersetzt wurden. Obschon die alte Lehrerschaft die Qualität einer höchstens einjährigen Umschulung anzweifelte, war aufgrund des zumeist akademischen Hintergrundes der Neulehrer das Ergebnis hinreichend gut und ermöglichte den sonst im Nachkriegsdeutschland aufgabenlosen Berufen eine feste Anstellung. Die große Mehrzahl der Neulehrer blieb auf Dauer im Schuldienst tätig.
In der sowjetischen Besatzungszone diente die Einstellung der Neulehrer auch dazu, die Kontrolle der SED über die Schulausbildung sicherzustellen. 1949 waren bereits 67,8 Prozent aller Lehrerstellen mit Neulehrern besetzt. 47,7 Prozent dieser Neulehrer gehörten der SED an, 13 Prozent der LDPD und 10 Prozent der CDU, die zu Blockparteien gleichgeschaltet waren. Damit war die Kontrolle der SED über das Schulwesen weitgehend erreicht.
Wikipediaeintrag zu Neulehrer, abgerufen am 11.11.2024.
Geipel schickt Ihre Leser*innen also bewusst auf den Holzweg.
Quellen
Geipel, Ines. 2019. Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass. Stuttgart: Klett-Cotta.
Ich habe schon im Beitrag über Kling Klang und den Osten darüber geschrieben, dass Zeitungsbeiträge die Ossis einfach nicht zur Leserschaft zählen. Es wird über sie geschrieben. Selbst in Fällen in denen die Autor*innen das eigentlich ändern wollen und auf eine bessere Verständigung und mehr Respekt hinarbeiten. Hier möchte ich ein paralleles Beispiel aus der Wissenschaft diskutieren.
Die Soziologin Prof. Jutta Allmendinger spricht über Kinderbetreuung und wie sich das alles bei „uns“ verändert und verbessert hat. Wie „wir“ mit gewissen Problemen umgehen und erwähnt dann lobend und vergleichend den Osten. Wenn man genau hinhört oder hinterher noch mal drüber nachdenkt, merkt man, dass der Osten nicht zu „wir“ gehört. Der Osten ist immer das Andere, das Abweichende. Etwas mit dem man sich vergleichen kann.
Wir sind halt keine doppelten Lottchen. Wir leben in unserer Gesellschaft. Wir können hier nur Vergleiche anziehn. Beispielsweise zu den ostdeutschen Ländern, wo immer noch es viel, viel selbstverständlicher ist, dass Frauen auch erwerbstätig, auch ganztags erwerbstätig sind.
Als Wissenschaftler*in müsste man sagen: Bei uns ist das so: Einerseits haben wir X im Westen und andererseits haben wir Y im Osten.
Dass es Unterschiede gibt, lässt sich nicht leugnen. Aber die gibt es auch zwischen Nord und Süd (zum Beispiel im Fleischverbrauch).
Viele Ossis wollten lange dazugehören. Jetzt haben sie aufgegeben. Die Schlumpfpartei hört ihnen zu. Alle anderen haben versagt. Versagen immer noch.
Und wie man sieht, ist das Ganze nicht nur ein Problem der (West-)Medien, sondern auch eins der Intelligenz, der wissenschaftlichen Elite.
In der taz vom 22.04.2024 gibt es einen Artikel über rechte Richter von Gera. Besprochen wird, dass zwei Richter Asylanträge signifikant häufiger ablehnen, als das im bundesweiten Durchschnitt der Fall ist.
In einem „Forderungspapier zur Justiz in Thüringen“ aus dem April 2022 beklagen neun Vereine aus der Flüchtlingshilfe eine „Entscheidungspraxis“ des Verwaltungsgerichts Gera in Asylverfahren, die „mindestens eine tendenziöse Rechtsprechung vermuten lässt“. Unter Rechtsanwälten sei es ein „offenes Geheimnis“, dass es dort fast unmöglich ist, Asylverfahren afrikanischer Kläger zu gewinnen. Im Fadenkreuz der Kritik stehen die Richter Fuchs und Amelung. MDR-Recherchen und eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag bestätigen die Praxiserfahrungen der Anwälte und Flüchtlingshelfer.
Außerdem sind Richter desselben Gerichts für Genehmigungen von Nazi-Veranstaltungen zuständig:
Die Asylrechtssprechung ist aber nicht der einzige Bereich, der in Gera Fragen aufwirft. Auch die Entscheidungspraxis des Präsidenten des Verwaltungsgerichts Gera, Michael Obhues, als Vorsitzender der 1. Kammer ist politisch umstritten. Diese hat einer Neonazi-Gruppe und der NDP (heute „Die Heimat“) über Jahre erstaunlich viel Raum für Demonstrationen, Protestaktionen und rechte Rockkonzerte eröffnet.
In Jena durfte die NPD Märsche im Gedenken an die Reichspogromnacht und an den Tod von Hitlerstellvertreter Rudolf Heß durchführen. Die Neonazi-Gruppe „Thügida/Wir lieben Ostthüringen“ durfte Hitlers Geburtstag am 20. April 2016 mit einem Fackelzug in Jena feiern. Das Gericht kassierte dabei immer wieder zuvor verhängte Versammlungsverbote des damaligen SPD-Oberbürgermeisters Albrecht Schröter.
Typisch für diese Gerichtsbeschlüsse ist, dass die Kammer den Vorträgen der braunen Anmelder eher glaubte als denen des Oberbürgermeisters – wenn sie zum Beispiel vorgaben, mit Demos die Meinungsfreiheit zu verteidigen oder gegen „linken Terror“ zu protestieren, obwohl sie tatsächlich Hitler oder Heß huldigen wollten. Dass die offiziell genannten Demonstrationsziele nur zur Tarnung vorgeschoben waren und die Proteste in Wirklichkeit Tarnversammlungen für braune Anliegen waren, hielten die Verwaltungsrichter in Gera für nicht hinreichend belegt.
Und wie Joachim Wagner feststellt: „Die Folge dieser Spruchpraxis: Zwischen 2006 und 2016 hatte sich Jena zur einem Protesteldorado für NPD und Neonazis entwickelt.“
Dasselbe Gericht hat entschieden, dass die AfD nicht wirklich verfassungsfeindlich sei, obwohl der Verfassungsschutz, der sich ja mit der Einordnung von Parteien als rechtsextrem auch nicht leicht tut, das nach jahrelanger Detailarbeit inzwischen herausgefunden hatte. Ein AfD-Sportschütze durfte seine Waffe behalten:
Hier kam die Kammer im August 2023 nebenbei zum Ergebnis, dass die Verfassungsschützer bislang nicht „tragfähig nachgewiesen“ hätten, dass der Thüringer AfD-Landesverband „erwiesen rechtsextremistisch“ sei. Der AfD-Sportschütze durfte seine Waffenbesitzkarte vorerst behalten.
