„Ines Geipel lügt“

In Der Ossi und der Holo­caust habe ich die Behaup­tun­gen von Anet­ta Kaha­ne und Ines Gei­pel zum Umgang der DDR mit dem Holo­caust unter­sucht und bin zum Schluss gekom­men, dass bei­de Autorin­nen ent­we­der kei­ne Ahnung haben oder lügen. 

Die West-Gesell­schaft des direk­ten Nach­kriegs, die sich manisch schön­putz­te, die schier mär­chen­gleich Koh­le mach­te und sich in ihrer Unfä­hig­keit zu trau­ern ver­pupp­te. Die post­fa­schis­ti­sche DDR der fünf­zi­ger Jah­re dage­gen wur­de zur Syn­the­se zwi­schen ein­ge­kap­sel­tem Hit­ler und neu­er Sta­lin-Dik­ta­tur, pla­niert durch einen roten Anti­fa­schis­mus, der ein­zig eine Hel­den­sor­te zuließ: den deut­schen Kom­mu­nis­ten als Über­win­der Hit­lers. Mit die­ser instru­men­tel­len Ver­ges­sens­po­li­tik wur­de im sel­ben Atem­zug der Holo­caust für 40 Jah­re in den Ost-Eis­schrank gescho­ben. Er kam öffent­lich nicht vor.

Ines Gei­pel, Das Ding mit dem Osten, Frank­fur­ter All­ge­mei­ne, 14.08.2019

Im Blog-Post zei­ge ich recht deut­lich, dass die Ver­bre­chen an den Juden über­all the­ma­ti­siert wur­den. In den Geschichts­bü­chern der neun­ten Klas­se, im Lite­ra­tur­un­ter­richt, in Büchern, Fil­men, Stra­ßen­nah­men usw.

Beim taz-Lab gab es eine Podi­ums­dis­kus­si­on mit der His­to­ri­ke­rin Kat­ja Hoyer und dem Schrift­stel­ler Mar­co Mar­tin, bei der letz­te­rer sag­te, das mit der Geschichts­schrei­bung durch die Sie­ger im Ver­ei­ni­gungs­pro­zess sei doch eine Mär, denn es gäbe doch auch ost­deut­sche Stim­men wie Ines Gei­pel und Anne Rabe. Ich habe dann im Dis­kus­si­ons­teil dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Anet­ta Kaha­ne und Ines Gei­pel kei­ne glaub­wür­di­gen Quel­len sei­en, da sie ent­we­der kei­ne Ahnung hät­ten oder lügen wür­den, was zu gro­ßer Ent­rüs­tung führ­te. Lei­der kann­te ich zu die­sem Zeit­punkt eine Doku­men­ta­ti­on des MDRs noch nicht, denn aus die­ser geht her­vor, dass Ines Gei­pel erheb­li­che Pro­ble­me mit der Wahr­heit in Bezug auf ihr eige­nes Leben hat. Auch die Zah­len der Doping­be­trof­fe­nen, die sie als Che­fin der Doping­op­fer­hil­fe ver­tre­ten hat, hiel­ten einer Über­prü­fung nicht stand.

Das ist der MDR-Beitrag:

Doping und Dich­tung: Bei­trag vom MDR über Behaup­tun­gen von Ines Geipel

Ines Gei­pel hat behaup­tet, dass die Sta­si bei einer Blind­darm-Ope­ra­ti­on ihre Bauch­mus­ku­la­tur und all ihre Orga­ne zer­schnit­ten habe. 

Eine Unter­leibs­ope­ra­ti­on 1984 bot die Gele­gen­heit, „sie zumin­dest für län­ge­re Zeit auf Eis zu legen“, wie sie aus den Akten zitier­te. Ein Chir­urg der Virch­ow-Kli­nik in Ber­lin stell­te 2004, zwan­zig Jah­re nach der per­fi­den Tat, fest, was die Ärz­te in der DDR ihr ange­tan hat­ten. „Mein gesam­ter Bauch war samt Mus­ku­la­tur durch­schnit­ten wor­den“, erfuhr sie. „Alle inne­ren Orga­ne waren verletzt.“

Reinsch, Micha­el. 12.04.2011. Ines Gei­pel: Der Schre­cken steht mit­ten im Raum. Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung. Frankfurt/Main.

In der Doku­men­ta­ti­on wur­de sie bei einem Sprint-Wett­be­werb zwei Mona­te nach der OP gezeigt. Mit ver­letz­ten Orga­nen läuft man kei­ne 100m, weil man auch vor dem Wett­kampf trai­nie­ren muss. 

Den kom­plet­ten Bauch auf­schnei­den, wer glaubt in so einen Unsinn? Da könn­te man nicht mehr lau­fen. Ich habe ja erst vor ein paar Tagen wie­der gele­sen, dass alle inne­re inne­ren Orga­ne wur­den ver­letzt. Das ist ein Unding. Das geht nicht und da kann man vor allen Din­gen nicht sechs Wochen oder acht Wochen spä­ter lau­fen. Schlecht wie immer – aber gelau­fen ist sie.

Uwe Trö­mer im MDR-Bei­trag Doping und Dichtung

Bezüg­lich ihrer Blind­darm­ope­ra­ti­on gibt sie an, dass sie als Fol­ge der durch die Sta­si durch­ge­führ­ten Ope­ra­ti­on kei­ne Kin­der mehr bekom­men konn­te (Ein­zel­kämp­fer bei 1:24:15). Laut MDR-Fak­ten­check (2023: 60) steht im OP-Bericht vom 17.01.2003 nichts von Ver­let­zun­gen ande­rer Orga­ne oder Ver­let­zun­gen, die Kin­der­lo­sig­keit hät­ten ver­ur­sacht haben können.

Gei­pel gibt mit Welt­re­kor­den an und damit Olym­pio­ni­kin gewe­sen zu sein, sie hat aber nie eine gewon­nen, ja, sie hat nicht ein­mal an einer Olym­pia­de teil­ge­nom­men. Bei Sprint-Wett­kämp­fen lan­de­te sie trotz hoher Doping­wer­te auf hin­te­ren Plät­zen. In die natio­na­le Aus­wahl der Sprint­staf­fel kam sie nicht, weil es bes­se­re Läu­fe­rin­nen gab. 

Nach Aus­strah­lung der MDR-Doku leg­te Ines Gei­pel eine Pro­gramm­be­schwer­de ein (doku­men­tiert auf ihrer Web-Sei­te: Pro­gramm­be­schwer­de Doping und Dich­tung). Die­se ist eigent­lich noch schlim­mer, als das, was man aus der Doku erfährt, denn sie zeigt, wie Ines Gei­pel arbei­tet. Mit bewuss­ten Aus­las­sun­gen, Ver­dre­hun­gen und Mani­pu­la­tio­nen. Der MDR hat die Pro­gramm­be­schwer­de durch zwei renom­mier­te Sportjournalist*innen prü­fen las­sen und auf 101 Sei­ten ist die gan­ze Unge­heu­er­lich­keit des Vor­gangs doku­men­tiert. Die Autor*innen nen­nen Gei­pel dar­in eine Lüg­ne­rin und Hoch­stap­le­rin, die Wör­ter Unver­fro­ren­heit und Dreis­tig­keit kom­men vor. Nur ein Bei­spiel: In Gei­pels Sta­si-Akte steht:

Die­ser Darm­ver­schluss ergab sich jedoch, da dies bei jun­gen Men­schen noch der Fall ist oder mög­lich ist; ansons­ten wäre eine wei­te­re Ope­ra­ti­on nötig gewe­sen. Danach soll­te Gei­pel wie­der in ein Kran­ken­haus wegen ihrer .… Geschich­te. Dies wäre die Chan­ce gewe­sen, sie für län­ge­re Zeit auf Eis zu legen. Sie ist jetzt z.Z. in einer Pha­se der Rehabilitation …

BStU, nach Screen­shot aus MDR-Doku.

BStU, Screen­shot aus MDR-Doku.

Die­se Aus­sa­ge belegt, dass das eine Chan­ce gewe­sen wäre, d.h. das Auf-Eis-Legen ist nicht erfolgt. Gei­pel lässt in ihren Zita­ten das Wort gewe­sen ein­fach weg: „Das ist die Chan­ce, sie für län­ge­re Zeit auf Eis zu legen.“ (In Ein­zel­kämp­fer, 2013: 1:26:15 kann man sehen, wie sie die Pas­sa­ge „vor­liest“).

Man kann also schlie­ßen, dass Ines Gei­pel kei­ne glaub­wür­di­ge Zeu­gin in Bezug auf die DDR-Geschich­te ist. 

Denn der ver­ant­wor­tungs­vol­le Umgang mit der Wahr­heit gehört augen­schein­lich nicht zu den Stär­ken der 62 Jah­re alten Berlinerin.

Lud­wig, Udo & Neu­mann, Thi­lo & Pursch­ke, Tho­mas. 2023. Ver­lei­hung des Erich-Loest-Prei­ses: Ines Gei­pel und der schwie­ri­ge Umgang mit der Wahr­heit. Der Spie­gel. 23.02.2023

Ich hat­te ja in der Aus­ein­an­der­set­zung über den Umgang mit dem Holo­caust in der DDR als Ergeb­nis die bei­den Mög­lich­kei­ten „kei­ne Ahnung“ und „lügen“. Theo­re­tisch ist es immer noch mög­lich, dass Ines Gei­pel kei­ne Ahnung in Bezug auf das The­ma Holo­caust hat­te bzw. hat, aber die Lügen-Mög­lich­keit erhält mit die­ser Infor­ma­ti­on über Ines Gei­pel mehr Plausibilität.

Nachtrag

Die Doku­men­te auf Ines Gei­pels Web-Sei­te sind mir bekannt. Sie wer­den im Fak­ten­check in der Erwi­de­rung auf die Pro­gramm­be­schwer­de gegen den MDR bespro­chen. Die von Gei­pel bei­gebrach­ten Doku­men­te wider­le­gen nichts von dem, was oben aus den Doku­men­ta­tio­nen zitiert wurde.

Quellen

Kar­te, Uwe. 2023. Doping und Dich­tung: Das schwie­ri­ge Erbe des DDR-Sports. 2023. mdr. (https://www.youtube.com/watch?v=FUInTLwH4fI)

Kau­del­ka, San­dra. 2013. Ein­zel­kämp­fer. ZDF. (https://youtu.be/Vdhu-cNkWcc?t=5054)

Kowal­c­zuk, Ilko-Sascha. 2022. Getrüb­te Erin­ne­run­gen? Über ein Buch, das nicht erschie­nen ist. Deutsch­land Archiv. (https://www.bpb.de/513987)

Kowal­c­zuk, Ilko-Sascha. 2023. Der Fall Gei­pel und Gesin­nungs­kämp­fe: Doping und Praw­da. taz 16.12.2023. Ber­lin. (https://taz.de/Der-Fall-Geipel-und-Gesinnungskaempfe/!5977524/)

Lud­wig, Udo & Neu­mann, Thi­lo & Pursch­ke, Tho­mas. 2022. Wir­bel um Ver­tre­te­rin von Doping-Opfern: Lügen, betrü­gen, täu­schen. Der Spie­gel 21. (https://www.spiegel.de/sport/ines-geipel-vertreterin-von-doping-opfern-luegen-betruegen-taeuschen-a-4f0bebfd-c8f3-4eda-bc21-0baf6ecaf7ea)

Lud­wig, Udo & Neu­mann, Thi­lo & Pursch­ke, Tho­mas. 2023. Ver­lei­hung des Erich-Loest-Prei­ses: Ines Gei­pel und der schwie­ri­ge Umgang mit der Wahr­heit. Der Spie­gel. (https://www.spiegel.de/sport/ddr-dopingsystem-ines-geipel-und-der-schwierige-umgang-mit-der-wahrheit-a-7e209638-b5ce-4ad7-b35f-9d096b33e04b)

MDR Haupt­re­dak­ti­on Sport. 2023. MDR-Doku­men­ta­ti­on „Doping und Dich­tung“ Fak­ten­check. Leip­zig. 24.08.2023.

Reinsch, Micha­el. 2011. Ines Gei­pel: Der Schre­cken steht mit­ten im Raum. Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung. 12.04.2011. Frankfurt/Main. (https://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/doping/ines-geipel-der-schrecken-steht-mitten-im-raum-1621434.html)

Wir, die Soziologin und die aus dem zwar vorbildlichen, aber abweichenden Osten

Ich habe schon im Bei­trag über Kling Klang und den Osten dar­über geschrie­ben, dass Zei­tungs­bei­trä­ge die Ossis ein­fach nicht zur Leser­schaft zäh­len. Es wird über sie geschrie­ben. Selbst in Fäl­len in denen die Autor*innen das eigent­lich ändern wol­len und auf eine bes­se­re Ver­stän­di­gung und mehr Respekt hin­ar­bei­ten. Hier möch­te ich ein par­al­le­les Bei­spiel aus der Wis­sen­schaft diskutieren.

Die Sozio­lo­gin Prof. Jut­ta All­men­din­ger spricht über Kin­der­be­treu­ung und wie sich das alles bei „uns“ ver­än­dert und ver­bes­sert hat. Wie „wir“ mit gewis­sen Pro­ble­men umge­hen und erwähnt dann lobend und ver­glei­chend den Osten. Wenn man genau hin­hört oder hin­ter­her noch mal drü­ber nach­denkt, merkt man, dass der Osten nicht zu „wir“ gehört. Der Osten ist immer das Ande­re, das Abwei­chen­de. Etwas mit dem man sich ver­glei­chen kann. 

