Dieser Blog-Post ist aus einer Mastodon-Diskussion entstanden. Weil sie so schön war, habe ich sie hier noch einmal ein bisschen sortiert und für die Nachwelt archiviert. Dieser Beitrag kann Spuren von Sarkasmus und sogar Wut enthalten.
Die taz hat am 03.07.2023, vor dem Hintergrund der Wahl eines AfD-Mitglieds zum Landrat in Sonneberg, ein Interview mit dem (ostdeutschen) Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk veröffentlicht. In der Printausgabe endet es so:
taz: Also ist das nicht nur ein Ost-Problem?
Nein. Zeigt nicht immer nur mit dem Finger auf den Osten. Der Osten ist als Laboratorium der Globalisierung, als Ort der Transformation dem Westen nur ein paar Trippelschritte voraus. Genau deshalb ist die Debatte über den Osten so relevant: Hier – wie zum Teil in Osteuropa – sehen wir Entwicklungen, die europaweit drohen, wenn nicht endlich mal gegengesteuert wird. Das können Sie an vielen demoskopischen Untersuchungen sehen und übrigens auch an den Wahlumfragen der AfD. Die liegt im Osten bei 30 Prozent, im Westen steht sie aber mittlerweile auch bei 15 Prozent, der Westen zieht nach. Deswegen sind der Ostdeutschland-Diskurs und Debatten über Sonneberg wichtig: Wir können hier erleben, was uns in ganz Deutschland erwartet, wenn wir nicht endlich mal gegensteuern.
Das ist genau meine Meinung. Ein Punkt, den ich hier in diesem Blog und auch auf Mastodon zu vermitteln versuche. Also alles primstens? Nein, leider nicht, denn es gibt komische Stellen im Interview.
Ilko-Sascha Kowalczuk hat in der #DDR#Nazi-Äußerungen gegen geistig Behinderte gehört und leitet daraus ab, dass die DDR ein präfaschistischer Staat war.
Das finde ich ein bisschen schnell geschossen. Solche Bemerkungen wird es sowohl im Westen wie im Osten geben, die Erziehung, die ich in meinen Schulen hatte, war aber zutiefst humanistisch. Die #Euthanasie-Morde der #Nazis und ihre Verbrechen wurden im Unterricht besprochen (siehe auch Der Ossi und der Holocaust).
Ich habe in Berlin-Buch gewohnt. WBS70. Im untersten Stockwerk haben in all den Häusern Rollstuhlfahrer*innen gewohnt. Es gab und gibt immer noch hinten an den Häusern spezielle Zufahrtswege, über die Menschen mit Rollis leicht in die Wohnungen gelangen konnten. Siehe rote Linien auf der Karte. Fahrstühle gab es in den Fünfgeschossern vor der Wende nicht. Für Menschen mit Rollstuhl kamen also nur die Ergeschosswohnungen in Frage. Die Zufahrten wurden beim Neubau der Blöcke 1974–1976 eingerichtet.
Wohnungen für Behinderte mit Zufahrtsrampen in Berlin Buch.
Das waren also strukturelle Maßnahmen im Zuge des Wohnungsbaus. Das folgende Bild zeigt, dass beim Entwurf des WBS 70-Systems, das in der DDR in den 70er Jahren entwickelt und dann für den Bau von 644 900 Wohnungen verwendet wurde, Erdgeschosswohnungen für Rollstuhlfahrer*innen und Menschen mit Behinderungen eingeplant wurden.
Wohnungsgrundrisse für Wohnungen für Rollstuhlfahrer und Behinderte in den WBS 70-Planungen
Ich habe von 1976 bis 1986 in dem Block gemeinsam mit vielen Rolli-Fahrer*innen gelebt und nie irgendein böses Wort gehört.
Ein geistig behinderter Junge fuhr immer mit dem Bus vom Bahnhof Buch zum Lindenberger Weg und zurück. Tagaus, tagein. Ohne Begleitung. Manchmal durfte er die Türen auf und zumachen. Er hat sich sehr gefreut. Er hatte eine brauen Kunstledertasche dabei, die er als Lenkrad benutze. Er saß immer in der ersten Reihe vorn neben dem Fahrer. Später habe ich ihn auch ab und zu in der S‑Bahn getroffen. Das war alles ganz normal.
Dass ich nie irgendwas Böses gehört habe, schließt natürlich nicht aus, dass es böse Bemerkungen gegeben hat. Wenn man mit Behinderten unterwegs ist, gibt es ja viel mehr Begegnungen. Nur ist es eben nicht wahr, wenn behauptet wird, alle Behinderten seien weggesperrt worden oder beschimpft worden.
Insgesamt scheint es mir sehr weit hergeholt, aus Begegnungen mit behindertenfeindlichen Menschen zu schließen, dass man in einem präfaschistischen Staat lebt.
Der Nutzer Peer schreibt dazu auf Mastodon:
Warum so vorsichtig in deiner Kritik? Kowalczuks Schlussfolgerungen sind nicht nur „etwas weit hergeholt“, sondern Nonsens. Vorausgesetzt das taz-Interview gibt seine Aussagen zutreffend wieder.
Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster: Es gibt kein einziges Land auf der Welt, in dem die bestmöglichen staatlichen Inklusionsbemühungen verhindern würden, dass sich Menschen negativ über behinderte Menschen äußern. Demnach wären diese Länder alle präfaschistisch nach der Kowalczuk-Definition.
Geschichtenerzähler Kowalczuk schließt von mehreren Einzelerfahrungen auf strukturelle/staatliche Probleme und daraus wieder auf Prä-Faschismus.
In der Christburger Straße im DDR-Prenzlauer Berg gab es einen privaten Handwerker (Ledergürtel, Schuhmacher so was in der Art). Die hatten ein Kind mit Down-Syndrom, das sich dort sichtbar im bzw. vor dem Laden beschäftigte, ohne dass die Eltern immer selbst sichtbar waren. Hätte das zu negativen Reaktionen geführt, hätten sie das ihrem Kind vermutlich nicht zugemutet. Jedenfalls wurde es nicht versteckt und war auch nicht im Heim. (Geistig behindert und privater Handwerker gleich 2x nicht Mainstream in der DDR).
Pankow war ein Stadtbezirk in der DDR. Ist natürlich nicht so postitiv, dass er in der Schule nicht sofort mit offen Armen aufgenommen wurde, aber das war zu der Zeit im Westen sicher auch nicht so. Entscheidender dürfte aber sein, dass seine Eltern sich gegen die „präfaschistische Diktatur“ durchgesetzt haben. Wie geht denn das? Würde mich nicht wundern, wenn der deutsche Rechtsstaat zu dieser Zeit noch sehr viel effektiver darin war, den Zugang zur Regelschule zu verhindern.
In Hamburg soll es jedenfalls erst seit dem Schuljahr 2010 das Recht für Schüler mit Down-Syndrom geben, allgemeine Schulen zu besuchen. https://kidshamburg.de/down-syndrom/das-kind-mit-down-syndrom-in-der-schule/ Das wären immerhin „nur“ 36 Jahre nach der westdeutschen TV-Serie „Unser Walter“, die angeblich sehr zur Sensibilisierung im Westen beigetragen hat.
Übrigens: Im Osten wurde auch Westfernsehen geschaut, bis auf marginale regionale Ausnahmen. – Sollte man vielleicht nicht ignorieren.
Der Artikel enthält noch einige nicht belegte Allaussagen, z.B. über Nazis in der NVA, die ebenfalls auf Mastodon diskutiert wurden. Die fehlende Aufarbeitung der Naziverbrechen im Osten im Gegensatz zur Aufarbeitung im Westen durch die 68er ist auch ein Thema im Interview. Hierzu möchte ich nur kurz auf meinen Blog-Beitrag Der Ossi und der Holocaust verweisen, der ein ziemlich genaues Bild zeichnet, wann welche Aufarbeitungsschritte erfolgten, was an Wissen über die Verbrechen der Nazis in der Bevölkerung vorhanden war und in dem man auch die Unterschiede zum Westen sehen kann (Beispiel Ausstrahlung der Serie Holocaust und Bayrischer Rundfunk, sowie Skandal um Wehrmachtsausstellung).
Die Diskussion auf Mastodon hatte sich gerade ein wenig beruhigt, da erschien dieser Leserbrief in der taz:
Bezeichnend für die Wahrnehmung behinderter Menschen durch DDR-Bürger ist, dass die im Interview erwähnte westdeutsche, auch „ drüben“ zu empfangende ZDF Fernsehserie „Unser Walter“ in der DDR entgegen der Intention der Sendung diskriminatorisch benutzt wurde. „Mein Gott, Walter“ sagten die Leute zum Beispiel, wenn jemand ungeschickt handelte. Die faschistischen Narrative vom gesunden Volkskörper wurden in der DDR eben nur abgesägt, aber Wurzel und Nährboden blieben weitestgehend unangetastet.
Dieser Brief ist so haarsträubend! Die Redensart kommt von einem Lied von Mike Krüger von 1975, in dem es um einen Walther mit „th“ geht, der der Verwalter eines Mietshauses ist.
Das könnte man kennen, wenn man in der Bundesrepublik oder in der DDR aufgewachsen ist. Mike Krüger ist ein deutscher Komiker aus Ulm. Mein Gott, Walther war 32 Wochen auf Platz 1 der deutschen Album-Charts und wurde über 250.000 mal verkauft (siehe Wikipedia). Im Osten ist die Platte sicher auf Kassetten kopiert und weitergereicht worden.
So und zum Schluss, weil ich gerade so schön in Schwung bin, kommt jetzt mein Leserbrief in meiner privaten Ossi-Bild-Zeitung.
Mein Leserbrief in meiner Zeitung (Sarkasmus)
Ich habe kurz vor Corona noch einige Amazon-Aktien gekauft und bin dadurch unglaublich reich geworden. Ich habe mich dafür sehr geschämt und das meiste Geld an die Deutsche Umwelthilfe gespendet. Vom Rest habe ich eine Zeitung für Ostdeutsche auf Bild-Niveau gegründet. Die ist natürlich, was die Redaktion angeht, total unabhängig von ihrem Besitzer, so wie die Washington Post auch. Aber ab und zu veröffentliche ich einen Leserbrief. Hier meiner zu Mein Gott, Walther.
Betrifft Beitrag „Im Westen alles Nazis?“
Ihren Ausführungen zu den faschistischen Umtrieben in den alten Bundesländern der BRD kann ich nur zustimmen. Zu denen von Ihnen bereits erwähnten Nazi-Strukturen im Verfassungschutz, in der Armee, in der Polizei und der notorischen Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge, sowie der trotz Parteiausschlussverfahren mit Mehrheit als AfD-Landesvorsitzende von Schleswig-Holstein wiedergewählten Politikerin Doris von Sayn-Wittgenstein mit Kontakt zu Holocaust-Leugnerin möchte ich noch folgende unerhörte Begebenheit hinzufügen: 1974 begann das Fernsehen der BRD mit der Ausstrahlung der Fernsehserie „Unser Walter“, in der das Leben mit einem Kind mit Behinderung thematisiert wurde. Nur kurz darauf erschien eine Schallplatte mit dem Titel „Mein Gott, Walther“, in dem Menschen verhöhnt werden, denen ab und zu Dinge misslingen. Der Zusammenhang zur Fernsehserie wurde durch die Änderung der Schreibung des Wortes „Walther“ nur oberflächlich kaschiert. Die faschistische Grundhaltung der Bürger der BRD kann man auch daran erkennen, dass sich dieses Machwerk eines west-deutschen Komikers über 250.000 mal verkauft hat. Das Lied war übrigens wie immer noch auf youtube abrufbare Videos zeigen, auch im österreichischen Fernsehen zu sehen, aber dass in diesem Land sogar die Künstler Nazis sind, wissen wir ja spätestens seit dem Erscheinen von „Mein Kampf“!
Mit antifaschistischen Grüßen aus Ost-Berlin Stefan Müller
Ist absurd, oder? Aber nicht absurder als der Leserbrief, den die taz gedruckt hat.
Sorry, ich komme erst jetzt dazu. Im Januar schlug ein Bericht des Ostbeauftragten Wellen. Er wurde, wie üblich verdreht.
Die taz schreibt zum Beispiel, dass nur noch 39% der Ostdeutschen mit der Demokratie zufrieden wären:
Das Konzept des Ostbeauftragten verweist auf die gesunkene Zufriedenheit mit der Demokratie besonders in den östlichen Bundesländern. Sie lag zuletzt nur noch bei 39 Prozent.