Sehr guter Artikel. Es fehlten nur einige Details, die im Ost-West-Diskurs aber sehr wichtig sind: Wer sind diese Richter? Wo kommen sie her? Dr. Bengt-Christian Fuchs, Vizepräsident des Verwaltungsgerichts Gera, ist laut linkedIn-Profil Bankkaufmann und hat 1984–1986 in Hannover und London gearbeitet. Er ist außerdem Oberstleutnant der Bundeswehr. Dr. Bernd Amelung hat von 1982–1989 an der Georg-August-Universität Göttingen sein erstes Staatsexamen in Öffentlichem Recht gemacht. Michael Obhues, Präsident des Verwaltungsgerichts Gera, wurde in Erwitte/Westfalen geboren. Er studierte 1986–1992 an der Universität in Münster Rechtswissenschaften. Details zu seiner Karriere als Jurist findet man in den ThürVBl. 8/2006, S. III.
Steffen Mau hat in Lütten Klein festgestellt, dass Richter*innen im Osten meistens aus dem Westen sind:
In den wenigen Bereichen, wo die Ostdeutschen aufholen konnten, reden wir von Fortschritten im niedrigen einstelligen Prozentbereich: in der Richterschaft insgesamt von 11,8 auf 13,3 Prozent, bei den Präsidenten und Vizepräsidenten der obersten Gerichte sowie den Vorsitzenden Richtern der einzelnen Senate von 3,4 auf 5,9 Prozent. Jeweils in Ostdeutschland wohlgemerkt, nicht bundesweit.
Und so ist es auch in diesem Fall. Was ich mir von der taz wünsche, ist, dass die Herkunft von Nazis oder von Menschen, die Nazi-Aktionen ermöglichen, angegeben wird. Das ist wichtig, weil durch die Berichterstattung ohne diese Information das Klischee verfestigt wird, dass im Osten alles Nazis seien. Hier am konkreten Fall von Jena kann man sehen, dass die Wähler*innen einen SPD-Bürgermeister gewählt haben, der sich redlich mühte, die Nazis aus der Stadt zu halten, was aber durch Richter*innen aus dem Westen torpediert wurde.
Nach der Wende wurde die komplette Justiz und Polizei und auch der Verfassungsschutz von Westlern aufgebaut. Wie wir jetzt wissen, waren viele der involvierten Personen extrem rechts. (Maaßen war der gemäßigte Ersatz für jemanden, der mit dem NSU zu gut klargekommen war, und was Maaßen denkt, wissen wir ja nun ziemlich genau. Seine eigene Behörde stuft ihn als rechtsextrem ein.) Nazi-Parteien sind gezielt in den Osten gegangen, um dort Strukturen aufzubauen (siehe „Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern“: Kommentare zu einem Aufsatz von Patrice G. Poutrus, Jan C. Behrends und Dennis Kuck). Das alles sollte man wissen, wenn man darüber nachdenkt, warum die Machtverhältnisse im Osten jetzt so sind, wie sie sind. Der blühende Faschismus im Osten ist sicher nicht darauf zurückzuführen, dass wir Ossis alle nebeneinander auf dem Töpfchen gesessen hätten (Pfeiffer) und auch Anne Rabes Geschwafel von der Gewalttätigkeit in der DDR ist Unfug, wie ich in vielen Blog-Posts nachgewiesen habe (Sie interpretiert die Kriminalstatistik falsch. Aussagen über Amokläufe in Schulen sind falsch usw. usf.). Auch in Lichtenhagen waren am dritten Tag West-Nazis vor Ort und die gesamte verantwortliche Führung (Regierung und Polizeileitung) war trotz vorheriger Ankündigung der Ausschreitungen in Zeitungen im Wochenende und nicht erreichbar (Post dazu). Zu Anne Rabes Behauptungen siehe die Übersichtsseite mit Blogposts.
Man stelle sich nun die Gefühle eines antifaschistischen Menschen vor, der solche Artikel liest. Sie denkt: Erst kommen sie her und besetzen alle Stellen in der Verwaltung, um uns Ossis zu zeigen, wie es geht. Dann legen sie die komplette Industrie still, weil sie die Treuhand-Anstalt auch übernommen haben (Kahla Thüringen Porzellan wurde für 1 DM an einen windigen Rechtsanwalt verkauft, dessen einzige Qualifikation ein Bruder bei der Treuhand war.). Dann kommen Westler, gründen eine rechte, wirtschaftsliberale Partei, wo auch fast die gesamte Führung der ostdeutschen Landesvorstände in West-Hand sind (siehe Der Ossi ist nicht demokratiefähig. Merkt Ihr’s noch?). Dann radikalisiert sich diese Partei und die Gerichte im Osten, die mit Westler*innen bestückt sind, protegieren das. Den Ossis wird nach erfolgreichem Aufbau der Strukturen durch Westler vorgeworfen, dass sie alle Nazis seien. Und wenn dann über den Osten berichtet wird, werden die relevanten Fakten über die Herkunft der entsprechenden Nazis oder ihre Beschützer*innen nicht genannt und das Klischee weiter vertieft.
Die taz hat sich in den letzten Wochen und Monaten extrem verbessert, was die Berichterstattung über den Osten angeht. Wahrscheinlich hängt das auch mit dem kommenden taz-Lab zum Thema Osten zusammen. Ein besonderes Highlight ist der Beitrag von Dr. rer. pol. Ute Scheub Demokratie resonant machen über den Anschluss der DDR und vertane Chancen bei der Ausarbeitung einer gemeinsamen Verfassung.
Zu einer Sache, die immer wieder passiert und die viele Ossis ärgern dürfte und die auch jetzt noch – trotz geschärfter Sinne – passiert, möchte ich etwas sagen. Frankfurt. In der taz vom 20.04.2024 schreibt Bernd Pickert zum Thema Mixed Martial Arts (MMA):
Da ist Katharina Dalisda aus Frankfurt, studierte Sportökonomin mit Bürstenschnitt und Blumenkohlohren, eine der aufstrebenden Frauen in den deutschen MMA,
Katharina Dalisda ist aus Frankfurt am Main. Der Fluss wird aber nicht genannt. Es gibt in der BRD zwei Frankfurte: Frankfurt am Main und Frankfurt an der Oder. Das Problem ist, dass das Ost-Frankfurt komplett ignoriert wird. Nun könnte man sagen, Frankfurt/M. ist viel größer, ein industrielles, kulturelles und politisches Zentrum and nothing important ever came from Frankfurt (Oder). Aber das ist nicht richtig: Frankfurt O. war eine der 15 Bezirkshauptstädte in der DDR und ist aus Sicht der taz von Berlin aus viel näher gelegen. Das könnte die Wichtigkeit des anderen Frankfurts ausgleichen, aber selbst wenn man das nicht weiß oder wenn es einem egal ist, sollte man doch als Journalist, der zum Thema Spor, insbesondere Mixed Martial Arts, schreibt, schon von Frankfurt gehört haben.
Frankfurt O. war und ist eine Sportstadt. Der Armeesportklub Frankfurt hat zu DDR-Zeiten dort trainiert und es gibt dort jetzt auch einen Bundeswehrsportstützpunkt. Massenhaft Olympiasieger kommen aus Frankfurt O. Sieger*innen im Boxen, im Judo und im Ringen (siehe Sportzentrum Frankfurt). Allen, die in den 90ern irgendwas mit Sport zu tun hatten, dürften Henry Maske und Axel Schulz ein Begriff sein, die beide aus der Boxtradition hervorgegangen sind (trainiert von Manfred Wolke). Auch Menschen, die ansonsten mit dem Boxen nichts am Hut hatten, kannten die beiden. Ihre Boxkämpfe hatten Rekordeinschaltquoten.