Wir sind halt kei­ne dop­pel­ten Lott­chen. Wir leben in unse­rer Gesell­schaft. Wir kön­nen hier nur Ver­glei­che anziehn. Bei­spiels­wei­se zu den ost­deut­schen Län­dern, wo immer noch es viel, viel selbst­ver­ständ­li­cher ist, dass Frau­en auch erwerbs­tä­tig, auch ganz­tags erwerbs­tä­tig sind.

Zer­back, Sarah, 15. Mai 2024: Sozio­lo­gin zu Fami­li­en: 33-Stun­den-Woche für bei­de Eltern­tei­le ide­al Inter­view mit Prof. Jut­ta All­men­din­ger. Rele­van­ter Teil beginnt ab 4:03.

Als Wissenschaftler*in müss­te man sagen: Bei uns ist das so: Einer­seits haben wir X im Wes­ten und ande­rer­seits haben wir Y im Osten.

Dass es Unter­schie­de gibt, lässt sich nicht leug­nen. Aber die gibt es auch zwi­schen Nord und Süd (zum Bei­spiel im Fleischverbrauch).

Vie­le Ossis woll­ten lan­ge dazu­ge­hö­ren. Jetzt haben sie auf­ge­ge­ben. Die Schlumpf­par­tei hört ihnen zu. Alle ande­ren haben ver­sagt. Ver­sa­gen immer noch.

Und wie man sieht, ist das Gan­ze nicht nur ein Pro­blem der (West-)Medien, son­dern auch eins der Intel­li­genz, der wis­sen­schaft­li­chen Elite.

Die rechten Richter von Gera

In der taz vom 22.04.2024 gibt es einen Arti­kel über rech­te Rich­ter von Gera. Bespro­chen wird, dass zwei Rich­ter Asyl­an­trä­ge signi­fi­kant häu­fi­ger ableh­nen, als das im bun­des­wei­ten Durch­schnitt der Fall ist. 

In einem „For­de­rungs­pa­pier zur Jus­tiz in Thü­rin­gen“ aus dem April 2022 bekla­gen neun Ver­ei­ne aus der Flücht­lings­hil­fe eine „Ent­schei­dungs­pra­xis“ des Ver­wal­tungs­ge­richts Gera in Asyl­ver­fah­ren, die „min­des­tens eine ten­den­ziö­se Recht­spre­chung ver­mu­ten lässt“. Unter Rechts­an­wäl­ten sei es ein „offe­nes Geheim­nis“, dass es dort fast unmög­lich ist, Asyl­ver­fah­ren afri­ka­ni­scher Klä­ger zu gewin­nen. Im Faden­kreuz der Kri­tik ste­hen die Rich­ter Fuchs und Ame­lung. MDR-Recher­chen und eine Ant­wort der Bun­des­re­gie­rung auf eine Klei­ne Anfra­ge der Links­frak­ti­on im Bun­des­tag bestä­ti­gen die Pra­xis­er­fah­run­gen der Anwäl­te und Flüchtlingshelfer.

Außer­dem sind Rich­ter des­sel­ben Gerichts für Geneh­mi­gun­gen von Nazi-Ver­an­stal­tun­gen zuständig:

Die Asyl­rechts­spre­chung ist aber nicht der ein­zi­ge Bereich, der in Gera Fra­gen auf­wirft. Auch die Ent­schei­dungs­pra­xis des Prä­si­den­ten des Ver­wal­tungs­ge­richts Gera, Micha­el Obhues, als Vor­sit­zen­der der 1. Kam­mer ist poli­tisch umstrit­ten. Die­se hat einer Neo­na­zi-Grup­pe und der NDP (heu­te „Die Hei­mat“) über Jah­re erstaun­lich viel Raum für Demons­tra­tio­nen, Pro­test­ak­tio­nen und rech­te Rock­kon­zer­te eröffnet.

In Jena durf­te die NPD Mär­sche im Geden­ken an die Reichs­po­grom­nacht und an den Tod von Hit­ler­stell­ver­tre­ter Rudolf Heß durch­füh­ren. Die Neo­na­zi-Grup­pe „Thügida/Wir lie­ben Ost­thü­rin­gen“ durf­te Hit­lers Geburts­tag am 20. April 2016 mit einem Fackel­zug in Jena fei­ern. Das Gericht kas­sier­te dabei immer wie­der zuvor ver­häng­te Ver­samm­lungs­ver­bo­te des dama­li­gen SPD-Ober­bür­ger­meis­ters Albrecht Schröter.

Typisch für die­se Gerichts­be­schlüs­se ist, dass die Kam­mer den Vor­trä­gen der brau­nen Anmel­der eher glaub­te als denen des Ober­bür­ger­meis­ters – wenn sie zum Bei­spiel vor­ga­ben, mit Demos die Mei­nungs­frei­heit zu ver­tei­di­gen oder gegen „lin­ken Ter­ror“ zu pro­tes­tie­ren, obwohl sie tat­säch­lich Hit­ler oder Heß hul­di­gen woll­ten. Dass die offi­zi­ell genann­ten Demons­tra­ti­ons­zie­le nur zur Tar­nung vor­ge­scho­ben waren und die Pro­tes­te in Wirk­lich­keit Tarn­ver­samm­lun­gen für brau­ne Anlie­gen waren, hiel­ten die Ver­wal­tungs­rich­ter in Gera für nicht hin­rei­chend belegt.

Und wie Joa­chim Wag­ner fest­stellt: „Die Fol­ge die­ser Spruch­pra­xis: Zwi­schen 2006 und 2016 hat­te sich Jena zur einem Pro­te­stel­do­ra­do für NPD und Neo­na­zis entwickelt.“

Das­sel­be Gericht hat ent­schie­den, dass die AfD nicht wirk­lich ver­fas­sungs­feind­lich sei, obwohl der Ver­fas­sungs­schutz, der sich ja mit der Ein­ord­nung von Par­tei­en als rechts­extrem auch nicht leicht tut, das nach jah­re­lan­ger Detail­ar­beit inzwi­schen her­aus­ge­fun­den hat­te. Ein AfD-Sport­schüt­ze durf­te sei­ne Waf­fe behalten:

Hier kam die Kam­mer im August 2023 neben­bei zum Ergeb­nis, dass die Ver­fas­sungs­schüt­zer bis­lang nicht „trag­fä­hig nach­ge­wie­sen“ hät­ten, dass der Thü­rin­ger AfD-Lan­des­ver­band „erwie­sen rechts­extre­mis­tisch“ sei. Der AfD-Sport­schüt­ze durf­te sei­ne Waf­fen­be­sitz­kar­te vor­erst behalten.

Sehr guter Arti­kel. Es fehl­ten nur eini­ge Details, die im Ost-West-Dis­kurs aber sehr wich­tig sind: Wer sind die­se Rich­ter? Wo kom­men sie her? Dr. Bengt-Chris­ti­an Fuchs, Vize­prä­si­dent des Ver­wal­tungs­ge­richts Gera, ist laut lin­ke­dIn-Pro­fil Bank­kauf­mann und hat 1984–1986 in Han­no­ver und Lon­don gear­bei­tet. Er ist außer­dem Oberst­leut­nant der Bun­des­wehr. Dr. Bernd Ame­lung hat von 1982–1989 an der Georg-August-Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen sein ers­tes Staats­examen in Öffent­li­chem Recht gemacht. Micha­el Obhues, Prä­si­dent des Ver­wal­tungs­ge­richts Gera, wur­de in Erwit­te/Westfalen gebo­ren. Er stu­dier­te 1986–1992 an der Universität in Münster Rechts­wis­sen­schaf­ten. Details zu sei­ner Kar­rie­re als Jurist fin­det man in den ThürVBl. 8/2006, S. III.

Stef­fen Mau hat in Lüt­ten Klein fest­ge­stellt, dass Richter*innen im Osten meis­tens aus dem Wes­ten sind: 

In den weni­gen Berei­chen, wo die Ost­deut­schen auf­ho­len konn­ten, reden wir von Fort­schrit­ten im nied­ri­gen ein­stel­li­gen Pro­zent­be­reich: in der Rich­ter­schaft ins­ge­samt von 11,8 auf 13,3 Pro­zent, bei den Prä­si­den­ten und Vize­prä­si­den­ten der obers­ten Gerich­te sowie den Vor­sit­zen­den Rich­tern der ein­zel­nen Sena­te von 3,4 auf 5,9 Pro­zent. Jeweils in Ost­deutsch­land wohl­ge­merkt, nicht bundesweit.

Mau, Stef­fen. 2020. Lüt­ten Klein: Leben in der ost­deut­schen Trans­for­ma­ti­ons­ge­sell­schaft (Schrif­ten­rei­he 10490). Bonn: Zen­tra­le für Poli­ti­sche Bil­dung. S. 182

Und so ist es auch in die­sem Fall. Was ich mir von der taz wün­sche, ist, dass die Her­kunft von Nazis oder von Men­schen, die Nazi-Aktio­nen ermög­li­chen, ange­ge­ben wird. Das ist wich­tig, weil durch die Bericht­erstat­tung ohne die­se Infor­ma­ti­on das Kli­schee ver­fes­tigt wird, dass im Osten alles Nazis sei­en. Hier am kon­kre­ten Fall von Jena kann man sehen, dass die Wähler*innen einen SPD-Bür­ger­meis­ter gewählt haben, der sich red­lich müh­te, die Nazis aus der Stadt zu hal­ten, was aber durch Richter*innen aus dem Wes­ten tor­pe­diert wurde. 

Nach der Wen­de wur­de die kom­plet­te Jus­tiz und Poli­zei und auch der Ver­fas­sungs­schutz von West­lern auf­ge­baut. Wie wir jetzt wis­sen, waren vie­le der invol­vier­ten Per­so­nen extrem rechts. (Maa­ßen war der gemä­ßig­te Ersatz für jeman­den, der mit dem NSU zu gut klar­ge­kom­men war, und was Maa­ßen denkt, wis­sen wir ja nun ziem­lich genau. Sei­ne eige­ne Behör­de stuft ihn als rechts­extrem ein.) Nazi-Par­tei­en sind gezielt in den Osten gegan­gen, um dort Struk­tu­ren auf­zu­bau­en (sie­he „His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern“: Kom­men­ta­re zu einem Auf­satz von Patri­ce G. Pou­trus, Jan C. Beh­rends und Den­nis Kuck). Das alles soll­te man wis­sen, wenn man dar­über nach­denkt, war­um die Macht­ver­hält­nis­se im Osten jetzt so sind, wie sie sind. Der blü­hen­de Faschis­mus im Osten ist sicher nicht dar­auf zurück­zu­füh­ren, dass wir Ossis alle neben­ein­an­der auf dem Töpf­chen geses­sen hät­ten (Pfeif­fer) und auch Anne Rabes Geschwa­fel von der Gewalt­tä­tig­keit in der DDR ist Unfug, wie ich in vie­len Blog-Posts nach­ge­wie­sen habe (Sie inter­pre­tiert die Kri­mi­nal­sta­tis­tik falsch. Aus­sa­gen über Amok­läu­fe in Schu­len sind falsch usw. usf.). Auch in Lich­ten­ha­gen waren am drit­ten Tag West-Nazis vor Ort und die gesam­te ver­ant­wort­li­che Füh­rung (Regie­rung und Poli­zei­lei­tung) war trotz vor­he­ri­ger Ankün­di­gung der Aus­schrei­tun­gen in Zei­tun­gen im Wochen­en­de und nicht erreich­bar (Post dazu). Zu Anne Rabes Behaup­tun­gen sie­he die Über­sichts­sei­te mit Blog­posts.

Man stel­le sich nun die Gefüh­le eines anti­fa­schis­ti­schen Men­schen vor, der sol­che Arti­kel liest. Sie denkt: Erst kom­men sie her und beset­zen alle Stel­len in der Ver­wal­tung, um uns Ossis zu zei­gen, wie es geht. Dann legen sie die kom­plet­te Indus­trie still, weil sie die Treu­hand-Anstalt auch über­nom­men haben (Kahla Thü­rin­gen Por­zel­lan wur­de für 1 DM an einen win­di­gen Rechts­an­walt ver­kauft, des­sen ein­zi­ge Qua­li­fi­ka­ti­on ein Bru­der bei der Treu­hand war.). Dann kom­men West­ler, grün­den eine rech­te, wirt­schafts­li­be­ra­le Par­tei, wo auch fast die gesam­te Füh­rung der ost­deut­schen Lan­des­vor­stän­de in West-Hand sind (sie­he Der Ossi ist nicht demo­kra­tie­fä­hig. Merkt Ihr’s noch?). Dann radi­ka­li­siert sich die­se Par­tei und die Gerich­te im Osten, die mit Westler*innen bestückt sind, pro­te­gie­ren das. Den Ossis wird nach erfolg­rei­chem Auf­bau der Struk­tu­ren durch West­ler vor­ge­wor­fen, dass sie alle Nazis sei­en. Und wenn dann über den Osten berich­tet wird, wer­den die rele­van­ten Fak­ten über die Her­kunft der ent­spre­chen­den Nazis oder ihre Beschützer*innen nicht genannt und das Kli­schee wei­ter vertieft. 

Quellen

Decker, Kers­tin. 1999. Das Töpf­chen und der Haß. tages­spie­gel. Ber­lin. (https://www.tagesspiegel.de/kultur/das-toepfchen-und-der-hass/77844.html)

Mau, Stef­fen. 2020. Lüt­ten Klein: Leben in der ost­deut­schen Trans­for­ma­ti­ons­ge­sell­schaft (Schrif­ten­rei­he 10490). Bonn: Zen­tra­le für Poli­ti­sche Bil­dung. (https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/303713/luetten-klein)

Frankfurt

Die taz hat sich in den letz­ten Wochen und Mona­ten extrem ver­bes­sert, was die Bericht­erstat­tung über den Osten angeht. Wahr­schein­lich hängt das auch mit dem kom­men­den taz-Lab zum The­ma Osten zusam­men. Ein beson­de­res High­light ist der Bei­trag von Dr. rer. pol. Ute Scheub Demo­kra­tie reso­nant machen über den Anschluss der DDR und ver­ta­ne Chan­cen bei der Aus­ar­bei­tung einer gemein­sa­men Verfassung. 

