Mein Gott, Walther! Die DDR als prä-faschistischer, post-faschistischer und faschistischer Staat und überhaupt.

Die­ser Blog-Post ist aus einer Mast­o­don-Dis­kus­si­on ent­stan­den. Weil sie so schön war, habe ich sie hier noch ein­mal ein biss­chen sor­tiert und für die Nach­welt archi­viert. Die­ser Bei­trag kann Spu­ren von Sar­kas­mus und sogar Wut enthalten.

Die taz hat am 03.07.2023, vor dem Hin­ter­grund der Wahl eines AfD-Mit­glieds zum Land­rat in Son­ne­berg, ein Inter­view mit dem (ost­deut­schen) His­to­ri­ker Ilko-Sascha Kowal­c­zuk ver­öf­fent­licht. In der Print­aus­ga­be endet es so:

taz: Also ist das nicht nur ein Ost-Problem?

Nein. Zeigt nicht immer nur mit dem Fin­ger auf den Osten. Der Osten ist als Labo­ra­to­ri­um der Glo­ba­li­sie­rung, als Ort der Trans­for­ma­ti­on dem Wes­ten nur ein paar Trip­pel­schrit­te vor­aus. Genau des­halb ist die Debat­te über den Osten so rele­vant: Hier – wie zum Teil in Ost­eu­ro­pa – sehen wir Ent­wick­lun­gen, die euro­pa­weit dro­hen, wenn nicht end­lich mal gegen­ge­steu­ert wird. Das kön­nen Sie an vie­len demo­sko­pi­schen Unter­su­chun­gen sehen und übri­gens auch an den Wahl­um­fra­gen der AfD. Die liegt im Osten bei 30 Pro­zent, im Wes­ten steht sie aber mitt­ler­wei­le auch bei 15 Pro­zent, der Wes­ten zieht nach. Des­we­gen sind der Ost­deutsch­land-Dis­kurs und Debat­ten über Son­ne­berg wich­tig: Wir kön­nen hier erle­ben, was uns in ganz Deutsch­land erwar­tet, wenn wir nicht end­lich mal gegensteuern.

taz, 03.07.2023: „Ilko-Sascha Kowal­c­zuk über den Osten: „Wer Nazis wählt, ist ein Nazi“

Das ist genau mei­ne Mei­nung. Ein Punkt, den ich hier in die­sem Blog und auch auf Mast­o­don zu ver­mit­teln ver­su­che. Also alles prims­tens? Nein, lei­der nicht, denn es gibt komi­sche Stel­len im Interview.

Ilko-Sascha Kowal­c­zuk hat in der #DDR #Nazi-Äuße­run­gen gegen geis­tig Behin­der­te gehört und lei­tet dar­aus ab, dass die DDR ein prä­fa­schis­ti­scher Staat war. 

Das fin­de ich ein biss­chen schnell geschos­sen. Sol­che Bemer­kun­gen wird es sowohl im Wes­ten wie im Osten geben, die Erzie­hung, die ich in mei­nen Schu­len hat­te, war aber zutiefst huma­nis­tisch. Die #Eutha­na­sie-Mor­de der #Nazis und ihre Ver­bre­chen wur­den im Unter­richt bespro­chen (sie­he auch Der Ossi und der Holo­caust).

Ich habe in Ber­lin-Buch gewohnt. WBS70. Im unters­ten Stock­werk haben in all den Häu­sern Rollstuhlfahrer*innen gewohnt. Es gab und gibt immer noch hin­ten an den Häu­sern spe­zi­el­le Zufahrts­we­ge, über die Men­schen mit Rol­lis leicht in die Woh­nun­gen gelan­gen konn­ten. Sie­he rote Lini­en auf der Kar­te. Fahr­stüh­le gab es in den Fünf­ge­schos­sern vor der Wen­de nicht. Für Men­schen mit Roll­stuhl kamen also nur die Erge­schoss­woh­nun­gen in Fra­ge. Die Zufahr­ten wur­den beim Neu­bau der Blö­cke 1974–1976 eingerichtet. 

Woh­nun­gen für Behin­der­te mit Zufahrts­ram­pen in Ber­lin Buch.

Das waren also struk­tu­rel­le Maß­nah­men im Zuge des Woh­nungs­baus. Das fol­gen­de Bild zeigt, dass beim Ent­wurf des WBS 70-Sys­tems, das in der DDR in den 70er Jah­ren ent­wi­ckelt und dann für den Bau von 644 900 Woh­nun­gen ver­wen­det wur­de, Erd­ge­schoss­woh­nun­gen für Rollstuhlfahrer*innen und Men­schen mit Behin­de­run­gen ein­ge­plant wurden.

Woh­nungs­grund­ris­se für Woh­nun­gen für Roll­stuhl­fah­rer und Behin­der­te in den WBS 70-Planungen

Ich habe von 1976 bis 1986 in dem Block gemein­sam mit vie­len Rolli-Fahrer*innen gelebt und nie irgend­ein böses Wort gehört. 

Ein geis­tig behin­der­ter Jun­ge fuhr immer mit dem Bus vom Bahn­hof Buch zum Lin­den­ber­ger Weg und zurück. Tag­aus, tag­ein. Ohne Beglei­tung. Manch­mal durf­te er die Türen auf und zuma­chen. Er hat sich sehr gefreut. Er hat­te eine brau­en Kunst­le­der­ta­sche dabei, die er als Lenk­rad benut­ze. Er saß immer in der ers­ten Rei­he vorn neben dem Fah­rer. Spä­ter habe ich ihn auch ab und zu in der S‑Bahn getrof­fen. Das war alles ganz normal.

Dass ich nie irgend­was Böses gehört habe, schließt natür­lich nicht aus, dass es böse Bemer­kun­gen gege­ben hat. Wenn man mit Behin­der­ten unter­wegs ist, gibt es ja viel mehr Begeg­nun­gen. Nur ist es eben nicht wahr, wenn behaup­tet wird, alle Behin­der­ten sei­en weg­ge­sperrt wor­den oder beschimpft worden.

Ins­ge­samt scheint es mir sehr weit her­ge­holt, aus Begeg­nun­gen mit behin­der­ten­feind­li­chen Men­schen zu schlie­ßen, dass man in einem prä­fa­schis­ti­schen Staat lebt.

Der Nut­zer Peer schreibt dazu auf Mastodon:

War­um so vor­sich­tig in dei­ner Kri­tik? Kowal­c­zuks Schluss­fol­ge­run­gen sind nicht nur „etwas weit her­ge­holt“, son­dern Non­sens. Vor­aus­ge­setzt das taz-Inter­view gibt sei­ne Aus­sa­gen zutref­fend wieder.

Ich leh­ne mich mal weit aus dem Fens­ter: Es gibt kein ein­zi­ges Land auf der Welt, in dem die best­mög­li­chen staat­li­chen Inklu­si­ons­be­mü­hun­gen ver­hin­dern wür­den, dass sich Men­schen nega­tiv über behin­der­te Men­schen äußern. Dem­nach wären die­se Län­der alle prä­fa­schis­tisch nach der Kowalczuk-Definition.

Geschich­ten­er­zäh­ler Kowal­c­zuk schließt von meh­re­ren Ein­zel­erfah­run­gen auf strukturelle/staatliche Pro­ble­me und dar­aus wie­der auf Prä-Faschismus.

In der Christ­bur­ger Stra­ße im DDR-Prenz­lau­er Berg gab es einen pri­va­ten Hand­wer­ker (Leder­gür­tel, Schuh­ma­cher so was in der Art). Die hat­ten ein Kind mit Down-Syn­drom, das sich dort sicht­bar im bzw. vor dem Laden beschäf­tig­te, ohne dass die Eltern immer selbst sicht­bar waren. Hät­te das zu nega­ti­ven Reak­tio­nen geführt, hät­ten sie das ihrem Kind ver­mut­lich nicht zuge­mu­tet. Jeden­falls wur­de es nicht ver­steckt und war auch nicht im Heim. (Geis­tig behin­dert und pri­va­ter Hand­wer­ker gleich 2x nicht Main­stream in der DDR).

Ande­res Bei­spiel: Sebas­ti­an Urban­ski hat eben­falls das Down-Syn­drom. “Als er 1986 in Pan­kow ein­ge­schult wur­de, gal­ten Kin­der wie er in der DDR als „bil­dungs­un­fä­hig“. Doch sei­ne Eltern hat­ten ihm einen Schul­platz erstrit­ten.” https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/holocaust-gedenktag-2017-mit-sebastian-urbanski-spricht-erstmals-ein-mensch-mit-down-syndrom-im-bundestag-li.29544

Pan­kow war ein Stadt­be­zirk in der DDR. Ist natür­lich nicht so pos­ti­tiv, dass er in der Schu­le nicht sofort mit offen Armen auf­ge­nom­men wur­de, aber das war zu der Zeit im Wes­ten sicher auch nicht so. Ent­schei­den­der dürf­te aber sein, dass sei­ne Eltern sich gegen die „prä­fa­schis­ti­sche Dik­ta­tur“ durch­ge­setzt haben. Wie geht denn das? Wür­de mich nicht wun­dern, wenn der deut­sche Rechts­staat zu die­ser Zeit noch sehr viel effek­ti­ver dar­in war, den Zugang zur Regel­schu­le zu verhindern.

In Ham­burg soll es jeden­falls erst seit dem Schul­jahr 2010 das Recht für Schü­ler mit Down-Syn­drom geben, all­ge­mei­ne Schu­len zu besu­chen. https://kidshamburg.de/down-syndrom/das-kind-mit-down-syndrom-in-der-schule/ Das wären immer­hin „nur“ 36 Jah­re nach der west­deut­schen TV-Serie „Unser Wal­ter“, die angeb­lich sehr zur Sen­si­bi­li­sie­rung im Wes­ten bei­getra­gen hat.

Übri­gens: Im Osten wur­de auch West­fern­se­hen geschaut, bis auf mar­gi­na­le regio­na­le Aus­nah­men. – Soll­te man viel­leicht nicht ignorieren.

s.a. https://behinderung-ddr.de/lebenswelten/familie

Nut­zer Peer in Dis­kus­si­on auf Mast­o­don, 05.07.2023

Der Arti­kel ent­hält noch eini­ge nicht beleg­te All­aus­sa­gen, z.B. über Nazis in der NVA, die eben­falls auf Mast­o­don dis­ku­tiert wur­den. Die feh­len­de Auf­ar­bei­tung der Nazi­ver­bre­chen im Osten im Gegen­satz zur Auf­ar­bei­tung im Wes­ten durch die 68er ist auch ein The­ma im Inter­view. Hier­zu möch­te ich nur kurz auf mei­nen Blog-Bei­trag Der Ossi und der Holo­caust ver­wei­sen, der ein ziem­lich genau­es Bild zeich­net, wann wel­che Auf­ar­bei­tungs­schrit­te erfolg­ten, was an Wis­sen über die Ver­bre­chen der Nazis in der Bevöl­ke­rung vor­han­den war und in dem man auch die Unter­schie­de zum Wes­ten sehen kann (Bei­spiel Aus­strah­lung der Serie Holo­caust und Bay­ri­scher Rund­funk, sowie Skan­dal um Wehrmachtsausstellung).

Die Dis­kus­si­on auf Mast­o­don hat­te sich gera­de ein wenig beru­higt, da erschien die­ser Leser­brief in der taz:

Bezeich­nend für die Wahr­neh­mung behin­der­ter Men­schen durch DDR-Bür­ger ist, dass die im Inter­view erwähn­te west­deut­sche, auch „ drü­ben“ zu emp­fan­gen­de ZDF Fern­seh­se­rie „Unser Wal­ter“ in der DDR ent­ge­gen der Inten­ti­on der Sen­dung dis­kri­mi­na­to­risch benutzt wur­de. „Mein Gott, Wal­ter“ sag­ten die Leu­te zum Bei­spiel, wenn jemand unge­schickt han­del­te. Die faschis­ti­schen Nar­ra­ti­ve vom gesun­den Volks­kör­per wur­den in der DDR eben nur abge­sägt, aber Wur­zel und Nähr­bo­den blie­ben wei­test­ge­hend unangetastet.

Leser­brief von Wolf­ram Hasch, Ber­lin in der taz, 12.07.2023

Die­ser Brief ist so haar­sträu­bend! Die Redens­art kommt von einem Lied von Mike Krü­ger von 1975, in dem es um einen Walt­her mit „th“ geht, der der Ver­wal­ter eines Miets­hau­ses ist.

Das könn­te man ken­nen, wenn man in der Bun­des­re­pu­blik oder in der DDR auf­ge­wach­sen ist. Mike Krü­ger ist ein deut­scher Komi­ker aus Ulm. Mein Gott, Walt­her war 32 Wochen auf Platz 1 der deut­schen Album-Charts und wur­de über 250.000 mal ver­kauft (sie­he Wiki­pe­dia). Im Osten ist die Plat­te sicher auf Kas­set­ten kopiert und wei­ter­ge­reicht worden. 

So und zum Schluss, weil ich gera­de so schön in Schwung bin, kommt jetzt mein Leser­brief in mei­ner pri­va­ten Ossi-Bild-Zeitung.

Mein Leserbrief in meiner Zeitung (Sarkasmus)

Ich habe kurz vor Coro­na noch eini­ge Ama­zon-Akti­en gekauft und bin dadurch unglaub­lich reich gewor­den. Ich habe mich dafür sehr geschämt und das meis­te Geld an die Deut­sche Umwelt­hil­fe gespen­det. Vom Rest habe ich eine Zei­tung für Ost­deut­sche auf Bild-Niveau gegrün­det. Die ist natür­lich, was die Redak­ti­on angeht, total unab­hän­gig von ihrem Besit­zer, so wie die Washing­ton Post auch. Aber ab und zu ver­öf­fent­li­che ich einen Leser­brief. Hier mei­ner zu Mein Gott, Walther.

Betrifft Bei­trag „Im Wes­ten alles Nazis?“

Ihren Aus­füh­run­gen zu den faschis­ti­schen Umtrie­ben in den alten Bun­des­län­dern der BRD kann ich nur zustim­men. Zu denen von Ihnen bereits erwähn­ten Nazi-Struk­tu­ren im Ver­fas­sung­schutz, in der Armee, in der Poli­zei und der noto­ri­schen Blind­heit der Jus­tiz auf dem rech­ten Auge, sowie der trotz Par­tei­aus­schluss­ver­fah­ren mit Mehr­heit als AfD-Lan­des­vor­sit­zen­de von Schles­wig-Hol­stein wie­der­ge­wähl­ten Poli­ti­ke­rin Doris von Sayn-Witt­gen­stein mit Kon­takt zu Holo­caust-Leug­ne­rin möch­te ich noch fol­gen­de uner­hör­te Bege­ben­heit hin­zu­fü­gen: 1974 begann das Fern­se­hen der BRD mit der Aus­strah­lung der Fern­seh­se­rie „Unser Wal­ter“, in der das Leben mit einem Kind mit Behin­de­rung the­ma­ti­siert wur­de. Nur kurz dar­auf erschien eine Schall­plat­te mit dem Titel „Mein Gott, Walt­her“, in dem Men­schen ver­höhnt wer­den, denen ab und zu Din­ge miss­lin­gen. Der Zusam­men­hang zur Fern­seh­se­rie wur­de durch die Ände­rung der Schrei­bung des Wor­tes „Walt­her“ nur ober­fläch­lich kaschiert. Die faschis­ti­sche Grund­hal­tung der Bür­ger der BRD kann man auch dar­an erken­nen, dass sich die­ses Mach­werk eines west-deut­schen Komi­kers über 250.000 mal ver­kauft hat. Das Lied war übri­gens wie immer noch auf you­tube abruf­ba­re Vide­os zei­gen, auch im öster­rei­chi­schen Fern­se­hen zu sehen, aber dass in die­sem Land sogar die Künst­ler Nazis sind, wis­sen wir ja spä­tes­tens seit dem Erschei­nen von „Mein Kampf“!

Mit anti­fa­schis­ti­schen Grü­ßen aus Ost-Ber­lin Ste­fan Müller

Ist absurd, oder? Aber nicht absur­der als der Leser­brief, den die taz gedruckt hat.

Die Ossis sind mit der Demokratie nicht zufrieden. Ach wirklich? Und warum sind es die Wessis?

Sor­ry, ich kom­me erst jetzt dazu. Im Janu­ar schlug ein Bericht des Ost­be­auf­trag­ten Wel­len. Er wur­de, wie üblich verdreht.

Die taz schreibt zum Bei­spiel, dass nur noch 39% der Ost­deut­schen mit der Demo­kra­tie zufrie­den wären:

Das Kon­zept des Ost­be­auf­trag­ten ver­weist auf die gesun­ke­ne Zufrie­den­heit mit der Demo­kra­tie beson­ders in den öst­li­chen Bun­des­län­dern. Sie lag zuletzt nur noch bei 39 Prozent.