Das ist mal wieder einer dieser Hiebe in die Kerbe „Die Ossis lehnen die Demokratie ab / sind nicht demokratiefähig / sind komisch / sind anders als wir / saßen zusammen im Kindergarten auf dem Töpfchen und lieben deshalb Diktaturen.“
Dem „Deutschland-Monitor“ zufolge sind nur noch 39 Prozent der Ostdeutschen zufrieden mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert. Gerade einmal 32 Prozent von ihnen glauben, dass Politikerinnen und Politiker das Wohl unseres Landes wichtig sei. Und zwei Drittel sind der Meinung, Ostdeutsche würden häufig als Menschen zweiter Klasse behandelt.
Manche Medien bringen die Einschränkung „so wie sie in Deutschland funktioniert“, manche weisen darauf hin, dass die Zustimmung auch im Westen sinkt. Manche unterlassen das aber.
Als Ossi frage ich mich, wie kann man mit dem, was in diesem Land läuft denn zufrieden sein? Eigentlich geht das nur, wenn man materiell abgesichert und politisch uninteressiert ist. Ansonsten habe ich hier ein paar Punkte, die man komisch finden könnte:
Maskenaffäre: Veruntreuung von Millionen ohne rechtliche Konsequenzen
Korruption im Öl und Gasgeschäft bei CDU/CSU und SPD
Scheuers Versenkungen von Millionen Euros im Mautdesaster ohne rechtliche Konsequnezen
Scheuers Umlenkung von Geldern in seinen Wahlkreis
Giffeys plagierte Doktorarbeit und Masterarbeit. Giffey tritt nach Aberkennung ihres Doktortitls als Familienministerin der Bundesregierung zurück, macht aber dann als Regierende Bürgermeisterin von Berlin nahtlos weiter. What? Eine Diebin und Betrügerin gut genug für Berlin?
Giffey wurde 2022 mit 58,9% zur Parteivorsitzenden in Berlin gewählt. Trotz Rot-Grün-Roter Mehrheit wurde 2023 RGR nicht weitergeführt, sondern nach einer Mitgliederbefragung, die mit einer millimeterdünnen Mehrheit von 54% für Schwarz-Rot ausging, dann die Koalition mit der CDU begonnen. Das ganze Giffey-Paket hätte früher mehrfach für einen Rücktritt gereicht.
Plagiate und Titelbetrug bei diversen anderen Politiker*innen
Lobby-Zugang für den Bundestag zum Beispiel von Waffenhändlern
Der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes, der von der Politik festgelegt wird, ist ein Nazi.
Der Ministerpräsident eines Bundeslandes, der früher beim Öffentlich-rechtlichen Rundfunk gearbeitet hat, fordert die Streichung der Rundfunkgebühren und ansonsten alle drei Wochen das Gegenteil von dem, was er früher gefordert hat.
Porsche ist life dabei bei der Aushandlung des Koalitionsvertrags
Döpfner, Verlagschef des Springer-Konzerns, weist seine Blätter an, die FDP hochzuschreiben, damit diese dann die Koalition platzen lassen kann.
Wie von Döpfner geplant, kann eine Partei, die für 11% der Wähler*innen steht, die Politik der restlichen Regierung sabotieren, wobei dazu natürlich ein Machen-Sie-sich-keine-Sorgen-Klimakanzler gehört, der das mit sich machen lässt.
Verhinderung eines aussagekräftigen Ergebnisses beim Volksentscheid durch die Trennung von Wahltermin und Volksentscheid in Berlin durch die SPD-Innensenatorin.
Vielleicht sind wir Ossis alle etwas naiv. Wir waren geschockt, als wir sahen, was die Funktionäre in Wandlitz alles hatten, obwohl das unter dem Niveau westdeutscher Arbeiter*innen lag. Vielleicht sind unsere Ansprüche an Politiker*innen einfach zu hoch. Höher als die der Wessis.
Vielleicht geht es den Wessis auch einfach zu gut und/oder sie interessieren sich nicht so für die Korruption und Bereicherung. Ist ja normal, machen ja alle.
Also: Es ist nicht so, dass Ossis Demokratie als politisches System ablehnen. Im Gegenteil, die Zustimmung zur Demokratie an sich war zumindest 2018 sogar noch höher als im Westen 95% vs. 93% (Studie der Universität Leipzig). Was abgelehnt wird, ist die Art und Weise, in der Dinge gerade laufen. Und hier ist die Frage an die 59% der Wessis, die mit der Demokratie, wie sie gerade in Deutschland funktioniert, zufrieden sind: What’s wrong with you?
In der letzten Zeit gab es mehrfach Artikel in der taz zur Kinderlandverschickung (siehe Quellen). Berichtet wurde über Grausamkeiten, die in den Heimen stattfanden. Zum Beispiel, dass Schlafsäle nachts verschlossen wurden, so dass die Kinder nicht auf die Toilette gehen konnten (taz, 14.12.21).
Fast alle berichten von: Esszwang, nächtlichem Toilettenverbot, haarsträubenden hygienischen Zuständen, Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, Kontaktverbot zur Familie, Einschüchterung, die zu Angst- und Schuldgefühlen führten: Haben mich meine Eltern verstoßen, sehe ich sie je wieder, was habe ich falsch gemacht? Eine Atmosphäre, in der „seelische Grausamkeit“ gedieh. Aber auch Fälle von Prügel, Eisduschen, Strafmaßnahmen wie nächtlichem Wegsperren in dunkle, kalte Kammern oder Dachböden, also physischem – aber auch sexuellem – Missbrauch sind bekannt.
Betroffene organisieren sich in Vereinigungen, um die Vergangenheit aufzuarbeiten.
Heute wird in der taz wieder berichtet. Der Artikel enthält einen kleinen vergifteten Satz:
Vorsichtig geschätzt sind zwischen sechs und acht Millionen Kinder in der alten Bundesrepublik zur Kur geschickt worden, zum Gesundwerden oder zur Vorbeugung. Auch in der DDR gab es Kinderkuren. Viele Kinder – nicht alle – haben in den Kurheimen Lieblosigkeit, Schikanen, Misshandlungen oder sogar sexualisierte Gewalt erlebt.
Rein logisch wird nur mitgeteilt, dass es in der DDR Kinderkuren gab. Suggeriert wird aber, dass es in der DDR „Lieblosigkeit, Schikanen, Misshandlungen oder sogar sexualisierte Gewalt“ gab und zwar von der Art, wie sie in den vorangegangenen Veröffentlichungen thematisiert wurde. Zum Beispiel berichten Kinder davon, dass sie Essen aufessen mussten, egal, was es gab. Erbrochenes musste auch aufgegessen werden (taz, 14.12.21).
Frau Seifert verlinkt dann auf die Seite https://verschickungsheime.de/ und wenn man sich dort umsieht, findet man zum Thema DDR folgendes:
Ab 1945 sagte man „Verschickung“, in der DDR war der Begriff „Kurkinder“ gebräuchlicher. DDR-Kurkinder haben sich bisher bei uns nur wenige gemeldet. Die Kurbäder auf dem Gebiet der DDR erlitten nach 45 einen Niedergang, daher gab es in der DDR nicht annähernd so viele Kurorte wie im Westen (BRD 1964: ca.1200 Heime in 350 Kurorten). Es können sich aber auch DDR-Kurkinder melden und bei uns mitmachen, sich gern auch als Heimortverantwortliche für ihre Heime einsetzen lassen.
verschickungsheime.de, 16.01.2000
Auf der Seite gibt es Logos von Bundesländern und bei den Ost-Bundesländern gibt es keine Einträge.
Kein Trauma!
Ich war als Kind zweimal zur Kur: einmal für drei Monate in Graal-Müritz und einmal für 6 Wochen in Ahlbeck. Laut https://verschickungsheime.de/ddr-kurkinder/ muss es sich um die Kurheime Kliniksanatorium „Richard Aßmann“ Graal-Müritz und die Kureinrichtung Insel Usedom, Betriebsteil IV: Kindersanatorium „Klaus Störtebeker“ Seebad Ahlbeck gehandelt haben. In den Einrichtungen wurden Kinder mit Asthma und/oder Neurodermitis behandelt. Ich war jeweils im Winter dort. Ich kann mich noch erinnern, dass in Graal-Müritz die Ostsee kurz vor dem Zufrieren war. Das Wasser sah aus wie Tapetenkleister und machte interessante Geräusche. Wir waren viel draußen, sind an der Ostsee spazieren gegangen und ich habe noch immer Bernsteine aus der Usedom-Zeit. Wir haben in kleinen Gruppen Unterricht gehabt, der auch so gut war, dass ich – zurück in Berlin – meiner Klasse weit voraus war. Das Essen war vernünftig. Kein Esszwang. (Später bei der Armee hatte ich Probleme, weil die Zeit zum Essen nicht reichte.) Wir haben in größeren Schlafsälen geschlafen. Die Betreuerinnen waren nicht übermäßig streng. Ich erinnere mich noch daran, wie wir immer lustige Furzgeräusche in der Armbeuge erzeugt haben. Das ging eben so lange, bis uns die Augen zugefallen sind. Mittags gab es Mittagsruhe. Wir lagen in unseren Betten, durften aber lesen. Es gab einen kleinen Laden auf dem Gelände, in dem ich mir ein Buch gekauft habe. Ich habe es immer noch. Bibliotheken gab es sicher auch.
Wir sind einmal in der Woche in die Sauna gegangen. Danach gab es eine Liegekur. Draußen. Wir sind zu Liegen durch den Schnee gestapft und Frauen haben uns ganz fest in dicke Decken eingewickelt. Es war sehr schön.
Ab und zu gab es Untersuchungen durch Ärzt*innen. Die waren auch sehr freundlich.
Meine Mutter hat mir ein Päckchen mit einer kleinen Woll-Handfigur geschickt: Stülpner-Karle.
Woll-Figur Stülpner-Karle
Wie man im Bild sieht, hatte die Figur keine Beine. Ich habe meiner Mutter einen Brief geschrieben, der ging so:
Liebe Mutti,
Ich habe mir beide Beine gebrochen.
Herzliche Grüße
Dein Stülpner-Karle.
Ich bin heute noch froh, dass sie nicht schon nach dem ersten Satz einen Herzinfarkt bekommen hat. Die Episode zeigt zwei Dinge: 1) Gab es – anders als im Westen – keine Zensur und wir – bzw. unsere Puppen – haben unsere Karten/Briefe selbst geschrieben. 2) War der kleine Stefan zu Scherzen aufgelegt. Auch wenn der Brief sonst nicht viel enthielt, war er doch eine positive Nachricht.
Beim zweiten Kuraufenthalt habe ich zwei Kinder vom ersten Mal wiedergetroffen. Einen mochte ich beim ersten Mal gar nicht, aber da wir uns schon kannten, haben wir uns dann gleich angefreundet. Wir hatten eine gute Zeit und den Beatels- und Hardcore-Fan habe ich dann später auch noch in Markleeberg besucht. Wir waren keine traumatisierten Kinder. Wir sind freiwillig zum zweiten Mal zur Kur gefahren.
Kirche und Kontinuitäten
Im Westen wurden viele Heime durch kirchliche Träger bewirtschaftet. Diese spielten in der DDR eine untergeordnete Rolle ud ich bin mir ziemlich sicher, dass die Saatsmacht ihre Freude an der Verfolgung und Bestrafung von Sexualdelikten oder Sonstigem in der Kirche gehabt hätte. Die Ausgangslage ist hier völlig anders als in der westdeutschen Gesellschaft, wo die katholiche Kirche auch jetzt noch nicht richtig hinbekommt, die Straftaten ihrer Würdenträger aufzuklären.
Auch in der Pädagogik gab es nach 1945 einen Bruch. Es wurden Neulehrer*innen eingestellt. Die hatten zwar keine Ahnung und waren den Schüler*innen immer höchstens zwei Seiten im Buch voraus, aber wenigstens waren es keine Nazis. Ich habe darüber im Beitrag über Holocaust und Osten genauer geschrieben.
Gesundheit und Kommerz
Frau Seifert schreibt in einem früheren Artikel über die West-Kinderlandverschickungen:
Statt gesund, wurden sie oft krank, krank gemacht. Weil an diesen Orten ein pädagogisches Regime herrschte, das sie schikanierte, misshandelte, ihre gesundheitliche Verfassung und ihre natürliche Schwäche ausnutzte. Ein Regime, das nicht das Kind und seine physische und psychische Gesundheit in den Mittelpunkt stellte, sondern mit dessen Konstitution und den Sorgen der Eltern Geld verdiente.