Also, wenn eins der beiden Frankfurts hier der Default ist, dann ist es wohl Frankfurt O. Da Katharina Dalisda aus Frankfurt/Main ist, hätte das kenntlich gemacht werden müssen.
Es ist eine Kleinigkeit, aber diese Kleinigkeit zeigt: Der Osten ist in den Redaktionen nicht präsent. Viele Menschen gendern, weil sie es nicht ausreichend finden, dass Frauen nur mitgedacht werden anstatt mitrepräsentiert und mitgenannt zu werden. Der Osten, selbst wenn er direkt vor der Tür liegt, wird nicht mitgedacht. Über den Osten wird bzw. wurde nur geschrieben, wenn es irgend etwas Negatives zu vermelden gibt. Das ändert sich gerade bei der taz so ein bisschen. Hoffen wir, dass das auch nach dem taz-Lab so bleibt.
Während der Arbeit am Beitrag Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück habe ich mir den Wikipedia-Eintrag zum KZ Lichtenburg angesehen. Mein Großonkel war dort ein Jahr und neun Monate eingesperrt. Es gibt dort Listen mit den Lagerkomandanten und den Schutzhaftlagerführern. Die Schutzhaftlagerführer waren die, die die Häftlinge bewachten. Sie unterstanden dem Lagerkommandanten. Ich habe mir dann den Spaß gemacht, nachzuschauen, wer die Nazis waren, die in der Zeit verantwortlich waren, als mein Großonkel dort eingesessen hat, und was aus ihnen geworden ist. Wikipedia ist ein fantastische Ressource! Hier ist das Ergebnis:
Lagerkommandanten
Die Lagerkommandanten waren:
SS-StandardtenführerOtto Reich. Wikipedia sagt: „Reich wurde nach Kriegsende juristisch nicht belangt.“ Reich ist 1955 in Düsseldorf gestorben.
SS-Standartenführer Hans Helwig, gestorben 1952 in Hemsbach, Baden-Württemberg. „Helwig starb 1952, ohne dass es zu einer strafrechtlichen Verfolgung seiner Tätigkeit in den Konzentrationslagern gekommen war.“
Der wurde wenige Tage vor der Befreiung Buchenwalds durch die Nazis selbst hingerichtet. Das wusste ich bisher nicht. Es gab ein Korruptionsverfahren gegen ihn. Himmler hatte ihn erst geschützt, aber dann war es doch zu viel. Er hat Zeugen ermordet.
Remmert wurde verurteilt: „wegen Körperverletzung im Amt“. 1934!
Wikipedia schreibt: „In der zeitgenössischen Presse wurde über das Verfahren nicht berichtet. Es handelte sich um ein weitestgehend nach rechtsstaatlichen Grundsätzen ablaufendes Verfahren. In der Folge befahl Adolf Hitler, dass weitere zu den Misshandlungen im KZ Esterwegen laufende Ermittlungen eingestellt werden sollten.“
„Von 1946 bis 1948 war er interniert; anschließend wurde er wegen seiner SS-Zugehörigkeit zu einem Jahr Gefängnis verurteilt; seine Internierung wurde jedoch angerechnet, sodass er freikam. 1950 wurde er wegen der Misshandlung weiterer Häftlinge zu drei Jahren Haft verurteilt; er kam im April 1954 frei.“
„1955 fällte das Schwurgericht des Landgericht München II am 14. Januar ein Urteil: lebenslängliche Haft wegen „Anstiftung zum Mord im KZ Dachau“.“
Auswertung des Schnelltests
Das Ergebnis dieser Kurzüberprüfung aus privatem Interesse ist:
1) Die Nazis, die mit Lichtenburg zu tun hatten, sind nach Kriegsende alle (!) in den Westen gegangen.
2) Viele von ihnen haben dort fröhlich bis an ihr Lebensende gelebt. Sie wurden nicht angeklagt und nicht verurteilt oder bekamen Haftstrafen von wenigen Jahren.
Das entspricht dem, was Ossis in der Schule gelernt haben, und ist irgendwie auch nicht verwunderlich. Als Nazi hätte ich auch Angst vor den Russen gehabt.
Nazis in der SED
In der Diskussion auf Mastodon über Anne Rabes Buch „Die Möglichkeit von Glück“ gibt es einen Nutzer, der meine Argumentation nicht versteht. Er hat mich auf eine Publikation des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags von 2019 hingewiesen, in der der Anteil der NSDAP-Mitglieder in der SED diskutiert wird. In dieser Kurzmitteilung findet man Folgendes:
Einen ersten repräsentativen Überblick über die frühere Zugehörigkeit der Parteimitglieder zur NSDAP und deren Gliederungen verschaffte sich die Parteizentrale Anfang 1954. Demnach hatten zu diesem Zeitpunkt 96844 Mitglieder (= 8,6%) und 9533 Kandidaten(= 9,3%) früher der NSDAP angehört.
Diese Information ist interessant. In Wikipedia steht noch ein bisschen mehr dazu:
Nach dem 17. Juni 1953, in dessen Folge es bis zum März 1954 zu 23.173 Parteiausschlüssen kam,[43] wurde von der Abteilung Parteiorgane des Zentralkomitees einmalig auch der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder an der SED-Mitgliedschaft ermittelt.[44] Demnach hatten zu diesem Zeitpunkt 8,7 % (106.377) der SED-Mitglieder und ‑Kandidaten vor 1945 der NSDAP angehört. Regional war dieser Anteil aus bislang nicht abschließend geklärten Gründen sehr ungleichmäßig verteilt; in Berlin lag er bei lediglich 4 Prozent, in Thüringen in einzelnen Kreisorganisationen dagegen bei bis zu 25 Prozent. Diese SED-Mitglieder mit NS-Vergangenheit lassen sich nach dem Forschungsstand von 2021 in der Hauptsache zwei Gruppen mit unterschiedlichen Profilen zuordnen. Zum einen handelte es sich um jüngere Männer, die nach einer Vergangenheit in der Hitlerjugend während des Zweiten Weltkrieges Mitglieder der NSDAP geworden waren, zum anderen um Leitungspersonal in Betrieben und Verwaltungen, das von der Entnazifizierung nicht erfasst worden war. Die Integration der zuletzt genannten Gruppe war mit erheblichen Spannungen verbunden; vor allem während der 1950er Jahre kam es immer wieder zu „Konflikten zwischen Altkommunisten und Wirtschaftsfunktionären“, die „als ehemalige NSDAP-Mitglieder der SED beigetreten waren und weiterhin wie lokale Honoratioren auftraten“.