Anna Leh­mann: Ost­deut­sche sind als Füh­rungs­kräf­te in Bun­des­be­hör­den rar. Die Bun­des­re­gie­rung will gegen­steu­ern, taz, 26.01.2023, S. 6

Die Zeit titel­te „Ost­be­auf­trag­ter: Nur 39 Pro­zent der Ost­deut­schen zufrie­den mit der Demo­kra­tie.“ Der Unter­ti­tel ist dann:

Laut dem aktu­el­len Bericht des Ost­be­auf­trag­ten der Bun­des­re­gie­rung wach­sen in Ost­deutsch­land die Zwei­fel an der Demokratie. 

Mer­kur: Nur vier von zehn Ost­deut­schen zufrie­den mit der Demokratie

Süd­deut­sche: Nur vier von zehn Ost­deut­schen zufrie­den mit der Demokratie

Das ist mal wie­der einer die­ser Hie­be in die Ker­be „Die Ossis leh­nen die Demo­kra­tie ab / sind nicht demo­kra­tie­fä­hig / sind komisch / sind anders als wir / saßen zusam­men im Kin­der­gar­ten auf dem Töpf­chen und lie­ben des­halb Diktaturen.“

In der Mit­tei­lung des Ost­be­auf­trag­ten der Bun­des­re­gie­rung steht aber:

Dem „Deutsch­land-Moni­tor“ zufol­ge sind nur noch 39 Pro­zent der Ost­deut­schen zufrie­den mit der Demo­kra­tie, so wie sie in Deutsch­land funk­tio­niert. Gera­de ein­mal 32 Pro­zent von ihnen glau­ben, dass Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker das Wohl unse­res Lan­des wich­tig sei. Und zwei Drit­tel sind der Mei­nung, Ost­deut­sche wür­den häu­fig als Men­schen zwei­ter Klas­se behandelt.

Man­che Medi­en brin­gen die Ein­schrän­kung „so wie sie in Deutsch­land funk­tio­niert“, man­che wei­sen dar­auf hin, dass die Zustim­mung auch im Wes­ten sinkt. Man­che unter­las­sen das aber.

Als Ossi fra­ge ich mich, wie kann man mit dem, was in die­sem Land läuft denn zufrie­den sein? Eigent­lich geht das nur, wenn man mate­ri­ell abge­si­chert und poli­tisch unin­ter­es­siert ist. Ansons­ten habe ich hier ein paar Punk­te, die man komisch fin­den könnte:

  • Mas­ken­af­fä­re: Ver­un­treu­ung von Mil­lio­nen ohne recht­li­che Konsequenzen
  • Kor­rup­ti­on im Öl und Gas­ge­schäft bei CDU/CSU und SPD
  • Scheu­ers Ver­sen­kun­gen von Mil­lio­nen Euros im Maut­de­sas­ter ohne recht­li­che Konsequnezen
  • Scheu­ers Umlen­kung von Gel­dern in sei­nen Wahlkreis
  • Gif­feys pla­gier­te Dok­tor­ar­beit und Mas­ter­ar­beit. Gif­fey tritt nach Aberken­nung ihres Dok­tor­titls als Fami­li­en­mi­nis­te­rin der Bun­des­re­gie­rung zurück, macht aber dann als Regie­ren­de Bür­ger­meis­te­rin von Ber­lin naht­los wei­ter. What? Eine Die­bin und Betrü­ge­rin gut genug für Berlin?
  • Gif­fey wur­de 2022 mit 58,9% zur Par­tei­vor­sit­zen­den in Ber­lin gewählt. Trotz Rot-Grün-Roter Mehr­heit wur­de 2023 RGR nicht wei­ter­ge­führt, son­dern nach einer Mit­glie­der­be­fra­gung, die mit einer mil­li­me­ter­dün­nen Mehr­heit von 54% für Schwarz-Rot aus­ging, dann die Koali­ti­on mit der CDU begon­nen. Das gan­ze Gif­fey-Paket hät­te frü­her mehr­fach für einen Rück­tritt gereicht.
  • Pla­gia­te und Titel­be­trug bei diver­sen ande­ren Politiker*innen
  • Lob­by-Zugang für den Bun­des­tag zum Bei­spiel von Waffenhändlern
  • Der ehe­ma­li­ge Chef des Ver­fas­sungs­schut­zes, der von der Poli­tik fest­ge­legt wird, ist ein Nazi.
  • Der Minis­ter­prä­si­dent eines Bun­des­lan­des, der frü­her beim Öffent­lich-recht­li­chen Rund­funk gear­bei­tet hat, for­dert die Strei­chung der Rund­funk­ge­büh­ren und ansons­ten alle drei Wochen das Gegen­teil von dem, was er frü­her gefor­dert hat. 
  • Por­sche ist life dabei bei der Aus­hand­lung des Koalitionsvertrags
  • Döpf­ner, Ver­lags­chef des Sprin­ger-Kon­zerns, weist sei­ne Blät­ter an, die FDP hoch­zu­schrei­ben, damit die­se dann die Koali­ti­on plat­zen las­sen kann.
  • Wie von Döpf­ner geplant, kann eine Par­tei, die für 11% der Wähler*innen steht, die Poli­tik der rest­li­chen Regie­rung sabo­tie­ren, wobei dazu natür­lich ein Machen-Sie-sich-kei­ne-Sor­gen-Kli­ma­kanz­ler gehört, der das mit sich machen lässt. 
  • Ver­hin­de­rung eines aus­sa­ge­kräf­ti­gen Ergeb­nis­ses beim Volks­ent­scheid durch die Tren­nung von Wahl­ter­min und Volks­ent­scheid in Ber­lin durch die SPD-Innensenatorin.

Viel­leicht sind wir Ossis alle etwas naiv. Wir waren geschockt, als wir sahen, was die Funk­tio­nä­re in Wand­litz alles hat­ten, obwohl das unter dem Niveau west­deut­scher Arbeiter*innen lag. Viel­leicht sind unse­re Ansprü­che an Politiker*innen ein­fach zu hoch. Höher als die der Wessis.

Viel­leicht geht es den Wes­sis auch ein­fach zu gut und/oder sie inter­es­sie­ren sich nicht so für die Kor­rup­ti­on und Berei­che­rung. Ist ja nor­mal, machen ja alle.

Also: Es ist nicht so, dass Ossis Demo­kra­tie als poli­ti­sches Sys­tem ableh­nen. Im Gegen­teil, die Zustim­mung zur Demo­kra­tie an sich war zumin­dest 2018 sogar noch höher als im Wes­ten 95% vs. 93% (Stu­die der Uni­ver­si­tät Leip­zig). Was abge­lehnt wird, ist die Art und Wei­se, in der Din­ge gera­de lau­fen. Und hier ist die Fra­ge an die 59% der Wes­sis, die mit der Demo­kra­tie, wie sie gera­de in Deutsch­land funk­tio­niert, zufrie­den sind: What’s wrong with you?

Kinderlandverschickung und die DDR?

In der letz­ten Zeit gab es mehr­fach Arti­kel in der taz zur Kin­der­land­ver­schi­ckung (sie­he Quel­len). Berich­tet wur­de über Grau­sam­kei­ten, die in den Hei­men statt­fan­den. Zum Bei­spiel, dass Schlaf­sä­le nachts ver­schlos­sen wur­den, so dass die Kin­der nicht auf die Toi­let­te gehen konn­ten (taz, 14.12.21).

Fast alle berich­ten von: Ess­zwang, nächt­li­chem Toi­let­ten­ver­bot, haar­sträu­ben­den hygie­ni­schen Zustän­den, Ein­grif­fen in die kör­per­li­che Unver­sehrt­heit, Kon­takt­ver­bot zur Fami­lie, Ein­schüch­te­rung, die zu Angst- und Schuld­ge­füh­len führ­ten: Haben mich mei­ne Eltern ver­sto­ßen, sehe ich sie je wie­der, was habe ich falsch gemacht? Eine Atmo­sphä­re, in der „see­li­sche Grau­sam­keit“ gedieh. Aber auch Fäl­le von Prü­gel, Eis­du­schen, Straf­maß­nah­men wie nächt­li­chem Weg­sper­ren in dunk­le, kal­te Kam­mern oder Dach­bö­den, also phy­si­schem – aber auch sexu­el­lem – Miss­brauch sind bekannt.

Sabi­ne Sei­fert, Kur­auf­ent­hal­te von Kindern:Wir Ver­schi­ckungs­kin­der, taz 14.12.21

Betrof­fe­ne orga­ni­sie­ren sich in Ver­ei­ni­gun­gen, um die Ver­gan­gen­heit aufzuarbeiten.

Heu­te wird in der taz wie­der berich­tet. Der Arti­kel ent­hält einen klei­nen ver­gif­te­ten Satz:

Vor­sich­tig geschätzt sind zwi­schen sechs und acht Mil­lio­nen Kin­der in der alten Bun­des­re­pu­blik zur Kur geschickt wor­den, zum Gesund­wer­den oder zur Vor­beu­gung. Auch in der DDR gab es Kin­der­ku­ren. Vie­le Kin­der – nicht alle – haben in den Kur­hei­men Lieb­lo­sig­keit, Schi­ka­nen, Miss­hand­lun­gen oder sogar sexua­li­sier­te Gewalt erlebt.

Sabi­ne Sei­fert, For­schungs­be­darf, taz, 15.03.2022

Rein logisch wird nur mit­ge­teilt, dass es in der DDR Kin­der­ku­ren gab. Sug­ge­riert wird aber, dass es in der DDR „Lieb­lo­sig­keit, Schi­ka­nen, Miss­hand­lun­gen oder sogar sexua­li­sier­te Gewalt“ gab und zwar von der Art, wie sie in den vor­an­ge­gan­ge­nen Ver­öf­fent­li­chun­gen the­ma­ti­siert wur­de. Zum Bei­spiel berich­ten Kin­der davon, dass sie Essen auf­es­sen muss­ten, egal, was es gab. Erbro­che­nes muss­te auch auf­ge­ges­sen wer­den (taz, 14.12.21).

Frau Sei­fert ver­linkt dann auf die Sei­te https://verschickungsheime.de/ und wenn man sich dort umsieht, fin­det man zum The­ma DDR folgendes:

Ab 1945 sag­te man „Ver­schi­ckung“, in der DDR war der Begriff „Kur­kin­der“ gebräuch­li­cher. DDR-Kur­kin­der haben sich bis­her bei uns nur weni­ge gemel­det. Die Kur­bä­der auf dem Gebiet der DDR erlit­ten nach 45 einen Nie­der­gang, daher gab es in der DDR nicht annä­hernd so vie­le Kur­or­te wie im Wes­ten (BRD 1964: ca.1200 Hei­me in 350 Kur­or­ten). Es kön­nen sich aber auch DDR-Kur­kin­der mel­den und bei uns mit­ma­chen, sich gern auch als Heim­or­tver­ant­wort­li­che für ihre Hei­me ein­set­zen lassen. 

verschickungsheime.de, 16.01.2000

Auf der Sei­te gibt es Logos von Bun­des­län­dern und bei den Ost-Bun­des­län­dern gibt es kei­ne Einträge.

Kein Trauma!

Ich war als Kind zwei­mal zur Kur: ein­mal für drei Mona­te in Graal-Müritz und ein­mal für 6 Wochen in Ahl­beck. Laut https://verschickungsheime.de/ddr-kurkinder/ muss es sich um die Kur­hei­me Kli­niksa­na­to­ri­um „Richard Aßmann“ Graal-Müritz und die Kur­ein­rich­tung Insel Use­dom, Betriebs­teil IV: Kin­der­sa­na­to­ri­um „Klaus Stör­te­be­ker“ See­bad Ahl­beck gehan­delt haben. In den Ein­rich­tun­gen wur­den Kin­der mit Asth­ma und/oder Neu­ro­der­mi­tis behan­delt. Ich war jeweils im Win­ter dort. Ich kann mich noch erin­nern, dass in Graal-Müritz die Ost­see kurz vor dem Zufrie­ren war. Das Was­ser sah aus wie Tape­ten­kleis­ter und mach­te inter­es­san­te Geräu­sche. Wir waren viel drau­ßen, sind an der Ost­see spa­zie­ren gegan­gen und ich habe noch immer Bern­stei­ne aus der Use­dom-Zeit. Wir haben in klei­nen Grup­pen Unter­richt gehabt, der auch so gut war, dass ich – zurück in Ber­lin – mei­ner Klas­se weit vor­aus war. Das Essen war ver­nünf­tig. Kein Ess­zwang. (Spä­ter bei der Armee hat­te ich Pro­ble­me, weil die Zeit zum Essen nicht reich­te.) Wir haben in grö­ße­ren Schlaf­sä­len geschla­fen. Die Betreue­rin­nen waren nicht über­mä­ßig streng. Ich erin­ne­re mich noch dar­an, wie wir immer lus­ti­ge Furz­ge­räu­sche in der Arm­beu­ge erzeugt haben. Das ging eben so lan­ge, bis uns die Augen zuge­fal­len sind. Mit­tags gab es Mit­tags­ru­he. Wir lagen in unse­ren Bet­ten, durf­ten aber lesen. Es gab einen klei­nen Laden auf dem Gelän­de, in dem ich mir ein Buch gekauft habe. Ich habe es immer noch. Biblio­the­ken gab es sicher auch.

Wir sind ein­mal in der Woche in die Sau­na gegan­gen. Danach gab es eine Lie­ge­kur. Drau­ßen. Wir sind zu Lie­gen durch den Schnee gestapft und Frau­en haben uns ganz fest in dicke Decken ein­ge­wi­ckelt. Es war sehr schön.

Ab und zu gab es Unter­su­chun­gen durch Ärzt*innen. Die waren auch sehr freundlich.

Mei­ne Mut­ter hat mir ein Päck­chen mit einer klei­nen Woll-Hand­fi­gur geschickt: Stülpner-Karle. 

Woll-Figur Stül­pner-Kar­le

Wie man im Bild sieht, hat­te die Figur kei­ne Bei­ne. Ich habe mei­ner Mut­ter einen Brief geschrie­ben, der ging so:

Lie­be Mutti,

Ich habe mir bei­de Bei­ne gebrochen.

Herz­li­che Grüße 

Dein Stül­pner-Kar­le.

Ich bin heu­te noch froh, dass sie nicht schon nach dem ers­ten Satz einen Herz­in­farkt bekom­men hat. Die Epi­so­de zeigt zwei Din­ge: 1) Gab es – anders als im Wes­ten – kei­ne Zen­sur und wir – bzw. unse­re Pup­pen – haben unse­re Karten/Briefe selbst geschrie­ben. 2) War der klei­ne Ste­fan zu Scher­zen auf­ge­legt. Auch wenn der Brief sonst nicht viel ent­hielt, war er doch eine posi­ti­ve Nachricht. 

Beim zwei­ten Kur­auf­ent­halt habe ich zwei Kin­der vom ers­ten Mal wie­der­ge­trof­fen. Einen moch­te ich beim ers­ten Mal gar nicht, aber da wir uns schon kann­ten, haben wir uns dann gleich ange­freun­det. Wir hat­ten eine gute Zeit und den Bea­tels- und Hard­core-Fan habe ich dann spä­ter auch noch in Mar­klee­berg besucht. Wir waren kei­ne trau­ma­ti­sier­ten Kin­der. Wir sind frei­wil­lig zum zwei­ten Mal zur Kur gefahren. 

Kirche und Kontinuitäten

Im Wes­ten wur­den vie­le Hei­me durch kirch­li­che Trä­ger bewirt­schaf­tet. Die­se spiel­ten in der DDR eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le ud ich bin mir ziem­lich sicher, dass die Saats­macht ihre Freu­de an der Ver­fol­gung und Bestra­fung von Sexu­al­de­lik­ten oder Sons­ti­gem in der Kir­che gehabt hät­te. Die Aus­gangs­la­ge ist hier völ­lig anders als in der west­deut­schen Gesell­schaft, wo die katho­li­che Kir­che auch jetzt noch nicht rich­tig hin­be­kommt, die Straf­ta­ten ihrer Wür­den­trä­ger aufzuklären. 

Auch in der Päd­ago­gik gab es nach 1945 einen Bruch. Es wur­den Neulehrer*innen ein­ge­stellt. Die hat­ten zwar kei­ne Ahnung und waren den Schüler*innen immer höchs­tens zwei Sei­ten im Buch vor­aus, aber wenigs­tens waren es kei­ne Nazis. Ich habe dar­über im Bei­trag über Holo­caust und Osten genau­er geschrieben.

Gesundheit und Kommerz

Frau Sei­fert schreibt in einem frü­he­ren Arti­kel über die West-Kinderlandverschickungen:

Statt gesund, wur­den sie oft krank, krank gemacht. Weil an die­sen Orten ein päd­ago­gi­sches Regime herrsch­te, das sie schi­ka­nier­te, miss­han­del­te, ihre gesund­heit­li­che Ver­fas­sung und ihre natür­li­che Schwä­che aus­nutz­te. Ein Regime, das nicht das Kind und sei­ne phy­si­sche und psy­chi­sche Gesund­heit in den Mit­tel­punkt stell­te, son­dern mit des­sen Kon­sti­tu­ti­on und den Sor­gen der Eltern Geld verdiente.