Das war ein wesentlicher Unterschied zur DDR. Das Gesundheitssystem war staatlich finanziert und konnte an niemandem Geld verdienen.
Schluss
Also: Vielleicht war in der DDR auch mal etwas besser. Ich fände es gut, wenn solche tendenziöse Sätze wie der heute in der taz einfach unterbleiben könnten.
Nachtrag: Gar nichts Negatives?
Ich habe den Fragebogen des Forschungsprojekts zur Kinderlandverschickung ausgefüllt, denn wenn Menschen, die kein Problem hatten, die Bögen nicht ausfüllen, gibt es eine Verzerrung. Eine Frage war „Gab es Geschehnisse in den Heimen, die problematisch für Sie waren?“ und es gab in der Tat eine Sache, die ich mir gemerkt habe und die ich auch heute noch in der Logik-Einführung benutze: Sonntags um 19:00 kamen im Fernsehen die Lottozahlen (Tele-Lotto). Die Betreuerin versprach uns: „Wenn ich im Lotto gewinne, dürft ihr länger aufbleiben.“ Wir erwarteten höchst gespannt die Ziehung der letzten Zahl und fragten sie: „Und?“ Die Antwort: „Ich spiele gar kein Lotto.“ In der Logik-Einführung verwende ich das Beispiel, um zu erklären, dass sie nicht gelogen hat: Wenn der Vorsatz falsch ist, kann man danach alles behaupten. Das war die schlimmste „seelische Grausamkeit“, an die ich mich erinnern kann. Im besten Fall ein grober Scherz.
Die taz berichtet heute über Polizist*innen, die durch Rechtsextremismus, Rassismus oder Antisemitismus aufgefallen sind (taz, 21.10.2021). Interessanterweise sind alle Vorfälle bis auf einen mit einer Polizistin aus Dessau aus dem Westen (Berlin zähle ich großzügig auch zum Westen. Es geht wohl auch um Neukölln.):
Oktober 2020 26 Polizeischüler*innen, Nachrichten mit Hakenkreuzen
5 Polizist*innen versenden menschenverachtende Inhalte in Chatgruppen, Volksverhetzung, verfassungsfeindliche Symbole (Detlef M. Neukölln)
Frankfurt/Main:
6 Polizist*innen, rechtsradikale Bilder, einer mit Waffen
20 Beamte des SEK: volksverhetzender Chatnachrichten, 19 suspendiert, 3 Vorgesetzte
Spezialeinheit aufgelöst
Mindestens 29 weitere hessische Polizeibeamt*innen gehörten zur Chatgruppe, 9 mit Disziplinarverfahren, jedoch nicht strafbar, weil private Kommunikation
Polizeipräsident des Präsidiums Westhessen äußert sich rassistisch
Mühlheim an der Ruhr/NRW:
Chat mit rechtsextremen und rassistischen Inhalten, 20 Polizist*innen suspendiert, Strafbefehle gegen 6
alle Aspekte von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, nämlich Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie, Sexismus und Homophobie.
gegen 29 Polizeibeamt:innen ermittelt, Mülheimer Dienstgruppe A samt Dienstgruppenleiter komplett suspendiert
Insgesamt in NRW 53 bestätigte rechtsextreme Fälle, 138 noch offen. Bei 59 Verdachtsfällen noch andauernde strafrechtliche Prüfungen und arbeits‑, disziplinar- oder beamtenrechtlichen Prüfungen, von 2017 bis Ende September 2021 275 Verdachtsfälle, 6 entlassene Kommissaranwärter
Alsfeld/Hessen:
Hitler-Bild auf WhatsApp geteilt, über das Auskunftssystem der Polizei Abfragen ohne dienstlichen Anlass vorgenommen und Informationen weitergegeben, unerlaubte Schusswaffen und Munition
Geldstrafe 7000€, Justiz fand Hitlerbild aber nicht relevant, weil war ja privat
Osnabrück/Niedersachsen:
Ermittlungen gegen 6 Beamte, verfassungsfeindliche Symbole über whatsapp verschickt, 4 suspendiert
So. Wat sagt uns ditte? Ich schreibe jetzt mal eine Einordnung, so wie man sie mitunter andersrum in Zeitungen findet:
<sarcasm>Dieser ganze Neofaschismus ist sehr schwer erträglich und nicht zu verstehen. Die Menschen im Westen sind irgendwie ganz anders als wir lieben Linken aus dem Osten. Wir haben in der Schule aufgepasst, haben alle mehrfach Konzentrationslager besucht und wissen, dass Faschismus unglaubliches Leid über viele Menschen gebracht hat. Wie kann man diese Entgleisungen nur erklären? Mir fallen mehrere Erklärungen ein:
Nach dem Krieg gab es keine wirkliche Aufarbeitung des Faschismus.
Opa/Oma bzw. Uropa/Uroma der kleinen Hitlers in der Polizei sind in einer Diktatur aufgewachsen. Die entsprechenden Deformierungen wurden in der Familie weitergegeben.
Die Nazi-Polizisten sind nie in einen Kindergarten gegangen, saßen stundenlang alleine auf dem Topf, weil Mama sie nicht weiterspielen ließ, bis die wichtigen Sachen erledigt waren, und haben wegen fehlendem Kontakt zu anderen Kindern kein vernünftiges Sozialverhalten erlernt.
Die Nazi-Mütter (Mütter der Nazis) waren frustriert, weil sie ökonomisch abhängig waren und sich deshalb nicht von den Vätern trennen konnten.
</sarcasm>
Ist bescheuert? Ja. Aber solches Zeug müssen Ostdeutsche immer wieder in der Zeitung lesen (Zeitungen sind bis auf das Neue Deutschland und die Berliner Zeitung alles West-Zeitungen). Zum Beispiel, dass Kinder Neonazis geworden seien, weil sie im Kindergarten nebeneinander auf dem Töpfchen gesessen hätten (gute Besprechung der Pfeifferschen These von Kerstin Decker im tagesspiegel, 11.05.1999). Oder dass die Tatsache, dass die AfD im Osten erfolgreich ist, an der Diktatursozialisierung läge. Die DDR ist schon über 30 Jahre Geschichte. Junge AfD-Wähler*innen kennen die DDR nur noch aus Erzählungen.
Zusammenfassung
Dieses Land hat ein Nazi-Problem. Oder mehrere. Verschiedene. Es ist zu einfach, angeekelt auf den jeweils anderen zu blicken und zu sagen: Ih, die sind so anders. Die Nazis. Da drüben. Es wird nicht besser, wenn man von oben herab über Minderheiten schreibt. Man kann sich zwar schön selbst vergewissern und die Leser*innen finden es auch dufte, aber man schließt eben ein Fünftel der Bevölkerung des Landes weiterhin aus (Die taz hat mit 6% ostdeutschen Leser*innen den höchsten Ossi-Anteil. Bei Spiegel und Süddeutscher liegt er bei 4% und 2,5%. Siehe taz, 09.03.2021). Dieses Fünftel wird die Zeitungen weiterhin nicht lesen und sind somit für normale Medien mit journalistischen Qualitätsstandards verloren. Dieser Teil der Bevölkerung kriegt seine Information und Unterhaltung eben auf rechten Schwurbelkanälen. Wie gefährlich das ist, haben wir während der Corona-Krise gesehen und das gilt genauso für die Klimakrise.
Manfred Kriener schreibt in der taz einen guten Artikel über den Atomausstieg nach der Reaktorkatastrophe. Er ordnet darin Angela Merkels Handeln ein. An sich ein schöner Artikel, den man schön weitervertwittern könnte, wenn, ja wenn nicht diese eine Passage wäre:
Merkel, die Kanzlerin der schwarz-gelben Laufzeitverlängerung, wird als Kanzlerin des Atomausstiegs in die Geschichtsbücher eingehen. Dabei hatte sie nie verstanden, wie fundamental der Atomkonflikt die westdeutsche Gesellschaft über Jahrzehnte vergiftet hatte. Die blutigen Schlachten an den Bauzäunen Ende der 70er Jahre, die Massenproteste der 80er Jahre, die jahrzehntelangen Kämpfe unzähliger Bürgerinitiativen, die die Grünen erst möglich machten: Merkel kannte die relevanteste Protestbewegung der alten Bundesrepublik nur aus den Kurzmeldungen im Neuen Deutschland.
Was ist das Problem? Aussagen wie diese sind nicht nur Geätze gegen Merkel sondern eine Beleidigung für jeden politisch interessierten Ostdeutschen. Es gab in der DDR viele Möglichkeiten, sich zu informieren. Als Jugendlicher habe ich Zeitungen ausgetragen, das ND lasen nur die wenigsten. Die, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Die, die statt der DDR-Fahne (oder gar keiner Fahne = Widerstand) zum ersten Mai die rote Fahne aus dem Fenster gehängt haben). Wenn man ein bisschen was über Angela Merkel weiß, dann kann man ahnen, dass sie nicht das ND gelesen hat, jedenfalls nicht als einzige Tageszeitung. Außerdem gab es noch andere Informationsquellen, die auch bis auf kleine Gebiete in Sachsen (dem so genannten Tal der Ahnungslosen) überall verfügbar waren:1 Radio und Fernsehen. Angela Merkel wohnt seit 1978 in Berlin (siehe Wikipedia-Eintrag) und konnte also SFB, Rias und alle West-Fernsehprogramme empfangen. Ab und zu kamen westliche Presseerzeugnisse über die Grenze. Von Verwandten oder Diplomaten rübergebracht. Diese wurden von vielen, vielen Menschen gelesen. Es gab in der DDR ein sehr großes Interesse am Westen und der politischen Entwicklung dort.
2,5 Prozent ihrer Gesamtauflage verkauft die Süddeutsche Zeitung in den Neuen Bundesländern. 3,4 Prozent sind es bei der FAZ, etwa 4 Prozent beim Spiegel. Bei der taz sind es, das steht nicht in der Studie, rund 6 Prozent.
Anne Fromm: Presse in Ostdeutschland: Wer streichelt unsere Seele? taz, 9.3.2021
Woran könnte das nur liegen? Anne Fromm beschreibt es in ihrem Artikel sehr genau.
Statements wie das von Manfred Kriener sind Beleidigungen, wie auch Vorschläge wie der von Markus Liske, der – ebenfalls in der taz – dazu aufrief, nicht mehr in den Osten zu reisen, weil dort alle Nazis seien (siehe Blogbeitrag Reisende, meidet Nordrhein-Westfalen!). Wenn das in ausreichender Frequenz in Presseerzeugnissen vorkommt, hören Menschen auf, das zu lesen. Warum sollten wir den Wessis noch Geld dafür geben, dass sie uns beleidigen? Legendär ist auch das Spiegel-Cover, nach dem dieser Blog benannt ist (siehe Ich will was sagen).
Solche Beiträge kann man bringen, wenn man die Ossis nicht als seine Leser*innen sieht. Wahrscheinlich ist das bei vielen Autor*innen so. Es verstärkt aber das Problem, das wir auf sehr vielen Ebenen haben. Menschen beziehen Informationen aus Facebook-Gruppen, Telegram-Kanälen und anderen lustigen Quellen. Das Ergebnis ist Populismus, sich verstärkende Echokammern mit Fakenews, Hass auf Andersdenkende, die Lügenpresse und den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk. Es ist also auch im eigenen Interesse der klassischen Medien, auf die Ossis zu achten, die Ossis zu achten. Sich zu informieren und zu versuchen, die Position von Minderheiten mitzudenken.
Hier ein Vorschlag: Als die taz noch old-school produziert wurde, gab es Setzer. Diese haben mitunter lustige Kommentare in die Texte der taz-Autor*innen eingebaut. (siehe … die Säzzer-Kommentare) So etwas brauchen wir wieder. Es müsste einen Ossi vom Dienst geben, der das Recht dazu hat, zu allen Belangen, die den Osten betreffen, einen (kurzen) Kommentar einzufügen. Mir hätte es schon gereicht, wenn hinter der oben zitierten Passage gestanden hätte „[Was fürn Quatsch, Ossi vom Dienst]“. Es könnte ein Pool aus Ost-Autor*innen, ‑redakteur*innen gebildet werden, die sich dann Artikel vor der Veröffentlichung noch einmal ansehen. Ich würde dafür 100€ im Monat bezahlen und man könnte das Vorhaben sicher über Crowd-Funding auch noch besser ausstatten. Ich würde auch selbst mitarbeiten, falls das möglich ist. Dann würde ich mich über die Artikel freuen, an denen ich etwas rummeckern kann, ehm, ich meinte, zu denen ich mit meinem Erfahrungsschatz beitragen kann. =:-) Wenn sich das nicht in den mitunter hektischen Pressealltag integrieren lässt, könnte man zumindest ein Kommentarrecht für die Online-Artikel etablieren und zwar für Säzzer-style Einwürfe im Text, nicht in irgendwelchen Kommentarfunktionen. Diese könnten dann auch nach Veröffentlichung eingefügt und sogar mit längeren Begründungen verlinkt werden. So würden alle lernen.