Man kann die Zahl der Mitglieder nun mit der Anzahl der NSDAP-Mitglieder in Gesamtdeutschland vergleichen. Im Mai 43 waren 7.700.000 Menschen in dieser Partei. Das waren 11% der Deutschen. Wenn 8,6% der SED-Mitglieder in der NSDAP waren, dann muss die Gesamtzahl der Mitglieder bei 1.126.093 gelegen haben. 1954 lag die Einwohnerzahl bei 18.002.000. Geht man davon aus, dass die NSDAP-Mitgliedschaft gleichmäßig über das Deutsche Reich verteilt ist, müssten 1.980.220 Menschen auf DDR-Gebiet in der NSDAP gewesen sein. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Zahl nicht korrekt ist, denn in den Jahren vor 1954 haben schon Hunderttausende die DDR bzw. die SBZ verlassen. Darunter sicher auch viele Nazis. Wahrscheinlich überproportional viele Nazis. Wenn man jetzt trotzdem mit 1.980.220 weiterrechnet, kommt man darauf, dass 5,4% der NSDAP-Mitglieder in die SED aufgenommen wurden.
Am 15. Juni 1946 fasste das Zentralsekretariat den grundlegenden Beschluss zur Öffnung der Partei für „nominelle Pgs“ und hob damit einen Unvereinbarkeitsbeschluss auf. Die Aufnahme konnte nun nach „individueller Beurteilung in den Parteiorganisationen“ erfolgen; bei der Entscheidung berücksichtigt werden sollten insbesondere Jugendliche und „die aktive Betätigung des Betreffenden gegen Hitler“.
Wie weit jetzt die individuellen Beurteilungen in den Parteiorganisationen der SED korrekt waren, kann ich nicht wissen, aber dass es in Betrieben vor 1945 Leitungspersonal gab, das in die NSDAP eingetreten war, um dort präsent zu sein, weiß ich aus dem familiären Umfeld einer antifaschistischen Familie. Der Hintergedanke war, dass man frühzeitig über eventuell für die Firma bedrohliche Entwicklungen informiert war. Aus der entsprechenden Fabrikleitung ging eine von drei Personen ungern in die Partei.
So, davon kann man jetzt halten, was man will. Wichtig ist, welche NSDAP-Mitglieder in Führungspositionen gelangten. Und dafür gibt es glücklicherweise eine Liste in Wikipedia: Liste ehemaliger NSDAP-Mitglieder, die nach Mai 1945 politisch tätig waren. Dieser Liste kann man entnehmen, dass fast ausschließlich in West-Deutschland Nazis in hohe Positionen gekommen sind. Die NSDAP-Mitglieder, die im Osten aktiv waren, waren vorher bei den Russen in Umerziehungsprogrammen gewesen und haben teilweise noch im Krieg aktiv gegen Nazi-Deutschland gekämpft. Im Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD). Leider ist die Liste nicht vollständig, aber Kurt Blecha und Günther Kretzscher, die auf der Liste noch fehlen, waren ebenfalls im NKFD und haben aktiv gegen die Nazis gekämpft. Günter Kertzscher war sogar Gründungsmitglied des NKFD. Auf der anderen Seite gab es Globke, der als Jurist prominent im Nationalsozialismus an Rassengesetzen mitwirkte, und andere hohe Nazis, die auch im Westen wieder hohe Positionen belegten.
Neuere Forschungen in einem Sonderforschungsbereich haben ergeben, dass in Thüringen 14% der SED-Funktionäre in leitender Funktion ihre NSDAP-Mitgliedschaft die gesamte DDR-Zeit geheim halten konnten (Novy, Beatrix. 2009). Die relevante Gruppe bestand aus 262 Personen. 14% davon sind 36. Die Wissenschaftler*innen haben 3 von 15 Bezirken der DDR untersucht und vermuten, dass in Mecklenburg-Vorpommern noch mehr Personen betroffen sein könnten, weil die Vertriebenen dort ohne Papiere ankamen. Multipliziert man also 36 mit 5 und legt noch ein bisschen was drauf für die Vertriebenen im Norden, so kommt man auf 180+20 oder 180+70. Das wären dann 250 NSDAP-Mitglieder, die sich unerkannt durchgemogelt haben. Wie Dietmar Remy sagt, sagt das nichts darüber aus, was sie als NSDAPler gemacht und gedacht haben. Es wurde nur die Tatsache festgestellt, dass sie in der NSDAP waren und das nicht angegeben hatten. Teilweise hatten ihnen wohl ältere Genossen gesagt, dass das ok sei (Novy, Beatrix. 2009). Jedenfalls handelte es sich nicht um Menschen vom Kaliber Globkes. Die hätten das nicht geheim halten können.
Sag mir, wo die Nazis sind! Wo sind sie geblieben?
Als kleines Kind hatte meine Frau gelernt, dass in Deutschland die Nazis geherrscht hatten. Sie hatte dann ihre Mutter gefragt, wo denn die Menschen von früher seien. Nein, die Nazis waren nicht alle weg. Aber die schlimmen Nazis waren weg. Sie lebten entweder im Westen friedlich vor sich hin (siehe oben und Das SS-Lagerpersonal von Buchenwald) oder wanderten über die Rattenlinie, unterstützt von westlichen Geheimdiensten und dem Vatikan, nach Südamerika aus, wo sie bei der Niederschlagung linker Revolutionen gern gesehene Experten für Folter und Zerstörung waren (Harrasser, 2022).
Dieser Mann lebt noch heute:
In Nordstemmen in Niedersachsen. Er wurde in Frankreich wegen seiner Verbrechen zum Tode verurteilt, aber da es kein Auslieferungsabkommen gab, wurde er nicht ausgeliefert und er konnte auch nicht in der Bundesrepublik erneut angeklagt werden, weil es rechtlich nicht möglich ist, für dasselbe Verbrechen zweimal vor Gericht gestellt zu werden. Tja. Jetzt wird er von Neonazis gefeiert und findet das toll: Er bereut nichts.
Wenn es im Osten noch ehemals prominente Nazis gab, dann haben die wenigstens die Hufe stillgehalten. Parteien wie die Sozialistische Reichspartei gegründet haben sie jedenfalls nicht.
To do Anteil der NSDAP-Mitglieder in Parteien der BRD.
Ich habe das hervorragende Buch von Lutz SeilerStern 111 gelesen. Es handelt von einem jungen Mann aus Gera, der nach Berlin aufbricht, nachdem seine Eltern am Tag der Maueröffnung in den Westen gegangen sind. Das Schicksal seiner Eltern in Aufnahmelagern und bei ersten Jobs wird beschrieben. Folgenden Ausschnitt habe ich mir markiert und auch auf Mastodon gepostet:
Ohne Zweifel gab es Kursteilnehmer, die über UNIX ein paar Dinge fragen konnten, die Walter Bischoff nicht wusste. Sie ließen es ihn spüren, sie versuchten, es ihm zu beweisen. „Das Wichtigste wird sein, dass niemand erfährt, woher du kommst, eigentlich“ — das hatte Karajan gesagt, Cheftrainer von CTZ. Karajan hatte Walter gezeigt, wie das Kursmaterial beschaffen sein sollte, welche Technik ihn vor Ort erwarten und wie sie gehandhabt werden musste. Das Aufwendigste waren die Folien für den Overhead-Projektor. Jeder Kurs war eine Folienwüste. „Ein Ostler, verstehst du, Walter — viele ertrügen das nicht, bei 1000 Mark Kursgebühr pro Tag“, hatte Karajan gesagt.