Sabi­ne Sei­fert, Kur­auf­ent­hal­te von Kindern:Wir Ver­schi­ckungs­kin­der, taz 14.12.21

Das war ein wesent­li­cher Unter­schied zur DDR. Das Gesund­heits­sys­tem war staat­lich finan­ziert und konn­te an nie­man­dem Geld verdienen.

Schluss

Also: Viel­leicht war in der DDR auch mal etwas bes­ser. Ich fän­de es gut, wenn sol­che ten­den­ziö­se Sät­ze wie der heu­te in der taz ein­fach unter­blei­ben könnten.

Nachtrag: Gar nichts Negatives?

Ich habe den Fra­ge­bo­gen des For­schungs­pro­jekts zur Kin­der­land­ver­schi­ckung aus­ge­füllt, denn wenn Men­schen, die kein Pro­blem hat­ten, die Bögen nicht aus­fül­len, gibt es eine Ver­zer­rung. Eine Fra­ge war „Gab es Gescheh­nis­se in den Hei­men, die pro­ble­ma­tisch für Sie waren?“ und es gab in der Tat eine Sache, die ich mir gemerkt habe und die ich auch heu­te noch in der Logik-Ein­füh­rung benut­ze: Sonn­tags um 19:00 kamen im Fern­se­hen die Lot­to­zah­len (Tele-Lot­to). Die Betreue­rin ver­sprach uns: „Wenn ich im Lot­to gewin­ne, dürft ihr län­ger auf­blei­ben.“ Wir erwar­te­ten höchst gespannt die Zie­hung der letz­ten Zahl und frag­ten sie: „Und?“ Die Ant­wort: „Ich spie­le gar kein Lot­to.“ In der Logik-Ein­füh­rung ver­wen­de ich das Bei­spiel, um zu erklä­ren, dass sie nicht gelo­gen hat: Wenn der Vor­satz falsch ist, kann man danach alles behaup­ten. Das war die schlimms­te „see­li­sche Grau­sam­keit“, an die ich mich erin­nern kann. Im bes­ten Fall ein gro­ber Scherz.

Quellen

Sei­fert, Sabi­ne. 2021. Kur­auf­ent­hal­te von Kin­dern: Wir Ver­schi­ckungs­kin­der. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Kuraufenthalte-von-Kindern/!5818643)

Sei­fert, Sabi­ne. 2022. For­schungs­be­darf. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Archiv-Suche/!5838490/)

Alles Nazis im Westen?

Die taz berich­tet heu­te über Po­li­zis­t*in­nen, die durch Rechts­extre­mis­mus, Ras­sis­mus oder Anti­se­mi­tis­mus auf­ge­fal­len sind (taz, 21.10.2021). Inter­es­san­ter­wei­se sind alle Vor­fäl­le bis auf einen mit einer Poli­zis­tin aus Des­sau aus dem Wes­ten (Ber­lin zäh­le ich groß­zü­gig auch zum Wes­ten. Es geht wohl auch um Neukölln.):

  • Ber­lin:
  • Frankfurt/Main:
    • 6 Polizist*innen, rechts­ra­di­ka­le Bil­der, einer mit Waffen
    • 20 Beam­te des SEK: volks­ver­het­zen­der Chat­nach­rich­ten, 19 sus­pen­diert, 3 Vorgesetzte
    • Spe­zi­al­ein­heit aufgelöst
    • Min­des­tens 29 wei­te­re hes­si­sche Po­li­zei­be­am­t*in­nen gehör­ten zur Chat­grup­pe, 9 mit Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren, jedoch nicht straf­bar, weil pri­va­te Kommunikation
    • Poli­zei­prä­si­dent des Prä­si­di­ums West­hes­sen äußert sich rassistisch
  • Mühl­heim an der Ruhr/NRW:
    • Chat mit rechts­extre­men und ras­sis­ti­schen Inhal­ten, 20 Polizist*innen sus­pen­diert, Straf­be­feh­le gegen 6
    • alle Aspek­te von grup­pen­be­zo­ge­ner Men­schen­feind­lich­keit, näm­lich Ras­sis­mus, Frem­den­feind­lich­keit, Anti­se­mi­tis­mus, Isla­mo­pho­bie, Sexis­mus und Homophobie.
    • gegen 29 Po­li­zei­be­am­t:in­nen ermit­telt, Mül­hei­mer Dienst­grup­pe A samt Dienst­grup­pen­lei­ter kom­plett suspendiert
    • Ins­ge­samt in NRW 53 bestä­tig­te rechts­extre­me Fäl­le, 138 noch offen. Bei 59 Ver­dachts­fäl­len noch andau­ern­de straf­recht­li­che Prü­fun­gen und arbeits‑, dis­zi­pli­nar- oder beam­ten­recht­li­chen Prü­fun­gen, von 2017 bis Ende Sep­tem­ber 2021 275 Ver­dachts­fäl­le, 6 ent­las­se­ne Kommissaranwärter
  • Alsfeld/Hessen:
    • Hit­ler-Bild auf Whats­App geteilt, über das Aus­kunfts­sys­tem der Poli­zei Abfra­gen ohne dienst­li­chen Anlass vor­ge­nom­men und Infor­ma­tio­nen wei­ter­ge­ge­ben, uner­laub­te Schuss­waf­fen und Munition 
    • Geld­stra­fe 7000€, Jus­tiz fand Hit­ler­bild aber nicht rele­vant, weil war ja privat
  • Osnabrück/Niedersachsen:
    • Ermitt­lun­gen gegen 6 Beam­te, ver­fas­sungs­feind­li­che Sym­bo­le über whats­app ver­schickt, 4 suspendiert

So. Wat sagt uns dit­te? Ich schrei­be jetzt mal eine Ein­ord­nung, so wie man sie mit­un­ter anders­rum in Zei­tun­gen findet:

<sarcasm>Dieser gan­ze Neo­fa­schis­mus ist sehr schwer erträg­lich und nicht zu ver­ste­hen. Die Men­schen im Wes­ten sind irgend­wie ganz anders als wir lie­ben Lin­ken aus dem Osten. Wir haben in der Schu­le auf­ge­passt, haben alle mehr­fach Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger besucht und wis­sen, dass Faschis­mus unglaub­li­ches Leid über vie­le Men­schen gebracht hat. Wie kann man die­se Ent­glei­sun­gen nur erklä­ren? Mir fal­len meh­re­re Erklä­run­gen ein: 

  • Nach dem Krieg gab es kei­ne wirk­li­che Auf­ar­bei­tung des Faschismus.
  • Opa/Oma bzw. Uropa/Uroma der klei­nen Hit­lers in der Poli­zei sind in einer Dik­ta­tur auf­ge­wach­sen. Die ent­spre­chen­den Defor­mie­run­gen wur­den in der Fami­lie weitergegeben.
  • Die Nazi-Poli­zis­ten sind nie in einen Kin­der­gar­ten gegan­gen, saßen stun­den­lang allei­ne auf dem Topf, weil Mama sie nicht wei­ter­spie­len ließ, bis die wich­ti­gen Sachen erle­digt waren, und haben wegen feh­len­dem Kon­takt zu ande­ren Kin­dern kein ver­nünf­ti­ges Sozi­al­ver­hal­ten erlernt.
  • Die Nazi-Müt­ter (Müt­ter der Nazis) waren frus­triert, weil sie öko­no­misch abhän­gig waren und sich des­halb nicht von den Vätern tren­nen konnten.

</sarcasm>

Ist bescheu­ert? Ja. Aber sol­ches Zeug müs­sen Ost­deut­sche immer wie­der in der Zei­tung lesen (Zei­tun­gen sind bis auf das Neue Deutsch­land und die Ber­li­ner Zei­tung alles West-Zei­tun­gen). Zum Bei­spiel, dass Kin­der Neo­na­zis gewor­den sei­en, weil sie im Kin­der­gar­ten neben­ein­an­der auf dem Töpf­chen geses­sen hät­ten (gute Bespre­chung der Pfeif­fer­schen The­se von Kers­tin Decker im tages­spie­gel, 11.05.1999). Oder dass die Tat­sa­che, dass die AfD im Osten erfolg­reich ist, an der Dik­ta­tur­so­zia­li­sie­rung läge. Die DDR ist schon über 30 Jah­re Geschich­te. Jun­ge AfD-Wähler*innen ken­nen die DDR nur noch aus Erzählungen.

Zusammenfassung

Die­ses Land hat ein Nazi-Pro­blem. Oder meh­re­re. Ver­schie­de­ne. Es ist zu ein­fach, ange­ekelt auf den jeweils ande­ren zu bli­cken und zu sagen: Ih, die sind so anders. Die Nazis. Da drü­ben. Es wird nicht bes­ser, wenn man von oben her­ab über Min­der­hei­ten schreibt. Man kann sich zwar schön selbst ver­ge­wis­sern und die Leser*innen fin­den es auch duf­te, aber man schließt eben ein Fünf­tel der Bevöl­ke­rung des Lan­des wei­ter­hin aus (Die taz hat mit 6% ost­deut­schen Leser*innen den höchs­ten Ossi-Anteil. Bei Spie­gel und Süd­deut­scher liegt er bei 4% und 2,5%. Sie­he taz, 09.03.2021). Die­ses Fünf­tel wird die Zei­tun­gen wei­ter­hin nicht lesen und sind somit für nor­ma­le Medi­en mit jour­na­lis­ti­schen Qua­li­täts­stan­dards ver­lo­ren. Die­ser Teil der Bevöl­ke­rung kriegt sei­ne Infor­ma­ti­on und Unter­hal­tung eben auf rech­ten Schwur­bel­ka­nä­len. Wie gefähr­lich das ist, haben wir wäh­rend der Coro­na-Kri­se gese­hen und das gilt genau­so für die Klimakrise.

Quellen

Decker, Kers­tin. 1999. Das Töpf­chen und der Haß. tages­spie­gel. Ber­lin. (https://www.tagesspiegel.de/kultur/das-toepfchen-und-der-hass/77844.html)

Fromm, Anne. 2021. Pres­se in Ost­deutsch­land: Wer strei­chelt unse­re See­le? taz. Ber­lin. (https://taz.de/Presse-in-Ostdeutschland/!5756271/)

Giess­ler, Denis. 2021. Ver­dachts­fäl­le Ras­sis­mus bei der Poli­zei: Die lan­ge Lis­te der Ein­zel­fäl­le. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Verdachtsfaelle-Rassismus-bei-der-Polizei/!5806075/)

Gür­gen, Male­ne. 2020. Ermitt­lun­gen gegen Ber­li­ner Beam­ten: AfD, NPD, Poli­zei. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Ermittlungen-gegen-Berliner-Beamten/!5690788/)

Auf dem Berg der Ahnungslosen?

Man­fred Krie­ner schreibt in der taz einen guten Arti­kel über den Atom­aus­stieg nach der Reak­tor­ka­ta­stro­phe. Er ord­net dar­in Ange­la Mer­kels Han­deln ein. An sich ein schö­ner Arti­kel, den man schön wei­ter­vert­wit­tern könn­te, wenn, ja wenn nicht die­se eine Pas­sa­ge wäre:

Mer­kel, die Kanz­le­rin der schwarz-gel­ben Lauf­zeit­ver­län­ge­rung, wird als Kanz­le­rin des Atom­aus­stiegs in die Geschichts­bücher ein­ge­hen. Dabei hat­te sie nie ver­stan­den, wie fun­da­men­tal der Atom­kon­flikt die west­deut­sche Gesell­schaft über Jahr­zehn­te ver­gif­tet hat­te. Die blu­ti­gen Schlach­ten an den Bau­zäu­nen Ende der 70er Jah­re, die Mas­sen­pro­tes­te der 80er Jah­re, die jahr­zehn­te­lan­gen Kämp­fe unzäh­li­ger Bür­ger­initia­ti­ven, die die Grü­nen erst mög­lich mach­ten: Mer­kel kann­te die rele­van­tes­te Pro­test­be­we­gung der alten Bun­des­re­pu­blik nur aus den Kurz­mel­dun­gen im Neu­en Deutsch­land.

Man­fred Krie­ner: Die letz­ten Kur­ven der Tal­fahrt, taz, 9.3.2011

Was ist das Pro­blem? Aus­sa­gen wie die­se sind nicht nur Geät­ze gegen Mer­kel son­dern eine Belei­di­gung für jeden poli­tisch inter­es­sier­ten Ost­deut­schen. Es gab in der DDR vie­le Mög­lich­kei­ten, sich zu infor­mie­ren. Als Jugend­li­cher habe ich Zei­tun­gen aus­ge­tra­gen, das ND lasen nur die wenigs­ten. Die, mit denen man nichts zu tun haben woll­te. Die, die statt der DDR-Fah­ne (oder gar kei­ner Fah­ne = Wider­stand) zum ers­ten Mai die rote Fah­ne aus dem Fens­ter gehängt haben). Wenn man ein biss­chen was über Ange­la Mer­kel weiß, dann kann man ahnen, dass sie nicht das ND gele­sen hat, jeden­falls nicht als ein­zi­ge Tages­zei­tung. Außer­dem gab es noch ande­re Infor­ma­ti­ons­quel­len, die auch bis auf klei­ne Gebie­te in Sach­sen (dem so genann­ten Tal der Ahnungs­lo­sen) über­all ver­füg­bar waren:1 Radio und Fern­se­hen. Ange­la Mer­kel wohnt seit 1978 in Ber­lin (sie­he Wiki­pe­dia-Ein­trag) und konn­te also SFB, Rias und alle West-Fern­seh­pro­gram­me emp­fan­gen. Ab und zu kamen west­li­che Pres­se­er­zeug­nis­se über die Gren­ze. Von Ver­wand­ten oder Diplo­ma­ten rüber­ge­bracht. Die­se wur­den von vie­len, vie­len Men­schen gele­sen. Es gab in der DDR ein sehr gro­ßes Inter­es­se am Wes­ten und der poli­ti­schen Ent­wick­lung dort.

War­um schrei­be ich das alles auf? In der sel­ben Aus­ga­be der taz hat Anne Fromm über die Absatz­zah­len der West­pres­se in Ost­deutsch­land geschrieben:

2,5 Pro­zent ihrer Gesamt­auf­la­ge ver­kauft die Süd­deut­sche Zei­tung in den Neu­en Bun­des­län­dern. 3,4 Pro­zent sind es bei der FAZ, etwa 4 Pro­zent beim Spie­gel. Bei der taz sind es, das steht nicht in der Stu­die, rund 6 Prozent.

Anne Fromm: Pres­se in Ost­deutsch­land: Wer strei­chelt unse­re See­le? taz, 9.3.2021

Wor­an könn­te das nur lie­gen? Anne Fromm beschreibt es in ihrem Arti­kel sehr genau.

State­ments wie das von Man­fred Krie­ner sind Belei­di­gun­gen, wie auch Vor­schlä­ge wie der von Mar­kus Lis­ke, der – eben­falls in der taz – dazu auf­rief, nicht mehr in den Osten zu rei­sen, weil dort alle Nazis sei­en (sie­he Blog­bei­trag Rei­sen­de, mei­det Nord­rhein-West­fa­len!). Wenn das in aus­rei­chen­der Fre­quenz in Pres­se­er­zeug­nis­sen vor­kommt, hören Men­schen auf, das zu lesen. War­um soll­ten wir den Wes­sis noch Geld dafür geben, dass sie uns belei­di­gen? Legen­där ist auch das Spie­gel-Cover, nach dem die­ser Blog benannt ist (sie­he Ich will was sagen).

Sol­che Bei­trä­ge kann man brin­gen, wenn man die Ossis nicht als sei­ne Leser*innen sieht. Wahr­schein­lich ist das bei vie­len Autor*innen so. Es ver­stärkt aber das Pro­blem, das wir auf sehr vie­len Ebe­nen haben. Men­schen bezie­hen Infor­ma­tio­nen aus Face­book-Grup­pen, Tele­gram-Kanä­len und ande­ren lus­ti­gen Quel­len. Das Ergeb­nis ist Popu­lis­mus, sich ver­stär­ken­de Echo­kam­mern mit Faken­ews, Hass auf Anders­den­ken­de, die Lügen­pres­se und den Öffent­lich-Recht­li­chen Rund­funk. Es ist also auch im eige­nen Inter­es­se der klas­si­schen Medi­en, auf die Ossis zu ach­ten, die Ossis zu ach­ten. Sich zu infor­mie­ren und zu ver­su­chen, die Posi­ti­on von Min­der­hei­ten mitzudenken.