Der größere Wurf wäre die Einrichtung einer Stiftung, die Ossis in der Journalistenausbildung unterstützt und ihnen danach eine Startphase finanziert, denn wie Anne Fromm dargelegt hat, braucht man für Journalismus zur Zeit finanziellen Rückhalt in der Familie und der ist im Osten meistens schlicht nicht gegeben.
Sie schreiben heute in der taz über einen Rant von Kurt Tucholsky, der seine Mitbürger*innen dazu aufruft, nicht mehr nach Bayern zu reisen. Wegen nationalistischer Tendenzen dort. Sie fordern Ihre Leser*innenschaft im Titel auf: Reisende, meidet Sachsen! und dehnen das im Artikel auf den gesamten Osten aus. Satire und solche Rants funktionieren, wenn sich Schwächere gegen Stärkere oder Gleichstarke wenden. Wenn der kleine Wadenbeißer sich im Bein des viel größeren Gegners festbeißt und einfach nicht abzuschütteln ist. Sie funktionieren nicht aus der Position des Stärkeren. Hier nun mein Rant: Ich habe mich über diesen Artikel sehr geärgert. Sie schlagen vor, nicht mehr in den Osten zu fahren, weil dort die Nazis sind. Erstens beleidigen Sie mit solchen Pauschalisierungen 18% der Einwohner*innen der Bundesrepublik. Zweitens treffen Sie damit eine wichtige verbleibende Einnahmequelle. Nach der Wende wurde die DDR-Industrie bewusst plattgemacht (MDR: 2020. D‑Mark, Einheit, Vaterland: Das schwierige Erbe der Treuhand), weite Teile des Landes sind deindustrialisiert und es blieben nur die blühenden Landschaften, die man bereisen kann. Was wir statt Industrie bekommen haben, sind Typen wie Hoffmann von der Wehrsportgruppe Hoffmann, den Ihr gut für uns im Knast aufbewahrt und dann wegen guter Führung eher wieder rausgelassen habt. Er hat dann nach der Wende in Kahla/Thüringen das gemacht, was zu erwarten war. Eure Professoren (weibliche Endung lass ich mal weg) haben die AfD aufgebaut. Fast die gesamte Führungsriege dieser Partei ist aus dem Westen. (hier eine Zusammenstellung) Die Chefs der Ost-Landesverbände allemal: Kalbitz, Höcke, Tillschneider, Reichardt. Die AfDler mit Kontakten zu Reichsbprgern und Holocaustleugner*innen kommen aus Hessen: Doris von Sayn-Wittgenstein. Sie wurde bei laufendem Ausschlussverfahren als Landesvorsitzende Schleswig-Holsteins wieder gewählt. Ihr habt über die rassistischen Ansichten des Chefs des Reservistenverbandes Sachsen geschrieben. Was fehlte: der ist aus dem Westen. Der Verfassungsschutz wurde von Maaßen geleitet, der AfD-nah ist und nirgendwo Rechtsextremismus sehen konnte. Der Verfassungsschutz war bei den NSU-Morden anwesend. Es gibt rechte Netzwerke in Polizei, KSK und Armee. Quellen muss ich hier nicht aufführen, denn alles, was ich darüber weiß, weiß ich aus der taz. Ihr müsstet es also auch wissen. (Vielen Dank übrigens für die tollen Artikel!). Verfassungsschutz, Justiz und Polizei wurden nach der Wende vom Westen in der ehemaligen DDR installiert. In den Leitungspositionen gibt es noch heute keine oder sehr wenige Ossis (laut Steffen Mau, Lütten Klein sind nur 13,3% der Richter*innen im Osten Ossis.). Wie Ihr selbst schreibt, wurden die Täter von Connewitz, Neo-Nazis, die zu Hunderten kamen und einen (linken) Stadtteil platt gemacht haben, auch fünf Jahre nach dem Vorfall nicht bestraft (taz: 11.01.2021, Schleppende Aufklärung). Einer der Täter macht gerade sein Jura-Referendariat … Kürzlich hattet Ihr einen Artikel über einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsheim in Lübeck 1995 (taz: Hoyerswerda, Solingen, Lübeck!). Die mutmaßlichen Täter sind bekannt, die Beweise erdrückend, angeklagt wurde ein Geflüchteter. Ein Justizskandal ohnegleichen. Die Vertuschenden in Polizei und Gerichten sind aus dem Westen. Das Fazit, das man ziehen kann und muss, ist, dass das ganze Land ein einziger brauner Sumpf ist. Entsprechend besetzte Stellen in Polizei und Justiz im Osten bereiten den Boden für die Saat der AfD und der Neonazi-Netzwerke.
Wenn Sie nun vorschlagen, nicht mehr in den Osten zu reisen, ist das selbstgerecht und billig. Und es würde nicht zur Lösung des Problems beitragen, sondern es verschärfen. Nach der Wende wurden alle Printmedien vom Westen übernommen, Wessis schreiben über Ossis. Von oben herab, pauschalisierend, so wie Sie in diesem Artikel. Oft ohne Sachkenntnis. Das hat dazu geführt, dass viele sich einfach abgewendet haben und die West-Medien (#Lügenpresse) nicht mehr rezipieren. Diese Lücke kann dann die AfD mit entsprechenden Alternativangeboten nutzen und das hat sie auch getan. Ihr (die Westmedien) habt die Ossis verloren (jedenfalls den AfD-wählenden Teil der Ostdeutschen). Es nützt nichts, wenn die Tagesschau oder irgendwelche Printmedien über die Corona-Pandemie berichten, denn das kommt an den entsprechenden Stellen nicht mehr an. Mit Verschwörungsthesen, Populismus und Rassismus finden AfD und friends offene Ohren. In der Wikipedia gibt es eine interessante Seite zur Diskriminierung von Ostdeutschen, auf der entsprechende Studien zum White-Trash in den USA und zu den Entsprechungen im Osten verlinkt sind. Menschen, denen es nicht gut geht, treten nach unten. Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlen, begehren auf. Ihr Artikel trägt da nicht zu einer Lösung bei. Im Gegenteil.
Stellen Sie sich einfach vor, es würde jemand einen Artikel mit der Überschrift Reisende, meidet Nordrhein-Westfalen! schreiben, weil es in NRW ganze Stadtteile gibt, in denen nur Nazis wohnen (Dokumentation: 28.09.2020. pro sieben spezial: Rechts.Deutsch.Radikal, wikipedia: Dortmund Dorstfeld). Lächerlich, oder? Es funktioniert nicht. Es funktioniert nur andersrum, aus einer Position der Stärke.
Ihr Artikel ist von derselben Art wie der vor einigen Jahrzehnten ebenfalls in der taz erschienene von Eberhard Seidel-Pielen, in dem er vorschlug, dem Osten die Mittel zu streichen, bis die Ossis Demokratie verstanden hätten: pauschalisierdend, verletzend, arrogant und mies. Lieber Herr Liske, wenn Sie sich in den vergangen Tagen wie Tucholsky gefühlt haben sollten, kann ich Ihnen nur sagen: Sie sind ganz weit weg davon. Ganz weit.
PS: Beim Schreiben von E‑Mails gibt es ja mitunter Probleme, weil diese viel härter ausfallen als das, was man Personen ins Gesicht sagen würde. Bei Zeitungsartikeln ist das wahrscheinlich so ähnlich. Vielleicht stellen Sie sich ja bei Ihrem nächsten Artikel vor, dass Sie mit einem 50jährigen Ossi in einer Kneipe sitzen und diesem erzählen, was Sie demnächst über ihn schreiben werden. Ich würde mich auch als Testperson zur Verfügung stellen. Das Angebot gilt auch für andere taz-Autor*innen.
Nee? Wollen Sie nicht? Und ist Ihnen auch egal, was die Ossis so denken? Dann weiß ich nicht mehr weiter, dann ist dieses Land verloren.
Bei meiner Arbeit zum Beitrag Die Ossis und der Holocaust habe ich nach den Weimertagen der FDJ gesucht, weil es da immer einen obligatorischen Besuch der Gedenkstätte Buchenwald gab. Mit großem Erstaunen habe ich festgestellt, dass die Weimartage außer auf einer Seite des Nationaltheaters Weimar nirgendwo im Netz auftauchen. Kein Wikipedia-Eintrag, kein Blog-Eintrag, nichts. Das ist einigermaßen erstaunlich, weil es ein jährlich wiederkehrendes Großereignis war. Für 21 Mark konnte man drei Tage in Schulen übernachten und volle Kanne von früh (7:00 Uhr !!!) bis abends (22:00) alles an Kultur (Theater, Konzerte, Lesungen, Museumsführungen, Parkführungen, Vorträge, …) mitnehmen, was man sich so vorstellen konnte. Hamlet-Vorführungen im Nationaltheater Weimar. Abschlussfest in den Parks Tiefurt oder Belvedere.
Die FDJ hat genervt. Es war eine Jugendorganisation, in der fast alle DDR-Bürger*innen Mitglied waren. Man musste am FDJ-Studienjahr teilnehmen, wo man ein mal im Monat propagandistisch versorgt wurde. Rot-Licht.
Aber eine Sache hat die FDJ wirklich gut gemacht: die Weimartage der FDJ. Ich war sieben Mal dort und es waren wichtige Tage in meinem Leben. Damit das irgendwo dokumentiert ist, stelle ich hier einige Programmhefte, Journale und Informationen für Reiseleiter ins Netz. Habt Spaß damit!
Simone Schmollack, die ich sehr schätze und die viele wichtige und richtige Artikel über den Osten geschrieben hat, hat heute einen Beitrag in der taz über promovierte Stasi-MitarbeiterInnen und über Jahns Vorschlag, Doktortitel, die an der Stasi-Hochschule in Potsdam erworben wurden, statt als Dr. Jur. als Dr. Stas einzuordnen. Ich stimme insgesamt in allem mit Simone Schmollack überein, nur eine kleine Textstelle hat mich geärgert:
Denn so ein Doktortitel verzückt, das hat er schon immer getan, besonders im obrigkeits- und titelorientieren Osten.
Obrigkeitsorientiert? Weiß ich nicht. Viele Menschen haben sich einfach ausgeklinkt und sich ins Private zurückgezogen. Titelorientiert war der Osten sicher nicht. Im Westen hatte und hat ein Professor, Offizier, Arzt viel höheres Ansehen als es diese Berufe im Osten je hatten. Ich würde sogar soweit gehen, den Osten als intellektuellenfeindlich einzustufen. Man hat es tunlichst vermieden, seinen Doktortitel in den Personalausweis zu schreiben, weil einem das bei Kontrollen eher schaden als nützen konnte. Soziale Hierarchien waren in der DDR eher flach. Intellektuelle waren im Alltag zu nichts zu gebrauchen, viel wichtiger waren Beziehungen zu Menschen, die begehrte Waren verkauften oder zu Handwerkern. HandwerkerInnen verdienten viel, viel mehr Geld als WissenschaftlerInnen und waren auch entsprechend angesehen. Zu studieren bedeutete, dass man erst mal zur Armee musste und dann fünf Jahre lang kein Geld verdiente. Irgendwann kam man irgendwo an, aber die Menschen mit Lehrberuf verdienten schon jahrelang. Schön blöd.
Nachtrag vom 26.01.2020: Ich möchte meinen Blogpost mit diesem Zitat aus einem Buch de Soziologen Prof. Dr. Steffen Mau stärken. (Ich weiß, das ist lustig …):
In unserer Klasse blickte die große Mehrheit, die eine Berufsausbildung anstrebte, verächtlich auf die »Streber«, und es war schwer zu vermitteln, warum man weiter die Schulbank drücken sollte, wenn es doch darum ging, schnell Geld zu verdienen und auf eigenen Füßen zu stehen. Ein Hochschulstudium erschien nicht allen als Gipfel des Glücks, was sicherlich auch damit zu tun hatte, dass die damit verbundenen Einkommensgewinne marginal blieben (ein Argument, das noch stärker zu Buche schlägt, wenn man die längere Bildungsphase einrechnet).