Zu einer Sache, die immer wie­der pas­siert und die vie­le Ossis ärgern dürf­te und die auch jetzt noch – trotz geschärf­ter Sin­ne – pas­siert, möch­te ich etwas sagen. Frank­furt. In der taz vom 20.04.2024 schreibt Bernd Pickert zum The­ma Mixed Mar­ti­al Arts (MMA):

Da ist Katha­ri­na Dalis­da aus Frank­furt, stu­dier­te Sportöko­no­min mit Bürs­ten­schnitt und Blu­men­kohl­oh­ren, eine der auf­stre­ben­den Frau­en in den deut­schen MMA, 

Pickert, Bernd (20.04.2024): Die net­ten Cage­figh­ter von nebenan

Katha­ri­na Dalis­da ist aus Frank­furt am Main. Der Fluss wird aber nicht genannt. Es gibt in der BRD zwei Frank­fur­te: Frank­furt am Main und Frank­furt an der Oder. Das Pro­blem ist, dass das Ost-Frank­furt kom­plett igno­riert wird. Nun könn­te man sagen, Frankfurt/M. ist viel grö­ßer, ein indus­tri­el­les, kul­tu­rel­les und poli­ti­sches Zen­trum and not­hing important ever came from Frank­furt (Oder). Aber das ist nicht rich­tig: Frank­furt O. war eine der 15 Bezirks­haupt­städ­te in der DDR und ist aus Sicht der taz von Ber­lin aus viel näher gele­gen. Das könn­te die Wich­tig­keit des ande­ren Frank­furts aus­glei­chen, aber selbst wenn man das nicht weiß oder wenn es einem egal ist, soll­te man doch als Jour­na­list, der zum The­ma Spor, ins­be­son­de­re Mixed Mar­ti­al Arts, schreibt, schon von Frank­furt gehört haben.

In Wiki­pe­dia steht zum The­ma MMA:

Die Kämp­fer bedie­nen sich sowohl der Schlag- und Tritt­tech­ni­ken (Striking) des Boxens, Kick­bo­xens, Tae­kwon­do, Muay Thai und Kara­te als auch der Boden­kampf- und Ring­tech­ni­ken (Grap­pling) des Bra­zi­li­an Jiu-Jitsu, Rin­gens, Judo und Sam­bo. Auch Tech­ni­ken aus ande­ren Kampf­kunst­ar­ten wer­den benutzt.

Frank­furt O. war und ist eine Sport­stadt. Der Armee­s­port­klub Frank­furt hat zu DDR-Zei­ten dort trai­niert und es gibt dort jetzt auch einen Bun­des­wehr­sport­stütz­punkt. Mas­sen­haft Olym­pia­sie­ger kom­men aus Frank­furt O. Sieger*innen im Boxen, im Judo und im Rin­gen (sie­he Sport­zen­trum Frank­furt). Allen, die in den 90ern irgend­was mit Sport zu tun hat­ten, dürf­ten Hen­ry Mas­ke und Axel Schulz ein Begriff sein, die bei­de aus der Box­tra­di­ti­on her­vor­ge­gan­gen sind (trai­niert von Man­fred Wol­ke). Auch Men­schen, die ansons­ten mit dem Boxen nichts am Hut hat­ten, kann­ten die bei­den. Ihre Box­kämp­fe hat­ten Rekordeinschaltquoten.

Also, wenn eins der bei­den Frank­furts hier der Default ist, dann ist es wohl Frank­furt O. Da Katha­ri­na Dalis­da aus Frankfurt/Main ist, hät­te das kennt­lich gemacht wer­den müssen.

Es ist eine Klei­nig­keit, aber die­se Klei­nig­keit zeigt: Der Osten ist in den Redak­tio­nen nicht prä­sent. Vie­le Men­schen gen­dern, weil sie es nicht aus­rei­chend fin­den, dass Frau­en nur mit­ge­dacht wer­den anstatt mit­re­prä­sen­tiert und mit­ge­nannt zu wer­den. Der Osten, selbst wenn er direkt vor der Tür liegt, wird nicht mit­ge­dacht. Über den Osten wird bzw. wur­de nur geschrie­ben, wenn es irgend etwas Nega­ti­ves zu ver­mel­den gibt. Das ändert sich gera­de bei der taz so ein biss­chen. Hof­fen wir, dass das auch nach dem taz-Lab so bleibt.

In der Wochen­end­aus­ga­be zum taz-Lab gab es eine Korrektur. =:-)

Nazis im Westen, Nazis in der SED

Wäh­rend der Arbeit am Bei­trag Wei­te­re Kom­men­ta­re zu Anne Rabes Buch: Eine Mög­lich­keit aber kein Glück habe ich mir den Wiki­pe­dia-Ein­trag zum KZ Lich­ten­burg ange­se­hen. Mein Groß­on­kel war dort ein Jahr und neun Mona­te ein­ge­sperrt. Es gibt dort Lis­ten mit den Lager­ko­man­dan­ten und den Schutz­haft­la­ger­füh­rern. Die Schutz­haft­la­ger­füh­rer waren die, die die Häft­lin­ge bewach­ten. Sie unter­stan­den dem Lager­kom­man­dan­ten. Ich habe mir dann den Spaß gemacht, nach­zu­schau­en, wer die Nazis waren, die in der Zeit ver­ant­wort­lich waren, als mein Groß­on­kel dort ein­ge­ses­sen hat, und was aus ihnen gewor­den ist. Wiki­pe­dia ist ein fan­tas­ti­sche Res­sour­ce! Hier ist das Ergebnis:

Lagerkommandanten

Die Lager­kom­man­dan­ten waren:

  • SS-Stan­dard­ten­füh­rer Otto Reich. Wiki­pe­dia sagt: „Reich wur­de nach Kriegs­en­de juris­tisch nicht belangt.“ Reich ist 1955 in Düs­sel­dorf gestorben.
  • SS-Stan­dar­ten­füh­rer Her­mann Bara­now­ski, gestor­ben 1940 in Aue
  • SS-Stan­dar­ten­füh­rer Hans Hel­wig, gestor­ben 1952 in Hems­bach, Baden-Würt­tem­berg. „Hel­wig starb 1952, ohne dass es zu einer straf­recht­li­chen Ver­fol­gung sei­ner Tätig­keit in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern gekom­men war.“

Schutzlagerführer

Die Schutz­haft­la­ger­füh­rer waren:

Der wur­de weni­ge Tage vor der Befrei­ung Buchen­walds durch die Nazis selbst hin­ge­rich­tet. Das wuss­te ich bis­her nicht. Es gab ein Kor­rup­ti­ons­ver­fah­ren gegen ihn. Himm­ler hat­te ihn erst geschützt, aber dann war es doch zu viel. Er hat Zeu­gen ermordet.

Rem­mert wur­de ver­ur­teilt: „wegen Kör­per­ver­let­zung im Amt“. 1934!

Wiki­pe­dia schreibt: „In der zeit­ge­nös­si­schen Pres­se wur­de über das Ver­fah­ren nicht berich­tet. Es han­del­te sich um ein wei­test­ge­hend nach rechts­staat­li­chen Grund­sät­zen ablau­fen­des Ver­fah­ren. In der Fol­ge befahl Adolf Hit­ler, dass wei­te­re zu den Miss­hand­lun­gen im KZ Ester­we­gen lau­fen­de Ermitt­lun­gen ein­ge­stellt wer­den sollten.“

„Von 1946 bis 1948 war er inter­niert; anschlie­ßend wur­de er wegen sei­ner SS-Zuge­hö­rig­keit zu einem Jahr Gefäng­nis ver­ur­teilt; sei­ne Inter­nie­rung wur­de jedoch ange­rech­net, sodass er frei­kam. 1950 wur­de er wegen der Miss­hand­lung wei­te­rer Häft­lin­ge zu drei Jah­ren Haft ver­ur­teilt; er kam im April 1954 frei.“

  • Egon Zill, gestor­ben 1974 in Dach­au, Bayern. 

„1955 fäll­te das Schwur­ge­richt des Land­ge­richt Mün­chen II am 14. Janu­ar ein Urteil: lebens­läng­li­che Haft wegen „Anstif­tung zum Mord im KZ Dachau“.“

Auswertung des Schnelltests

Das Ergeb­nis die­ser Kurz­über­prü­fung aus pri­va­tem Inter­es­se ist:

1) Die Nazis, die mit Lich­ten­burg zu tun hat­ten, sind nach Kriegs­en­de alle (!) in den Wes­ten gegangen.

2) Vie­le von ihnen haben dort fröh­lich bis an ihr Lebens­en­de gelebt. Sie wur­den nicht ange­klagt und nicht ver­ur­teilt oder beka­men Haft­stra­fen von weni­gen Jahren.

Das ent­spricht dem, was Ossis in der Schu­le gelernt haben, und ist irgend­wie auch nicht ver­wun­der­lich. Als Nazi hät­te ich auch Angst vor den Rus­sen gehabt.

Nazis in der SED

In der Dis­kus­si­on auf Mast­o­don über Anne Rabes Buch „Die Mög­lich­keit von Glück“ gibt es einen Nut­zer, der mei­ne Argu­men­ta­ti­on nicht ver­steht. Er hat mich auf eine Publi­ka­ti­on des Wis­sen­schaft­li­chen Diens­tes des Bun­des­tags von 2019 hin­ge­wie­sen, in der der Anteil der NSDAP-Mit­glie­der in der SED dis­ku­tiert wird. In die­ser Kurz­mit­tei­lung fin­det man Folgendes:

Einen ers­ten repräsentativen Überblick über die frühere Zugehörigkeit der Par­tei­mit­glie­der zur NSDAP und deren Glie­de­run­gen ver­schaff­te sich die Par­tei­zen­tra­le Anfang 1954. Dem­nach hat­ten zu die­sem Zeit­punkt 96844 Mit­glie­der (= 8,6%) und 9533 Kan­di­da­ten(= 9,3%) früher der NSDAP angehört.

Die­se Infor­ma­ti­on ist inter­es­sant. In Wiki­pe­dia steht noch ein biss­chen mehr dazu:

Nach dem 17. Juni 1953, in des­sen Fol­ge es bis zum März 1954 zu 23.173 Par­tei­aus­schlüs­sen kam,[43] wur­de von der Abtei­lung Par­tei­or­ga­ne des Zen­tral­ko­mi­tees ein­ma­lig auch der Anteil ehe­ma­li­ger NSDAP-Mit­glie­der an der SED-Mit­glied­schaft ermittelt.[44] Dem­nach hat­ten zu die­sem Zeit­punkt 8,7 % (106.377) der SED-Mit­glie­der und ‑Kan­di­da­ten vor 1945 der NSDAP ange­hört. Regio­nal war die­ser Anteil aus bis­lang nicht abschlie­ßend geklär­ten Grün­den sehr ungleich­mä­ßig ver­teilt; in Ber­lin lag er bei ledig­lich 4 Pro­zent, in Thü­rin­gen in ein­zel­nen Kreis­or­ga­ni­sa­tio­nen dage­gen bei bis zu 25 Pro­zent. Die­se SED-Mit­glie­der mit NS-Ver­gan­gen­heit las­sen sich nach dem For­schungs­stand von 2021 in der Haupt­sa­che zwei Grup­pen mit unter­schied­li­chen Pro­fi­len zuord­nen. Zum einen han­del­te es sich um jün­ge­re Män­ner, die nach einer Ver­gan­gen­heit in der Hit­ler­ju­gend wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges Mit­glie­der der NSDAP gewor­den waren, zum ande­ren um Lei­tungs­per­so­nal in Betrie­ben und Ver­wal­tun­gen, das von der Ent­na­zi­fi­zie­rung nicht erfasst wor­den war. Die Inte­gra­ti­on der zuletzt genann­ten Grup­pe war mit erheb­li­chen Span­nun­gen ver­bun­den; vor allem wäh­rend der 1950er Jah­re kam es immer wie­der zu „Kon­flik­ten zwi­schen Alt­kom­mu­nis­ten und Wirt­schafts­funk­tio­nä­ren“, die „als ehe­ma­li­ge NSDAP-Mit­glie­der der SED bei­getre­ten waren und wei­ter­hin wie loka­le Hono­ra­tio­ren auftraten“.

Man kann die Zahl der Mit­glie­der nun mit der Anzahl der NSDAP-Mit­glie­der in Gesamt­deutsch­land ver­glei­chen. Im Mai 43 waren 7.700.000 Men­schen in die­ser Par­tei. Das waren 11% der Deut­schen. Wenn 8,6% der SED-Mit­glie­der in der NSDAP waren, dann muss die Gesamt­zahl der Mit­glie­der bei 1.126.093 gele­gen haben. 1954 lag die Ein­woh­ner­zahl bei 18.002.000. Geht man davon aus, dass die NSDAP-Mit­glied­schaft gleich­mä­ßig über das Deut­sche Reich ver­teilt ist, müss­ten 1.980.220 Men­schen auf DDR-Gebiet in der NSDAP gewe­sen sein. Es ist sehr wahr­schein­lich, dass die­se Zahl nicht kor­rekt ist, denn in den Jah­ren vor 1954 haben schon Hun­dert­tau­sen­de die DDR bzw. die SBZ ver­las­sen. Dar­un­ter sicher auch vie­le Nazis. Wahr­schein­lich über­pro­por­tio­nal vie­le Nazis. Wenn man jetzt trotz­dem mit 1.980.220 wei­ter­rech­net, kommt man dar­auf, dass 5,4% der NSDAP-Mit­glie­der in die SED auf­ge­nom­men wurden.