Hier ein Vor­schlag: Als die taz noch old-school pro­du­ziert wur­de, gab es Set­zer. Die­se haben mit­un­ter lus­ti­ge Kom­men­ta­re in die Tex­te der taz-Autor*innen ein­ge­baut. (sie­he … die Säz­zer-Kom­men­ta­re) So etwas brau­chen wir wie­der. Es müss­te einen Ossi vom Dienst geben, der das Recht dazu hat, zu allen Belan­gen, die den Osten betref­fen, einen (kur­zen) Kom­men­tar ein­zu­fü­gen. Mir hät­te es schon gereicht, wenn hin­ter der oben zitier­ten Pas­sa­ge gestan­den hät­te „[Was fürn Quatsch, Ossi vom Dienst]“. Es könn­te ein Pool aus Ost-Autor*innen, ‑redakteur*innen gebil­det wer­den, die sich dann Arti­kel vor der Ver­öf­fent­li­chung noch ein­mal anse­hen. Ich wür­de dafür 100€ im Monat bezah­len und man könn­te das Vor­ha­ben sicher über Crowd-Fun­ding auch noch bes­ser aus­stat­ten. Ich wür­de auch selbst mit­ar­bei­ten, falls das mög­lich ist. Dann wür­de ich mich über die Arti­kel freu­en, an denen ich etwas rum­me­ckern kann, ehm, ich mein­te, zu denen ich mit mei­nem Erfah­rungs­schatz bei­tra­gen kann. =:-) Wenn sich das nicht in den mit­un­ter hek­ti­schen Pres­se­all­tag inte­grie­ren lässt, könn­te man zumin­dest ein Kom­men­tar­recht für die Online-Arti­kel eta­blie­ren und zwar für Säz­zer-style Ein­wür­fe im Text, nicht in irgend­wel­chen Kom­men­tar­funk­tio­nen. Die­se könn­ten dann auch nach Ver­öf­fent­li­chung ein­ge­fügt und sogar mit län­ge­ren Begrün­dun­gen ver­linkt wer­den. So wür­den alle lernen.

Der grö­ße­re Wurf wäre die Ein­rich­tung einer Stif­tung, die Ossis in der Jour­na­lis­ten­aus­bil­dung unter­stützt und ihnen danach eine Start­pha­se finan­ziert, denn wie Anne Fromm dar­ge­legt hat, braucht man für Jour­na­lis­mus zur Zeit finan­zi­el­len Rück­halt in der Fami­lie und der ist im Osten meis­tens schlicht nicht gegeben. 

Reisende, meidet Nordrhein-Westfalen!

Lie­ber Mar­kus Liske,

Sie schrei­ben heu­te in der taz über einen Rant von Kurt Tuchol­sky, der sei­ne Mitbürger*innen dazu auf­ruft, nicht mehr nach Bay­ern zu rei­sen. Wegen natio­na­lis­ti­scher Ten­den­zen dort. Sie for­dern Ihre Leser*innenschaft im Titel auf: Rei­sen­de, mei­det Sach­sen! und deh­nen das im Arti­kel auf den gesam­ten Osten aus. Sati­re und sol­che Rants funk­tio­nie­ren, wenn sich Schwä­che­re gegen Stär­ke­re oder Gleich­star­ke wen­den. Wenn der klei­ne Waden­bei­ßer sich im Bein des viel grö­ße­ren Geg­ners fest­beißt und ein­fach nicht abzu­schüt­teln ist. Sie funk­tio­nie­ren nicht aus der Posi­ti­on des Stär­ke­ren. Hier nun mein Rant: Ich habe mich über die­sen Arti­kel sehr geär­gert. Sie schla­gen vor, nicht mehr in den Osten zu fah­ren, weil dort die Nazis sind. Ers­tens belei­di­gen Sie mit sol­chen Pau­scha­li­sie­run­gen 18% der Einwohner*innen der Bun­des­re­pu­blik. Zwei­tens tref­fen Sie damit eine wich­ti­ge ver­blei­ben­de Ein­nah­me­quel­le. Nach der Wen­de wur­de die DDR-Indus­trie bewusst platt­ge­macht (MDR: 2020. D‑Mark, Ein­heit, Vater­land: Das schwie­ri­ge Erbe der Treu­hand), wei­te Tei­le des Lan­des sind deindus­tria­li­siert und es blie­ben nur die blü­hen­den Land­schaf­ten, die man berei­sen kann. Was wir statt Indus­trie bekom­men haben, sind Typen wie Hoff­mann von der Wehr­sport­grup­pe Hoff­mann, den Ihr gut für uns im Knast auf­be­wahrt und dann wegen guter Füh­rung eher wie­der raus­ge­las­sen habt. Er hat dann nach der Wen­de in Kahla/Thüringen das gemacht, was zu erwar­ten war. Eure Pro­fes­so­ren (weib­li­che Endung lass ich mal weg) haben die AfD auf­ge­baut. Fast die gesam­te Füh­rungs­rie­ge die­ser Par­tei ist aus dem Wes­ten. (hier eine Zusam­men­stel­lung) Die Chefs der Ost-Lan­des­ver­bän­de alle­mal: Kal­bitz, Höcke, Till­schnei­der, Rei­chardt. Die AfD­ler mit Kon­tak­ten zu Reichsbprgern und Holocaustleugner*innen kom­men aus Hes­sen: Doris von Sayn-Witt­gen­stein. Sie wur­de bei lau­fen­dem Aus­schluss­ver­fah­ren als Lan­des­vor­sit­zen­de Schles­wig-Hol­steins wie­der gewählt. Ihr habt über die ras­sis­ti­schen Ansich­ten des Chefs des Reser­vis­ten­ver­ban­des Sach­sen geschrie­ben. Was fehl­te: der ist aus dem Wes­ten. Der Ver­fas­sungs­schutz wur­de von Maa­ßen gelei­tet, der AfD-nah ist und nir­gend­wo Rechts­extre­mis­mus sehen konn­te. Der Ver­fas­sungs­schutz war bei den NSU-Mor­den anwe­send. Es gibt rech­te Netz­wer­ke in Poli­zei, KSK und Armee. Quel­len muss ich hier nicht auf­füh­ren, denn alles, was ich dar­über weiß, weiß ich aus der taz. Ihr müss­tet es also auch wis­sen. (Vie­len Dank übri­gens für die tol­len Arti­kel!). Ver­fas­sungs­schutz, Jus­tiz und Poli­zei wur­den nach der Wen­de vom Wes­ten in der ehe­ma­li­gen DDR instal­liert. In den Lei­tungs­po­si­tio­nen gibt es noch heu­te kei­ne oder sehr weni­ge Ossis (laut Stef­fen Mau, Lüt­ten Klein sind nur 13,3% der Richter*innen im Osten Ossis.). Wie Ihr selbst schreibt, wur­den die Täter von Con­ne­witz, Neo-Nazis, die zu Hun­der­ten kamen und einen (lin­ken) Stadt­teil platt gemacht haben, auch fünf Jah­re nach dem Vor­fall nicht bestraft (taz: 11.01.2021, Schlep­pen­de Auf­klä­rung). Einer der Täter macht gera­de sein Jura-Refe­ren­da­ri­at … Kürz­lich hat­tet Ihr einen Arti­kel über einen Brand­an­schlag auf eine Flücht­lings­heim in Lübeck 1995 (taz: Hoyers­wer­da, Solin­gen, Lübeck!). Die mut­maß­li­chen Täter sind bekannt, die Bewei­se erdrü­ckend, ange­klagt wur­de ein Geflüch­te­ter. Ein Jus­tiz­skan­dal ohne­glei­chen. Die Ver­tu­schen­den in Poli­zei und Gerich­ten sind aus dem Wes­ten. Das Fazit, das man zie­hen kann und muss, ist, dass das gan­ze Land ein ein­zi­ger brau­ner Sumpf ist. Ent­spre­chend besetz­te Stel­len in Poli­zei und Jus­tiz im Osten berei­ten den Boden für die Saat der AfD und der Neonazi-Netzwerke.

Wenn Sie nun vor­schla­gen, nicht mehr in den Osten zu rei­sen, ist das selbst­ge­recht und bil­lig. Und es wür­de nicht zur Lösung des Pro­blems bei­tra­gen, son­dern es ver­schär­fen. Nach der Wen­de wur­den alle Print­me­di­en vom Wes­ten über­nom­men, Wes­sis schrei­ben über Ossis. Von oben her­ab, pau­scha­li­sie­rend, so wie Sie in die­sem Arti­kel. Oft ohne Sach­kennt­nis. Das hat dazu geführt, dass vie­le sich ein­fach abge­wen­det haben und die West-Medi­en (#Lügen­pres­se) nicht mehr rezi­pie­ren. Die­se Lücke kann dann die AfD mit ent­spre­chen­den Alter­na­tiv­an­ge­bo­ten nut­zen und das hat sie auch getan. Ihr (die West­me­di­en) habt die Ossis ver­lo­ren (jeden­falls den AfD-wäh­len­den Teil der Ost­deut­schen). Es nützt nichts, wenn die Tages­schau oder irgend­wel­che Print­me­di­en über die Coro­na-Pan­de­mie berich­ten, denn das kommt an den ent­spre­chen­den Stel­len nicht mehr an. Mit Ver­schwö­rungs­the­sen, Popu­lis­mus und Ras­sis­mus fin­den AfD und fri­ends offe­ne Ohren. In der Wiki­pe­dia gibt es eine inter­es­san­te Sei­te zur Dis­kri­mi­nie­rung von Ost­deut­schen, auf der ent­spre­chen­de Stu­di­en zum White-Trash in den USA und zu den Ent­spre­chun­gen im Osten ver­linkt sind. Men­schen, denen es nicht gut geht, tre­ten nach unten. Men­schen, die sich unge­recht behan­delt füh­len, begeh­ren auf. Ihr Arti­kel trägt da nicht zu einer Lösung bei. Im Gegenteil.

Stel­len Sie sich ein­fach vor, es wür­de jemand einen Arti­kel mit der Über­schrift Rei­sen­de, mei­det Nord­rhein-West­fa­len! schrei­ben, weil es in NRW gan­ze Stadt­tei­le gibt, in denen nur Nazis woh­nen (Doku­men­ta­ti­on: 28.09.2020. pro sie­ben spe­zi­al: Rechts.Deutsch.Radikal, wiki­pe­dia: Dort­mund Dorst­feld). Lächer­lich, oder? Es funk­tio­niert nicht. Es funk­tio­niert nur anders­rum, aus einer Posi­ti­on der Stärke.

Ihr Arti­kel ist von der­sel­ben Art wie der vor eini­gen Jahr­zehn­ten eben­falls in der taz erschie­ne­ne von Eber­hard Sei­del-Pie­len, in dem er vor­schlug, dem Osten die Mit­tel zu strei­chen, bis die Ossis Demo­kra­tie ver­stan­den hät­ten: pau­scha­li­sier­dend, ver­let­zend, arro­gant und mies. Lie­ber Herr Lis­ke, wenn Sie sich in den ver­gan­gen Tagen wie Tuchol­sky gefühlt haben soll­ten, kann ich Ihnen nur sagen: Sie sind ganz weit weg davon. Ganz weit.

PS: Beim Schrei­ben von E‑Mails gibt es ja mit­un­ter Pro­ble­me, weil die­se viel här­ter aus­fal­len als das, was man Per­so­nen ins Gesicht sagen wür­de. Bei Zei­tungs­ar­ti­keln ist das wahr­schein­lich so ähn­lich. Viel­leicht stel­len Sie sich ja bei Ihrem nächs­ten Arti­kel vor, dass Sie mit einem 50jährigen Ossi in einer Knei­pe sit­zen und die­sem erzäh­len, was Sie dem­nächst über ihn schrei­ben wer­den. Ich wür­de mich auch als Test­per­son zur Ver­fü­gung stel­len. Das Ange­bot gilt auch für ande­re taz-Autor*innen.

Nee? Wol­len Sie nicht? Und ist Ihnen auch egal, was die Ossis so den­ken? Dann weiß ich nicht mehr wei­ter, dann ist die­ses Land verloren. 

Die Weimartage der FDJ

Bei mei­ner Arbeit zum Bei­trag Die Ossis und der Holo­caust habe ich nach den Wei­mer­ta­gen der FDJ gesucht, weil es da immer einen obli­ga­to­ri­schen Besuch der Gedenk­stät­te Buchen­wald gab. Mit gro­ßem Erstau­nen habe ich fest­ge­stellt, dass die Weim­ar­ta­ge außer auf einer Sei­te des Natio­nal­thea­ters Wei­mar nir­gend­wo im Netz auf­tau­chen. Kein Wiki­pe­dia-Ein­trag, kein Blog-Ein­trag, nichts. Das ist eini­ger­ma­ßen erstaun­lich, weil es ein jähr­lich wie­der­keh­ren­des Groß­ereig­nis war. Für 21 Mark konn­te man drei Tage in Schu­len über­nach­ten und vol­le Kan­ne von früh (7:00 Uhr !!!) bis abends (22:00) alles an Kul­tur (Thea­ter, Kon­zer­te, Lesun­gen, Muse­ums­füh­run­gen, Park­füh­run­gen, Vor­trä­ge, …) mit­neh­men, was man sich so vor­stel­len konn­te. Ham­let-Vor­füh­run­gen im Natio­nal­thea­ter Wei­mar. Abschluss­fest in den Parks Tie­furt oder Belvedere. 

Die FDJ hat genervt. Es war eine Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on, in der fast alle DDR-Bürger*innen Mit­glied waren. Man muss­te am FDJ-Stu­di­en­jahr teil­neh­men, wo man ein mal im Monat pro­pa­gan­dis­tisch ver­sorgt wur­de. Rot-Licht.

Aber eine Sache hat die FDJ wirk­lich gut gemacht: die Weim­ar­ta­ge der FDJ. Ich war sie­ben Mal dort und es waren wich­ti­ge Tage in mei­nem Leben. Damit das irgend­wo doku­men­tiert ist, stel­le ich hier eini­ge Pro­gramm­hef­te, Jour­na­le und Infor­ma­tio­nen für Rei­se­lei­ter ins Netz. Habt Spaß damit!

Der titel-fixierte Ossi?

Simo­ne Schmol­lack, die ich sehr schät­ze und die vie­le wich­ti­ge und rich­ti­ge Arti­kel über den Osten geschrie­ben hat, hat heu­te einen Bei­trag in der taz über pro­mo­vier­te Sta­si-Mit­ar­bei­te­rIn­nen und über Jahns Vor­schlag, Dok­tor­ti­tel, die an der Sta­si-Hoch­schu­le in Pots­dam erwor­ben wur­den, statt als Dr. Jur. als Dr. Stas ein­zu­ord­nen. Ich stim­me ins­ge­samt in allem mit Simo­ne Schmol­lack über­ein, nur eine klei­ne Text­stel­le hat mich geärgert: 

Denn so ein Dok­tor­ti­tel ver­zückt, das hat er schon immer getan, beson­ders im obrig­keits- und titel­ori­en­tie­ren Osten.

Obrig­keits­ori­en­tiert? Weiß ich nicht. Vie­le Men­schen haben sich ein­fach aus­ge­klinkt und sich ins Pri­va­te zurück­ge­zo­gen. Titel­ori­en­tiert war der Osten sicher nicht. Im Wes­ten hat­te und hat ein Pro­fes­sor, Offi­zier, Arzt viel höhe­res Anse­hen als es die­se Beru­fe im Osten je hat­ten. Ich wür­de sogar soweit gehen, den Osten als intel­lek­tu­el­len­feind­lich ein­zu­stu­fen. Man hat es tun­lichst ver­mie­den, sei­nen Dok­tor­ti­tel in den Per­so­nal­aus­weis zu schrei­ben, weil einem das bei Kon­trol­len eher scha­den als nüt­zen konn­te. Sozia­le Hier­ar­chien waren in der DDR eher flach. Intel­lek­tu­el­le waren im All­tag zu nichts zu gebrau­chen, viel wich­ti­ger waren Bezie­hun­gen zu Men­schen, die begehr­te Waren ver­kauf­ten oder zu Hand­wer­kern. Hand­wer­ke­rIn­nen ver­dien­ten viel, viel mehr Geld als Wis­sen­schaft­le­rIn­nen und waren auch ent­spre­chend ange­se­hen. Zu stu­die­ren bedeu­te­te, dass man erst mal zur Armee muss­te und dann fünf Jah­re lang kein Geld ver­dien­te. Irgend­wann kam man irgend­wo an, aber die Men­schen mit Lehr­be­ruf ver­dien­ten schon jah­re­lang. Schön blöd. 

Nach­trag vom 26.01.2020: Ich möch­te mei­nen Blog­post mit die­sem Zitat aus einem Buch de Sozio­lo­gen Prof. Dr. Stef­fen Mau stär­ken. (Ich weiß, das ist lustig …):

In unse­rer Klas­se blick­te die gro­ße Mehr­heit, die eine Berufs­aus­bil­dung anstreb­te, ver­ächt­lich auf die »Stre­ber«, und es war schwer zu ver­mit­teln, war­um man wei­ter die Schul­bank drü­cken soll­te, wenn es doch dar­um ging, schnell Geld zu ver­die­nen und auf eige­nen Füßen zu ste­hen. Ein Hoch­schul­stu­di­um erschien nicht allen als Gip­fel des Glücks, was sicher­lich auch damit zu tun hat­te, dass die damit ver­bun­de­nen Ein­kom­mens­ge­win­ne mar­gi­nal blie­ben (ein Argu­ment, das noch stär­ker zu Buche schlägt, wenn man die län­ge­re Bil­dungs­pha­se einrechnet).

Stef­fen Mau. 2019. Lüt­ten Klein, Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung, BD 10490 bzw. Suhr­kamp.