Dieser Text wurde am 01.09.2019 begonnen und ist leider immer noch nicht ganz fertig, aber er soll jetzt mal sichtbar werden.
Einleitung
Die Wessis versuchen jetzt, den Osten zu verstehen. Ein bisschen spät, denn das Kind ist in den Brunnen gefallen. Dazu gibt es verschiedene Analysen in Zeitungen, die für die Meinungsbildung relevant sind. Einen wichtigen Punkt aus zwei dieser Analysen möchte ich in diesem Beitrag besprechen: DDR und Holocaust. Die AutorInnen der besprochenen Beiträge sind jeweils aus dem Osten: Ines Geipel und Anetta Kahane. Das macht ihre Aussagen um so verwunderlicher. Sehen wir uns die Aussagen von Ines Geipel und Anetta Kahane im Detail an:
Die West-Gesellschaft des direkten Nachkriegs, die sich manisch schönputzte, die schier märchengleich Kohle machte und sich in ihrer Unfähigkeit zu trauern verpuppte. Die postfaschistische DDR der fünfziger Jahre dagegen wurde zur Synthese zwischen eingekapseltem Hitler und neuer Stalin-Diktatur, planiert durch einen roten Antifaschismus, der einzig eine Heldensorte zuließ: den deutschen Kommunisten als Überwinder Hitlers. Mit dieser instrumentellen Vergessenspolitik wurde im selben Atemzug der Holocaust für 40 Jahre in den Ost-Eisschrank geschoben. Er kam öffentlich nicht vor.
Im Osten war eine systemische und individuelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah nicht gewollt. Dies hätte zu Fragen nach Menschenrechten oder Minderheitenschutz geführt, die nur bei Strafe des Untergangs der DDR zu beantworten gewesen wären.
Die krasseste Behauptung ist die von Geipel, der Holocaust sei öffentlich nicht vorgekommen.1 Diese Behauptung ist leicht zu widerlegen und Matthias Krauß hat das bereits 2007 getan.2 Für die Behauptung von Kahane muss man etwas weiter ausholen.
Schulbildung: Literatur und Filme
Die Beschäftigung mit dem Holocaust zog sich durch die gesamte Schulbildung. Die Schulbildung war in der DDR zentral geregelt, d.h. alle Schülerinnen und Schüler wurden nach demselben Lehrplan und mit denselben Lehrmaterialien unterrichtet. Wir haben in der 9. Klasse Kinderschuhe aus Lublin von Johannes R. Becher gelernt. Viele haben das aufgesagt (33 Strophen). Die, die es nicht selbst gelernt haben, haben es zumindest viele Male gehört. Bechers Balade von den Dreien war ebenfalls im Lesebuch der DDR 9. Klasse (Ausgabe 1980) enthalten. Dieses Gedicht hatte nur neun Zeilen. Das haben die aufgesagt, denen die Kinderschuhe zu lang waren. Ich habe es oft gehört.
Wir haben Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz gelesen. Im Buch geht es um ein jüdisches Kind, das im KZ Buchenwald versteckt wird. Der Mord an den Juden wird ganz klar thematisiert:
Unter den 6000 jüdischen Häftlingen des Lagers verursachte der Befehl einen Aufruhr der Angst und Verzweiflung. Zuerst war ein Schrei des Entsetzens in ihnen aufgebrochen. Sie wollten die schützenden Blocks nicht verlassen. Sie schrien und weinten, wussten nicht, was sie tun sollten. Wie ein wütender Wolf hatte der furchtbare Befehl sie angesprungen, hatte sich in sie verbissen, und sie konnten ihn nicht mehr abschütteln. Ungeachtet von Weisangks Befehl, die Blocks nicht zu verlassen, stürzten viele der jüdischen Häftlinge fort, kopflos und in höchster Not. Sie rannten in andere Blocks hinein, in die Seuchenbaracke des Kleinen Lagers, ins Häftlingsrevier. »Helft uns! Versteckt uns!«
»Wie euch verstecken? Wir kommen doch selber dran.«
Trotzdem, die Blocks nahmen sie auf. Man riss ihnen die jüdischen Markierungen von den Kleidern, gab ihnen andere dafür. Köhn {und der Kapo vom Revier} steckten die Hilfesuchenden als »Kranke« in die Betten, gab ihnen ebenfalls andere Markierungen und Nummern. Manche der Gehetzten versteckten sich auf eigene Faust und krochen in den Leichenkeller des Reviers. Andere wieder stürzten in die Pferdeställe des Kleinen Lagers, in der Masse untertauchend. Und doch war diese Flucht die sinnloseste, denn gerade hier steckten viele jüdische Angehörige fremder Nationen. Aber wer überlegte, wer dachte klar, wenn er vom Wolf gehetzt wurde … Was in den Blocks der jüdischen Häftlinge zurückblieb, unterlag schließlich der Lähmung des mörderischen Befehls. Verstört sahen sie dem Kommenden entgegen. Die Blockältesten, selbst jüdische Häftlinge, hatten nicht den Mut, zum Marsch nach dem Tor antreten zu lassen. Dort wartete der Tod! Konnte man ihn nicht auch hier erwarten?
Bruno Apitz. 1958. Nackt unter Wölfen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale). Zitiert nach Ausgabe vom Aufbauverlag, 2012, S. 274–275
Zum Buch gab es 1963 eine Verfilmung von Frank Beyer für die DEFA (siehe Filme). Nackt unter Wölfen erschien in 30 Sprachen und erreichte eine Gesamtauflage von mehr als zwei Millionen.
Professor Mamlock (ein Theaterstück von 1934) wurde 1961 verfilmt und in Schulen gezeigt. Der Film handelt von einem jüdischen Klinikleiter und dessen Familie. Arbeitsverbot, Inhaftierung. Ein Sohn flieht. Professor Mamlock begeht Selbstmord.
Edu und Unku wurde ebenfalls im Literaturunterricht behandelt. Unku ist ein Sinti-Mädchen, das in Auschwitz ermordet wurde.
Die erstmals 1958 veröffentlichte Erzählung Frühlingssonate von Willi Bredel befand sich im Lesebuch der 9./10. Klasse.3 Es ging um einen jüdischen Politoffizier, der mit der Roten Armee nach Deutschland gekommen war. Er hört die Musik, die eine Familie mit Klavier und Fagott spielt, kommt in deren Wohnung, immer wieder, bringt Essen mit. Sie werden vertraut. Eines Tages fragt die Familie ihn nach seinem Lieblingsstück und er nennt Beethovens Frühlingssonate. Die Familie studiert das Stück ein, spielt es vor dem Offizier und dieser bricht zusammen und verwüstet die Wohnung. Daraufhin wird er verhaftet und eingesperrt und von seinen Vorgesetzten verprügelt. Der Familienvater – ein deutscher Professor – entschuldigt ihn. Hier Auszüge aus dem Text, der aus seiner Perspektive geschrieben ist:
Der Familienvater:
Ich beobachtete Ruthilde, sie spielte vortrefflich. Plötzlich aber sah ich sie erschrecken: Hauptmann Pritzker wankte an den Tisch und goss den Inhalt der Wodka-Karaffe in ein Bierglas. Der Hauptmann goss in einem einzigen Zug den Wodka in sich hinein. Aufhören! Um Gottes Willen aufhören, dachte ich. Ruthilde aber spielte weiter – und wie sie spielte. Meine Frau musste einsetzen. Der Hauptmann hatte beide Hände vors Gesicht gepresst, als litte er Qualen. Was bedeutete das alles nur? „Warum spielten sie noch?
Plötzlich geschah es. Ein Schrei dem unverständliche Worte folgten – und plötzlich riss der Hauptmann mit einem Ruck die Tischdecke samt allem, was darauf stand herunter. Meine Frau schlug mit dem Kopf auf die Tasten des Flügels – wie ohnmächtig. Irmgart und Hänschen, zu Tode erschrocken, rannten aus dem Zimmer. Der Hauptmann zog mit seinem ganzen Gewicht an dem Schrank, in dem unsere Gläser und etwas Geschirr standen, so dass er über den Tisch fiel. Er zerrte mit einem Griff Vorhänge und Gardinen vom Fenster. Einem Stuhl gab er einen Tritt. Und ununterbrochen schrie er Flüche oder Drohungen in seiner Muttersprache heraus. Ruthilde, Geige und Bogen noch in der Hand, stand da und rührte sich nicht. Gleich wird er über sie herfallen, dachte ich, bereit, mich ihm entgegenzuwerfen. Statt dessen aber hockte er sich plötzlich in den Sessel, legte den Kopf auf die Lehne und weinte, schluchzte herzzerreißend. Ich hatte meine Frau auf das Sofa gebettet, jetzt trat ich zu meiner Tochter und legte den Arm um ihre Schulter. So blickten wir auf den Unglücklichen, der den Kopf hin und her warf und wie ein Kind wimmerte. Endlich kamen Soldaten der Militärpolizei und führten ihn ab.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 164–165. (Zitat mit freundlicher Genehmigung der Willi-Bredel-Gesellschaft-Geschichtswerkstatt e. V., Hamburg)
Die Erklärung für das Verhalten wird am nächsten Tag von einem anderen Offizier geliefert:
Heute mittag nämlich hat mich ein junger Offizier von der Kommandantur aufgesucht. Er bat für seinen Landsmann um Entschuldigung und erbot sich, den Schaden zu ersetzen. Dann erzählte er mir das Schicksal des Hauptmanns. Es ist noch tragischer, als wir vermuten konnten. Hören Sie nur:
Hauptmann Pritzker war vor seiner Einberufung zur Sowjetarmee Musikpädagoge am Konservatorium in Kiew. Er war verheiratet, hatte eine Tochter und einen Sohn, beide noch schulpflichtig. Im Jahre 1942 haben deutsche Soldaten der Hitler-Wehrmacht in Kiew Zehntausende Juden, Männer, Frauen und Kinder, zusammengetrieben wie Vieh und unweit der Stadt vor ihren Gräbern erschossen. Unter den Opfern befanden sich des Hauptmanns Frau und Kinder. Die Familie hatte am Abend, bevor Pritzker einberufen wurde, die Frühlingssonate von Beethoven gespielt.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 165.
An einer anderen, aus der Sicht des Oberst der sowjetischen Militärkommandanturer, der den Hauptmann verhört und geschalgen hat, erzählten Stelle heißt es:
Der Oberst überlegte … Da liest man in den Zeitungen, hört in Rundfunksendungen, auch in Gesprächen: Bei Worowschilwograd zwölftausend Juden massakriert. In Kertsch Tausende Einwohner vor der Stadt füsiliert. In Kiew zehntausende Juden und Kommunisten gemeuchelt und in Massengräber verscharrt. Man liest es, ist entsetzt, aber es dringt nicht mehr richtig ins Bewusstsein; der Verstand wehrt sich diese Häufung von Verbrechen aufzunehmen.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 168.
Der Bericht des Professors endet damit, dass er den Hauptmann entschuldigt:
„Die Schuldigen sind doch eigentlich wir“: sagte der Professor, „ich meine, wir Deutschen. ” Er blickte auf und fuhr fort: „Man stelle sich vor: Ein Offizier befindet sich als Sieger in dem Land, aus dem die Menschen kamen, die in seiner Heimat seine Frau und seine beiden Kinder umgebracht haben. Die Mörder sind besiegt, aber die Menschen dieses Landes sind den Mördern nicht in den Arm gefallen, sie haben sie gewähren, das heißt morden lassen. Und einsam geht er durch die Stadt der Besiegten. Da sitzt in ihrem Haus eine Familie – nicht einer fehlt: Mann, Frau, Töchter, Sohn – sie musizieren, spielen Schumann, Brahms und Mozart. Er steht auf der Straße und lauscht. Jeden Akkord kennt er, er ist ja Musiklehrer, ein Freund der Hausmusik. Musik ist stärker als Hass. Gleich einem Bittsteller klopft er an die Tür der Besiegten und — ja, der Mitschuldigen an seinem und seines Landes Unglück. Er darf zuhören und ist glücklich. Bei Deutschen, den Landsleuten derer, die seine Frau und Kinder und ungezählte Tausende anderer Frauen und Kinder in seiner Heimat ermordet haben. Er denkt daran, er muss immer wieder daran denken, und ihn packt, ihn überwältigt das ihm zugefügte Leid. Er will es betäuben, er will nicht, dass seine deutschen Bekannten etwas davon merken. Er trinkt, um zu vergessen. Und gerade das Stück, das sie nichtsahnend ihm zur Freude spielen, wird ihm zur größten Qual … ja, wir sind die Schuldigen. Die Schuldigen sind wir.”