Lutz Seiler, 2020: Stern 111, Suhrkamp
Diese Abwertung und Arroganz. Sowohl durch den Chef der Ausbildungsfirma als auch durch die Auszubildenden. Ich selbst habe diese Abwertung nie erfahren, aber die Mehrheit der Ostdeutschen wohl schon. Viele Westdeutsche wundern sich, warum die Dinge so laufen, wie sie jetzt laufen, aber sie verstehen immer noch nichts.
Bei der Diskussion auf Mastodon hat mich jemand auf einen Podcast hingewiesen, in dem Andreas Baum und Andi Arbeit über Stern 111 sprechen. Andi Arbeit äußert dann irgendwann folgendes:
Und ich glaub, bei so Akademikereltern stellt sich dann ja auch raus, dass der Vater – wie man sich kaum vorstellen kann – irgendwelche Programmiersprachen kann, mit denen er dann bis in LA irgendwelche wilden Software-Programme irgendwie entwirft und wo man sich auch fragt: Mein Gott, woher konnte der das? In Jena oder irgendwo in irgend ner Uni hat er dann C+ oder C++, ich weiß auch nicht genau, wie die heißt, alles Mögliche gelernt, was ihn dazu befähigt hat, überhaupt dieses Leben zu führen.
Hätte ich nicht beim Abwaschen gestanden, wäre ich wohl vom Stuhl gefallen. Über dreißig Jahre später kommt da dieselbe Arroganz zum Vorschein, die es auch 1989 gab und die im Buch beschrieben ist. Und Andi Arbeit hat es wahrscheinlich nicht einmal selbst bemerkt. Mein Gott, woher konnte der das? Als Ossi! C+ oder C++ oder wie das heißt. Das kann man sich ja kaum vorstellen, dass irgendeiner von diesem nichtsnutzigen Pack zu irgendwas gut war.
Mal schnell noch zwischendurch, bevor wir zum eigentliche Inhalt hier kommen. In der Syntax von C und auch anderen Programmiersprachen gibt es eine Nachfolgerfunktion. Man kann also statt c = c + 1; auch c = c++; oder einfach gleich c++; schreiben. Damit wird der Wert der Variable c um eins erhöht. Die Programmiersprache C++ ist der Nachfolger von C. Eine Weiterentwicklung.
Also: Also! Los.
Karl Marx und ich
Über Karl Marx haben wir in der Schule gelernt, dass er acht Sprachen konnte. Ich habe mich als junger Mann darüber gefreut, dass ich mehr Sprachen als Marx beherrschte. Die meisten davon waren allerdings Computersprachen. Ich konnte BASIC, Pascal (Turbo Pascal), C, C++, ReDaBas (Ost-Kopie von DBASE) und forth. Außerdem konnte ich Z80 Assembler programmieren. Ich kannte mich mit CP/M und Unix aus und hatte mit programmierbaren Taschenrechnern von Texas Instruments (Umgekehrte Polnische Notation, yes), Home-Computern (ZX81, C20, C64, C128, Z9001, KC 85/2) und an russischen Prozessrechnern wie der SM‑4 (Nachbau der PDP-11 von DEC) gearbeitet. Alles noch vor dem Studium. Wie war es mir nur gelungen, dieses Wissen zu erwerben? Als Ossi????
Homecomputer und Computerclubs
In den 80er Jahren kamen die ersten Homecomputer auf. Der ZX80 kostete 100£ und das Nachfolgemodell, der ZX81, fand auch seinen Weg nach Ostdeutschland. Liebe Westverwandte brachten einen mit, manche Arbeitsgruppen hatten solche Westgeräte. Später fand der C64 auch in ostdeutschen Kinderzimmern weite Verbreitung. Mit meinem Freund Peer bekam ich einen Ferienjob bei einem Wissenschaftler in einer Lungenklinik in Buch. Er hatte zwei C64 und auch das Vorgängermodell Commodore VC20. Unser Job war es, Programme aus der Zeitschrift 64er einzugeben. Diese Maschinenspracheprogramme waren dort in Hexadezimalcode abgedruckt. Endlose Zeichenkolonnen. Wozu die Lungenklinik Computerspiele brauchte, war uns nicht ganz klar, aber wir durften die Programme dann auch selbst haben und bekamen noch Geld. Diese Programme bildeten den Grundstock eines Tauschimperiums für Computerspiele, die dann im Haus der Jungen Talente in größeren Tauschkreisen noch vermehrt wurden (Don’t ask about copyrights. War halt ne Mauer dazwischen.). Der Punkt ist: Es gab West-Computer, es gab West-Zeitschriften, die bis zur absoluten Materialermüdung gelesen und weitergegeben wurden. Es gab auch Computer-Bücher von Data-Becker zum Beispiel, die von hilfsbereiten Omas oder Opas über die Grenze gebracht wurden. Es gab Computerclubs und es gab Veranstaltungen für Schüler*innen, bei denen man auch programmieren lernen konnte. Diese Heimcomputer hatten meist einen BASIC-Interpreter dabei, so dass alle BASIC lernen konnten.
Nachtrag 22.07.2024: Peer hat Stasi-Unterlagen zur Computerszene in der DDR gefunden. Diese bestätigen sehr schön, was ich hier geschrieben habe und geben auch Zahlen zum Umfang der Szenen. Die Stasi spricht von zehntausenden Computerbesitzern.
Universitäten und Forschungseinrichtungen
Meine Mutter hat Astrophysik studiert, mein Vater Physik. Im Rahmen des Astrophysikstudiums wurden die Student*innen auf dem Zeiss-Rechenautomat 1 (ZRA1) ausgebildet. Mein Vater hat, obwohl das eigentlich nur für die Astrophysiker*innen Pflicht war, auch in dieser Veranstaltung programmieren gelernt. Das war 1964/1965. Während der Mütterkur nach meiner Geburt 1968 lernte meine Mutter COBOL. Sie war nicht ganz sicher, welche Programmiersprache sie brauchen würde. Es stellte sich heraus, dass das die falsche Sprache gewesen war und sie Fortran brauchte, aber auch das war dann kein Problem. Über 20 Jahre später, nach der Wende, wurde meine Mutter entlassen. Sie arbeitete dann in der Weiterbildung für Frauen und brachte ihnen Programmieren bei. In COBOL. Meine Eltern arbeiteten beide an der Akademie der Wissenschaften in der Molekularbiologie an einem Großrechner, der BESM‑6. Noch während der DDR-Zeit lernte meine Mutter auch BASIC und C. Meine Eltern hatten in der Akademie der Wissenschaften Zugriff auf die Fachzeitschriften aus dem Westen. Mein Vater hat zu hause mit einem programmierbaren Taschenrechner von Texas Instruments gearbeitet, den sein Schwiegervater aus dem Westen mitgebracht hatte. Programme wurden auf Magnetkarten gespeichert. Mein Vater konnte MOPS (Maschinenorientierte Programmiersprache für den Robotron 300), alle Fortran-Varianten und Algol 60.