Der Ossi und der Holocaust

Die­ser Text wur­de am 01.09.2019 begon­nen und ist lei­der immer noch nicht ganz fer­tig, aber er soll jetzt mal sicht­bar werden. 

Einleitung

Die Wes­sis ver­su­chen jetzt, den Osten zu ver­ste­hen. Ein biss­chen spät, denn das Kind ist in den Brun­nen gefal­len. Dazu gibt es ver­schie­de­ne Ana­ly­sen in Zei­tun­gen, die für die Mei­nungs­bil­dung rele­vant sind. Einen wich­ti­gen Punkt aus zwei die­ser Ana­ly­sen möch­te ich in die­sem Bei­trag bespre­chen: DDR und Holo­caust. Die AutorIn­nen der bespro­che­nen Bei­trä­ge sind jeweils aus dem Osten: Ines Gei­pel und Anet­ta Kaha­ne. Das macht ihre Aus­sa­gen um so ver­wun­der­li­cher. Sehen wir uns die Aus­sa­gen von Ines Gei­pel und Anet­ta Kaha­ne im Detail an:

Die West-Gesell­schaft des direk­ten Nach­kriegs, die sich manisch schön­putz­te, die schier mär­chen­gleich Koh­le mach­te und sich in ihrer Unfä­hig­keit zu trau­ern ver­pupp­te. Die post­fa­schis­ti­sche DDR der fünf­zi­ger Jah­re dage­gen wur­de zur Syn­the­se zwi­schen ein­ge­kap­sel­tem Hit­ler und neu­er Sta­lin-Dik­ta­tur, pla­niert durch einen roten Anti­fa­schis­mus, der ein­zig eine Hel­den­sor­te zuließ: den deut­schen Kom­mu­nis­ten als Über­win­der Hit­lers. Mit die­ser instru­men­tel­len Ver­ges­sens­po­li­tik wur­de im sel­ben Atem­zug der Holo­caust für 40 Jah­re in den Ost-Eis­schrank gescho­ben. Er kam öffent­lich nicht vor. 

Ines Gei­pel, Das Ding mit dem Osten, Frank­fur­ter All­ge­mei­ne, 14.08.2019

Im Osten war eine sys­te­mi­sche und indi­vi­du­el­le Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus und der Sho­ah nicht gewollt. Dies hät­te zu Fra­gen nach Men­schen­rech­ten oder Min­der­hei­ten­schutz geführt, die nur bei Stra­fe des Unter­gangs der DDR zu beant­wor­ten gewe­sen wären. 

Anet­ta Kaha­ne, Debat­te Ost­deut­sche und Migran­ten: Nicht in die Fal­len tap­pen, taz, 12.06.2018

Die kras­ses­te Behaup­tung ist die von Gei­pel, der Holo­caust sei öffent­lich nicht vor­ge­kom­men.1 Die­se Behaup­tung ist leicht zu wider­le­gen und Mat­thi­as Krauß hat das bereits 2007 getan.2 Für die Behaup­tung von Kaha­ne muss man etwas wei­ter ausholen.

Schulbildung: Literatur und Filme

Die Beschäf­ti­gung mit dem Holo­caust zog sich durch die gesam­te Schul­bil­dung. Die Schul­bil­dung war in der DDR zen­tral gere­gelt, d.h. alle Schü­le­rin­nen und Schü­ler wur­den nach dem­sel­ben Lehr­plan und mit den­sel­ben Lehr­ma­te­ria­li­en unter­rich­tet. Wir haben in der 9. Klas­se Kin­der­schu­he aus Lub­lin von Johan­nes R. Becher gelernt. Vie­le haben das auf­ge­sagt (33 Stro­phen). Die, die es nicht selbst gelernt haben, haben es zumin­dest vie­le Male gehört. Bechers Bala­de von den Drei­en war eben­falls im Lese­buch der DDR 9. Klas­se (Aus­ga­be 1980) ent­hal­ten. Die­ses Gedicht hat­te nur neun Zei­len. Das haben die auf­ge­sagt, denen die Kin­der­schu­he zu lang waren. Ich habe es oft gehört.

Wir haben Nackt unter Wöl­fen von Bru­no Apitz gele­sen. Im Buch geht es um ein jüdi­sches Kind, das im KZ Buchen­wald ver­steckt wird. Der Mord an den Juden wird ganz klar thematisiert:

Unter den 6000 jüdi­schen Häft­lin­gen des Lagers ver­ur­sach­te der Befehl einen Auf­ruhr der Angst und Ver­zweif­lung. Zuerst war ein Schrei des Ent­set­zens in ihnen auf­ge­bro­chen. Sie woll­ten die schüt­zen­den Blocks nicht ver­las­sen. Sie schrien und wein­ten, wuss­ten nicht, was sie tun soll­ten. Wie ein wüten­der Wolf hat­te der furcht­ba­re Befehl sie ange­sprun­gen, hat­te sich in sie ver­bis­sen, und sie konn­ten ihn nicht mehr abschüt­teln. Unge­ach­tet von Weis­angks Befehl, die Blocks nicht zu ver­las­sen, stürz­ten vie­le der jüdi­schen Häft­lin­ge fort, kopf­los und in höchs­ter Not. Sie rann­ten in ande­re Blocks hin­ein, in die Seu­chen­ba­ra­cke des Klei­nen Lagers, ins Häft­lings­re­vier. »Helft uns! Ver­steckt uns!« »Wie euch ver­ste­cken? Wir kom­men doch sel­ber dran.« Trotz­dem, die Blocks nah­men sie auf. Man riss ihnen die jüdi­schen Mar­kie­run­gen von den Klei­dern, gab ihnen ande­re dafür. Köhn {und der Kapo vom Revier} steck­ten die Hil­fe­su­chen­den als »Kran­ke« in die Bet­ten, gab ihnen eben­falls ande­re Mar­kie­run­gen und Num­mern. Man­che der Gehetz­ten ver­steck­ten sich auf eige­ne Faust und kro­chen in den Lei­chen­kel­ler des Reviers. Ande­re wie­der stürz­ten in die Pfer­de­stäl­le des Klei­nen Lagers, in der Mas­se unter­tau­chend. Und doch war die­se Flucht die sinn­lo­ses­te, denn gera­de hier steck­ten vie­le jüdi­sche Ange­hö­ri­ge frem­der Natio­nen. Aber wer über­leg­te, wer dach­te klar, wenn er vom Wolf gehetzt wur­de … Was in den Blocks der jüdi­schen Häft­lin­ge zurück­blieb, unter­lag schließ­lich der Läh­mung des mör­de­ri­schen Befehls. Ver­stört sahen sie dem Kom­men­den ent­ge­gen. Die Block­äl­tes­ten, selbst jüdi­sche Häft­lin­ge, hat­ten nicht den Mut, zum Marsch nach dem Tor antre­ten zu las­sen. Dort war­te­te der Tod! Konn­te man ihn nicht auch hier erwarten? 

Bru­no Apitz. 1958. Nackt unter Wöl­fen, Mit­tel­deut­scher Ver­lag, Hal­le (Saa­le). Zitiert nach Aus­ga­be vom Auf­bau­ver­lag, 2012, S. 274–275

Zum Buch gab es 1963 eine Ver­fil­mung von Frank Bey­er für die DEFA (sie­he Fil­me). Nackt unter Wöl­fen erschien in 30 Spra­chen und erreich­te eine Gesamt­auf­la­ge von mehr als zwei Millionen.

Pro­fes­sor Mam­lock (ein Thea­ter­stück von 1934) wur­de 1961 ver­filmt und in Schu­len gezeigt. Der Film han­delt von einem jüdi­schen Kli­nik­lei­ter und des­sen Fami­lie. Arbeits­ver­bot, Inhaf­tie­rung. Ein Sohn flieht. Pro­fes­sor Mam­lock begeht Selbstmord.

Edu und Unku wur­de eben­falls im Lite­ra­tur­un­ter­richt behan­delt. Unku ist ein Sin­ti-Mäd­chen, das in Ausch­witz ermor­det wurde.

Die erst­mals 1958 ver­öf­fent­lich­te Erzäh­lung Früh­lings­so­na­te von Wil­li Bre­del befand sich im Lese­buch der 9./10. Klas­se.3 Es ging um einen jüdi­schen Polit­of­fi­zier, der mit der Roten Armee nach Deutsch­land gekom­men war. Er hört die Musik, die eine Fami­lie mit Kla­vier und Fagott spielt, kommt in deren Woh­nung, immer wie­der, bringt Essen mit. Sie wer­den ver­traut. Eines Tages fragt die Fami­lie ihn nach sei­nem Lieb­lings­stück und er nennt Beet­ho­vens Früh­lings­so­na­te. Die Fami­lie stu­diert das Stück ein, spielt es vor dem Offi­zier und die­ser bricht zusam­men und ver­wüs­tet die Woh­nung. Dar­auf­hin wird er ver­haf­tet und ein­ge­sperrt und von sei­nen Vor­ge­setz­ten ver­prü­gelt. Der Fami­li­en­va­ter – ein deut­scher Pro­fes­sor – ent­schul­digt ihn. Hier Aus­zü­ge aus dem Text, der aus sei­ner Per­spek­ti­ve geschrie­ben ist:

Der Fami­li­en­va­ter:

Ich beob­ach­te­te Rut­hil­de, sie spiel­te vor­treff­lich. Plötz­lich aber sah ich sie erschre­cken: Haupt­mann Pritz­ker wank­te an den Tisch und goss den Inhalt der Wod­ka-Karaf­fe in ein Bier­glas. Der Haupt­mann goss in einem ein­zi­gen Zug den Wod­ka in sich hin­ein. Auf­hö­ren! Um Got­tes Wil­len auf­hö­ren, dach­te ich. Rut­hil­de aber spiel­te wei­ter – und wie sie spiel­te. Mei­ne Frau muss­te ein­set­zen. Der Haupt­mann hat­te bei­de Hän­de vors Gesicht gepresst, als lit­te er Qua­len. Was bedeu­te­te das alles nur? „War­um spiel­ten sie noch? 

Plötz­lich geschah es. Ein Schrei dem unver­ständ­li­che Wor­te folg­ten – und plötz­lich riss der Haupt­mann mit einem Ruck die Tisch­de­cke samt allem, was dar­auf stand her­un­ter. Mei­ne Frau schlug mit dem Kopf auf die Tas­ten des Flügels – wie ohn­mäch­tig. Irm­gart und Häns­chen, zu Tode erschro­cken, rann­ten aus dem Zim­mer. Der Haupt­mann zog mit sei­nem gan­zen Gewicht an dem Schrank, in dem unse­re Glä­ser und etwas Geschirr stan­den, so dass er über den Tisch fiel. Er zerr­te mit einem Griff Vor­hän­ge und Gar­di­nen vom Fens­ter. Einem Stuhl gab er einen Tritt. Und unun­ter­bro­chen schrie er Flüche oder Dro­hun­gen in sei­ner Mut­ter­spra­che her­aus. Rut­hil­de, Gei­ge und Bogen noch in der Hand, stand da und rühr­te sich nicht. Gleich wird er über sie her­fal­len, dach­te ich, bereit, mich ihm ent­ge­gen­zu­wer­fen. Statt des­sen aber hock­te er sich plötz­lich in den Ses­sel, leg­te den Kopf auf die Leh­ne und wein­te, schluchz­te herz­zer­rei­ßend. Ich hat­te mei­ne Frau auf das Sofa gebet­tet, jetzt trat ich zu mei­ner Toch­ter und leg­te den Arm um ihre Schul­ter. So blick­ten wir auf den Unglücklichen, der den Kopf hin und her warf und wie ein Kind wim­mer­te. End­lich kamen Sol­da­ten der Mili­tär­po­li­zei und führ­ten ihn ab.

Wil­li Bre­del. 1971. Früh­lings­so­na­te, Ber­lin und Wei­mar: Auf­bau-Ver­lag. S. 164–165. (Zitat mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Wil­li-Bre­del-Gesell­schaft-Geschichts­werk­statt e. V., Hamburg)

Die Erklä­rung für das Ver­hal­ten wird am nächs­ten Tag von einem ande­ren Offi­zier geliefert:

Heu­te mit­tag näm­lich hat mich ein jun­ger Offi­zier von der Kom­man­dan­tur auf­ge­sucht. Er bat für sei­nen Lands­mann um Ent­schul­di­gung und erbot sich, den Scha­den zu erset­zen. Dann erzähl­te er mir das Schick­sal des Haupt­manns. Es ist noch tra­gi­scher, als wir ver­mu­ten konn­ten. Hören Sie nur: 

Haupt­mann Pritz­ker war vor sei­ner Ein­be­ru­fung zur Sowjet­ar­mee Musik­päd­ago­ge am Kon­ser­va­to­ri­um in Kiew. Er war ver­hei­ra­tet, hat­te eine Toch­ter und einen Sohn, bei­de noch schul­pflich­tig. Im Jah­re 1942 haben deut­sche Sol­da­ten der Hit­ler-Wehr­macht in Kiew Zehn­tau­sen­de Juden, Män­ner, Frau­en und Kin­der, zusam­men­ge­trie­ben wie Vieh und unweit der Stadt vor ihren Grä­bern erschos­sen. Unter den Opfern befan­den sich des Haupt­manns Frau und Kin­der. Die Fami­lie hat­te am Abend, bevor Pritz­ker ein­be­ru­fen wur­de, die Frühlingssonate von Beet­ho­ven gespielt.

Wil­li Bre­del. 1971. Früh­lings­so­na­te, Ber­lin und Wei­mar: Auf­bau-Ver­lag. S. 165.

An einer ande­ren, aus der Sicht des Oberst der sowje­ti­schen Mili­tär­kom­man­dan­turer, der den Haupt­mann ver­hört und geschal­gen hat, erzähl­ten Stel­le heißt es: 

Der Oberst über­leg­te … Da liest man in den Zei­tun­gen, hört in Rund­funk­sen­dun­gen, auch in Gesprä­chen: Bei Worow­schil­wo­grad zwölf­tau­send Juden mas­sa­kriert. In Kertsch Tau­sen­de Ein­woh­ner vor der Stadt füsi­liert. In Kiew zehn­tau­sen­de Juden und Kom­mu­nis­ten gemeu­chelt und in Mas­sen­grä­ber ver­scharrt. Man liest es, ist ent­setzt, aber es dringt nicht mehr rich­tig ins Bewusst­sein; der Ver­stand wehrt sich die­se Häu­fung von Ver­bre­chen aufzunehmen.

Wil­li Bre­del. 1971. Früh­lings­so­na­te, Ber­lin und Wei­mar: Auf­bau-Ver­lag. S. 168.

Der Bericht des Pro­fes­sors endet damit, dass er den Haupt­mann entschuldigt:


„Die Schul­di­gen sind doch eigent­lich wir“: sag­te der Pro­fes­sor, „ich mei­ne, wir Deut­schen. ” Er blick­te auf und fuhr fort: „Man stel­le sich vor: Ein Offi­zier befin­det sich als Sie­ger in dem Land, aus dem die Men­schen kamen, die in sei­ner Hei­mat sei­ne Frau und sei­ne bei­den Kin­der umge­bracht haben. Die Mör­der sind besiegt, aber die Men­schen die­ses Lan­des sind den Mör­dern nicht in den Arm gefal­len, sie haben sie gewäh­ren, das heißt mor­den las­sen. Und ein­sam geht er durch die Stadt der Besieg­ten. Da sitzt in ihrem Haus eine Fami­lie – nicht einer fehlt: Mann, Frau, Töch­ter, Sohn – sie musi­zie­ren, spie­len Schu­mann, Brahms und Mozart. Er steht auf der Stra­ße und lauscht. Jeden Akkord kennt er,
er ist ja Musik­leh­rer, ein Freund der Haus­mu­sik. Musik ist stär­ker als Hass. Gleich einem Bitt­stel­ler klopft er an die Tür der Besieg­ten und — ja, der Mit­schul­di­gen an sei­nem und sei­nes Lan­des Unglück. Er darf zuhö­ren und ist glücklich. Bei Deut­schen, den Lands­leu­ten derer, die sei­ne Frau und Kin­der und unge­zähl­te Tau­sen­de ande­rer Frau­en und Kin­der in sei­ner Hei­mat ermor­det haben. Er denkt dar­an, er muss immer wie­der dar­an den­ken, und ihn packt, ihn überwältigt das ihm zuge­füg­te Leid. Er will es betäu­ben, er will nicht, dass sei­ne deut­schen Bekann­ten etwas davon mer­ken. Er trinkt, um zu ver­ges­sen. Und gera­de das Stück, das sie nichts­ah­nend ihm zur Freu­de spie­len, wird ihm zur größ­ten Qual … ja, wir sind die Schul­di­gen. Die Schul­di­gen sind wir.”

Wil­li Bre­del. 1971. Früh­lings­so­na­te, Ber­lin und Wei­mar: Auf­bau-Ver­lag. S. 166.