Am 15. Juni 1946 fass­te das Zen­tral­se­kre­ta­ri­at den grund­le­gen­den Beschluss zur Öff­nung der Par­tei für „nomi­nel­le Pgs“ und hob damit einen Unver­ein­bar­keits­be­schluss auf. Die Auf­nah­me konn­te nun nach „indi­vi­du­el­ler Beur­tei­lung in den Par­tei­or­ga­ni­sa­tio­nen“ erfol­gen; bei der Ent­schei­dung berück­sich­tigt wer­den soll­ten ins­be­son­de­re Jugend­li­che und „die akti­ve Betä­ti­gung des Betref­fen­den gegen Hitler“.

Wie weit jetzt die indi­vi­du­el­len Beur­tei­lun­gen in den Par­tei­or­ga­ni­sa­tio­nen der SED kor­rekt waren, kann ich nicht wis­sen, aber dass es in Betrie­ben vor 1945 Lei­tungs­per­so­nal gab, das in die NSDAP ein­ge­tre­ten war, um dort prä­sent zu sein, weiß ich aus dem fami­liä­ren Umfeld einer anti­fa­schis­ti­schen Fami­lie. Der Hin­ter­ge­dan­ke war, dass man früh­zei­tig über even­tu­ell für die Fir­ma bedroh­li­che Ent­wick­lun­gen infor­miert war. Aus der ent­spre­chen­den Fabrik­lei­tung ging eine von drei Per­so­nen ungern in die Partei.

So, davon kann man jetzt hal­ten, was man will. Wich­tig ist, wel­che NSDAP-Mit­glie­der in Füh­rungs­po­si­tio­nen gelang­ten. Und dafür gibt es glück­li­cher­wei­se eine Lis­te in Wiki­pe­dia: Lis­te ehe­ma­li­ger NSDAP-Mit­glie­der, die nach Mai 1945 poli­tisch tätig waren. Die­ser Lis­te kann man ent­neh­men, dass fast aus­schließ­lich in West-Deutsch­land Nazis in hohe Posi­tio­nen gekom­men sind. Die NSDAP-Mit­glie­der, die im Osten aktiv waren, waren vor­her bei den Rus­sen in Umer­zie­hungs­pro­gram­men gewe­sen und haben teil­wei­se noch im Krieg aktiv gegen Nazi-Deutsch­land gekämpft. Im Natio­nal­ko­mi­tee Frei­es Deutsch­land (NKFD). Lei­der ist die Lis­te nicht voll­stän­dig, aber Kurt Blecha und Gün­ther Kretz­scher, die auf der Lis­te noch feh­len, waren eben­falls im NKFD und haben aktiv gegen die Nazis gekämpft. Gün­ter Kertzscher war sogar Grün­dungs­mit­glied des NKFD. Auf der ande­ren Sei­te gab es Glob­ke, der als Jurist pro­mi­nent im Natio­nal­so­zia­lis­mus an Ras­sen­ge­set­zen mit­wirk­te, und ande­re hohe Nazis, die auch im Wes­ten wie­der hohe Posi­tio­nen belegten. 

Neue­re For­schun­gen in einem Son­der­for­schungs­be­reich haben erge­ben, dass in Thü­rin­gen 14% der SED-Funk­tio­nä­re in lei­ten­der Funk­ti­on ihre NSDAP-Mit­glied­schaft die gesam­te DDR-Zeit geheim hal­ten konn­ten (Novy, Bea­trix. 2009). Die rele­van­te Grup­pe bestand aus 262 Per­so­nen. 14% davon sind 36. Die Wissenschaftler*innen haben 3 von 15 Bezir­ken der DDR unter­sucht und ver­mu­ten, dass in Meck­len­burg-Vor­pom­mern noch mehr Per­so­nen betrof­fen sein könn­ten, weil die Ver­trie­be­nen dort ohne Papie­re anka­men. Mul­ti­pli­ziert man also 36 mit 5 und legt noch ein biss­chen was drauf für die Ver­trie­be­nen im Nor­den, so kommt man auf 180+20 oder 180+70. Das wären dann 250 NSDAP-Mit­glie­der, die sich uner­kannt durch­ge­mo­gelt haben. Wie Diet­mar Remy sagt, sagt das nichts dar­über aus, was sie als NSDA­P­ler gemacht und gedacht haben. Es wur­de nur die Tat­sa­che fest­ge­stellt, dass sie in der NSDAP waren und das nicht ange­ge­ben hat­ten. Teil­wei­se hat­ten ihnen wohl älte­re Genos­sen gesagt, dass das ok sei (Novy, Bea­trix. 2009). Jeden­falls han­del­te es sich nicht um Men­schen vom Kali­ber Glob­kes. Die hät­ten das nicht geheim hal­ten können.

Sag mir, wo die Nazis sind! Wo sind sie geblieben?

Als klei­nes Kind hat­te mei­ne Frau gelernt, dass in Deutsch­land die Nazis geherrscht hat­ten. Sie hat­te dann ihre Mut­ter gefragt, wo denn die Men­schen von frü­her sei­en. Nein, die Nazis waren nicht alle weg. Aber die schlim­men Nazis waren weg. Sie leb­ten ent­we­der im Wes­ten fried­lich vor sich hin (sie­he oben) oder wan­der­ten über die Rat­ten­li­nie, unter­stützt von west­li­chen Geheim­diens­ten und dem Vati­kan, nach Süd­ame­ri­ka aus, wo sie bei der Nie­der­schla­gung lin­ker Revo­lu­tio­nen gern gese­he­ne Exper­ten für Fol­ter und Zer­stö­rung waren (Har­ras­ser, 2022). 

Die­ser Mann lebt noch heute:

In Nord­stem­men in Nie­der­sach­sen. Er wur­de in Frank­reich wegen sei­ner Ver­bre­chen zum Tode ver­ur­teilt, aber da es kein Aus­lie­fe­rungs­ab­kom­men gab, wur­de er nicht aus­ge­lie­fert und er konn­te auch nicht in der Bun­des­re­pu­blik erneut ange­klagt wer­den, weil es recht­lich nicht mög­lich ist, für das­sel­be Ver­bre­chen zwei­mal vor Gericht gestellt zu wer­den. Tja. Jetzt wird er von Neo­na­zis gefei­ert und fin­det das toll: Er bereut nichts. 

Wenn es im Osten noch ehe­mals pro­mi­nen­te Nazis gab, dann haben die wenigs­tens die Hufe still­ge­hal­ten. Par­tei­en wie die Sozia­lis­ti­sche Reichs­par­tei gegrün­det haben sie jeden­falls nicht.

To do Anteil der NSDAP-Mit­glie­der in Par­tei­en der BRD.

Quellen

Novy, Bea­trix. 2009. Ver­schwie­ge­ne Lebens­läu­fe in der DDR. 16.12.2009. Deutsch­land­funk. (https://www.deutschlandfunk.de/verschwiegene-lebenslaeufe-in-der-ddr-100.html)

Har­ras­ser, Karin. 2022. Sura­zo: Moni­ka und Hans Ertl: Eine deut­sche Geschich­te in Boli­vi­en. Ber­lin: Matthes & Seitz.

Wissen, Unwissen, Ignoranz und Arroganz

Ich habe das her­vor­ra­gen­de Buch von Lutz Sei­ler Stern 111 gele­sen. Es han­delt von einem jun­gen Mann aus Gera, der nach Ber­lin auf­bricht, nach­dem sei­ne Eltern am Tag der Mau­er­öff­nung in den Wes­ten gegan­gen sind. Das Schick­sal sei­ner Eltern in Auf­nah­me­la­gern und bei ers­ten Jobs wird beschrie­ben. Fol­gen­den Aus­schnitt habe ich mir mar­kiert und auch auf Mast­o­don gepostet:

Ohne Zwei­fel gab es Kurs­teil­neh­mer, die über UNIX ein paar Din­ge fra­gen konn­ten, die Wal­ter Bisch­off nicht wuss­te. Sie lie­ßen es ihn spü­ren, sie ver­such­ten, es ihm zu bewei­sen. „Das Wich­tigs­te wird sein, dass nie­mand erfährt, woher du kommst, eigent­lich“ — das hat­te Kara­jan gesagt, Chef­trai­ner von CTZ. Kara­jan hat­te Wal­ter gezeigt, wie das Kurs­ma­te­ri­al beschaf­fen sein soll­te, wel­che Tech­nik ihn vor Ort erwar­ten und wie sie gehand­habt wer­den muss­te. Das Auf­wen­digs­te waren die Foli­en für den Over­head-Pro­jek­tor. Jeder Kurs war eine Foli­en­wüs­te. „Ein Ost­ler, ver­stehst du, Wal­ter — vie­le ertrü­gen das nicht, bei 1000 Mark Kurs­ge­bühr pro Tag“, hat­te Kara­jan gesagt. 

Lutz Sei­ler, 2020: Stern 111, Suhrkamp

Die­se Abwer­tung und Arro­ganz. Sowohl durch den Chef der Aus­bil­dungs­fir­ma als auch durch die Aus­zu­bil­den­den. Ich selbst habe die­se Abwer­tung nie erfah­ren, aber die Mehr­heit der Ost­deut­schen wohl schon. Vie­le West­deut­sche wun­dern sich, war­um die Din­ge so lau­fen, wie sie jetzt lau­fen, aber sie ver­ste­hen immer noch nichts.

Bei der Dis­kus­si­on auf Mast­o­don hat mich jemand auf einen Pod­cast hin­ge­wie­sen, in dem Andre­as Baum und Andi Arbeit über Stern 111 spre­chen. Andi Arbeit äußert dann irgend­wann folgendes:

Und ich glaub, bei so Aka­de­mi­ker­el­tern stellt sich dann ja auch raus, dass der Vater – wie man sich kaum vor­stel­len kann – irgend­wel­che Pro­gram­mier­spra­chen kann, mit denen er dann bis in LA irgend­wel­che wil­den Soft­ware-Pro­gram­me irgend­wie ent­wirft und wo man sich auch fragt: Mein Gott, woher konn­te der das? In Jena oder irgend­wo in irgend ner Uni hat er dann C+ oder C++, ich weiß auch nicht genau, wie die heißt, alles Mög­li­che gelernt, was ihn dazu befä­higt hat, über­haupt die­ses Leben zu führen. 

Andi Arbeit 2020: Mein Freund der Baum — das Bücher­ra­dio mit Andre­as Baum & Andi Arbeit 24:13

Hät­te ich nicht beim Abwa­schen gestan­den, wäre ich wohl vom Stuhl gefal­len. Über drei­ßig Jah­re spä­ter kommt da die­sel­be Arro­ganz zum Vor­schein, die es auch 1989 gab und die im Buch beschrie­ben ist. Und Andi Arbeit hat es wahr­schein­lich nicht ein­mal selbst bemerkt. Mein Gott, woher konn­te der das? Als Ossi! C+ oder C++ oder wie das heißt. Das kann man sich ja kaum vor­stel­len, dass irgend­ei­ner von die­sem nichts­nut­zi­gen Pack zu irgend­was gut war.

Mal schnell noch zwi­schen­durch, bevor wir zum eigent­li­che Inhalt hier kom­men. In der Syn­tax von C und auch ande­ren Pro­gram­mier­spra­chen gibt es eine Nach­fol­ger­funk­ti­on. Man kann also statt c = c + 1; auch c = c++; oder ein­fach gleich c++; schrei­ben. Damit wird der Wert der Varia­ble c um eins erhöht. Die Pro­gram­mier­spra­che C++ ist der Nach­fol­ger von C. Eine Weiterentwicklung.

Also: Also! Los.

Karl Marx und ich

Über Karl Marx haben wir in der Schu­le gelernt, dass er acht Spra­chen konn­te. Ich habe mich als jun­ger Mann dar­über gefreut, dass ich mehr Spra­chen als Marx beherrsch­te. Die meis­ten davon waren aller­dings Com­pu­ter­spra­chen. Ich konn­te BASIC, Pas­cal (Tur­bo Pas­cal), C, C++, ReDa­Bas (Ost-Kopie von DBASE) und forth. Außer­dem konn­te ich Z80 Assem­bler pro­gram­mie­ren. Ich kann­te mich mit CP/M und Unix aus und hat­te mit pro­gram­mier­ba­ren Taschen­rech­nern von Texas Instru­ments (Umge­kehr­te Pol­ni­sche Nota­ti­on, yes), Home-Com­pu­tern (ZX81, C20, C64, C128, Z9001, KC 85/2) und an rus­si­schen Pro­zess­rech­nern wie der SM‑4 (Nach­bau der PDP-11 von DEC) gear­bei­tet. Alles noch vor dem Stu­di­um. Wie war es mir nur gelun­gen, die­ses Wis­sen zu erwer­ben? Als Ossi????