Meine Mutter hat mich auch schon als Schüler zu Kollegen mitgenommen, die Computer zusammen gebaut haben. Ich erinnere mich an Büros mit offenen Computern, wo ich die Platinen sehen konnte. Die Laufwerke.
Ich hatte das Glück, auf die Spezialschule mit mathematisch-naturwissenschaftlicher Ausrichtung Heinrich-Hertz gehen zu können. Dort hatten wir zu Beginn (1982) ebenfalls programmierbare Taschenrechner von Texas Instruments. Später kamen Z9001 dazu, die ersten Heimcomputer der DDR. Die Heinrich-Hertz-Schule ist sogar im Wikipedia-Artiekl über den Z9001 erwähnt. Unser Computerkabinett wurde mit Computern aus den ersten 100 Stück ausgestattet. Mit diesen Rechnern hatten wir speziellen Informatikunterricht, den es an anderen Schulen nicht gab. Wir lernten Grundlagen wie bestimmte Algorithmen und Programmablaufpläne. Mit Peer bekam ich eine Einzelbetreuung im Rechenzentrum der Humboldt-Uni. Wir konnten direkt am Hauptcomputer der HU arbeiten, was die Student*innen zu der Zeit nicht durften. Sie mussten Lochkarten stanzen und diese dann zum Rechnen abgeben. In der elften und zwölften Klasse gab es ein Unterrichtsfach Wissenschaftlich-praktische Arbeit. Die Hertz-Schule hatte Verträge mit dem Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse der DDR (ZKI). Peer, ich und ein Junge aus der Nachbarklasse konnten in der UNIX-Arbeitsgruppe arbeiten. Sie arbeiten an MUTOS. Das war eine UNIX-Variante, die ihren Weg über Österreich-Ungarn in den Ostblock gefunden hatte. Embargotechnik, aber für Geld … Im ZKI habe ich C gelernt. Der Wissenschaftler, der es mir beigebracht hat, meinte zu BASIC: „Wer BASIC gelernt hat, ist versaut für’s Leben!“ Ich habe dann die Arbeit am ZKI der Arbeit im Rechenzentrum der HU vorgezogen, denn die Rechner im ZKI waren besser. Der theoretische Teil in der HU war aber toll. In der HU wurde auch das folgende Dokument ausgedruckt:
Das war eine Version des Standard-Buches über C von Kernighan & Ritchie aus dem Jahre 1978. Es wurde für mich auf einem Paralleldrucker ausgedruckt. Der Drucker hatte Typenräder und es wurde je eine Zeile gedruckt. Leider waren die Typenräder nicht gut synchronisiert. Das wurde aber durch das Ruckeln der Straßenbahnen ausgeglichen.
Im ZKI konnten Peer und ich die Bibliothek benutzen und hatten darüber Zugriff auf Computer und Wissenschaftszeitschriften (mc – Die Mikrocomputer-Zeitschrift, c’t, Chip, Bild der Wissenschaft). Die aktuellen Ausgaben waren oft ausgeliehen, aber wir lasen auch alte Ausgaben gern. Peer sorgte auch dafür, dass wir an die Fachzeitschriften in der Berliner Stadtbibliothek drankamen: Nach einem Briefwechsel inklusive Leserbrief an die Berliner Zeitung hatten wir irgendwann ein Gespräch mit dem Direktor der Bibliothek. Ich habe dort als Schüler auch Bücher über die Grundlagen der Hardware von Computern gelesen. Diese Bücher waren ganz normal für alle auch ohne Sondergenehmigung ausleihbar.
Bei der Armee konnte ich dann letztlich auch mit Computern arbeiten. Ich habe mit Redabas (ein geklautes Ostblock-DBASE) und dann mit Turbo-Pascal gearbeitet. Um in die Computergruppe reinzukommen (lief wohl irgendwie über die ZKI-Connection, die Kontakte nach Strausberg hatten, wo auch MUTOS verwendet wurde), musste ich nachweisen, dass ich das entsprechende Wissen hatte. Ich arbeite nach Dienst an einem Programm für den KC85/2 in Assembler. Die KC85/2 hatten einen U880-Prozessor. Das war die Ost-Variante des Z80.
Zusammenfassung: Es gab im Osten Computer. Die liefen mit denselben Programmiersprachen wie im Westen. Wir hatten Zugriff auf die West-Literatur. Mitunter lief die Literaturbeschaffung etwas holperig, aber man kam dran. Mitunter waren die Ausdrucke etwas holperig, aber man kam zurecht. Wissenschaftler*innen aus ganz verschiedenen Disziplinen haben mit Computern gearbeitet. Allein in meiner Familie war es Physik, Astrophysik, Molekularbiologie, Kristallografie. Das Militär hatte Computer. Nach der Wende arbeitet ich als Studentische Hilfskraft bei der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung für Computerlinguistik von Prof. Jürgen Kunze. Die Arbeitsgruppe gab es – soweit ich weiß – seit den 70er Jahren. Sie hatten Computer und haben diese programmiert. Überraschung.
Informatik als eigenes Fach gab es erst relativ spät. Es gab ab 1987 an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Studiengang für Mathematische Informatik. Das war das komplette Mathestudium plus zusätzliche Informatikkurse. In diesem Studiengang habe ich 1989 angefangen zu studieren. In Dresden gab es noch technische Informatik. Dort ging es mehr um die Hardware von Computern.
In Frankfurt/Oder gab es ein Halbleiterwerk, das den Osten versorgt hat. Es brach zusammen, am Tag der Währungsunion, weil der Ostblock keine West-Währung bezahlen konnte. In Sachsen gab es ebenfalls Halbleiter-Industrie. Die NZZ schreibt zur Zeit nach der Wende:
In den 1990er Jahren habe man deshalb die richtigen Fachkräfte gefunden, und die Universitäten seien darauf ausgerichtet gewesen, diese Fachkräfte auszubilden.
Das heißt, es gab qualifiziertes Personal und es gab Universitäten, die die Menschen ausgebildet haben.
Nachtrag 22.07.2024: In den schon erwähnten Stasi-Unterlagen werden auch Besitzer privater Computer erwähnt, die einen beruflichen EDV-Hintergrund haben.
Das sind nur die Personen, die zusätzlich zu ihrer Arbeit mit Computern auch privat über einen Computer verfügten. Obwohl meine Eltern beide mit Rechnern arbeiteten, hatten sie bis auf einen programmierbaren Taschenrechner keine privaten Computer. Das heißt, die Zahl der Personen mit EDV-Berufen war größer.
Schulbildung
Die Schulbildung war im naturwissenschaftlichen Bereich besser als die im Westen. Sagt man. Mein Sohn hatte einen guten Mathelehrer, der auch schon zu Ostzeiten Lehrer war. Er hat zur Vorbereitung auf die MSA-Prüfung die Schüler*innen Aufgaben für die Prüfung nach der 10. Klasse in der DDR rechnen lassen. Mein Sohn meinte, dass die viel, viel schwieriger waren als die aktuellen Aufgaben.