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 166.
Man beachte, dass bei Bredel 1958 auch schon ganz klar auf die Rolle der Wehrmacht bei der Massenvernichtung der Juden hingewiesen wird. Die ganze Ungeheuerlichkeit ist im Artikel über Babyn Jar in Wikipedia ausführlich dokumentiert. SS und Wehrmacht haben gemeinsam 33.771 Juden in einer Schlucht bei Kiew ermordet und dann vor Kriegsende noch versucht, die Spuren zu beseitigen. Menschen aus dem Osten waren sehr erstaunt, was die Wehrmachtsausstellung noch 1995–1999 für einen Aufruhr erzeugen konnte. Wir wussten Bescheid. Wir hatten es spätestens in der 10. Klasse gelernt.
Wikipedia schreibt zur Wehrmachtsausstellung:
Die breite Öffentlichkeit nahm so erstmals historisch gut erforschte, aber damals allgemein noch wenig bekannte Sachverhalte zur Kenntnis:
den Beginn des Holocaust in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, den die Wehrmachtsführung mit plante und dann arbeitsteilig mit durchführte,
die Beteiligung ganzer Truppenteile an diesen Verbrechen, wobei Widerstand bis auf wenige Ausnahmen ausblieb,
den in Wehrmachtsführung wie einfachen Truppen weit verbreiteten Antisemitismus und Rassismus,
die verbrecherischen Befehle (zum Beispiel den Kommissarbefehl) und ihre weithin widerspruchslose Ausführung und
die als Kriegsziel beabsichtigte millionenfache Vernichtung der osteuropäischen Zivilbevölkerung.
In aktuellen politischen Diskussionen wird immer wieder behauptet, dass es in der DDR keine systematische Aufarbeitung des Faschismus gegeben habe, wohingegen das in der BRD nach 1968 geschehen sei. Wie das Wikipedia-Zitat nahelegt, waren die Fakten Experten bekannt, jedoch kein Allgemeinwissen. In der DDR kam niemand an diesen Fakten vorbei.
Überlebende wurden in die Schulen eingeladen. Schulen wurden nach Widerstandskämpfern benannt z.B. nach Herbert Baum (jüdischer Widerstandskämpfer). Nach der Wende zog das Heinrich-Hertz Gymnasium in die Gebäude der POS Herbert Baum. Es gibt jetzt keine Schule mehr, die nach ihm benannt ist.
Neulehrer
Bei der ganzen Sache mit der Schulbildung sollte man auch bedenken, dass Nazis nach dem Krieg im Bildungssystem der DDR systematisch durch sogenannte Neulehrer ersetzt wurden. 40.000 Neulehrer. Laut Wikipedia waren 1949 67,8 Prozent aller Lehrerstellen mit Neulehrern besetzt. Es war somit sichergestellt, dass die Personen auch das in den Lehrplänen Vorgegebene unterrichten würden, insbesondere dann, wenn es sich um antifaschistischen Lehrstoff handelte. LehrerInnen hätten den entsprechenden Stoff schon allein deshalb nicht weglassen können, weil in jeder Klasse Kinder mit Genosseneltern waren und es sicher Probleme mit der Schulleitung gegeben hätte. Das kann man finden, wie man will, aber daraus folgt, dass alle Kinder in der DDR die Materialien, die sich mit dem Faschismus beschäftigt haben, auch behandelt haben.
Bücher
LTI – Notizbuch eines Philologen von Victor Klemperer erschien 1947 im Aufbau Verlag und wurde dann 1966 in Reclams Universal-Bibliothek in Leipzig wiederveröffentlicht. 1990 wurde die 10. Auflage gedruckt. Papier war in der DDR knapp. Populäre Zeitschriften wie das Magazin waren deshalb Bückware. Es muss also erstens einen Bedarf für LTI gegeben haben und zweitens auch den politischen Willen der Staatsmacht, dieses Buch in großen Stückzahlen unters Volk zu bringen. Klemperer selbst war jüdischer Abstammung und hat sich dafür entschieden, in der DDR zu bleiben.
Martin Riesenburger. 1960. Das Licht verlöschte nicht. Ein Zeugnis aus der Nacht des Faschismus, Berlin: Union Verlag. weiter Auflagen in den 1980ern.
Arnold Zweig. 1960. „Beginn und ‚Endlösung‘“. In: Programmheft zu „Affäre Blum“, Volksbühne Berlin, Spielzeit 1960/61, S. 4–7., weitere Artikel im Neuen Deutschland etc.
Kurt Pätzold. 1983. Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942. Berlin: Reclam.
Reclam-Buch von 1983 über die Judenverfolgung. Kurt Pätzold hat an der Humboldt-Universität zu diesem Thema geforscht. Sein Wikipediaeintrag enthält weitere Quellen.
Diese Aufzählung aus dem Hut wirkt geradezu lächerlich gegenüber der Liste von 1086 Titeln, die die einstige Leiterin der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in Ost-Berlin, Renate Kirchner, zusammengestellt hat (Kirchner, 2010).
Daniela Dahn schreibt in ihrem Buch von 2019 (siehe unten) zu dieser Liste:
Die Bibliographie umfasst alle Themen – jüdische Geschichte, Religion, Philosophie, Kultus und Brauchtum, Lebens- und Werkbetrachtungen bekannter Juden, Antisemitismus und Rassismus, jüdisches Leben in anderen Ländern, insbesondere die Welt der Ostjuden, auch Palästina und Israel. Fast genau die Hälfte aller Bücher aber widmet sich dem Thema: Nationalsozialismus und Judenverfolgung. Die meisten davon, nämlich 302, waren Sachbücher, Biographien, Tagebücher, Briefbände, auch einzelne Diplomarbeiten und Dissertationen, die der Jüdischen Bibliothek zum Dank für Unterstützung übergeben wurden. Viele davon waren sachliche Faktensammlungen, andere unverkennbar der Systemauseinandersetzung und dem Legitimationsbedürfnis der DDR untergeordnet. So unterschiedlich sie waren, kann man ihnen eine verinnerlichte, humanistische Grundhaltung und einen tiefempfundenen Antifaschismus schwerlich absprechen.
Ohne den im Raum stehenden, monströsen Vorwurf der Unterdrückung jüdischer Themen in der DDR könnte ich mir den nun vielleicht schon pedantisch wirkenden Hinweis sparen, dass zu dem auch ästhetisch heiklen Thema Holocaust, für das erst eine Sprache gefunden werden musste, außerdem 238 DDR-Autoren wie Anna Seghers, Bruno Apitz, Jurek Becker, Johannes Bobrowski, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Walter Kaufmann, Günter Kunert, Fred Wander, Arnold Zweig. Westdeutsche Autoren wie Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Paul Celan, Peter Härtling, Heinar Kipphardt, Wolfgang Koeppen, Luise Rinser und Peter Weiss wurden in DDR-Verlagen genauso verlegt wie die Generation davor: Lion Feuchtwanger, Frank Leonhard, Klaus Mann, Erich Mühsam, Erich Maria Remarque, Nelly Sachs, Franz Werfel. Schließlich wurde auch viel übersetzt, besonders aus Osteuropa: Josef Bor, Tibor Déry, Ladislav Grosman, Imre Kertész, Anatoli Kusnezow, Stanislaw Lem, Icchokas Meras, aber auch Natalia Ginzburg, Primo Levi, Elie Wiesel oder Jorge Semprún.)
Dahn, Daniela (2019) Der Schnee von gestern ist die Sintflut von morgen.
Meine Schwiegereltern hatten in ihrer Mannheimer Wohnung am Esstisch extra ein Regal mit Judaika plaziert, damit die West-Kollegen dieses bei Einladungen sehen konnten, denn auch ihre Kolleg*innen hatten merkwürdige Vorstellungen über den Umgang mit Juden und dem Völkermord in der DDR.
Filme
Es gab diverse Filme, die die Judenverfolgung thematisierten oder in denen sie vorkam. Es gab in der DDR in vielen kleinen Orten Kinos und die Filme sind oft jahrelang durch die DDR getourt. Folgende Filme sind mir bekannt:
Ich bin klein, aber wichtig, 1988, Walther Petri und Konrad Weiß, DEFA Studio für Dokumentarfilme, biographischer Filmessay über Janusz Korczak
Zur Premiere des Anne-Frank-Films gibt es einen interessanten Beitrag in der ZEIT von 1959:
Vor der Uraufführung des Films „Ein Tagebuch für Anne Frank“ im Ostsektor Berlins betrat der greise Arnold Zweig die Bühne im „Haus der Presse“ am Bahnhof Friedrichstraße. Er sprach davon, daß mit diesem Film ein Beitrag zur moralischen Wiedergutmachung geleistet werden solle.
Zu Ich bin klein aber wichtig gibt es einen Text von Konrad Weiß, der 1988 in Film und Fernsehen veröffentlicht wurde.
Fernsehserien
Nach der ersten Veröffentlichung dieses Textes erschien am 17.09.2019 ein Buch von Daniela Dahn (aus einer jüdischen Familie) zum Thema Wiedervereinigung. Dieses Buch enthält auch eine erhellende Diskussion der Behauptung, der Holocaust sei in der DDR nicht vorgekommen. Ich habe das Buch leider erst 2023 gelesen. Dahn weist darauf hin, dass es mehrere Jahre vor der Holocaust-Serie in der DDR eine vierteilige Serie zum Völkermord an den Juden gab: Die Bilder des Zeugen Schattmann.
Cover der DVD, auf der die Serie Die Bilder des Zeugen Schattmann vertrieben wird
Die Serie war nach dem autobiografischen Roman von Peter Edel konzipert und es spielten mehrere Jüd*innen in den Hauptrollen:
Was gab es doch unlängst für einen Hype um den 40. Jahrestag der Sendung der US-Serie Holocaust, durch die 1979 das deutsche Publikum, und zwar das gesamtdeutsche, angeblich erstmalig eine Ahnung vom Ausmaß des den Juden zugefügten Leids bekommen habe. Was für ein Armutszeugnis! Nirgends war ein Hinweis darauf zu hören, dass im DDR-Fernsehen bereits sieben Jahre [fünf Jahre, St. Mü.] vor der Hollywood-Serie eine vierteilige Folge über eine jüdische Familie gesendet wurde, die nach Auschwitz deportiert wird. Erstmalig durfte dafür ein deutscher Filmstab im Lager Auschwitz drehen. Die Authentizität des Films rührte aber nicht nur vom schwer zu verkraftenden Originalschauplatz, sondern von dem Wissen, dass es sich hier um die Verfilmung des autobiographischen Romans des Juden Peter Edel handelt, der all diese Schrecken in Auschwitz selbst erlebt hat. Und nicht nur er, auch einige der Hauptdarsteller hatten die fürchterliche Hürde zu nehmen, an die Stätte ihres grauenvollen Traumas zurückzukehren. In der Rolle des Stubenältesten Tadeusz spielte August Kowalczyk ein Stück seines eigenen Lebens. Er war zwei Jahre Häftling in Auschwitz gewesen und hatte sich eigentlich geschworen, nie wieder an diesen Ort zurückzukehren. Peter Sturm, im Film der Elias, stammte aus einer sehr frommen, armen jüdischen Familie aus Wien. Er hatte das Martyrium der Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und ebenfalls Auschwitz hinter sich. Und die Schauspielerin Marga Legal, im Film Frau Müller, bekam 1933 wegen ihrer jüdischen Vorfahren ein Arbeitsverbot und konnte sich nur durch eine sogenannte «privilegierte Ehe» vor Verfolgung retten.
Dahn, Daniela (2019) Der Schnee von gestern ist die Sintflut von morgen.
Der Film wurde im Westberliner Tagesspiegel positiv besprochen (25.05.1972).