Homecomputer und Computerclubs

In den 80er Jah­ren kamen die ers­ten Home­com­pu­ter auf. Der ZX80 kos­te­te 100£ und das Nach­fol­ge­mo­dell, der ZX81, fand auch sei­nen Weg nach Ost­deutsch­land. Lie­be West­ver­wand­te brach­ten einen mit, man­che Arbeits­grup­pen hat­ten sol­che West­ge­rä­te. Spä­ter fand der C64 auch in ost­deut­schen Kin­der­zim­mern wei­te Ver­brei­tung. Mit mei­nem Freund Peer bekam ich einen Feri­en­job bei einem Wis­sen­schaft­ler in einer Lun­gen­kli­nik in Buch. Er hat­te zwei C64 und auch das Vor­gän­ger­mo­dell Com­mo­do­re VC20. Unser Job war es, Pro­gram­me aus der Zeit­schrift 64er ein­zu­ge­ben. Die­se Maschi­nen­sprach­e­pro­gram­me waren dort in Hexa­de­zi­mal­code abge­druckt. End­lo­se Zei­chen­ko­lon­nen. Wozu die Lun­gen­kli­nik Com­pu­ter­spie­le brauch­te, war uns nicht ganz klar, aber wir durf­ten die Pro­gram­me dann auch selbst haben und beka­men noch Geld. Die­se Pro­gram­me bil­de­ten den Grund­stock eines Tausch­im­pe­ri­ums für Com­pu­ter­spie­le, die dann im Haus der Jun­gen Talen­te in grö­ße­ren Tausch­krei­sen noch ver­mehrt wur­den (Don’t ask about copy­rights. War halt ne Mau­er dazwi­schen.). Der Punkt ist: Es gab West-Com­pu­ter, es gab West-Zeit­schrif­ten, die bis zur abso­lu­ten Mate­ri­al­er­mü­dung gele­sen und wei­ter­ge­ge­ben wur­den. Es gab auch Com­pu­ter-Bücher von Data-Becker zum Bei­spiel, die von hilfs­be­rei­ten Omas oder Opas über die Gren­ze gebracht wur­den. Es gab Com­pu­ter­clubs und es gab Ver­an­stal­tun­gen für Schüler*innen, bei denen man auch pro­gram­mie­ren ler­nen konn­te. Die­se Heim­com­pu­ter hat­ten meist einen BASIC-Inter­pre­ter dabei, so dass alle BASIC ler­nen konnten.

Nach­trag 22.07.2024: Peer hat Sta­si-Unter­la­gen zur Com­pu­ter­sze­ne in der DDR gefun­den. Die­se bestä­ti­gen sehr schön, was ich hier geschrie­ben habe und geben auch Zah­len zum Umfang der Sze­nen. Die Sta­si spricht von zehn­tau­sen­den Computerbesitzern.

Sta­si-Doku­ment spricht von zehn­tau­sen­den Com­pu­ter­be­sit­zern und lis­tet die Typen auf.

Universitäten und Forschungseinrichtungen

Mei­ne Mut­ter hat Astro­phy­sik stu­diert, mein Vater Phy­sik. Im Rah­men des Astro­phy­sik­stu­di­ums wur­den die Student*innen auf dem Zeiss-Rechen­au­to­mat 1 (ZRA1) aus­ge­bil­det. Mein Vater hat, obwohl das eigent­lich nur für die Astrophysiker*innen Pflicht war, auch in die­ser Ver­an­stal­tung pro­gram­mie­ren gelernt. Das war 1964/1965. Wäh­rend der Müt­ter­kur nach mei­ner Geburt 1968 lern­te mei­ne Mut­ter COBOL. Sie war nicht ganz sicher, wel­che Pro­gram­mier­spra­che sie brau­chen wür­de. Es stell­te sich her­aus, dass das die fal­sche Spra­che gewe­sen war und sie For­tran brauch­te, aber auch das war dann kein Pro­blem. Über 20 Jah­re spä­ter, nach der Wen­de, wur­de mei­ne Mut­ter ent­las­sen. Sie arbei­te­te dann in der Wei­ter­bil­dung für Frau­en und brach­te ihnen Pro­gram­mie­ren bei. In COBOL. Mei­ne Eltern arbei­te­ten bei­de an der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten in der Mole­ku­lar­bio­lo­gie an einem Groß­rech­ner, der BESM‑6. Noch wäh­rend der DDR-Zeit lern­te mei­ne Mut­ter auch BASIC und C. Mei­ne Eltern hat­ten in der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten Zugriff auf die Fach­zeit­schrif­ten aus dem Wes­ten. Mein Vater hat zu hau­se mit einem pro­gram­mier­ba­ren Taschen­rech­ner von Texas Instru­ments gear­bei­tet, den sein Schwie­ger­va­ter aus dem Wes­ten mit­ge­bracht hat­te. Pro­gram­me wur­den auf Magnet­kar­ten gespei­chert. Mein Vater konn­te MOPS (Maschi­nen­ori­en­tier­te Pro­gram­mier­spra­che für den Robo­tron 300), alle For­tran-Vari­an­ten und Algol 60.

Mei­ne Mut­ter hat mich auch schon als Schü­ler zu Kol­le­gen mit­ge­nom­men, die Com­pu­ter zusam­men gebaut haben. Ich erin­ne­re mich an Büros mit offe­nen Com­pu­tern, wo ich die Pla­ti­nen sehen konn­te. Die Laufwerke. 

Ich hat­te das Glück, auf die Spe­zi­al­schu­le mit mathe­ma­tisch-natur­wis­sen­schaft­li­cher Aus­rich­tung Hein­rich-Hertz gehen zu kön­nen. Dort hat­ten wir zu Beginn (1982) eben­falls pro­gram­mier­ba­re Taschen­rech­ner von Texas Instru­ments. Spä­ter kamen Z9001 dazu, die ers­ten Heim­com­pu­ter der DDR. Die Hein­rich-Hertz-Schu­le ist sogar im Wiki­pe­dia-Artiekl über den Z9001 erwähnt. Unser Com­pu­ter­ka­bi­nett wur­de mit Com­pu­tern aus den ers­ten 100 Stück aus­ge­stat­tet. Mit die­sen Rech­nern hat­ten wir spe­zi­el­len Infor­ma­tik­un­ter­richt, den es an ande­ren Schu­len nicht gab. Wir lern­ten Grund­la­gen wie bestimm­te Algo­rith­men und Pro­gramm­ab­lauf­plä­ne. Mit Peer bekam ich eine Ein­zel­be­treu­ung im Rechen­zen­trum der Hum­boldt-Uni. Wir konn­ten direkt am Haupt­com­pu­ter der HU arbei­ten, was die Student*innen zu der Zeit nicht durf­ten. Sie muss­ten Loch­kar­ten stan­zen und die­se dann zum Rech­nen abge­ben. In der elf­ten und zwölf­ten Klas­se gab es ein Unter­richts­fach Wis­sen­schaft­lich-prak­ti­sche Arbeit. Die Hertz-Schu­le hat­te Ver­trä­ge mit dem Zen­tral­in­sti­tut für Kyber­ne­tik und Infor­ma­ti­ons­pro­zes­se der DDR (ZKI). Peer, ich und ein Jun­ge aus der Nach­bar­klas­se konn­ten in der UNIX-Arbeits­grup­pe arbei­ten. Sie arbei­ten an MUTOS. Das war eine UNIX-Vari­an­te, die ihren Weg über Öster­reich-Ungarn in den Ost­block gefun­den hat­te. Embar­go­tech­nik, aber für Geld … Im ZKI habe ich C gelernt. Der Wis­sen­schaft­ler, der es mir bei­gebracht hat, mein­te zu BASIC: „Wer BASIC gelernt hat, ist ver­saut für’s Leben!“ Ich habe dann die Arbeit am ZKI der Arbeit im Rechen­zen­trum der HU vor­ge­zo­gen, denn die Rech­ner im ZKI waren bes­ser. Der theo­re­ti­sche Teil in der HU war aber toll. In der HU wur­de auch das fol­gen­de Doku­ment ausgedruckt:

Aus­druck von Ker­nig­han & Rit­chie, das in Karl-Marx-Stadt ein­ge­ge­ben wor­den war auf einem Par­al­lel­dru­cker der Humboldt-Universität.

Das war eine Ver­si­on des Stan­dard-Buches über C von Ker­nig­han & Rit­chie aus dem Jah­re 1978. Es wur­de für mich auf einem Par­al­lel­dru­cker aus­ge­druckt. Der Dru­cker hat­te Typen­rä­der und es wur­de je eine Zei­le gedruckt. Lei­der waren die Typen­rä­der nicht gut syn­chro­ni­siert. Das wur­de aber durch das Ruckeln der Stra­ßen­bah­nen ausgeglichen.

Im ZKI konn­ten Peer und ich die Biblio­thek benut­zen und hat­ten dar­über Zugriff auf Com­pu­ter und Wis­sen­schafts­zeit­schrif­ten (mc – Die Mikro­com­pu­ter-Zeit­schrift, c’t, Chip, Bild der Wis­sen­schaft). Die aktu­el­len Aus­ga­ben waren oft aus­ge­lie­hen, aber wir lasen auch alte Aus­ga­ben gern. Peer sorg­te auch dafür, dass wir an die Fach­zeit­schrif­ten in der Ber­li­ner Stadt­bi­blio­thek dran­ka­men: Nach einem Brief­wech­sel inklu­si­ve Leser­brief an die Ber­li­ner Zei­tung hat­ten wir irgend­wann ein Gespräch mit dem Direk­tor der Biblio­thek. Ich habe dort als Schü­ler auch Bücher über die Grund­la­gen der Hard­ware von Com­pu­tern gele­sen. Die­se Bücher waren ganz nor­mal für alle auch ohne Son­der­ge­neh­mi­gung ausleihbar.

Bestä­ti­gung des Rechen­zen­trums der HU, das die Schü­ler, die dort arbei­te­ten, Zugang zu West-Lite­ra­tur benö­tig­ten. 02.04.1985

Bei der Armee konn­te ich dann letzt­lich auch mit Com­pu­tern arbei­ten. Ich habe mit Reda­bas (ein geklau­tes Ost­block-DBASE) und dann mit Tur­bo-Pas­cal gear­bei­tet. Um in die Com­pu­ter­grup­pe rein­zu­kom­men (lief wohl irgend­wie über die ZKI-Con­nec­tion, die Kon­tak­te nach Straus­berg hat­ten, wo auch MUTOS ver­wen­det wur­de), muss­te ich nach­wei­sen, dass ich das ent­spre­chen­de Wis­sen hat­te. Ich arbei­te nach Dienst an einem Pro­gramm für den KC85/2 in Assem­bler. Die KC85/2 hat­ten einen U880-Pro­zes­sor. Das war die Ost-Vari­an­te des Z80.

Zusam­men­fas­sung: Es gab im Osten Com­pu­ter. Die lie­fen mit den­sel­ben Pro­gram­mier­spra­chen wie im Wes­ten. Wir hat­ten Zugriff auf die West-Lite­ra­tur. Mit­un­ter lief die Lite­ra­tur­be­schaf­fung etwas hol­pe­rig, aber man kam dran. Mit­un­ter waren die Aus­dru­cke etwas hol­pe­rig, aber man kam zurecht. Wissenschaftler*innen aus ganz ver­schie­de­nen Dis­zi­pli­nen haben mit Com­pu­tern gear­bei­tet. Allein in mei­ner Fami­lie war es Phy­sik, Astro­phy­sik, Mole­ku­lar­bio­lo­gie, Kris­tal­lo­gra­fie. Das Mili­tär hat­te Com­pu­ter. Nach der Wen­de arbei­tet ich als Stu­den­ti­sche Hilfs­kraft bei der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR, Abtei­lung für Com­pu­ter­lin­gu­is­tik von Prof. Jür­gen Kun­ze. Die Arbeits­grup­pe gab es – soweit ich weiß – seit den 70er Jah­ren. Sie hat­ten Com­pu­ter und haben die­se pro­gram­miert. Überraschung. 

Infor­ma­tik als eige­nes Fach gab es erst rela­tiv spät. Es gab ab 1987 an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin einen Stu­di­en­gang für Mathe­ma­ti­sche Infor­ma­tik. Das war das kom­plet­te Mathe­stu­di­um plus zusätz­li­che Infor­ma­tik­kur­se. In die­sem Stu­di­en­gang habe ich 1989 ange­fan­gen zu stu­die­ren. In Dres­den gab es noch tech­ni­sche Infor­ma­tik. Dort ging es mehr um die Hard­ware von Computern. 

In Frankfurt/Oder gab es ein Halb­lei­ter­werk, das den Osten ver­sorgt hat. Es brach zusam­men, am Tag der Wäh­rungs­uni­on, weil der Ost­block kei­ne West-Wäh­rung bezah­len konn­te. In Sach­sen gab es eben­falls Halb­lei­ter-Indus­trie. Die NZZ schreibt zur Zeit nach der Wende:

In den 1990er Jah­ren habe man des­halb die rich­ti­gen Fach­kräf­te gefun­den, und die Uni­ver­si­tä­ten sei­en dar­auf aus­ge­rich­tet gewe­sen, die­se Fach­kräf­te auszubilden.

Hölt­schi, 2022: Von der DDR-Ver­gan­gen­heit zur Bewah­rung euro­päi­scher Sou­ve­rä­ni­tät: der Halb­lei­ter-Clus­ter Sili­con Sax­o­ny, Neue Züri­cher Zeitung.

Das heißt, es gab qua­li­fi­zier­tes Per­so­nal und es gab Uni­ver­si­tä­ten, die die Men­schen aus­ge­bil­det haben.

Nach­trag 22.07.2024: In den schon erwähn­ten Sta­si-Unter­la­gen wer­den auch Besit­zer pri­va­ter Com­pu­ter erwähnt, die einen beruf­li­chen EDV-Hin­ter­grund haben.

Das sind nur die Per­so­nen, die zusätz­lich zu ihrer Arbeit mit Com­pu­tern auch pri­vat über einen Com­pu­ter ver­füg­ten. Obwohl mei­ne Eltern bei­de mit Rech­nern arbei­te­ten, hat­ten sie bis auf einen pro­gram­mier­ba­ren Taschen­rech­ner kei­ne pri­va­ten Com­pu­ter. Das heißt, die Zahl der Per­so­nen mit EDV-Beru­fen war größer.