Im Einigungsvertrag wurden alle Ost-Abitur-Abschlüsse um eine Note heruntergestuft. Ich stelle mir gerade vor, wie der West-Verhandlungsführer, dessen Name ich vergessen habe, mit dem Ost-Verhandlungsführer, dessen Name ich vergessen habe, gesprochen hat: „Also, Herr X, Sie müssen schon einsehen, dass die Ossis alle ein bisschen döofer als die Wessis sind.“ „Ja, ehm, hm, Herr Y, da haben sie schon Recht. Wäre es ok, wenn wir die Abiturnoten aller Ossis um eine halbe Note nach unten korrigieren?“ „Nein, die sind noch viel döofer. Also das muss mindestens eine ganze Note sein.“ „Ok.“ (Mister X zu sich selber: „Sag ich doch, die sind doof.“)
Aber jetzt mal Spaß beiseite. Die empirische Grundlage dieses Beschlusses würde mich schon interessieren. Wie wurden die Vergleichsstichproben bestimmt? So?
Aber das kann es nicht gewesen sein, denn diese Form der Bestenermittlung fand erst statt, als der Einigungsvertrag unter Dach und Fach war.
Das Ergebnis war jedenfalls, dass alle Ossis schon mal schlechtere Chancen hatten, wenn sie sich mit Westlern messen mussten. Und das mussten viele. Millionen haben nach der Wende das Land (den Osten) verlassen, denn sie wurden dort arbeitslos, weil ihre Betriebe geschlossen wurden oder sie einfach aus den Universitäten und den Forschungseinrichtungen rausgeworfen wurden. („Von den 218.000 Wissenschaftlern der ehemaligen DDR verlor die Hälfte ihre Stelle. Bei den Professoren waren es nach Zahlen der britischen Zeitschrift Nature sogar zwei Drittel.“ Peter André Alt, Berliner Zeitung, 06.11.2019)
Es gab übrigens zwei Schulen im Osten, deren Abitur nicht abgewertet wurde. Eine davon war meine. Ich bin also nicht betroffen. Ich bin also kein Jammer-Ossi. Bis 2013 war mir das ganze Ost-Thema Wumpe. Die DDR war nichts meins, ich habe ihr nicht nachgeweint. Ich bin Professor, mir geht es gut. Bis 2019 habe ich auch nichts gesagt. Jetzt spreche ich für andere. Ich hoffe, irgendwer versteht das und irgendwem nützt das.
Nachtrag 08.01.2024. Es gab Nachfragen bezüglich der Herabstufung der Abiturnoten. Im Einigungsvertrag war das nicht geregelt, aber ich habe zwei Artikel zu dem Thema gefunden. Einen im Spiegel (Drüben war es leichter) und einen in der taz (Zwei Bundesländer erkennen DDR-Abitur nicht an). Noch zum Hintergrund: In der DDR konnten pro Klasse zwei bis drei Schüler*innen Abitur machen, wobei die Klassenstärke um die 30 lag.
In unseren Klassen erhielten von knapp dreißig Kindern gerade mal zwei bis drei eine Empfehlung für die Erweiterte Oberschule, so dass Lehrer gut daran taten, frühzeitig zu signalisieren, wen sie dafür im Auge hatten.
Mau, Steffen, 2019, Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp Verlag S. 55.
In meiner Klasse waren 31 Schüler*innen. Die Studienplatzvergabe erfolgte nach volkswirtschaftlichem Bedarf. Wenn man einen Studienplatz bekommen hat, hatte man dann auch die Arbeitsstelle sicher. Das war ganz anders, als das im Westen ist, wo es hunderte Student*innen im Bereich Literaturwissenschaft und habilitierte Taxifahrer*innen gibt.
Zusammenfassung
Liebe Wessis, wir wussten alles über Euch. Wir fanden Euch interessant. Euer Leben haben wir im Fernsehen gesehen und das der Amis. Wir haben Eure Bücher gelesen. Die Romane und die Fachbücher. Das war noch viel spannender, wenn sie schwer zu bekommen waren. Wir wussten alles über Euch, aber Ihr nichts über uns. Und das ist zum Teil leider auch über 30 Jahre nach dem Anschluss der DDR immer noch so. Shame on you. Also jedenfalls on ein paar von Euch. On those, who immer noch solchen Müll in Zeitungen schreiben, in Podcasts sagen oder sonst wie verbreiten. Wundert Euch nicht, wenn das keiner mehr will bzw. immer noch keiner will.
Und noch etwas: Redet über uns, als wären wir dabei. Das reicht vielleicht schon. Wobei, Andreas Baum ist ja aus dem Osten und Andi Arbeit hat dennoch so gesagt, was sie gesagt hat.
Immerhin haben ja alle bis zum Ende gelesen. =:-) Stay tuned, bis zum nächsten Rant.
Nachgedanken
Mir fallen immer noch nachträglich Dinge ein. Zum Thema „doofe Ossis“ noch drei Punkte: 1) Prof. Dr. Manfred Bierwisch war der erste Deutsche, der im Rahmen von Chomskys Transformationsgrammatik gearbeitet hat. Und zwar ab 1959, lange, lange vor dem Westen. Jahrzehnte. Bierwisch hat 1963 die erste Transformationsanalyse des Deutschen vorgestellt. Es gibt ein tolles Gespräch mit Bierwisch über die gesamte DDR-Zeit und darüber, wie die Entwicklung der Arbeitsgruppen verlief. Viele bekannte Westler haben die Gruppe im Osten besucht (Prof. Dr. Dieter Wunderlich war einer davon. In Wikipedia steht auch, dass Wunderlich über Bierwisch zur Generativen Grammatik kam.)
2) Die sogenannte Akademie-Grammatik von 1981 Grundzüge einer deutschen Grammatik hat Standards gesetzt. Die Duden-Grammatik aus dieser Zeit war … nun ja. Ab 2005 ist sie sehr gut.
3) Renate Schmidt, eine gute Bekannte, hat an der Akademie der Wissenschaften an Wörterbüchern gearbeitet. Nach der Wende wurde die Akademie der Wissenschaften der DDR abgewickelt. 22 Ossis wurden vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim übernommen. Renates Chef Helmut Schumacher begrüßte die Neuen und versprach ihr, ihr das Erstellen von Wörterbüchern beizubringen. Sie hatte aber schon an fünf Wörterbüchern mitgearbeitet. Zum Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache steht in Wikipedia:
Das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (WDG) wurde in Berlin an der Deutschen Akademie der Wissenschaften (ab Oktober 1972: Akademie der Wissenschaften der DDR) zwischen 1952 und 1977 unter der Leitung von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz erarbeitet. Das Wörterbuch erschien in 6 Bänden und wurde bis zum Ende der DDR bandweise versetzt nachgedruckt. Das WDG umfasst über 4.500 Seiten und enthält knapp 100.000 Stichwörter. In Konzeption und Quellenauswahl war es seiner Zeit weit voraus und wurde daher auch als Vorbild vieler Wörterbuchprojekte herangezogen, so etwa vom Großen Wörterbuch der deutschen Sprache des Dudenverlags (1976–1981).