Man beach­te, dass bei Bre­del 1958 auch schon ganz klar auf die Rol­le der Wehr­macht bei der Mas­sen­ver­nich­tung der Juden hin­ge­wie­sen wird. Die gan­ze Unge­heu­er­lich­keit ist im Arti­kel über Babyn Jar in Wiki­pe­dia aus­führ­lich doku­men­tiert. SS und Wehr­macht haben gemein­sam 33.771 Juden in einer Schlucht bei Kiew ermor­det und dann vor Kriegs­en­de noch ver­sucht, die Spu­ren zu besei­ti­gen. Men­schen aus dem Osten waren sehr erstaunt, was die Wehr­machts­aus­stel­lung noch 1995–1999 für einen Auf­ruhr erzeu­gen konn­te. Wir wuss­ten Bescheid. Wir hat­ten es spä­tes­tens in der 10. Klas­se gelernt. 

Wiki­pe­dia schreibt zur Wehrmachtsausstellung:

Die brei­te Öffent­lich­keit nahm so erst­mals his­to­risch gut erforsch­te, aber damals all­ge­mein noch wenig bekann­te Sach­ver­hal­te zur Kenntnis: 

  • den Beginn des Holo­caust in den besetz­ten Gebie­ten der Sowjet­uni­on, den die Wehr­machts­füh­rung mit plan­te und dann arbeits­tei­lig mit durchführte, 
  • die Betei­li­gung gan­zer Trup­pen­tei­le an die­sen Ver­bre­chen, wobei Wider­stand bis auf weni­ge Aus­nah­men ausblieb, 
  • den in Wehr­machts­füh­rung wie ein­fa­chen Trup­pen weit ver­brei­te­ten Anti­se­mi­tis­mus und Rassismus, 
  • die ver­bre­che­ri­schen Befeh­le (zum Bei­spiel den Kom­mis­sar­be­fehl) und ihre weit­hin wider­spruchs­lo­se Aus­füh­rung und 
  • die als Kriegs­ziel beab­sich­tig­te mil­lio­nen­fa­che Ver­nich­tung der ost­eu­ro­päi­schen Zivilbevölkerung.

In aktu­el­len poli­ti­schen Dis­kus­sio­nen wird immer wie­der behaup­tet, dass es in der DDR kei­ne sys­te­ma­ti­sche Auf­ar­bei­tung des Faschis­mus gege­ben habe, wohin­ge­gen das in der BRD nach 1968 gesche­hen sei. Wie das Wiki­pe­dia-Zitat nahe­legt, waren die Fak­ten Exper­ten bekannt, jedoch kein All­ge­mein­wis­sen. In der DDR kam nie­mand an die­sen Fak­ten vorbei.

Über­le­ben­de wur­den in die Schu­len ein­ge­la­den. Schu­len wur­den nach Wider­stands­kämp­fern benannt z.B. nach Her­bert Baum (jüdi­scher Wider­stands­kämp­fer). Nach der Wen­de zog das Hein­rich-Hertz Gym­na­si­um in die Gebäu­de der POS Her­bert Baum. Es gibt jetzt kei­ne Schu­le mehr, die nach ihm benannt ist.

Neulehrer

Bei der gan­zen Sache mit der Schul­bil­dung soll­te man auch beden­ken, dass Nazis nach dem Krieg im Bil­dungs­sys­tem der DDR sys­te­ma­tisch durch soge­nann­te Neu­leh­rer ersetzt wur­den. 40.000 Neu­leh­rer. Laut Wiki­pe­dia waren 1949 67,8 Pro­zent aller Leh­rer­stel­len mit Neu­leh­rern besetzt. Es war somit sicher­ge­stellt, dass die Per­so­nen auch das in den Lehr­plä­nen Vor­ge­ge­be­ne unter­rich­ten wür­den, ins­be­son­de­re dann, wenn es sich um anti­fa­schis­ti­schen Lehr­stoff han­del­te. Leh­re­rIn­nen hät­ten den ent­spre­chen­den Stoff schon allein des­halb nicht weg­las­sen kön­nen, weil in jeder Klas­se Kin­der mit Genos­sen­el­tern waren und es sicher Pro­ble­me mit der Schul­lei­tung gege­ben hät­te. Das kann man fin­den, wie man will, aber dar­aus folgt, dass alle Kin­der in der DDR die Mate­ria­li­en, die sich mit dem Faschis­mus beschäf­tigt haben, auch behan­delt haben.

Bücher

LTI – Notiz­buch eines Phi­lo­lo­gen von Vic­tor Klem­pe­rer erschien 1947 im Auf­bau Ver­lag und wur­de dann 1966 in Reclams Uni­ver­sal-Biblio­thek in Leip­zig wie­der­ver­öf­fent­licht. 1990 wur­de die 10. Auf­la­ge gedruckt. Papier war in der DDR knapp. Popu­lä­re Zeit­schrif­ten wie das Maga­zin waren des­halb Bück­wa­re. Es muss also ers­tens einen Bedarf für LTI gege­ben haben und zwei­tens auch den poli­ti­schen Wil­len der Staats­macht, die­ses Buch in gro­ßen Stück­zah­len unters Volk zu brin­gen. Klem­pe­rer selbst war jüdi­scher Abstam­mung und hat sich dafür ent­schie­den, in der DDR zu bleiben.

Scan des Titel­blat­tes von LTI, Aus­ga­be 1975.

Außer­dem gab es Jakob der Lüg­ner von Jurek Becker Auf­bau-Ver­lag, Berlin/DDR 1969. und auch Das Tage­buch der Anne Frank erschien bereits 1957.4

Wei­te­re Bücher:

  • Mar­tin Rie­sen­bur­ger. 1960. Das Licht ver­lösch­te nicht. Ein Zeug­nis aus der Nacht des Faschis­mus, Ber­lin: Uni­on Ver­lag. wei­ter Auf­la­gen in den 1980ern.
  • Arnold Zweig. 1960. „Beginn und ‚End­lö­sung‘“. In: Pro­gramm­heft zu „Affä­re Blum“, Volks­büh­ne Ber­lin, Spiel­zeit 1960/61, S. 4–7., wei­te­re Arti­kel im Neu­en Deutsch­land etc.
  • Kurt Pät­zold. 1983. Ver­fol­gung, Ver­trei­bung, Ver­nich­tung. Doku­men­te des faschis­ti­schen Anti­se­mi­tis­mus 1933 bis 1942. Ber­lin: Reclam.
Reclam-Buch von 1983 über die Juden­ver­fol­gung. Kurt Pät­zold hat an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu die­sem The­ma geforscht. Sein Wiki­pe­dia­ein­trag ent­hält wei­te­re Quellen.

Die­se Auf­zäh­lung aus dem Hut wirkt gera­de­zu lächer­lich gegen­über der Lis­te von 1086 Titeln, die die eins­ti­ge Lei­te­rin der Biblio­thek der Jüdi­schen Gemein­de in Ost-Ber­lin, Rena­te Kirch­ner, zusam­men­ge­stellt hat (Kirch­ner, 2010).

Danie­la Dahn schreibt in ihrem Buch von 2019 (sie­he unten) zu die­ser Liste:

Die Biblio­gra­phie umfasst alle The­men – jüdi­sche Geschich­te, Reli­gi­on, Phi­lo­so­phie, Kul­tus und Brauch­tum, Lebens- und Werk­be­trach­tun­gen bekann­ter Juden, Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus, jüdi­sches Leben in ande­ren Län­dern, ins­be­son­de­re die Welt der Ost­ju­den, auch Paläs­ti­na und Isra­el. Fast genau die Hälf­te aller Bücher aber wid­met sich dem The­ma: Natio­nal­so­zia­lis­mus und Juden­ver­fol­gung. Die meis­ten davon, näm­lich 302, waren Sach­bü­cher, Bio­gra­phien, Tage­bü­cher, Brief­bän­de, auch ein­zel­ne Diplom­ar­bei­ten und Dis­ser­ta­tio­nen, die der Jüdi­schen Biblio­thek zum Dank für Unter­stüt­zung über­ge­ben wur­den. Vie­le davon waren sach­li­che Fak­ten­samm­lun­gen, ande­re unver­kenn­bar der Sys­tem­aus­ein­an­der­set­zung und dem Legi­ti­ma­ti­ons­be­dürf­nis der DDR unter­ge­ord­net. So unter­schied­lich sie waren, kann man ihnen eine ver­in­ner­lich­te, huma­nis­ti­sche Grund­hal­tung und einen tief­emp­fun­de­nen Anti­fa­schis­mus schwer­lich absprechen. 

Ohne den im Raum ste­hen­den, mons­trö­sen Vor­wurf der Unter­drü­ckung jüdi­scher The­men in der DDR könn­te ich mir den nun viel­leicht schon pedan­tisch wir­ken­den Hin­weis spa­ren, dass zu dem auch ästhe­tisch heik­len The­ma Holo­caust, für das erst eine Spra­che gefun­den wer­den muss­te, außer­dem 238 DDR-Autoren wie Anna Seg­hers, Bru­no Apitz, Jurek Becker, Johan­nes Bobrow­ski, Franz Füh­mann, Ste­phan Herm­lin, Ste­fan Heym, Wal­ter Kauf­mann, Gün­ter Kun­ert, Fred Wan­der, Arnold Zweig. West­deut­sche Autoren wie Ilse Aichin­ger, Alfred Andersch, Paul Celan, Peter Härt­ling, Heinar Kipp­hardt, Wolf­gang Koep­pen, Lui­se Rin­ser und Peter Weiss wur­den in DDR-Ver­la­gen genau­so ver­legt wie die Gene­ra­ti­on davor: Lion Feucht­wan­ger, Frank Leon­hard, Klaus Mann, Erich Müh­sam, Erich Maria Remar­que, Nel­ly Sachs, Franz Wer­fel. Schließ­lich wur­de auch viel über­setzt, beson­ders aus Ost­eu­ro­pa: Josef Bor, Tibor Déry, Ladis­lav Gros­man, Imre Ker­té­sz, Ana­to­li Kus­ne­zow, Sta­nis­law Lem, Iccho­kas Meras, aber auch Nata­lia Ginz­burg, Pri­mo Levi, Elie Wie­sel oder Jor­ge Semprún.)

Dahn, Danie­la (2019) Der Schnee von ges­tern ist die Sint­flut von morgen.

Mei­ne Schwie­ger­el­tern hat­ten in ihrer Mann­hei­mer Woh­nung am Ess­tisch extra ein Regal mit Judai­ka pla­ziert, damit die West-Kol­le­gen die­ses bei Ein­la­dun­gen sehen konn­ten, denn auch ihre Kolleg*innen hat­ten merk­wür­di­ge Vor­stel­lun­gen über den Umgang mit Juden und dem Völ­ker­mord in der DDR.

Filme

Es gab diver­se Fil­me, die die Juden­ver­fol­gung the­ma­ti­sier­ten oder in denen sie vor­kam. Es gab in der DDR in vie­len klei­nen Orten Kinos und die Fil­me sind oft jah­re­lang durch die DDR getourt. Fol­gen­de Fil­me sind mir bekannt:

Zur Pre­mie­re des Anne-Frank-Films gibt es einen inter­es­san­ten Bei­trag in der ZEIT von 1959:

Vor der Urauf­füh­rung des Films „Ein Tage­buch für Anne Frank“ im Ost­sek­tor Ber­lins betrat der grei­se Arnold Zweig die Büh­ne im „Haus der Pres­se“ am Bahn­hof Fried­rich­stra­ße. Er sprach davon, daß mit die­sem Film ein Bei­trag zur mora­li­schen Wie­der­gut­ma­chung geleis­tet wer­den solle. 

Anne Frank in West und Ost, Zeit 14/1959

Zu Ich bin klein aber wich­tig gibt es einen Text von Kon­rad Weiß, der 1988 in Film und Fern­se­hen ver­öf­fent­licht wurde.

Fernsehserien

Nach der ers­ten Ver­öf­fent­li­chung die­ses Tex­tes erschien am 17.09.2019 ein Buch von Danie­la Dahn (aus einer jüdi­schen Fami­lie) zum The­ma Wie­der­ver­ei­ni­gung. Die­ses Buch ent­hält auch eine erhel­len­de Dis­kus­si­on der Behaup­tung, der Holo­caust sei in der DDR nicht vor­ge­kom­men. Ich habe das Buch lei­der erst 2023 gele­sen. Dahn weist dar­auf hin, dass es meh­re­re Jah­re vor der Holo­caust-Serie in der DDR eine vier­tei­li­ge Serie zum Völ­ker­mord an den Juden gab: Die Bil­der des Zeu­gen Schatt­mann.

Cover der DVD, auf der die Serie Die Bil­der des Zeu­gen Schatt­mann ver­trie­ben wird

Die Serie war nach dem auto­bio­gra­fi­schen Roman von Peter Edel kon­zi­pert und es spiel­ten meh­re­re Jüd*innen in den Hauptrollen:

Was gab es doch unlängst für einen Hype um den 40. Jah­res­tag der Sen­dung der US-Serie Holo­caust, durch die 1979 das deut­sche Publi­kum, und zwar das gesamt­deut­sche, angeb­lich erst­ma­lig eine Ahnung vom Aus­maß des den Juden zuge­füg­ten Leids bekom­men habe. Was für ein Armuts­zeug­nis! Nir­gends war ein Hin­weis dar­auf zu hören, dass im DDR-Fern­se­hen bereits sie­ben Jah­re [fünf Jah­re, St. Mü.] vor der Hol­ly­wood-Serie eine vier­tei­li­ge Fol­ge über eine jüdi­sche Fami­lie gesen­det wur­de, die nach Ausch­witz depor­tiert wird. Erst­ma­lig durf­te dafür ein deut­scher Film­stab im Lager Ausch­witz dre­hen. Die Authen­ti­zi­tät des Films rühr­te aber nicht nur vom schwer zu ver­kraf­ten­den Ori­gi­nal­schau­platz, son­dern von dem Wis­sen, dass es sich hier um die Ver­fil­mung des auto­bio­gra­phi­schen Romans des Juden Peter Edel han­delt, der all die­se Schre­cken in Ausch­witz selbst erlebt hat. Und nicht nur er, auch eini­ge der Haupt­dar­stel­ler hat­ten die fürch­ter­li­che Hür­de zu neh­men, an die Stät­te ihres grau­en­vol­len Trau­mas zurück­zu­keh­ren. In der Rol­le des Stu­ben­äl­tes­ten Tade­usz spiel­te August Kowal­c­zyk ein Stück sei­nes eige­nen Lebens. Er war zwei Jah­re Häft­ling in Ausch­witz gewe­sen und hat­te sich eigent­lich geschwo­ren, nie wie­der an die­sen Ort zurück­zu­keh­ren. Peter Sturm, im Film der Eli­as, stamm­te aus einer sehr from­men, armen jüdi­schen Fami­lie aus Wien. Er hat­te das Mar­ty­ri­um der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Dach­au, Buchen­wald und eben­falls Ausch­witz hin­ter sich. Und die Schau­spie­le­rin Mar­ga Legal, im Film Frau Mül­ler, bekam 1933 wegen ihrer jüdi­schen Vor­fah­ren ein Arbeits­ver­bot und konn­te sich nur durch eine soge­nann­te «pri­vi­le­gier­te Ehe» vor Ver­fol­gung retten.

Dahn, Danie­la (2019) Der Schnee von ges­tern ist die Sint­flut von morgen.

Der Film wur­de im West­ber­li­ner Tages­spie­gel posi­tiv bespro­chen (25.05.1972).

Zu die­ser Serie und dem Roman, der die Grund­la­ge bil­det, soll­te man noch fol­gen­des ins­be­son­de­re über die Ver­brei­tung wissen:

Die­ser Peter Edel, aus einer bür­ger­li­chen Ber­li­ner Fami­lie stam­mend, konn­te wegen der Ras­sen­ge­set­ze das Gym­na­si­um nicht been­den und nahm ille­gal Zei­chen­un­ter­richt bei Käthe Koll­witz. Ver­su­che, ins Exil zu gehen, miss­lan­gen, ein Groß­teil sei­ner Ver­wand­ten und sei­ne ers­te Frau wur­den in Ausch­witz umge­bracht. Er selbst über­lebt die­ses Ver­nich­tungs­la­ger nur, weil er als bil­den­der Künst­ler nach Sach­sen­hau­sen zum Geld­fäl­schen ver­legt wird. Noch im Lager beschließt er, Kom­mu­nist zu wer­den, als Kon­se­quenz des Erlit­te­nen. Nach der Befrei­ung ver­sucht er es in Öster­reich als Jour­na­list und Gra­phi­ker, spä­ter in West­ber­lin, ab 1947 in Ost­ber­lin. Häu­fig suchen ihn Fie­ber­an­fäl­le heim, die eini­ge Tage andau­ern. Im Fie­ber­wahn durch­lei­det er immer wie­der Ausch­witz. Danach kann er sich an nichts erin­nern.
Davon befreit hat er sich mit sei­nem auto­bio­gra­phi­schen Roman, der 1969 erschien. Bis 1989 erleb­te der Schatt­mann 12 Auf­la­gen, danach kei­ne mehr. Die vier­tei­li­ge Ver­fil­mung lief im Fern­se­hen alle drei, vier Jah­re erneut, auch nach­mit­tags im Schul­pro­gramm, sonst zur bes­ten Sen­de­zeit, mit Wie­der­ho­lung am nächs­ten Mor­gen, zuletzt 1988. Man kam an die­sem Film eigent­lich nicht vor­bei, wer ihn nicht gese­hen hat, woll­te ihn nicht sehen.