Schulbildung

Die Schul­bil­dung war im natur­wis­sen­schaft­li­chen Bereich bes­ser als die im Wes­ten. Sagt man. Mein Sohn hat­te einen guten Mathe­leh­rer, der auch schon zu Ost­zei­ten Leh­rer war. Er hat zur Vor­be­rei­tung auf die MSA-Prü­fung die Schüler*innen Auf­ga­ben für die Prü­fung nach der 10. Klas­se in der DDR rech­nen las­sen. Mein Sohn mein­te, dass die viel, viel schwie­ri­ger waren als die aktu­el­len Aufgaben.

Im Eini­gungs­ver­trag wur­den alle Ost-Abitur-Abschlüs­se um eine Note her­un­ter­ge­stuft. Ich stel­le mir gera­de vor, wie der West-Ver­hand­lungs­füh­rer, des­sen Name ich ver­ges­sen habe, mit dem Ost-Ver­hand­lungs­füh­rer, des­sen Name ich ver­ges­sen habe, gespro­chen hat: „Also, Herr X, Sie müs­sen schon ein­se­hen, dass die Ossis alle ein biss­chen döo­fer als die Wes­sis sind.“ „Ja, ehm, hm, Herr Y, da haben sie schon Recht. Wäre es ok, wenn wir die Abitur­no­ten aller Ossis um eine hal­be Note nach unten kor­ri­gie­ren?“ „Nein, die sind noch viel döo­fer. Also das muss min­des­tens eine gan­ze Note sein.“ „Ok.“ (Mis­ter X zu sich sel­ber: „Sag ich doch, die sind doof.“)

Aber jetzt mal Spaß bei­sei­te. Die empi­ri­sche Grund­la­ge die­ses Beschlus­ses wür­de mich schon inter­es­sie­ren. Wie wur­den die Ver­gleichs­stich­pro­ben bestimmt? So?

Miss Ost­deutsch­lands im Bil­dungs­test 2004, 15 Jah­re nach der Wen­de, d.h. mit guter West-Bildung

Aber das kann es nicht gewe­sen sein, denn die­se Form der Besten­er­mitt­lung fand erst statt, als der Eini­gungs­ver­trag unter Dach und Fach war.

Das Ergeb­nis war jeden­falls, dass alle Ossis schon mal schlech­te­re Chan­cen hat­ten, wenn sie sich mit West­lern mes­sen muss­ten. Und das muss­ten vie­le. Mil­lio­nen haben nach der Wen­de das Land (den Osten) ver­las­sen, denn sie wur­den dort arbeits­los, weil ihre Betrie­be geschlos­sen wur­den oder sie ein­fach aus den Uni­ver­si­tä­ten und den For­schungs­ein­rich­tun­gen raus­ge­wor­fen wur­den. („Von den 218.000 Wis­sen­schaft­lern der ehe­ma­li­gen DDR ver­lor die Hälf­te ihre Stel­le. Bei den Pro­fes­so­ren waren es nach Zah­len der bri­ti­schen Zeit­schrift Natu­re sogar zwei Drit­tel.“ Peter André Alt, Ber­li­ner Zei­tung, 06.11.2019)

Es gab übri­gens zwei Schu­len im Osten, deren Abitur nicht abge­wer­tet wur­de. Eine davon war mei­ne. Ich bin also nicht betrof­fen. Ich bin also kein Jam­mer-Ossi. Bis 2013 war mir das gan­ze Ost-The­ma Wum­pe. Die DDR war nichts meins, ich habe ihr nicht nach­ge­weint. Ich bin Pro­fes­sor, mir geht es gut. Bis 2019 habe ich auch nichts gesagt. Jetzt spre­che ich für ande­re. Ich hof­fe, irgend­wer ver­steht das und irgend­wem nützt das.

Nach­trag 08.01.2024. Es gab Nach­fra­gen bezüg­lich der Her­ab­stu­fung der Abitur­no­ten. Im Eini­gungs­ver­trag war das nicht gere­gelt, aber ich habe zwei Arti­kel zu dem The­ma gefun­den. Einen im Spie­gel (Drü­ben war es leich­ter) und einen in der taz (Zwei Bun­des­län­der erken­nen DDR-Abitur nicht an). Noch zum Hin­ter­grund: In der DDR konn­ten pro Klas­se zwei bis drei Schüler*innen Abitur machen, wobei die Klas­sen­stär­ke um die 30 lag.

In unse­ren Klas­sen erhiel­ten von knapp drei­ßig Kin­dern gera­de mal zwei bis drei eine Emp­feh­lung für die Erwei­ter­te Ober­schu­le, so dass Leh­rer gut dar­an taten, früh­zei­tig zu signa­li­sie­ren, wen sie dafür im Auge hatten.

Mau, Stef­fen, 2019, Lüt­ten Klein: Leben in der ost­deut­schen Trans­for­ma­ti­ons­ge­sell­schaft, Ber­lin: Suhr­kamp Ver­lag S. 55.

In mei­ner Klas­se waren 31 Schüler*innen. Die Stu­di­en­platz­ver­ga­be erfolg­te nach volks­wirt­schaft­li­chem Bedarf. Wenn man einen Stu­di­en­platz bekom­men hat, hat­te man dann auch die Arbeits­stel­le sicher. Das war ganz anders, als das im Wes­ten ist, wo es hun­der­te Student*innen im Bereich Lite­ra­tur­wis­sen­schaft und habi­li­tier­te Taxifahrer*innen gibt.

Zusammenfassung

Lie­be Wes­sis, wir wuss­ten alles über Euch. Wir fan­den Euch inter­es­sant. Euer Leben haben wir im Fern­se­hen gese­hen und das der Amis. Wir haben Eure Bücher gele­sen. Die Roma­ne und die Fach­bü­cher. Das war noch viel span­nen­der, wenn sie schwer zu bekom­men waren. Wir wuss­ten alles über Euch, aber Ihr nichts über uns. Und das ist zum Teil lei­der auch über 30 Jah­re nach dem Anschluss der DDR immer noch so. Shame on you. Also jeden­falls on ein paar von Euch. On tho­se, who immer noch sol­chen Müll in Zei­tun­gen schrei­ben, in Pod­casts sagen oder sonst wie ver­brei­ten. Wun­dert Euch nicht, wenn das kei­ner mehr will bzw. immer noch kei­ner will.

Und noch etwas: Redet über uns, als wären wir dabei. Das reicht viel­leicht schon. Wobei, Andre­as Baum ist ja aus dem Osten und Andi Arbeit hat den­noch so gesagt, was sie gesagt hat.

Immer­hin haben ja alle bis zum Ende gele­sen. =:-) Stay tun­ed, bis zum nächs­ten Rant.

Nachgedanken

Mir fal­len immer noch nach­träg­lich Din­ge ein. Zum The­ma „doo­fe Ossis“ noch drei Punk­te: 1) Prof. Dr. Man­fred Bier­wisch war der ers­te Deut­sche, der im Rah­men von Chom­skys Trans­for­ma­ti­ons­gram­ma­tik gear­bei­tet hat. Und zwar ab 1959, lan­ge, lan­ge vor dem Wes­ten. Jahr­zehn­te. Bier­wisch hat 1963 die ers­te Trans­for­ma­ti­ons­ana­ly­se des Deut­schen vor­ge­stellt. Es gibt ein tol­les Gespräch mit Bier­wisch über die gesam­te DDR-Zeit und dar­über, wie die Ent­wick­lung der Arbeits­grup­pen ver­lief. Vie­le bekann­te West­ler haben die Grup­pe im Osten besucht (Prof. Dr. Die­ter Wun­der­lich war einer davon. In Wiki­pe­dia steht auch, dass Wun­der­lich über Bier­wisch zur Gene­ra­ti­ven Gram­ma­tik kam.)

2) Die soge­nann­te Aka­de­mie-Gram­ma­tik von 1981 Grund­zü­ge einer deut­schen Gram­ma­tik hat Stan­dards gesetzt. Die Duden-Gram­ma­tik aus die­ser Zeit war … nun ja. Ab 2005 ist sie sehr gut.

3) Rena­te Schmidt, eine gute Bekann­te, hat an der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten an Wör­ter­bü­chern gear­bei­tet. Nach der Wen­de wur­de die Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR abge­wi­ckelt. 22 Ossis wur­den vom Insti­tut für Deut­sche Spra­che in Mann­heim über­nom­men. Rena­tes Chef Hel­mut Schu­ma­cher begrüß­te die Neu­en und ver­sprach ihr, ihr das Erstel­len von Wör­ter­bü­chern bei­zu­brin­gen. Sie hat­te aber schon an fünf Wör­ter­bü­chern mit­ge­ar­bei­tet. Zum Wör­ter­buch der deut­schen Gegen­warts­spra­che steht in Wikipedia:

Das Wör­ter­buch der deut­schen Gegen­warts­spra­che (WDG) wur­de in Ber­lin an der Deut­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten (ab Okto­ber 1972: Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR) zwi­schen 1952 und 1977 unter der Lei­tung von Ruth Klap­pen­bach und Wolf­gang Stei­nitz erar­bei­tet. Das Wör­ter­buch erschien in 6 Bän­den und wur­de bis zum Ende der DDR band­wei­se ver­setzt nach­ge­druckt. Das WDG umfasst über 4.500 Sei­ten und ent­hält knapp 100.000 Stich­wör­ter. In Kon­zep­ti­on und Quel­len­aus­wahl war es sei­ner Zeit weit vor­aus und wur­de daher auch als Vor­bild vie­ler Wör­ter­buch­pro­jek­te her­an­ge­zo­gen, so etwa vom Gro­ßen Wör­ter­buch der deut­schen Spra­che des Duden­ver­lags (1976–1981).

Im Wes­ten wur­de das Werk zu DDR-Zei­ten kaum rezen­siert oder gar in sei­ner Bedeu­tung erkannt und gewürdigt. 

Wiki­pe­dia zum Wör­ter­buch der Deut­schen Gegen­warts­spra­che, 08.01.2024

Rena­te Schmidt arbei­te­te unter Hel­mut Schu­ma­chers „Lei­tung“ am Valen­z­wör­ter­buch: VALBU. Valen­z­wör­ter­buch deut­scher Ver­ben. Schu­ma­chers Bei­trag am gesam­ten Wör­ter­buch waren vier Arti­kel von ins­ge­samt 638. Sei­ne Arti­kel waren von schlech­ter Qua­li­tät. Rena­te Schmidt kor­ri­gier­te die­se Arti­kel und leg­te sie ihm wie­der hin. Er über­nahm die revi­dier­ten Fas­sun­gen ohne irgend­wel­che Ände­run­gen und ohne irgend­ei­nen Kom­men­tar. Wort­los. Rena­te hat noch als Rent­ne­rin das gan­ze Wör­ter­buch durch­ge­se­hen und alle Arti­kel kor­ri­giert. Als Erst­au­tor wird Schu­ma­cher geführt (Wer als Erst­au­tor genannt wird, ist in der Wis­sen­schaft wich­tig, weil die Lite­ra­tur­ver­zeich­nis­se nach Erst­au­toren sor­tiert sind.) Schuh­ma­cher war dann wegen schwe­rer Depres­sio­nen sechs Mona­te krank geschrie­ben. Er sag­te, Rena­te Schmidt habe ihn in die Depres­si­on getrie­ben. Tja, ist eben doof, wenn man nichts bei­trägt und das Weni­ge, was von einem kommt, dann auch noch falsch ist. Viel­leicht noch zum Hin­ter­grund: Rena­te ist die liebs­te Per­son der Welt, nie­mand, der Stress macht oder so. Das kön­nen sicher alle ehe­ma­li­gen Kolleg*innen bestä­ti­gen. Ein Kol­le­ge, der frü­her am IDS arbei­te­te und jetzt eine Pro­fes­sur anders­wo hat, hat mir mal gesagt, dass sich die Arbeits­at­mo­sphä­re am IDS durch die Ossis wesent­lich ver­bes­sert hat. Die Ossis gin­gen sogar mit Sekre­tä­rin­nen essen, was die Wes­sis nie im Leben gemacht hät­ten, obwohl sie 68er-Revo­luz­zer waren. Also alles sehr umgäng­li­che Men­schen, kein Grund für schlech­te Lau­ne. Schu­ma­chers Depres­si­on ist also wahr­schein­lich wirk­lich auf die Ein­sicht in die eige­ne Inkom­pe­tenz zurückzuführen. 

Auf der ers­ten Jah­res­ta­gung des IDS nach der Wen­de hat Prof. Dr. Hart­mut Schmidt, Rena­te Schmidts Mann, einen Vor­trag gehal­ten (Bei­trag im Jahr­buch). Danach kam ein Kol­le­ge aus dem Wes­ten zu ihr und lob­te den Vor­trag. Sie frag­te sich, wie­so er dazu zur Frau des Vor­tra­gen­den gekom­men war (Tja, doch etwas ande­re Rol­len­bil­der damals. Im Wes­ten.) und ant­wor­te­te: „Wir haben vie­le an unse­rem Insti­tut, die sol­che Vor­trä­ge hal­ten kön­nen.“. Das Gegen­über wuss­te nicht mehr wei­ter und das Gespräch war beendet.