Im Westen wurde das Werk zu DDR-Zeiten kaum rezensiert oder gar in seiner Bedeutung erkannt und gewürdigt.
Wikipedia zum Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache, 08.01.2024
Renate Schmidt arbeitete unter Helmut Schumachers „Leitung“ am Valenzwörterbuch: VALBU. Valenzwörterbuch deutscher Verben. Schumachers Beitrag am gesamten Wörterbuch waren vier Artikel von insgesamt 638. Seine Artikel waren von schlechter Qualität. Renate Schmidt korrigierte diese Artikel und legte sie ihm wieder hin. Er übernahm die revidierten Fassungen ohne irgendwelche Änderungen und ohne irgendeinen Kommentar. Wortlos. Renate hat noch als Rentnerin das ganze Wörterbuch durchgesehen und alle Artikel korrigiert. Als Erstautor wird Schumacher geführt (Wer als Erstautor genannt wird, ist in der Wissenschaft wichtig, weil die Literaturverzeichnisse nach Erstautoren sortiert sind.) Schuhmacher war dann wegen schwerer Depressionen sechs Monate krank geschrieben. Er sagte, Renate Schmidt habe ihn in die Depression getrieben. Tja, ist eben doof, wenn man nichts beiträgt und das Wenige, was von einem kommt, dann auch noch falsch ist. Vielleicht noch zum Hintergrund: Renate ist die liebste Person der Welt, niemand, der Stress macht oder so. Das können sicher alle ehemaligen Kolleg*innen bestätigen. Ein Kollege, der früher am IDS arbeitete und jetzt eine Professur anderswo hat, hat mir mal gesagt, dass sich die Arbeitsatmosphäre am IDS durch die Ossis wesentlich verbessert hat. Die Ossis gingen sogar mit Sekretärinnen essen, was die Wessis nie im Leben gemacht hätten, obwohl sie 68er-Revoluzzer waren. Also alles sehr umgängliche Menschen, kein Grund für schlechte Laune. Schumachers Depression ist also wahrscheinlich wirklich auf die Einsicht in die eigene Inkompetenz zurückzuführen.
Auf der ersten Jahrestagung des IDS nach der Wende hat Prof. Dr. Hartmut Schmidt, Renate Schmidts Mann, einen Vortrag gehalten (Beitrag im Jahrbuch). Danach kam ein Kollege aus dem Westen zu ihr und lobte den Vortrag. Sie fragte sich, wieso er dazu zur Frau des Vortragenden gekommen war (Tja, doch etwas andere Rollenbilder damals. Im Westen.) und antwortete: „Wir haben viele an unserem Institut, die solche Vorträge halten können.“. Das Gegenüber wusste nicht mehr weiter und das Gespräch war beendet.
Bei der Armee waren wir in großen Zimmern untergebracht. Acht, zehn, zwölf Personen. Die mussten über Jahre zusammen leben. Miteinander klarkommen. Es gab Radios. Die Lautstärke musste ausgehandelt werden. Manchmal bat jemand darum, die Musik leiser zu stellen. Da gab es einen Trick: Man drehte einfach noch lauter, sagte „huch“ und drehte dann wieder etwas zurück. Letztendlich war es auf diese Weise sogar lauter geworden, als es vorher schon gewesen war.
Deutsche Fahnen haben mir schon immer Übelkeit bereitet. Die Sachsen begrüßten Kohl 1990 in einem Fahnenmeer. Ich bin zusammengezuckt, wenn die Wessis in den 90ern von Deutschland gesprochen haben. 2006 war irgendwas mit Fußball. Die Deutschen waren froh und glücklich. Überall Fahnen. Die Deutschen waren nett zu anderen. Das war nur kurz. Bald drehte jemand wieder lauter.
Nach der Wende. Asylbewerberheime brannten in Ost und West. Es war entsetzlich. Unerträglich. 2015. Krieg in Syrien. Viele Menschen mussten fliehen. Angela Merkel sagte: „Wir schaffen das!“. Die BILD-Zeitung war solidarisch mit den Flüchtlingen. Ich rieb mir verwundert die Augen. In der Schule meiner Kinder sammelten die Menschen Anziehsachen und andere Dinge, die man den Flüchtlingen geben konnte. Medikamente. Menschen nahmen die Flüchtlinge bei sich zu hause auf. Vier Jahre später wurde ein Politiker erschossen, weil er 2015 Menschlichkeit gezeigt hatte. 2023 drang die Polizei mit großem Krach in eine Kirche ein und beendete das Kirchenasyl.
Seit den 70ern weiß man vom Treibhauseffekt. Hier und da kam etwas in den Medien vor. Konferenzen fanden statt. Eine Umweltministerin schrieb 1997 ein Buch, in dem alles klar gesagt wurde. Sie wurde später Kanzlerin, verantwortlich für Pillepalle (ihre eigenen Worte). 2018 sorgte eine Schülerin dafür, dass die Menschheit Notiz von dem Problem nahm. Millionen Menschen gingen auf die Straße. Es gab Hoffnung. Bei den Wahlen 2021 gab es eine Partei, die bei 12% lag, eine Partei mit einem Clown als Kandidat und die Partei, die den Grund zur Hoffnung gab. Der Clown hat sich selbst ins Aus gelacht, die Partei der Hoffnung wurde massiv bekämpft, so dass letztendlich die 12%-Partei mit dem Typ mit der Raute gewann. Die Pillepalle-Politik wurde fortgesetzt. Der Machen-Sie-sich-keine-Sorgen-Raute-Mann zerstörte ein Gesetz, das er in der Vorgängerregierung selbst mit ausgearbeitet hatte. Es wurde noch wärmer.
Von meiner Frau wusste ich, dass sie in ihrer Familie einen Wehrmachtsangehörigen hatten, der in Norwegen Zivilisten erschießen sollte, den Befehl verweigert hat und selbst erschossen wurde.
Nun habe ich erfahren, dass ein Mitglied meiner Familie wegen Fahnenflucht erschossen wurde. Kurz vor Kriegsende war er ebenfalls in Norwegen nicht vom Ausgang zurückgekehrt.
Er war mit seiner norwegischen Freundin untergetaucht. Er wurde geschnappt und hingerichtet. Was aus seiner Freundin geworden ist, ist nicht bekannt. Vielleicht haben sich die Wege meiner Familie und der Familie meiner Frau ja schon früher gekreuzt. Vielleicht war ihrem Verwandten ja die Aufgabe zugedacht, die Freundin meines Verwandten zu ermorden und er hat sich geweigert und ist selbst dafür gestorben.
Ich wüsste gern mehr über die Umstände und Gründe seiner Flucht, über die norwegische Familie, die ein Kind verloren hat.
In der Todesnachricht stand, dass Todesanzeigen und Nachrufe verboten sind. Hier nun also sehr spät ein Nachruf für meinen Verwandten, der für seine Liebe gestorben ist. Er erscheint nicht in einer Zeitung oder in einer Zeitschrift, aber in dergleichen.