Dahn, Danie­la (2019) Der Schnee von ges­tern ist die Sint­flut von morgen.

Ich kann­te die­se Serie nicht, weil wir kei­nen Fern­se­her hatten.

Durch Dahn bin ich auch auf die Arbeit Elke Schie­ber auf­merk­sam gewor­den. Sie hat alle Fil­me auf­ge­lis­tet, die in der SBZ/DDR zwi­schen 1946 und 1990 zu den The­men Anti­se­mi­tis­mus vor 1933, jüdi­sches Leben, Juden­ver­fol­gung im Natio­nal­so­zia­lis­mus, jüdi­sche Ver­gan­gen­heit in der Gegen­wart, Paläs­ti­na-Isra­el-Naher Osten pro­du­ziert wur­den. 700 Sei­ten. 1000 Fil­me. Wie Dahn rich­tig fest­stellt, sagt das allein noch nichts über die Qua­li­tät der Fil­me aus, aber die schie­re Mas­se die­ser Doku­men­te reicht wohl dazu aus, die Falsch­dar­stel­lung, in der DDR sei Jüdi­sches nicht vor­ge­kom­men oder der Holo­caust sei igno­riert wor­den, zu widerlegen.

Theaterstücke

Der DEFA-Film Affä­re Blum, 1948, Erich Engel, hat­te zu DDR-Zei­ten über 4 Mio Zuschau­er. Es geht um einen anti­se­mi­ti­schen Jus­tiz­sa­kndal im Jah­re 1925. Zum Film gab es auch ein Thea­ter­stück und im Pro­gramm­heft von 1960/1961 gab es einen Bei­trag von Arnold Zweig: Beginn und ‚End­lö­sung‘. In: Pro­gramm­heft zu „Affä­re Blum“, Volks­büh­ne Ber­lin, Spiel­zeit 1960/61, S. 4–7.

Skulpturen und Denkmäler

Inge­borg Hun­zin­ger. 1970. Stür­zen­de, Sand­stein; für die Opfer des Todes­mar­sches des KZ Sach­sen­hau­sen vom April 1945 in Par­chim in einer Park­an­la­ge zwi­schen Goe­the­schu­le und Krankenhaus.

Der Bild­hau­er Will Lam­bert war mit einer jüdi­schen Frau ver­hei­ra­tet und floh 1933 aus Deutsch­land. Nach sei­ner Rück­kehr aus dem Exil und der Ver­ban­nung arbei­te­te er haupt­säch­lich an der Gestal­tung der Mahn- und Gedenk­stät­te Ravens­brück. Die Jüdin Olga Bena­rio war das Vor­bild für die Skulp­tur Tra­gen­de (1957). Die­se Skulp­tur wur­de 1959 in Ravens­brück aufgestellt.

Ori­gi­nal­bild­un­ter­schrift: Zen­tral­bild Jun­ge 15.4.65 DDR: Zum 20. Jah­res­tag der Befrei­ung des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Ravens­brück. An der Natio­na­len Mahn- und Gedenk­stät­te Ravens­brück geden­ken die Bür­ger der DDR und vie­le aus­län­di­sche Gäs­te am 30. April die­ses Jah­res der 92.000 Frau­en, Müt­ter und Kin­der, die an die­ser Stät­te einen qual­vol­len Tod fan­den. Hier ver­nei­gen wir uns vor den unsterb­li­chen Hel­den des anti­fa­schis­ti­schen Kamp­fes aus mehr als 20 Natio­nen, die für eine glück­li­che Zukunft aller Völ­ker ihr Leben gaben. 132.000 Frau­en und Kin­der ver­schlepp­ten die Hit­ler­fa­schis­ten nach Ravens­brück, 92.000 erleb­ten den Tag der Befrei­ung nicht mehr. CC-BY-SA Von Bun­des­ar­chiv, Bild 183-D0415-0016–006

13 Figu­ren, die eigent­lich mit der Tra­gen­den kom­bi­niert wer­den soll­ten (sie­he auch Brief­mar­ken), ste­hen seit 1985 zum Geden­ken an die jüdi­schen Opfer des Faschis­mus am Alten Jüdi­schen Fried­hof in Berlin-Mitte.

Denk­mal „Jüdi­sche Opfer des Faschis­mus“ von Will Lam­mert am Alten Jüdi­schen Fried­hof, Ber­lin-Mit­te, 1956/85 Wiki­me­dia, CC-BY-SA Jochen Teufel.

Briefmarken

Es gab eine Rei­he von Son­der­mar­ken, die in der Zeit von 1955–1964 her­aus­ge­ge­ben wur­den. Mit einem Auf­schlag konn­ten sich die Käu­fe­rIn­nen am Auf­bau und der Erhal­tung der Natio­na­len Mahn- und Gedenk­stät­ten Buchen­wald, Sach­sen­hau­sen und Ravens­brück betei­li­gen. Die gesam­ten Mar­ken inklu­si­ve Auf­la­gen­hö­he sind aus­führ­lich in Wiki­pe­dia doku­men­tiert: Auf­bau und Erhal­tung der Natio­na­len Mahn- und Gedenk­stät­ten. Laut dem Wiki­pe­di­ar­ti­kel zur Gedenk­stät­te Sach­sen­hau­sen sind allein 1955 2 Mil­lio­nen Mark auf die­se Wei­se gespen­det wor­den. Zum Ver­gleich: Das Durch­schnitts­ein­kom­men (brut­to) betrug damals 432 Mark (Sta­tis­ti­sches Jahr­buch der DDR, 1990, S. 52).

Brief­mar­ken­se­rie zu KZs
Die­se Brief­mar­ke (Auf­la­ge 1.500.000) zeigt die Plas­tik Tra­gen­de von Will Lam­mert. Die Tra­gen­de ist nach der Jüdin Olga Bena­rio model­liert. Die Figu­ren am Fuße der Säu­le wur­den spä­ter zum Geden­ken an die jüdi­schen Opfer des Faschis­mus am Alten Jüdi­schen Fried­hof in Ber­lin Mit­te aufgestellt.
Her­bert Baum-Brief­mar­ke, 1961, Auf­la­ge 2.000.000, 5 Pfen­nig wur­den für den Auf­bau von Gedenk­stät­ten gespendet

1963 wur­de eine Brief­mar­ke „Nie­mals wie­der Kris­tall­nacht“ in einer Auf­la­ge von 5 Mil­lio­nen Stück herausgegeben. 

Brief­mar­ke von 1963 zum 25 Jah­res­tag der Reichs­pro­grom­nacht, Auf­la­ge 5 Mio
Brief­mar­ke 1988 zum 50 Jah­res­tag der Reichs­pro­grom­nacht, Auf­la­ge 3,5 Mio

Straßen, Schulen, Plätze

Im Abschnitt über Schu­len wur­de schon erwähnt, dass es Schu­len gab, die nach Juden benannt waren, die in KZs ermor­det wur­den. Nach Her­bert Baum wur­de auch eine Stra­ße benannt: Eine Gedenk­ta­fel für die Getö­te­ten der Her­bert-Baum-Grup­pe und das Grab Baums befin­den sich auf dem Jüdi­schen Fried­hof Wei­ßen­see. Das Grab ist als Ehren­grab der Stadt Ber­lin gewid­met. Die auf das Haupt­por­tal des Fried­hofs füh­ren­de Stra­ße heißt seit 1951 Herbert-Baum-Straße.

Rudi Arndt (in Buchen­wald ermor­det) ist ein wei­te­rer Jude, nach dem vie­le Stra­ßen, Plät­ze, Thea­ter und Jugend­her­ber­gen benannt wur­den. Zu den Details sie­he Ehrun­gen in sei­nem Wiki­pe­dia­ein­trag. Wie auch Her­bert Baum war Rudi Arndt im kom­mu­nis­ti­schen Wider­stand, aber bei einer Aus­ein­an­der­set­zung mit sei­ner Per­son stieß man auch auf sei­ne Religionszugehörigkeit:

1938 wur­de er als „poli­ti­scher Jude“ ins KZ Buchen­wald depor­tiert. Nach sei­ner Ankunft war Arndt zunächst kur­ze Zeit in einem Bau­kom­man­do tätig. 1938/1939 arbei­te­te er als Kran­ken­pfle­ger für jüdi­sche Häft­lin­ge und war Block­äl­tes­ter im Block 22. Er setz­te sich sehr für die jüdi­schen Pati­en­ten ein, was der SS außer­or­dent­lich miss­fiel. Nach einer Denun­zia­ti­on durch kri­mi­nel­le Häft­lin­ge im Stein­bruch wur­de er von der SS vor­geb­lich „auf der Flucht“ erschossen. 

Wiki­pe­dia­ein­trag von Rudi Arndt, 03.03.2020

Nach Olga Bena­rio waren Schu­len, Kin­der­ga­är­ten und Stra­ßen benannt.

Ich selbst bin in der Georg-Ben­ja­min-Stra­ße auf­ge­wach­sen, einer Stra­ße, die 1974 in einem Neu­bau­ge­biet nach dem jüdi­schen Arzt und Wider­stands­kämp­fer Georg Ben­ja­min benannt wur­de. Zu wei­te­ren Ehrun­gen sie­he Wiki­pe­dia. In Wiki­pe­dia steht übri­gens auch, dass eine im Som­mer 1951 am Wed­din­ger Net­tel­beck­platz auf­ge­stell­te Gedenk­ta­fel für „Hin­ge­rich­te­te und ermor­de­te Wed­din­ger Anti­fa­schis­ten“, die Georg Ben­ja­mins Namen ent­hielt, von Unbe­kann­ten recht schnell ent­fernt wurde.

Weimartage der FDJ und Besuche im KZ Buchenwald

Die FDJ hat jedes Jahr in Wei­mar ein gro­ßes drei­tä­gi­ges Fes­ti­val ver­an­stal­tet. Thea­ter, Musik, Muse­en. Man konn­te für 21 Mark alles besu­chen, bekam Essen und konn­te in Wei­ma­rer Schu­len schla­fen. Auf Pro­be­büh­nen und den Haupt­büh­nen fan­den gleich­zei­tig meh­re­re Vor­stel­lun­gen pro Tag statt. (Merk­wür­dig, dass man dazu im Netz bis auf eine Sei­te des Natio­nal­thea­ters in Wei­mar und das Archiv des Neu­en Deutsch­lands nichts, aber auch gar nichts, fin­den kann.)

Arti­kel im ND Weim­ar­ta­ge der FDJ laden ein, 04.07.1988

Obli­ga­to­risch mit im Pro­gramm war immer ein Besuch im KZ Buchen­wald inklu­si­ve Film in der Gedenk­stät­te. Gezeigt wur­de Film­ma­te­ri­al, das die Ame­ri­ka­ner nach der Befrei­ung ange­fer­tigt haben. Lei­chen­ber­ge, fast ver­hun­ger­te KZ-Insas­sen und die Wei­ma­rer Bevöl­ke­rung, die auf Anord­nung der Ame­ri­ka­ner durch das Lager geführt wur­de, um zu sehen, was dort pas­siert war. Der Spie­gel hat ein Inter­view mit einer Frau, die als 17jährige Teil die­ses KZ-Besu­ches war. Ich war sie­ben Mal bei den Weim­ar­ta­gen. Ich sage immer, dass die Weim­ar­ta­ge das ein­zi­ge Gute sind, was die FDJ zustan­de gebracht hat. Sechs Mal war ich mit im KZ. Ein­mal habe ich geschwänzt. Man möge es mir ver­zei­hen. Ich kann­te da schon jedes Detail. Ich habe die Öfen gese­hen, die Schrumpf­köp­fe, die Lam­pen­schir­me aus Men­schen­haut.5

Schrumpf­köp­fe und Men­schen­haut mit Täto­wie­run­gen im KZ Buchenwald

Obligatorische Besuche in KZs

Mei­ne Mut­ter hat einen gro­ßen Teil ihrer Jugend in Jena ver­bracht. Im Rah­men ihrer Jugend­wei­he war sie Ende der 50er Jah­re auch im KZ Buchen­wald. Der Besuch eines Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers war für alle Schü­le­rin­nen und Schü­ler in der DDR obli­ga­to­risch. (Sie­he Wiki­pe­dia-Arti­kel zu Jugend­stun­den, die in Vor­be­rei­tung auf die Jugend­wei­he stattfanden.)

Die Ber­li­ner und Bran­den­bur­ger Schü­ler waren alle im KZ Sach­sen­hau­sen. Ich war dort wahr­schein­lich in der 8ten Klas­se. Es gab (und gibt) in Sach­sen­hau­sen Aus­stel­lungs­tei­le, die auf das Leid der jüdi­schen Bür­ger hin­ge­wie­sen haben: Die Bara­cke 38 war das „Muse­um des Wider­stands­kamp­fes und der Lei­den jüdi­scher Bür­ger“.

Ich war außer­dem noch in Lub­lin-Mai­danek (1984 bei einer Rei­se im Rah­men einer Schul­part­ner­schaft in Polen). Ich habe die Bara­cken mit den deut­schen Auf­schrif­ten gese­hen. Ich habe die Haa­re und die Schu­he gese­hen. Bara­cken voll damit.

Schu­he von Ermor­de­ten, Maj­da­nek, Polen, August 1944 (Quel­le)

Es gab übri­gens eine inter­es­san­te Umfra­ge des chris­mons, einer Bei­la­ge der ZEIT, die von der Evan­ge­li­schen Kir­che her­aus­ge­ge­ben wird. Nach die­ser Umfra­ge sagen 89 % der Ost­deut­schen, man sol­le unbe­dingt ein­mal im Leben eine KZ-Gedenk­stät­te ­besu­chen. Im Wes­ten sind das nur 77 %.

Zeitzeugen

Auch Zeit­zeu­gen spiel­ten im Osten eine Rol­le. Wie schon gesagt, wur­den sie z.B. in Schu­len ein­ge­la­den. Mei­ne Mut­ter berich­te­te mir von einem Kon­zert­abend 1959 im Volks­haus Jena, bei dem die Pia­nis­tin ihre ein­tä­to­wier­te KZ-Num­mer gezeigt hat. Sie hat nur über­lebt, weil sie für die Nazis gespielt hat.

Holocaust im West-Fernsehen

Die ame­ri­ka­ni­sche Mini-Serie Holo­caust wur­de im Jahr 1979 im West-Fern­se­hen gezeigt (da sich eini­ge Sen­de­an­stal­ten der ARD wei­ger­ten, die Serie im Haupt­pro­gramm zu zei­gen, kam sie dann in den drit­ten Pro­gram­men). Da bis auf die Sach­sen im Tal der Ahnungs­lo­sen alle DDR-Bür­ger West-Pro­gram­me emp­fan­gen konn­ten, dürf­ten eini­ge die Serie gese­hen haben. Nein, jetzt bit­te kei­nen Zusam­men­hang zwi­schen schlech­tem Fern­seh­emp­fang und Wahl von Nazi-Par­tei­en herstellen.

Der Begriff Holo­caust wur­de durch die­sen Film sowohl im Osten als auch im Wes­ten bekannt. Im Osten wur­de sonst von Völ­ker­mord gesprochen.

Wiederaufbau der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin

Am 10.11.1988 leg­te Erich Hon­ecker den Grund­stein für den Wie­der­auf­bau der Syn­ago­ge in der Ora­ni­en­bur­ger Stra­ße, die im Krieg zer­stört wor­den war.

In Wiki­pe­dia steht dazu:

Eine voll­stän­di­ge Wie­der­her­stel­lung in den Ori­gi­nal­zu­stand wur­de ver­wor­fen – sie hät­te als Ver­such miss­ver­stan­den wer­den kön­nen, die Lei­den der Ver­gan­gen­heit zu ver­drän­gen und womög­lich zu ver­ges­sen. Die Absicht war aber, mit dem Gebäu­de gleich­zei­tig ein Mahn­mal zur stän­di­gen Erin­ne­rung zu erhalten.