Quellen

Alt, Peter André. 2019. Wen­de an Uni­ver­si­tä­ten und Biblio­the­ken: Vie­le DDR-Wis­sen­schaft­ler ver­lo­ren ihre Stel­le. Ber­li­ner Zei­tung. (https://www.berliner-zeitung.de/zukunft-technologie/wende-an-universitaeten-und-bibliotheken-viele-ddr-wissenschaftler-verloren-ihre-stelle-li.69910)

Fetsch, Wil­fried. Infor­ma­ti­on der Zen­tra­len Arbeits­grup­pe Geheim­nis­schutz zur pri­va­ten Nut­zung von Com­pu­tern. Bun­des­ar­chi­v/Sta­si-Unter­la­gen-Archiv. (https://www.stasi-mediathek.de/medien/information-der-zentralen-arbeitsgruppe-geheimnisschutz-zur-privaten-nutzung-von-computern/blatt/84/)

Hölt­schi, René. 2022. Von der DDR-Ver­gan­gen­heit zur Bewah­rung euro­päi­scher Sou­ve­rä­ni­tät: der Halb­lei­ter-Clus­ter Sili­con Sax­o­ny. Neue Züri­cher Zei­tung. Zürich. (https://www.nzz.ch/wirtschaft/silicon-saxony-halbleiter-oekosystem-mit-ddr-erbe-in-sachsen-ld.1693996)

Spie­gel. 1990. Drü­ben war es leich­ter. Der Spie­gel 13/1990. (https://www.spiegel.de/politik/drueben-war-es-leichter-a-548dc5bf-0002–0001-0000–000013499353)

taz. 1990. Zwei Bun­des­län­der erken­nen DDR-Abitur nicht an. taz 24.03.1990. (https://taz.de/Zwei-Bundeslaender-erkennen-DDR-Abitur-nicht-an/!1775240/)

Laut und leise

Mir ist etwas klar geworden.

Bei der Armee waren wir in gro­ßen Zim­mern unter­ge­bracht. Acht, zehn, zwölf Per­so­nen. Die muss­ten über Jah­re zusam­men leben. Mit­ein­an­der klar­kom­men. Es gab Radi­os. Die Laut­stär­ke muss­te aus­ge­han­delt wer­den. Manch­mal bat jemand dar­um, die Musik lei­ser zu stel­len. Da gab es einen Trick: Man dreh­te ein­fach noch lau­ter, sag­te „huch“ und dreh­te dann wie­der etwas zurück. Letzt­end­lich war es auf die­se Wei­se sogar lau­ter gewor­den, als es vor­her schon gewe­sen war.

Deut­sche Fah­nen haben mir schon immer Übel­keit berei­tet. Die Sach­sen begrüß­ten Kohl 1990 in einem Fah­nen­meer. Ich bin zusam­men­ge­zuckt, wenn die Wes­sis in den 90ern von Deutsch­land gespro­chen haben. 2006 war irgend­was mit Fuß­ball. Die Deut­schen waren froh und glück­lich. Über­all Fah­nen. Die Deut­schen waren nett zu ande­ren. Das war nur kurz. Bald dreh­te jemand wie­der lauter.

Nach der Wen­de. Asyl­be­wer­ber­hei­me brann­ten in Ost und West. Es war ent­setz­lich. Uner­träg­lich. 2015. Krieg in Syri­en. Vie­le Men­schen muss­ten flie­hen. Ange­la Mer­kel sag­te: „Wir schaf­fen das!“. Die BILD-Zei­tung war soli­da­risch mit den Flücht­lin­gen. Ich rieb mir ver­wun­dert die Augen. In der Schu­le mei­ner Kin­der sam­mel­ten die Men­schen Anzieh­sa­chen und ande­re Din­ge, die man den Flücht­lin­gen geben konn­te. Medi­ka­men­te. Men­schen nah­men die Flücht­lin­ge bei sich zu hau­se auf. Vier Jah­re spä­ter wur­de ein Poli­ti­ker erschos­sen, weil er 2015 Mensch­lich­keit gezeigt hat­te. 2023 drang die Poli­zei mit gro­ßem Krach in eine Kir­che ein und been­de­te das Kirchenasyl.

Seit den 70ern weiß man vom Treib­haus­ef­fekt. Hier und da kam etwas in den Medi­en vor. Kon­fe­ren­zen fan­den statt. Eine Umwelt­mi­nis­te­rin schrieb 1997 ein Buch, in dem alles klar gesagt wur­de. Sie wur­de spä­ter Kanz­le­rin, ver­ant­wort­lich für Pil­le­pal­le (ihre eige­nen Wor­te). 2018 sorg­te eine Schü­le­rin dafür, dass die Mensch­heit Notiz von dem Pro­blem nahm. Mil­lio­nen Men­schen gin­gen auf die Stra­ße. Es gab Hoff­nung. Bei den Wah­len 2021 gab es eine Par­tei, die bei 12% lag, eine Par­tei mit einem Clown als Kan­di­dat und die Par­tei, die den Grund zur Hoff­nung gab. Der Clown hat sich selbst ins Aus gelacht, die Par­tei der Hoff­nung wur­de mas­siv bekämpft, so dass letzt­end­lich die 12%-Partei mit dem Typ mit der Rau­te gewann. Die Pil­le­pal­le-Poli­tik wur­de fort­ge­setzt. Der Machen-Sie-sich-kei­ne-Sor­gen-Rau­te-Mann zer­stör­te ein Gesetz, das er in der Vor­gän­ger­re­gie­rung selbst mit aus­ge­ar­bei­tet hat­te. Es wur­de noch wärmer.

Das ist das Mus­ter. Es ist immer gleich. 

Es ist zu laut!

Einfach nicht mitmachen

Von mei­ner Frau wuss­te ich, dass sie in ihrer Fami­lie einen Wehr­machts­an­ge­hö­ri­gen hat­ten, der in Nor­we­gen Zivi­lis­ten erschie­ßen soll­te, den Befehl ver­wei­gert hat und selbst erschos­sen wurde.

Nun habe ich erfah­ren, dass ein Mit­glied mei­ner Fami­lie wegen Fah­nen­flucht erschos­sen wur­de. Kurz vor Kriegs­en­de war er eben­falls in Nor­we­gen nicht vom Aus­gang zurückgekehrt. 

Er war mit sei­ner nor­we­gi­schen Freun­din unter­ge­taucht. Er wur­de geschnappt und hin­ge­rich­tet. Was aus sei­ner Freun­din gewor­den ist, ist nicht bekannt. Viel­leicht haben sich die Wege mei­ner Fami­lie und der Fami­lie mei­ner Frau ja schon frü­her gekreuzt. Viel­leicht war ihrem Ver­wand­ten ja die Auf­ga­be zuge­dacht, die Freun­din mei­nes Ver­wand­ten zu ermor­den und er hat sich gewei­gert und ist selbst dafür gestorben.

Ich wüss­te gern mehr über die Umstän­de und Grün­de sei­ner Flucht, über die nor­we­gi­sche Fami­lie, die ein Kind ver­lo­ren hat.

In der Todes­nach­richt stand, dass Todes­an­zei­gen und Nach­ru­fe ver­bo­ten sind. Hier nun also sehr spät ein Nach­ruf für mei­nen Ver­wand­ten, der für sei­ne Lie­be gestor­ben ist. Er erscheint nicht in einer Zei­tung oder in einer Zeit­schrift, aber in dergleichen. 

Der Anfang vom Ende

Heu­te vor 34 Jah­ren war Micha­el Gor­bat­schow in Ber­lin. Zum 40 Geburts­tag der DDR. Eine gute Bekann­te von mir, die heu­te mei­ne Frau ist, hat­te irgend­wann 1989 eine Woh­nung bekom­men und einen Ter­min für die Ein­wei­hung gesucht. Da der 7.10. ein Fei­er­tag war und nie­mand von ihren Freun­den zu irgend­wel­chen der offi­zi­el­len Fei­ern gehen wür­de, hat­te sie den 7.10. gewählt. Am 07. Mai 1989 fan­den in der DDR Kom­mu­nal­wah­len statt (Wiki­pe­dia-Ein­trag zu die­sen Wah­len). Die Bür­ger­be­we­gung orga­ni­sier­te zusam­men mit der Kir­che eine flä­chen­de­cken­de Prä­senz bei den Aus­zäh­lun­gen. Das war im Wahl­ge­setz der DDR so vor­ge­se­hen. Der Beschiss fand bei der Zusam­men­füh­rung der Wahl­er­geb­nis­se auf Stadt­be­zirks- bzw. Bezirks­ebe­ne statt, wo dann ein Wahl­er­geb­nis von 98,85% für die Kandidat*innen der Natio­na­len Front (SED + Block­par­tei­en) her­aus­kam. Mei­ne Schwes­ter war bei den Aus­zäh­lun­gen in Buch dabei. Dort waren 70% der Wähler*innen für die Block­par­tei­en. Von der Kunst­hoch­schu­le in Wei­ßen­see ist auch bekannt, dass nur 50% der Wähler*innen dafür waren. Seit dem 7. Juni gab es des­halb jeden Monat Pro­tes­te der Oppo­si­ti­on an der Welt­zeit­uhr am Alex­an­der­platz. Es war klar, dass es am 7.10. eine Ter­min­kol­li­si­on gab. Gor­bat­schow in der Stadt. 40 Jah­re DDR. Jubel­fei­ern mit ein paar Sach­sen, die zum Fei­ern her­an­ge­karrt wor­den waren.

Hon­ecker fei­er­te im Palast der Repu­blik. Andrej Herm­lin trat dort auf. Er hat Hon­ecker gese­hen, als die Pro­tes­te von drau­ßen drin­nen wahr­ge­nom­men wor­den waren. Hon­ecker saß allein an einem Tisch. Herm­lin wuss­te da schon, dass das das Ende der DDR war. (Bericht in der taz, 07.10.2009) Wir waren auf dem Weg nach Hellersdorf.

Vie­le der Par­ty­gäs­te, die Freun­de von der Jun­gen Gemein­de, kamen erst kurz vor Zwölf. Sie waren am Alex­an­der­platz gewe­sen. Sie berich­te­ten von Was­ser­wer­fern, Poli­zis­ten mit Schutz­hel­men. Ich wuss­te von den Was­ser­wer­fern, aber nie­mand hat­te sie je gese­hen. Im Ein­satz gese­hen. Poli­zis­ten mit Schutz­hel­men gab es nur im Westfernsehen.

Wir saßen um ein klei­nes Küchen­ra­dio und ver­such­ten irgend­wie Infor­ma­ti­on zu bekom­men. Jede hal­be Stun­de Nach­rich­ten: SFB. Rias. Wie eine klei­ne Ver­schwö­rung. Mit der letz­ten U‑Bahn ver­ließ ich Hel­lers­dorf und war gegen 1:30 Uhr Schön­hau­ser Allee. An der Geth­se­ma­n­e­kir­che war alles abge­sperrt. Eine Poli­zei­ket­te stand in der Star­gar­der. Ich hat­te Befürch­tun­gen, dass ich mei­ne Woh­nung nicht mehr errei­chen wür­de. Aber ich kam unbe­hel­ligt an LKWs und Strei­fen­wa­gen vor­bei, sah noch drei voll besetz­te Mann­schafts­wa­gen in die Gleim­stra­ße ein­bie­gen und war dann im ret­ten­den Haus­ein­gang ver­schwun­den. Ich war sehr froh, dass ich da durch­ge­kom­men war, denn ich war noch in Buch gemel­det und wie hät­te ich der Staats­ge­walt erklä­ren sol­len, dass ich „da hin­ten“ in einer besetz­ten Woh­nung wohnte?

Mein Gott, Walther! Die DDR als prä-faschistischer, post-faschistischer und faschistischer Staat und überhaupt.

Die­ser Blog-Post ist aus einer Mast­o­don-Dis­kus­si­on ent­stan­den. Weil sie so schön war, habe ich sie hier noch ein­mal ein biss­chen sor­tiert und für die Nach­welt archi­viert. Die­ser Bei­trag kann Spu­ren von Sar­kas­mus und sogar Wut enthalten.

Die taz hat am 03.07.2023, vor dem Hin­ter­grund der Wahl eines AfD-Mit­glieds zum Land­rat in Son­ne­berg, ein Inter­view mit dem (ost­deut­schen) His­to­ri­ker Ilko-Sascha Kowal­c­zuk ver­öf­fent­licht. In der Print­aus­ga­be endet es so:

taz: Also ist das nicht nur ein Ost-Problem?

Nein. Zeigt nicht immer nur mit dem Fin­ger auf den Osten. Der Osten ist als Labo­ra­to­ri­um der Glo­ba­li­sie­rung, als Ort der Trans­for­ma­ti­on dem Wes­ten nur ein paar Trip­pel­schrit­te vor­aus. Genau des­halb ist die Debat­te über den Osten so rele­vant: Hier – wie zum Teil in Ost­eu­ro­pa – sehen wir Ent­wick­lun­gen, die euro­pa­weit dro­hen, wenn nicht end­lich mal gegen­ge­steu­ert wird. Das kön­nen Sie an vie­len demo­sko­pi­schen Unter­su­chun­gen sehen und übri­gens auch an den Wahl­um­fra­gen der AfD. Die liegt im Osten bei 30 Pro­zent, im Wes­ten steht sie aber mitt­ler­wei­le auch bei 15 Pro­zent, der Wes­ten zieht nach. Des­we­gen sind der Ost­deutsch­land-Dis­kurs und Debat­ten über Son­ne­berg wich­tig: Wir kön­nen hier erle­ben, was uns in ganz Deutsch­land erwar­tet, wenn wir nicht end­lich mal gegensteuern.

taz, 03.07.2023: „Ilko-Sascha Kowal­c­zuk über den Osten: „Wer Nazis wählt, ist ein Nazi“

Das ist genau mei­ne Mei­nung. Ein Punkt, den ich hier in die­sem Blog und auch auf Mast­o­don zu ver­mit­teln ver­su­che. Also alles prims­tens? Nein, lei­der nicht, denn es gibt komi­sche Stel­len im Interview.