Zu dieser Serie und dem Roman, der die Grundlage bildet, sollte man noch folgendes insbesondere über die Verbreitung wissen:
Dieser Peter Edel, aus einer bürgerlichen Berliner Familie stammend, konnte wegen der Rassengesetze das Gymnasium nicht beenden und nahm illegal Zeichenunterricht bei Käthe Kollwitz. Versuche, ins Exil zu gehen, misslangen, ein Großteil seiner Verwandten und seine erste Frau wurden in Auschwitz umgebracht. Er selbst überlebt dieses Vernichtungslager nur, weil er als bildender Künstler nach Sachsenhausen zum Geldfälschen verlegt wird. Noch im Lager beschließt er, Kommunist zu werden, als Konsequenz des Erlittenen. Nach der Befreiung versucht er es in Österreich als Journalist und Graphiker, später in Westberlin, ab 1947 in Ostberlin. Häufig suchen ihn Fieberanfälle heim, die einige Tage andauern. Im Fieberwahn durchleidet er immer wieder Auschwitz. Danach kann er sich an nichts erinnern. Davon befreit hat er sich mit seinem autobiographischen Roman, der 1969 erschien. Bis 1989 erlebte der Schattmann 12 Auflagen, danach keine mehr. Die vierteilige Verfilmung lief im Fernsehen alle drei, vier Jahre erneut, auch nachmittags im Schulprogramm, sonst zur besten Sendezeit, mit Wiederholung am nächsten Morgen, zuletzt 1988. Man kam an diesem Film eigentlich nicht vorbei, wer ihn nicht gesehen hat, wollte ihn nicht sehen.
Dahn, Daniela (2019) Der Schnee von gestern ist die Sintflut von morgen.
Ich kannte diese Serie nicht, weil wir keinen Fernseher hatten.
Durch Dahn bin ich auch auf die Arbeit Elke Schieber aufmerksam geworden. Sie hat alle Filme aufgelistet, die in der SBZ/DDR zwischen 1946 und 1990 zu den Themen Antisemitismus vor 1933, jüdisches Leben, Judenverfolgung im Nationalsozialismus, jüdische Vergangenheit in der Gegenwart, Palästina-Israel-Naher Osten produziert wurden. 700 Seiten. 1000 Filme. Wie Dahn richtig feststellt, sagt das allein noch nichts über die Qualität der Filme aus, aber die schiere Masse dieser Dokumente reicht wohl dazu aus, die Falschdarstellung, in der DDR sei Jüdisches nicht vorgekommen oder der Holocaust sei ignoriert worden, zu widerlegen.
Theaterstücke
Der DEFA-Film Affäre Blum, 1948, Erich Engel, hatte zu DDR-Zeiten über 4 Mio Zuschauer. Es geht um einen antisemitischen Justizsakndal im Jahre 1925. Zum Film gab es auch ein Theaterstück und im Programmheft von 1960/1961 gab es einen Beitrag von Arnold Zweig: Beginn und ‚Endlösung‘. In: Programmheft zu „Affäre Blum“, Volksbühne Berlin, Spielzeit 1960/61, S. 4–7.
Skulpturen und Denkmäler
Ingeborg Hunzinger. 1970. Stürzende, Sandstein; für die Opfer des Todesmarsches des KZ Sachsenhausen vom April 1945 in Parchim in einer Parkanlage zwischen Goetheschule und Krankenhaus.
Der Bildhauer Will Lambert war mit einer jüdischen Frau verheiratet und floh 1933 aus Deutschland. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil und der Verbannung arbeitete er hauptsächlich an der Gestaltung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Die Jüdin Olga Benario war das Vorbild für die Skulptur Tragende (1957). Diese Skulptur wurde 1959 in Ravensbrück aufgestellt.
Originalbildunterschrift: Zentralbild Junge 15.4.65 DDR: Zum 20. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück. An der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück gedenken die Bürger der DDR und viele ausländische Gäste am 30. April dieses Jahres der 92.000 Frauen, Mütter und Kinder, die an dieser Stätte einen qualvollen Tod fanden. Hier verneigen wir uns vor den unsterblichen Helden des antifaschistischen Kampfes aus mehr als 20 Nationen, die für eine glückliche Zukunft aller Völker ihr Leben gaben. 132.000 Frauen und Kinder verschleppten die Hitlerfaschisten nach Ravensbrück, 92.000 erlebten den Tag der Befreiung nicht mehr. CC-BY-SA Von Bundesarchiv, Bild 183-D0415-0016–006
13 Figuren, die eigentlich mit der Tragenden kombiniert werden sollten (siehe auch Briefmarken), stehen seit 1985 zum Gedenken an die jüdischen Opfer des Faschismus am Alten Jüdischen Friedhof in Berlin-Mitte.
Denkmal „Jüdische Opfer des Faschismus“ von Will Lammert am Alten Jüdischen Friedhof, Berlin-Mitte, 1956/85 Wikimedia, CC-BY-SA Jochen Teufel.
Briefmarken
Es gab eine Reihe von Sondermarken, die in der Zeit von 1955–1964 herausgegeben wurden. Mit einem Aufschlag konnten sich die KäuferInnen am Aufbau und der Erhaltung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück beteiligen. Die gesamten Marken inklusive Auflagenhöhe sind ausführlich in Wikipedia dokumentiert: Aufbau und Erhaltung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten. Laut dem Wikipediartikel zur Gedenkstätte Sachsenhausen sind allein 1955 2 Millionen Mark auf diese Weise gespendet worden. Zum Vergleich: Das Durchschnittseinkommen (brutto) betrug damals 432 Mark (Statistisches Jahrbuch der DDR, 1990, S. 52).
Briefmarkenserie zu KZsDiese Briefmarke (Auflage 1.500.000) zeigt die Plastik Tragende von Will Lammert. Die Tragende ist nach der Jüdin Olga Benario modelliert. Die Figuren am Fuße der Säule wurden später zum Gedenken an die jüdischen Opfer des Faschismus am Alten Jüdischen Friedhof in Berlin Mitte aufgestellt.Herbert Baum-Briefmarke, 1961, Auflage 2.000.000, 5 Pfennig wurden für den Aufbau von Gedenkstätten gespendet
1963 wurde eine Briefmarke „Niemals wieder Kristallnacht“ in einer Auflage von 5 Millionen Stück herausgegeben.
Briefmarke von 1963 zum 25 Jahrestag der Reichsprogromnacht, Auflage 5 MioBriefmarke 1988 zum 50 Jahrestag der Reichsprogromnacht, Auflage 3,5 Mio
Straßen, Schulen, Plätze
Im Abschnitt über Schulen wurde schon erwähnt, dass es Schulen gab, die nach Juden benannt waren, die in KZs ermordet wurden. Nach Herbert Baum wurde auch eine Straße benannt: Eine Gedenktafel für die Getöteten der Herbert-Baum-Gruppe und das Grab Baums befinden sich auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee. Das Grab ist als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet. Die auf das Hauptportal des Friedhofs führende Straße heißt seit 1951 Herbert-Baum-Straße.
Rudi Arndt (in Buchenwald ermordet) ist ein weiterer Jude, nach dem viele Straßen, Plätze, Theater und Jugendherbergen benannt wurden. Zu den Details siehe Ehrungen in seinem Wikipediaeintrag. Wie auch Herbert Baum war Rudi Arndt im kommunistischen Widerstand, aber bei einer Auseinandersetzung mit seiner Person stieß man auch auf seine Religionszugehörigkeit:
1938 wurde er als „politischer Jude“ ins KZ Buchenwald deportiert. Nach seiner Ankunft war Arndt zunächst kurze Zeit in einem Baukommando tätig. 1938/1939 arbeitete er als Krankenpfleger für jüdische Häftlinge und war Blockältester im Block 22. Er setzte sich sehr für die jüdischen Patienten ein, was der SS außerordentlich missfiel. Nach einer Denunziation durch kriminelle Häftlinge im Steinbruch wurde er von der SS vorgeblich „auf der Flucht“ erschossen.
Wikipediaeintrag von Rudi Arndt, 03.03.2020
Nach Olga Benario waren Schulen, Kindergaärten und Straßen benannt.
Ich selbst bin in der Georg-Benjamin-Straße aufgewachsen, einer Straße, die 1974 in einem Neubaugebiet nach dem jüdischen Arzt und Widerstandskämpfer Georg Benjamin benannt wurde. Zu weiteren Ehrungen siehe Wikipedia. In Wikipedia steht übrigens auch, dass eine im Sommer 1951 am Weddinger Nettelbeckplatz aufgestellte Gedenktafel für „Hingerichtete und ermordete Weddinger Antifaschisten“, die Georg Benjamins Namen enthielt, von Unbekannten recht schnell entfernt wurde.
Weimartage der FDJ und Besuche im KZ Buchenwald
Die FDJ hat jedes Jahr in Weimar ein großes dreitägiges Festival veranstaltet. Theater, Musik, Museen. Man konnte für 21 Mark alles besuchen, bekam Essen und konnte in Weimarer Schulen schlafen. Auf Probebühnen und den Hauptbühnen fanden gleichzeitig mehrere Vorstellungen pro Tag statt. (Merkwürdig, dass man dazu im Netz bis auf eine Seite des Nationaltheaters in Weimar und das Archiv des Neuen Deutschlands nichts, aber auch gar nichts, finden kann.)
Obligatorisch mit im Programm war immer ein Besuch im KZ Buchenwald inklusive Film in der Gedenkstätte. Gezeigt wurde Filmmaterial, das die Amerikaner nach der Befreiung angefertigt haben. Leichenberge, fast verhungerte KZ-Insassen und die Weimarer Bevölkerung, die auf Anordnung der Amerikaner durch das Lager geführt wurde, um zu sehen, was dort passiert war. Der Spiegel hat ein Interview mit einer Frau, die als 17jährige Teil dieses KZ-Besuches war. Ich war sieben Mal bei den Weimartagen. Ich sage immer, dass die Weimartage das einzige Gute sind, was die FDJ zustande gebracht hat. Sechs Mal war ich mit im KZ. Einmal habe ich geschwänzt. Man möge es mir verzeihen. Ich kannte da schon jedes Detail. Ich habe die Öfen gesehen, die Schrumpfköpfe, die Lampenschirme aus Menschenhaut.5
Schrumpfköpfe und Menschenhaut mit Tätowierungen im KZ Buchenwald
Obligatorische Besuche in KZs
Meine Mutter hat einen großen Teil ihrer Jugend in Jena verbracht. Im Rahmen ihrer Jugendweihe war sie Ende der 50er Jahre auch im KZ Buchenwald. Der Besuch eines Konzentrationslagers war für alle Schülerinnen und Schüler in der DDR obligatorisch. (Siehe Wikipedia-Artikel zu Jugendstunden, die in Vorbereitung auf die Jugendweihe stattfanden.)
Die Berliner und Brandenburger Schüler waren alle im KZ Sachsenhausen. Ich war dort wahrscheinlich in der 8ten Klasse. Es gab (und gibt) in Sachsenhausen Ausstellungsteile, die auf das Leid der jüdischen Bürger hingewiesen haben: Die Baracke 38 war das „Museum des Widerstandskampfes und der Leiden jüdischer Bürger“.
Ich war außerdem noch in Lublin-Maidanek (1984 bei einer Reise im Rahmen einer Schulpartnerschaft in Polen). Ich habe die Baracken mit den deutschen Aufschriften gesehen. Ich habe die Haare und die Schuhe gesehen. Baracken voll damit.
Schuhe von Ermordeten, Majdanek, Polen, August 1944 (Quelle)
Auch Zeitzeugen spielten im Osten eine Rolle. Wie schon gesagt, wurden sie z.B. in Schulen eingeladen. Meine Mutter berichtete mir von einem Konzertabend 1959 im Volkshaus Jena, bei dem die Pianistin ihre eintätowierte KZ-Nummer gezeigt hat. Sie hat nur überlebt, weil sie für die Nazis gespielt hat.
Holocaust im West-Fernsehen
Die amerikanische Mini-Serie Holocaust wurde im Jahr 1979 im West-Fernsehen gezeigt (da sich einige Sendeanstalten der ARD weigerten, die Serie im Hauptprogramm zu zeigen, kam sie dann in den dritten Programmen). Da bis auf die Sachsen im Tal der Ahnungslosen alle DDR-Bürger West-Programme empfangen konnten, dürften einige die Serie gesehen haben. Nein, jetzt bitte keinen Zusammenhang zwischen schlechtem Fernsehempfang und Wahl von Nazi-Parteien herstellen.
Der Begriff Holocaust wurde durch diesen Film sowohl im Osten als auch im Westen bekannt. Im Osten wurde sonst von Völkermord gesprochen.