Jüdische Personen in einflussreichen/sichtbaren Positionen

Es gab in der DDR vie­le ein­fluss­rei­che und bekann­te jüdi­sche Fami­li­en. Es gab Minis­ter oder ansons­ten hoch­ste­hen­de Funk­tio­nä­re wie: 

  • Alex­an­der Abusch (Par­tei­vor­stan­des der SED, Vize­prä­si­dent des Kul­tur­bun­des und haupt­amt­li­cher Mit­ar­bei­ter des Zen­tral­ko­mi­tees der SED, Kul­tur­mi­nis­ter, IM)
  • Hel­mut Aris (Prä­si­dent des Ver­ban­des der Jüdi­schen Gemein­den in der DDR, Mit­glied des Prä­si­di­ums des Natio­nal­ra­tes der Natio­na­len Front, Ver­dienst­me­dail­le der DDR, Ernst-Moritz-Arndt-Medail­le der Natio­na­len Front, Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den, Ehren­span­ge zum Vater­län­di­schen Ver­dienst­or­den, Deut­sche Frie­dens­me­dail­le, IM)
  • Ellen Brom­ba­cher (Sekre­tär für Kul­tur in der SED-Bezirks­lei­tung Ber­lin, sie hat­te damit wesent­li­chen Ein­fluss auf alle Kul­tur­ein­rich­tun­gen von Ost-Ber­lin, Ban­ner der Arbeit, Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den in Bron­ze, Dr.-Theodor-Neubauer-Medaille)
  • Her­mann Axen (Sekre­tär des ZK der SED, Mit­glied des Politbüros)
  • Albert Nor­den (Pro­fes­sor für neue­re Geschich­te, Sekre­tär des ZK der SED, Mit­glied des Polit­bü­ros, Autor Braun­buch)
  • Horst Brasch (stell­ver­tre­ten­der Minis­ter für Kultur)
  • Klaus Gysi (Minis­ter für Kul­tur, Staats­se­kre­tär für Kirchenfragen)
  • Mar­kus Wolf (Gene­ral­oberst, Lei­ter des Aus­lands­nach­rich­ten­diens­tes HVA bei der Stasi)
  • Fried­rich Karl Kaul (Anwalt in Ost und West, Pro­fes­sor und Natio­nal­preis­trä­ger, orga­ni­sier­te Zusam­men­ar­beit der RAF-Anwäl­te mit Stasi)

Ich habe hier auch die Zusam­men­ar­beit mit der Sta­si als Inof­fi­zi­el­ler Mit­ar­bei­ter immer mit ange­ge­ben, weil das ja auch ein spe­zi­el­les Ver­trau­ens­ver­hält­nis impli­ziert. Mit­un­ter war die IM-Tätig­keit nur zeit­wei­se. Die Details fin­den sich in den Wikipedia-Einträgen. 

Jour­na­lis­ten:

  • Max Kaha­ne (Mit­grün­der des All­ge­mei­nen Deut­schen Nach­rich­ten­diens­tes (ADN), spä­ter Stell­ver­tre­ten­der Direk­tor, stell­ver­tre­ten­der Chef­re­dak­teur der Ber­li­ner Zei­tung, Chef­kom­men­ta­tor des Neu­en Deutschlands)

Ande­re bekann­te und ein­fluss­rei­che Intel­lek­tu­el­le waren:

Schrift­stel­ler

  • Peter Edel (Schrift­stel­ler und Gra­fi­ker, Mit­glied des P.E.N.-Zentrums der DDR und 1978 Vor­stands­mit­glied des Deut­schen Schrift­stel­ler­ver­ban­des, Hein­rich-Hei­ne-Preis des Minis­te­ri­ums für Kul­tur der DDR, Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den in Gold, Natio­nal­preis der DDR, vom MfS beob­ach­tet, dann selbst IM)
  • 1979: Karl-Marx-Orden
  • Ste­phan Herm­lin (Schrift­stel­ler, Über­set­zer, Redak­teur Ulen­spie­gel, Auf­bau sowie Sinn und Form, enger Freund von Hon­ecker, Pro­test gegen Biermann-Ausbürgerung), 
  • Wie­land Herz­fel­de (Pro­fes­sor für Sozio­lo­gie der moder­nen Welt­li­te­ra­tur in Leip­zig, Prä­si­dent des P.E.N.-Zentrums der DDR)
  • Ste­fan Heym (Schrift­stel­ler, Nationalpreisträger), 
  • Anna Seg­hers (Schrift­stel­le­rin, Prä­si­den­tin des Schrift­stel­ler­ver­bands der DDR, Nationalpreisträgerin), 
  • Arnold Zweig (Schrift­stel­ler, Natio­nal­preis­trä­ger, Prä­si­dent der Deut­schen Aka­de­mie der Küns­te der DDR, Prä­si­dent des Deut­schen P.E.N.-Zentrums Ost und West) 

Musi­ker

  • Paul Des­sau (Musi­ker, Pro­fes­sor in Des­sau, arbei­te­te mit Brecht am Ber­li­ner Ensem­ble, Vize­prä­si­dent Deut­schen Aka­de­mie der Küns­te in Ber­lin (Ost))
  • Hanns Eis­ler (Pro­fes­sur für Kom­po­si­ti­on in Berlin)
  • Lou­is Fürn­berg (Kom­po­nist, Text und Melo­die des Lieds der Par­tei, Ers­ter Bot­schafts­rat (Kul­tur­at­ta­ché) der tsche­cho­slo­wa­ki­schen Bot­schaft in Ost-Ber­lin, spä­ter Weimar)
  • Andrej Herm­lin (Musi­ker, am 7.10.1989 zum Kon­zert bei Fei­er mit Honecker)
  • Lin Jal­da­ti (Sän­ge­rin, die jid­di­sche Volks­lie­der sang, Kunst­preis der DDR, Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den in Bron­ze, Sil­ber und Gold, Ehren­span­ge zum Vater­län­di­schen Ver­dienst­or­den in Gold)

Fotografen/Grafiker

  • Sibyl­le Boden-Gerst­ner (Kos­tüm­bild­ne­rin, Male­rin und Mode­jour­na­lis­tin, Grün­de­rin der Mode­zeit­schrift Sibyl­le, Mut­ter von Danie­la Dahn)
  • John Heart­field (Hel­mut Herz­feld, Natio­nal­preis für Kunst und Lite­ra­tur, Professor)

Film­schaf­fen­de

  • Kon­rad Wolf (Regis­seur u.a. „Solo Suny“, Prä­si­dent der Aka­de­mie der Küns­te der DDR)

Wis­sen­schaft­ler

  • Ernst Bloch (Phi­lo­soph Uni Leip­zig, Natio­nal­preis der DDR)
  • Vic­tor Klem­pe­rer (Pro­fes­sor Dres­den, Greifs­wald, Wit­ten­berg, HU Ber­lin: Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und Roma­nist, Ehren­dok­tor Dres­den, Natio­nal­preis­trä­ger, Abge­ord­ne­ter der Volks­kam­mer, zu LTI sie­he oben)
  • Jür­gen Kuc­zyn­ski (Öko­nom),
  • Inge­borg Rapo­port (Pro­fes­so­rin für Päd­ia­trie und Inha­be­rin des ers­ten euro­päi­schen Lehr­stuhls für Neo­na­to­lo­gie, Ver­dien­ter Arzt des Vol­kes, Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den in Bron­ze und Sil­ber, zusam­men mit ande­ren Ärz­ten den Natio­nal­preis der DDR III. Klas­se für Wis­sen­schaft und Tech­nik für ihren Bei­trag zur Sen­kung der Säug­lings­sterb­lich­keit in der DDR. Sie zähl­te über die Wis­sen­schafts­ge­mein­de in der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik hin­aus zu den renom­mier­tes­ten Kin­der­ärz­ten ihrer Zeit.)
  • Samu­el Mit­ja Rapo­port (Arzt und Bio­che­mi­ker, Direk­tor des Insti­tuts für Bio­lo­gi­sche und Phy­sio­lo­gi­sche Che­mie an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät in Ost-Ber­lin, Mit­glied der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR gewählt. Er erhielt meh­re­re Ehren­dok­to­ra­te. Zahl­rei­che staat­li­che Auszeichnungen)
  • Tom Rapo­port (Prof. am Zen­tral­in­sti­tut für Mole­ku­lar­bio­lo­gie der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR in Ber­lin-Buch bezie­hungs­wei­se an des­sen Nach­fol­ge­ein­rich­tung, dem Max-Del­brück-Cen­trum für Mole­ku­la­re Medi­zin. Seit Janu­ar 1995 ist er Pro­fes­sor für Zell­bio­lo­gie an der Medi­zi­ni­schen Fakul­tät der Har­vard Uni­ver­si­ty in Boston.)
  • die Rapo­ports (Medi­zi­ner, Naturwissenschaftler*innen),
  • Sus­an Rich­ter (Kin­der­ärz­tin im Prenz­lau­er Berg, Fami­lie Rapo­port, Ärz­tin mei­ner Kinder)
  • Alfred Kan­to­ro­wicz (Jurist, Schrift­stel­ler, Pro­fes­sor für neue deut­sche Lite­ra­tur an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Berlin), 
  • Hans May­er (Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler),
  • Wolf­gang Stei­nitz (Lin­gu­ist, Mit­glied des ZK der SED, Vize­prä­si­dent der Deut­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR)

Diskussion

Das war der Osten. Im Osten kam man als Schü­ler nicht am Holo­caust vor­bei. Ich war übri­gens auch bei Füh­run­gen in einer jüdi­schen Syn­ago­ge in Ber­lin. Ich wuss­te, dass es in Ost-Ber­lin noch zwei­hun­dert in der jüdi­schen Gemein­de orga­ni­sier­te Juden gab. Und ich wuss­te auch, war­um das so weni­ge waren.

Zum Ver­gleich möch­te ich von einem per­sön­li­chen Erleb­nis in einer süd­deut­schen Stadt Ende der 90er Jah­re berich­ten. Wir durf­ten bei Nach­barn von Bekann­ten über­nach­ten. Dort hing an der Wand ein Bild des Vaters in Uni­form. Waf­fen-SS. Mit Toten­kopf­sym­bol. Eine ganz nor­ma­le net­te Nach­ba­rin (Leh­re­rin), die ande­re in ihrer Woh­nung woh­nen lässt. Kein nor­ma­ler Mensch hät­te sich im Osten sei­nen Vater in SS-Uni­form ins Wohn­zim­mer gehängt. So etwas hät­te es im Osten nie gege­ben. Nie. [Inzwi­schen ist mir noch ein wei­te­rer sol­cher Fall bekannt.]

Kaha­ne schreibt wei­ter: „Dies [die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Holo­caust] hät­te zu Fra­gen nach Men­schen­rech­ten oder Min­der­hei­ten­schutz geführt, die nur bei Stra­fe des Unter­gangs der DDR zu beant­wor­ten gewe­sen wären.“ Das ist eini­ger­ma­ßen bizarr, denn damit rela­ti­viert sie den Holo­caust. In der DDR wäre nie­mand im Traum dar­auf gekom­men so ein biss­chen Rede­frei­heit und Publi­ka­ti­ons­frei­heit, Rei­se­frei­heit mit der sys­te­ma­ti­schen Ermor­dung von Mil­lio­nen Men­schen zu ver­glei­chen. Sol­che Ein­schrän­kun­gen zu erklä­ren, war für die Staats­macht kein Pro­blem. Sie wur­den ja sogar auch damit erklärt, dass ver­hin­dert wer­den soll­te, dass sich so etwas wie­der­holt. Damit das ganz klar ist: Ich war 1989 auf der Stra­ße für Rede­frei­heit, Rei­se­frei­heit und nicht als Sta­si-Mit­ar­bei­ter. Ich ver­ste­he nicht, war­um Kaha­ne schreibt, was sie schreibt. Es ent­spricht jeden­falls nicht der Wahrheit.

Auch legt ihr Satz nahe, dass es in der DDR kei­ne Dis­kus­sio­nen über Men­schen­rech­te gege­ben hät­te. Es gab sehr wohl Men­schen, die sich mit Fra­gen der Men­schen­rech­te beschäf­tigt haben. Die Initia­ti­ve für Frie­den und Men­schen­rech­te wur­de 1986 offi­zi­ell gegrün­det. Vor­her gab es Grup­pen, meist unter dem Dach der Kir­che orga­ni­siert aber nicht not­wen­di­ger­wei­se reli­gi­ös, die den Ein­satz für Men­schen­rech­te als ihr Haupt­an­lie­gen sahen. Dafür brauch­te es kei­ne Holocaust-Diskussion.

„Lügenpresse“ bzw. Pfuschpresse

Der Wes­ten wun­dert sich, war­um der Osten sich anders benimmt, als man das viel­leicht erwar­ten wür­de. Ein Grund dafür sind sol­che Arti­kel in der Pres­se. Sieht man vom Neu­en Deutsch­land ab, gibt es kei­ne Ost-Pres­se mehr. Die West-Medi­en haben immer nur über den Osten geschrie­ben. Die Wes­sis haben über die Ossis gere­det, nicht mit ihnen. Das beginnt sich nun gera­de zu ändern. Es gibt tol­le Arti­kel von Anja Mai­er, Simo­ne Schmol­lack und Sabi­ne am Orde in der taz6, gute Arti­kel im Spie­gel, von Sabi­ne Renne­fanz in der Ber­li­ner Zei­tung und auch die Zeit ist aktiv um Ände­run­gen bemüht. Aber die oben zitier­ten Bei­trä­ge ent­hal­ten gro­be Unwahr­hei­ten und das macht die, über die gere­det wird, wütend. Es ver­letzt sie, sie wen­den sich ab und sind nicht mehr erreich­bar. Ein Vier­tel der Men­schen, die in die­sem Land leben. Unglaub­lich, oder?

Es ist ein Armuts­zeug­nis, dass die FAZ einen Arti­kel wie den von Gei­pel ein­fach so ver­öf­fent­licht. Wenn sie irgend­was über den Osten wüss­ten, wüss­ten sie eben auch, wie die Schul­bil­dung aus­sah, was die Men­schen gemacht und gedacht haben. Ich habe für das Schrei­ben die­ses Arti­kels einen Sonn­tag gebraucht. Die Quel­len sind im Netz ver­füg­bar. Es gibt sogar ein Buch, das sich mit dem Holo­caust im DDR-Unter­richt aus­ein­an­der­setzt. Wenn es der FAZ wich­tig wäre, wür­den sie Men­schen ein­stel­len, die das nöti­ge Wis­sen für ent­spre­chen­de Dis­kus­sio­nen haben. So ist es ein­fach nur unterirdisch.

Wenn Ost­deut­sche behaup­ten, der Holo­caust wäre in der DDR nicht the­ma­ti­siert wor­den, dann gibt es dafür zwei mög­li­che Grün­de: Sie ver­fol­gen politische/persönliche Zie­le und lügen bewusst oder sie haben die Behand­lung des Holo­caust ver­ges­sen. Ich weiß nicht, was schlim­mer ist.

Nachtrag

Auch Jan Fed­der­sen von der taz ver­sucht in sei­nem Inter­view mit Dani­el Rapo­port immer wie­der aus die­sem State­ments zum angeb­li­chen Anti­se­mi­tis­mus in der DDR her­aus­zu­kit­zeln, bekommt aber Ant­wor­ten, die dem hier Gesag­ten ent­spre­chen (aber bes­ser for­mu­liert sind). Jakob der Lüg­ner und der Bau der Syn­ago­ge wer­den erwähnt.

Literatur

Bodo von Borries

Dahn, Danie­la. 2019. Der Schnee von ges­tern ist die Sint­flut von heu­te: Die Ein­heit – eine Abrech­nung. Ham­burg: Rowohlt Verlag.

Fed­der­sen, Jan. 2023. „Jude sein ist kein Beruf“ Inter­view mit Dani­el Rapo­port. taz 16.09.2023.

Krauß, Mat­thi­as. 2007. Völ­ker­mord statt Holo­caust. Jude und Juden­bild im Lite­ra­tur­un­ter­richt der DDR. Leip­zig: Ander­beck Verlag.

Krauß, Mat­thi­as. 2012. Völ­ker­mord statt Holo­caust. Jude und Juden­bild im Lite­ra­tur­un­ter­richt der DDR. Schkeu­ditz: Schkeu­dit­zer Buch­ver­lag. Über­ar­bei­te­te Ver­si­on von Krauß (2007).

Schie­ber, Elke. 2016. Tan­gen­ten. Holo­caust und jüdi­sches Leben im Spie­gel audio­vi­su­el­ler Medi­en der SBZ und der DDR 1946 bis 1990 – Eine Doku­men­ta­ti­on. Ber­lin. (https://www.defa-stiftung.de/defa/publikationen/buecher/tangenten/)

Danksagung

Ich habe nach der Erstel­lung einer Ent­wurfs­fas­sung die­ses Tex­tes mit vie­len Men­schen gespro­chen bzw. Mail aus­ge­tauscht und den Text dann ent­spre­chend ange­passt. Dafür dan­ke ich ihnen. Beson­de­rer Dank geht an XY für den Hin­weis, mal nach Plas­ti­ken und Brief­mar­ken zu suchen. Über die Wiki­pe­dia­sei­te zu den Brief­mar­ken bin ich dann auch auf die Plas­ti­ken von Will Lam­bert gesto­ßen. Ich dan­ke der Wil­li-Bre­del-Gesell­schaft für promp­te Aus­kunft zu Erschei­nungs­da­ten der Früh­lings­so­na­te.

Links

  • Jüdi­sche Gemein­den in Meck­len­burg-Vor­pom­mern: Vom Über­le­ben einer Min­der­heit, Deutsch­land­funk, 17.10.2015.
  • Johann Nie­mann, der Lager­kom­man­dant des Ver­nich­tungs­la­gers Sobi­bor, in dem 180.000 Juden ermor­det wur­den steht auf dem Krie­ger­denk­mal im ost­frie­si­schen Völ­len mit der Inschrift „Unse­ren gefal­le­nen Hel­den“. taz, 26.02.2020