Ilko-Sascha Kowal­c­zuk hat in der #DDR #Nazi-Äuße­run­gen gegen geis­tig Behin­der­te gehört und lei­tet dar­aus ab, dass die DDR ein prä­fa­schis­ti­scher Staat war. 

Das fin­de ich ein biss­chen schnell geschos­sen. Sol­che Bemer­kun­gen wird es sowohl im Wes­ten wie im Osten geben, die Erzie­hung, die ich in mei­nen Schu­len hat­te, war aber zutiefst huma­nis­tisch. Die #Eutha­na­sie-Mor­de der #Nazis und ihre Ver­bre­chen wur­den im Unter­richt bespro­chen (sie­he auch Der Ossi und der Holo­caust).

Ich habe in Ber­lin-Buch gewohnt. WBS70. Im unters­ten Stock­werk haben in all den Häu­sern Rollstuhlfahrer*innen gewohnt. Es gab und gibt immer noch hin­ten an den Häu­sern spe­zi­el­le Zufahrts­we­ge, über die Men­schen mit Rol­lis leicht in die Woh­nun­gen gelan­gen konn­ten. Sie­he rote Lini­en auf der Kar­te. Fahr­stüh­le gab es in den Fünf­ge­schos­sern vor der Wen­de nicht. Für Men­schen mit Roll­stuhl kamen also nur die Erge­schoss­woh­nun­gen in Fra­ge. Die Zufahr­ten wur­den beim Neu­bau der Blö­cke 1974–1976 eingerichtet. 

Woh­nun­gen für Behin­der­te mit Zufahrts­ram­pen in Ber­lin Buch.

Das waren also struk­tu­rel­le Maß­nah­men im Zuge des Woh­nungs­baus. Das fol­gen­de Bild zeigt, dass beim Ent­wurf des WBS 70-Sys­tems, das in der DDR in den 70er Jah­ren ent­wi­ckelt und dann für den Bau von 644 900 Woh­nun­gen ver­wen­det wur­de, Erd­ge­schoss­woh­nun­gen für Rollstuhlfahrer*innen und Men­schen mit Behin­de­run­gen ein­ge­plant wurden.

Woh­nungs­grund­ris­se für Woh­nun­gen für Roll­stuhl­fah­rer und Behin­der­te in den WBS 70-Planungen

Ich habe von 1976 bis 1986 in dem Block gemein­sam mit vie­len Rolli-Fahrer*innen gelebt und nie irgend­ein böses Wort gehört. 

Ein geis­tig behin­der­ter Jun­ge fuhr immer mit dem Bus vom Bahn­hof Buch zum Lin­den­ber­ger Weg und zurück. Tag­aus, tag­ein. Ohne Beglei­tung. Manch­mal durf­te er die Türen auf und zuma­chen. Er hat sich sehr gefreut. Er hat­te eine brau­en Kunst­le­der­ta­sche dabei, die er als Lenk­rad benut­ze. Er saß immer in der ers­ten Rei­he vorn neben dem Fah­rer. Spä­ter habe ich ihn auch ab und zu in der S‑Bahn getrof­fen. Das war alles ganz normal.

Dass ich nie irgend­was Böses gehört habe, schließt natür­lich nicht aus, dass es böse Bemer­kun­gen gege­ben hat. Wenn man mit Behin­der­ten unter­wegs ist, gibt es ja viel mehr Begeg­nun­gen. Nur ist es eben nicht wahr, wenn behaup­tet wird, alle Behin­der­ten sei­en weg­ge­sperrt wor­den oder beschimpft worden.

Ins­ge­samt scheint es mir sehr weit her­ge­holt, aus Begeg­nun­gen mit behin­der­ten­feind­li­chen Men­schen zu schlie­ßen, dass man in einem prä­fa­schis­ti­schen Staat lebt.

Der Nut­zer Peer schreibt dazu auf Mastodon:

War­um so vor­sich­tig in dei­ner Kri­tik? Kowal­c­zuks Schluss­fol­ge­run­gen sind nicht nur „etwas weit her­ge­holt“, son­dern Non­sens. Vor­aus­ge­setzt das taz-Inter­view gibt sei­ne Aus­sa­gen zutref­fend wieder.

Ich leh­ne mich mal weit aus dem Fens­ter: Es gibt kein ein­zi­ges Land auf der Welt, in dem die best­mög­li­chen staat­li­chen Inklu­si­ons­be­mü­hun­gen ver­hin­dern wür­den, dass sich Men­schen nega­tiv über behin­der­te Men­schen äußern. Dem­nach wären die­se Län­der alle prä­fa­schis­tisch nach der Kowalczuk-Definition.

Geschich­ten­er­zäh­ler Kowal­c­zuk schließt von meh­re­ren Ein­zel­erfah­run­gen auf strukturelle/staatliche Pro­ble­me und dar­aus wie­der auf Prä-Faschismus.

In der Christ­bur­ger Stra­ße im DDR-Prenz­lau­er Berg gab es einen pri­va­ten Hand­wer­ker (Leder­gür­tel, Schuh­ma­cher so was in der Art). Die hat­ten ein Kind mit Down-Syn­drom, das sich dort sicht­bar im bzw. vor dem Laden beschäf­tig­te, ohne dass die Eltern immer selbst sicht­bar waren. Hät­te das zu nega­ti­ven Reak­tio­nen geführt, hät­ten sie das ihrem Kind ver­mut­lich nicht zuge­mu­tet. Jeden­falls wur­de es nicht ver­steckt und war auch nicht im Heim. (Geis­tig behin­dert und pri­va­ter Hand­wer­ker gleich 2x nicht Main­stream in der DDR).

Ande­res Bei­spiel: Sebas­ti­an Urban­ski hat eben­falls das Down-Syn­drom. “Als er 1986 in Pan­kow ein­ge­schult wur­de, gal­ten Kin­der wie er in der DDR als „bil­dungs­un­fä­hig“. Doch sei­ne Eltern hat­ten ihm einen Schul­platz erstrit­ten.” https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/holocaust-gedenktag-2017-mit-sebastian-urbanski-spricht-erstmals-ein-mensch-mit-down-syndrom-im-bundestag-li.29544

Pan­kow war ein Stadt­be­zirk in der DDR. Ist natür­lich nicht so pos­ti­tiv, dass er in der Schu­le nicht sofort mit offen Armen auf­ge­nom­men wur­de, aber das war zu der Zeit im Wes­ten sicher auch nicht so. Ent­schei­den­der dürf­te aber sein, dass sei­ne Eltern sich gegen die „prä­fa­schis­ti­sche Dik­ta­tur“ durch­ge­setzt haben. Wie geht denn das? Wür­de mich nicht wun­dern, wenn der deut­sche Rechts­staat zu die­ser Zeit noch sehr viel effek­ti­ver dar­in war, den Zugang zur Regel­schu­le zu verhindern.

In Ham­burg soll es jeden­falls erst seit dem Schul­jahr 2010 das Recht für Schü­ler mit Down-Syn­drom geben, all­ge­mei­ne Schu­len zu besu­chen. https://kidshamburg.de/down-syndrom/das-kind-mit-down-syndrom-in-der-schule/ Das wären immer­hin „nur“ 36 Jah­re nach der west­deut­schen TV-Serie „Unser Wal­ter“, die angeb­lich sehr zur Sen­si­bi­li­sie­rung im Wes­ten bei­getra­gen hat.

Übri­gens: Im Osten wur­de auch West­fern­se­hen geschaut, bis auf mar­gi­na­le regio­na­le Aus­nah­men. – Soll­te man viel­leicht nicht ignorieren.

s.a. https://behinderung-ddr.de/lebenswelten/familie

Nut­zer Peer in Dis­kus­si­on auf Mast­o­don, 05.07.2023

Der Arti­kel ent­hält noch eini­ge nicht beleg­te All­aus­sa­gen, z.B. über Nazis in der NVA, die eben­falls auf Mast­o­don dis­ku­tiert wur­den. Die feh­len­de Auf­ar­bei­tung der Nazi­ver­bre­chen im Osten im Gegen­satz zur Auf­ar­bei­tung im Wes­ten durch die 68er ist auch ein The­ma im Inter­view. Hier­zu möch­te ich nur kurz auf mei­nen Blog-Bei­trag Der Ossi und der Holo­caust ver­wei­sen, der ein ziem­lich genau­es Bild zeich­net, wann wel­che Auf­ar­bei­tungs­schrit­te erfolg­ten, was an Wis­sen über die Ver­bre­chen der Nazis in der Bevöl­ke­rung vor­han­den war und in dem man auch die Unter­schie­de zum Wes­ten sehen kann (Bei­spiel Aus­strah­lung der Serie Holo­caust und Bay­ri­scher Rund­funk, sowie Skan­dal um Wehrmachtsausstellung).

Die Dis­kus­si­on auf Mast­o­don hat­te sich gera­de ein wenig beru­higt, da erschien die­ser Leser­brief in der taz:

Bezeich­nend für die Wahr­neh­mung behin­der­ter Men­schen durch DDR-Bür­ger ist, dass die im Inter­view erwähn­te west­deut­sche, auch „ drü­ben“ zu emp­fan­gen­de ZDF Fern­seh­se­rie „Unser Wal­ter“ in der DDR ent­ge­gen der Inten­ti­on der Sen­dung dis­kri­mi­na­to­risch benutzt wur­de. „Mein Gott, Wal­ter“ sag­ten die Leu­te zum Bei­spiel, wenn jemand unge­schickt han­del­te. Die faschis­ti­schen Nar­ra­ti­ve vom gesun­den Volks­kör­per wur­den in der DDR eben nur abge­sägt, aber Wur­zel und Nähr­bo­den blie­ben wei­test­ge­hend unangetastet.

Leser­brief von Wolf­ram Hasch, Ber­lin in der taz, 12.07.2023

Die­ser Brief ist so haar­sträu­bend! Die Redens­art kommt von einem Lied von Mike Krü­ger von 1975, in dem es um einen Walt­her mit „th“ geht, der der Ver­wal­ter eines Miets­hau­ses ist.

Das könn­te man ken­nen, wenn man in der Bun­des­re­pu­blik oder in der DDR auf­ge­wach­sen ist. Mike Krü­ger ist ein deut­scher Komi­ker aus Ulm. Mein Gott, Walt­her war 32 Wochen auf Platz 1 der deut­schen Album-Charts und wur­de über 250.000 mal ver­kauft (sie­he Wiki­pe­dia). Im Osten ist die Plat­te sicher auf Kas­set­ten kopiert und wei­ter­ge­reicht worden. 

So und zum Schluss, weil ich gera­de so schön in Schwung bin, kommt jetzt mein Leser­brief in mei­ner pri­va­ten Ossi-Bild-Zeitung.

Mein Leserbrief in meiner Zeitung (Sarkasmus)

Ich habe kurz vor Coro­na noch eini­ge Ama­zon-Akti­en gekauft und bin dadurch unglaub­lich reich gewor­den. Ich habe mich dafür sehr geschämt und das meis­te Geld an die Deut­sche Umwelt­hil­fe gespen­det. Vom Rest habe ich eine Zei­tung für Ost­deut­sche auf Bild-Niveau gegrün­det. Die ist natür­lich, was die Redak­ti­on angeht, total unab­hän­gig von ihrem Besit­zer, so wie die Washing­ton Post auch. Aber ab und zu ver­öf­fent­li­che ich einen Leser­brief. Hier mei­ner zu Mein Gott, Walther.

Betrifft Bei­trag „Im Wes­ten alles Nazis?“

Ihren Aus­füh­run­gen zu den faschis­ti­schen Umtrie­ben in den alten Bun­des­län­dern der BRD kann ich nur zustim­men. Zu denen von Ihnen bereits erwähn­ten Nazi-Struk­tu­ren im Ver­fas­sung­schutz, in der Armee, in der Poli­zei und der noto­ri­schen Blind­heit der Jus­tiz auf dem rech­ten Auge, sowie der trotz Par­tei­aus­schluss­ver­fah­ren mit Mehr­heit als AfD-Lan­des­vor­sit­zen­de von Schles­wig-Hol­stein wie­der­ge­wähl­ten Poli­ti­ke­rin Doris von Sayn-Witt­gen­stein mit Kon­takt zu Holo­caust-Leug­ne­rin möch­te ich noch fol­gen­de uner­hör­te Bege­ben­heit hin­zu­fü­gen: 1974 begann das Fern­se­hen der BRD mit der Aus­strah­lung der Fern­seh­se­rie „Unser Wal­ter“, in der das Leben mit einem Kind mit Behin­de­rung the­ma­ti­siert wur­de. Nur kurz dar­auf erschien eine Schall­plat­te mit dem Titel „Mein Gott, Walt­her“, in dem Men­schen ver­höhnt wer­den, denen ab und zu Din­ge miss­lin­gen. Der Zusam­men­hang zur Fern­seh­se­rie wur­de durch die Ände­rung der Schrei­bung des Wor­tes „Walt­her“ nur ober­fläch­lich kaschiert. Die faschis­ti­sche Grund­hal­tung der Bür­ger der BRD kann man auch dar­an erken­nen, dass sich die­ses Mach­werk eines west-deut­schen Komi­kers über 250.000 mal ver­kauft hat. Das Lied war übri­gens wie immer noch auf you­tube abruf­ba­re Vide­os zei­gen, auch im öster­rei­chi­schen Fern­se­hen zu sehen, aber dass in die­sem Land sogar die Künst­ler Nazis sind, wis­sen wir ja spä­tes­tens seit dem Erschei­nen von „Mein Kampf“!

Mit anti­fa­schis­ti­schen Grü­ßen aus Ost-Ber­lin Ste­fan Müller

Ist absurd, oder? Aber nicht absur­der als der Leser­brief, den die taz gedruckt hat.