Wiederaufbau der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin
Eine vollständige Wiederherstellung in den Originalzustand wurde verworfen – sie hätte als Versuch missverstanden werden können, die Leiden der Vergangenheit zu verdrängen und womöglich zu vergessen. Die Absicht war aber, mit dem Gebäude gleichzeitig ein Mahnmal zur ständigen Erinnerung zu erhalten.
Jüdische Personen in einflussreichen/sichtbaren Positionen
Es gab in der DDR viele einflussreiche und bekannte jüdische Familien. Es gab Minister oder ansonsten hochstehende Funktionäre wie:
Alexander Abusch (Parteivorstandes der SED, Vizepräsident des Kulturbundes und hauptamtlicher Mitarbeiter des Zentralkomitees der SED, Kulturminister, IM)
Helmut Aris (Präsident des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Mitglied des Präsidiums des Nationalrates der Nationalen Front, Verdienstmedaille der DDR, Ernst-Moritz-Arndt-Medaille der Nationalen Front, Vaterländischer Verdienstorden, Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden, Deutsche Friedensmedaille, IM)
Ellen Brombacher (Sekretär für Kultur in der SED-Bezirksleitung Berlin, sie hatte damit wesentlichen Einfluss auf alle Kultureinrichtungen von Ost-Berlin, Banner der Arbeit, Vaterländischer Verdienstorden in Bronze, Dr.-Theodor-Neubauer-Medaille)
Hermann Axen (Sekretär des ZK der SED, Mitglied des Politbüros)
Albert Norden (Professor für neuere Geschichte, Sekretär des ZK der SED, Mitglied des Politbüros, Autor Braunbuch)
Horst Brasch (stellvertretender Minister für Kultur)
Klaus Gysi (Minister für Kultur, Staatssekretär für Kirchenfragen)
Markus Wolf (Generaloberst, Leiter des Auslandsnachrichtendienstes HVA bei der Stasi)
Friedrich Karl Kaul (Anwalt in Ost und West, Professor und Nationalpreisträger, organisierte Zusammenarbeit der RAF-Anwälte mit Stasi)
Ich habe hier auch die Zusammenarbeit mit der Stasi als Inoffizieller Mitarbeiter immer mit angegeben, weil das ja auch ein spezielles Vertrauensverhältnis impliziert. Mitunter war die IM-Tätigkeit nur zeitweise. Die Details finden sich in den Wikipedia-Einträgen.
Journalisten:
Max Kahane (Mitgründer des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes (ADN), später Stellvertretender Direktor, stellvertretender Chefredakteur der Berliner Zeitung, Chefkommentator des Neuen Deutschlands)
Andere bekannte und einflussreiche Intellektuelle waren:
Schriftsteller
Peter Edel (Schriftsteller und Grafiker, Mitglied des P.E.N.-Zentrums der DDR und 1978 Vorstandsmitglied des Deutschen Schriftstellerverbandes, Heinrich-Heine-Preis des Ministeriums für Kultur der DDR, Vaterländischer Verdienstorden in Gold, Nationalpreis der DDR, vom MfS beobachtet, dann selbst IM)
1979: Karl-Marx-Orden
Stephan Hermlin (Schriftsteller, Übersetzer, Redakteur Ulenspiegel, Aufbau sowie Sinn und Form, enger Freund von Honecker, Protest gegen Biermann-Ausbürgerung),
Wieland Herzfelde (Professor für Soziologie der modernen Weltliteratur in Leipzig, Präsident des P.E.N.-Zentrums der DDR)
Anna Seghers (Schriftstellerin, Präsidentin des Schriftstellerverbands der DDR, Nationalpreisträgerin),
Arnold Zweig (Schriftsteller, Nationalpreisträger, Präsident der Deutschen Akademie der Künste der DDR, Präsident des Deutschen P.E.N.-Zentrums Ost und West)
Musiker
Paul Dessau (Musiker, Professor in Dessau, arbeitete mit Brecht am Berliner Ensemble, Vizepräsident Deutschen Akademie der Künste in Berlin (Ost))
Hanns Eisler (Professur für Komposition in Berlin)
Louis Fürnberg (Komponist, Text und Melodie des Lieds der Partei, Erster Botschaftsrat (Kulturattaché) der tschechoslowakischen Botschaft in Ost-Berlin, später Weimar)
Andrej Hermlin (Musiker, am 7.10.1989 zum Konzert bei Feier mit Honecker)
Lin Jaldati (Sängerin, die jiddische Volkslieder sang, Kunstpreis der DDR, Vaterländischer Verdienstorden in Bronze, Silber und Gold, Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden in Gold)
Fotografen/Grafiker
Sibylle Boden-Gerstner (Kostümbildnerin, Malerin und Modejournalistin, Gründerin der Modezeitschrift Sibylle, Mutter von Daniela Dahn)
John Heartfield (Helmut Herzfeld, Nationalpreis für Kunst und Literatur, Professor)
Filmschaffende
Konrad Wolf (Regisseur u.a. „Solo Suny“, Präsident der Akademie der Künste der DDR)
Wissenschaftler
Ernst Bloch (Philosoph Uni Leipzig, Nationalpreis der DDR)
Victor Klemperer (Professor Dresden, Greifswald, Wittenberg, HU Berlin: Literaturwissenschaftler und Romanist, Ehrendoktor Dresden, Nationalpreisträger, Abgeordneter der Volkskammer, zu LTI siehe oben)
Ingeborg Rapoport (Professorin für Pädiatrie und Inhaberin des ersten europäischen Lehrstuhls für Neonatologie, Verdienter Arzt des Volkes, Vaterländischer Verdienstorden in Bronze und Silber, zusammen mit anderen Ärzten den Nationalpreis der DDR III. Klasse für Wissenschaft und Technik für ihren Beitrag zur Senkung der Säuglingssterblichkeit in der DDR. Sie zählte über die Wissenschaftsgemeinde in der Deutschen Demokratischen Republik hinaus zu den renommiertesten Kinderärzten ihrer Zeit.)
Samuel Mitja Rapoport (Arzt und Biochemiker, Direktor des Instituts für Biologische und Physiologische Chemie an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR gewählt. Er erhielt mehrere Ehrendoktorate. Zahlreiche staatliche Auszeichnungen)
Tom Rapoport (Prof. am Zentralinstitut für Molekularbiologie der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Buch beziehungsweise an dessen Nachfolgeeinrichtung, dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Seit Januar 1995 ist er Professor für Zellbiologie an der Medizinischen Fakultät der Harvard University in Boston.)
die Rapoports (Mediziner, Naturwissenschaftler*innen),
die Simons Hermann Simon (praktizierender Jude und Historiker)
Diskussion
Das war der Osten. Im Osten kam man als Schüler nicht am Holocaust vorbei. Ich war übrigens auch bei Führungen in einer jüdischen Synagoge in Berlin. Ich wusste, dass es in Ost-Berlin noch zweihundert in der jüdischen Gemeinde organisierte Juden gab. Und ich wusste auch, warum das so wenige waren.
Zum Vergleich möchte ich von einem persönlichen Erlebnis in einer süddeutschen Stadt Ende der 90er Jahre berichten. Wir durften bei Nachbarn von Bekannten übernachten. Dort hing an der Wand ein Bild des Vaters in Uniform. Waffen-SS. Mit Totenkopfsymbol. Eine ganz normale nette Nachbarin (Lehrerin), die andere in ihrer Wohnung wohnen lässt. Kein normaler Mensch hätte sich im Osten seinen Vater in SS-Uniform ins Wohnzimmer gehängt. So etwas hätte es im Osten nie gegeben. Nie. [Inzwischen ist mir noch ein weiterer solcher Fall bekannt.]
Kahane schreibt weiter: „Dies [die Auseinandersetzung mit dem Holocaust] hätte zu Fragen nach Menschenrechten oder Minderheitenschutz geführt, die nur bei Strafe des Untergangs der DDR zu beantworten gewesen wären.“ Das ist einigermaßen bizarr, denn damit relativiert sie den Holocaust. In der DDR wäre niemand im Traum darauf gekommen so ein bisschen Redefreiheit und Publikationsfreiheit, Reisefreiheit mit der systematischen Ermordung von Millionen Menschen zu vergleichen. Solche Einschränkungen zu erklären, war für die Staatsmacht kein Problem. Sie wurden ja sogar auch damit erklärt, dass verhindert werden sollte, dass sich so etwas wiederholt. Damit das ganz klar ist: Ich war 1989 auf der Straße für Redefreiheit, Reisefreiheit und nicht als Stasi-Mitarbeiter. Ich verstehe nicht, warum Kahane schreibt, was sie schreibt. Es entspricht jedenfalls nicht der Wahrheit.
Auch legt ihr Satz nahe, dass es in der DDR keine Diskussionen über Menschenrechte gegeben hätte. Es gab sehr wohl Menschen, die sich mit Fragen der Menschenrechte beschäftigt haben. Die Initiative für Frieden und Menschenrechte wurde 1986 offiziell gegründet. Vorher gab es Gruppen, meist unter dem Dach der Kirche organisiert aber nicht notwendigerweise religiös, die den Einsatz für Menschenrechte als ihr Hauptanliegen sahen. Dafür brauchte es keine Holocaust-Diskussion.
„Lügenpresse“ bzw. Pfuschpresse
Der Westen wundert sich, warum der Osten sich anders benimmt, als man das vielleicht erwarten würde. Ein Grund dafür sind solche Artikel in der Presse. Sieht man vom Neuen Deutschland ab, gibt es keine Ost-Presse mehr. Die West-Medien haben immer nur über den Osten geschrieben. Die Wessis haben über die Ossis geredet, nicht mit ihnen. Das beginnt sich nun gerade zu ändern. Es gibt tolle Artikel von Anja Maier, Simone Schmollack und Sabine am Orde in der taz6, gute Artikel im Spiegel, von Sabine Rennefanz in der Berliner Zeitung und auch die Zeit ist aktiv um Änderungen bemüht. Aber die oben zitierten Beiträge enthalten grobe Unwahrheiten und das macht die, über die geredet wird, wütend. Es verletzt sie, sie wenden sich ab und sind nicht mehr erreichbar. Ein Viertel der Menschen, die in diesem Land leben. Unglaublich, oder?
Es ist ein Armutszeugnis, dass die FAZ einen Artikel wie den von Geipel einfach so veröffentlicht. Wenn sie irgendwas über den Osten wüssten, wüssten sie eben auch, wie die Schulbildung aussah, was die Menschen gemacht und gedacht haben. Ich habe für das Schreiben dieses Artikels einen Sonntag gebraucht. Die Quellen sind im Netz verfügbar. Es gibt sogar ein Buch, das sich mit dem Holocaust im DDR-Unterricht auseinandersetzt. Wenn es der FAZ wichtig wäre, würden sie Menschen einstellen, die das nötige Wissen für entsprechende Diskussionen haben. So ist es einfach nur unterirdisch.
Wenn Ostdeutsche behaupten, der Holocaust wäre in der DDR nicht thematisiert worden, dann gibt es dafür zwei mögliche Gründe: Sie verfolgen politische/persönliche Ziele und lügen bewusst oder sie haben die Behandlung des Holocaust vergessen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.
Nachtrag
Auch Jan Feddersen von der taz versucht in seinem Interview mit Daniel Rapoport immer wieder aus diesem Statements zum angeblichen Antisemitismus in der DDR herauszukitzeln, bekommt aber Antworten, die dem hier Gesagten entsprechen (aber besser formuliert sind). Jakob der Lügner und der Bau der Synagoge werden erwähnt.
Literatur
Bodo von Borries
Dahn, Daniela. 2019. Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute: Die Einheit – eine Abrechnung. Hamburg: Rowohlt Verlag.
Ich habe nach der Erstellung einer Entwurfsfassung dieses Textes mit vielen Menschen gesprochen bzw. Mail ausgetauscht und den Text dann entsprechend angepasst. Dafür danke ich ihnen. Besonderer Dank geht an XY für den Hinweis, mal nach Plastiken und Briefmarken zu suchen. Über die Wikipediaseite zu den Briefmarken bin ich dann auch auf die Plastiken von Will Lambert gestoßen. Ich danke der Willi-Bredel-Gesellschaft für prompte Auskunft zu Erscheinungsdaten der Frühlingssonate.
Johann Niemann, der Lagerkommandant des Vernichtungslagers Sobibor, in dem 180.000 Juden ermordet wurden steht auf dem Kriegerdenkmal im ostfriesischen Völlen mit der Inschrift „Unseren gefallenen Helden“. taz, 26.02.2020