DDR vs. Iran, Folter und Röntgenstrahlung

In der Bahn saß ein Mann hin­ter mir und erklär­te einer Frau, die zufäl­lig neben ihm saß, die Welt. Er war ein Öko, hat­te schon diver­se Peti­tio­nen und Kla­gen gestar­tet, aber es dran­gen auch immer wie­der merk­wür­di­ge Din­ge an mein Ohr (Ich ver­such­te, ein Buch zu begut­ach­ten und das aus­zu­blen­den .…). Jeden­falls hat­te er die DDR mit dem Iran ver­gli­chen und von Fol­ter gespro­chen. Mein Wis­sens­stand war so, dass es zum Ende der DDR fast kei­ne phy­si­sche Fol­ter gab, dafür aber aus­ge­klü­gel­te psy­chi­sche Zer­set­zung. Bis in Fami­li­en hinein.

Das kann man hier nachlesen:

https://www.demokratie-statt-diktatur.de/stasi-und-die-menschenrechte/wuerde-des-menschen/

Es gab in Pots­dam eine Sta­si-Hoch­schu­le mit ent­spre­chen­den Abschlussarbeiten.

Ich habe ihm das gesagt und er mein­te: Ja, aber die Sta­si habe Rönt­gen­strah­lung eingesetzt!

Irgend­wann hat er dann auch sei­ner Sitz­nach­ba­rin erzählt, wie toll das doch mit dem Inter­net sei, da kön­ne man das alles nach­le­sen. Dum­mer­wei­se woll­te ich mein Buch wei­ter­le­sen. Ich hät­te gleich mal nach­gu­cken sol­len. Es gibt höchst inter­es­san­te his­to­ri­sche Unter­su­chun­gen aus den 90ern zu den Rönt­gen­ge­rä­ten und dem Ein­satz radio­ak­ti­ver Mate­ria­li­en durch die Sta­si (Eisen­feld et. al. 2002).

Kurz: Das mit den Rönt­gen­ge­rä­ten ist Quatsch. Zer­rüt­tung fin­det man auch in die­sem Bericht und es gibt noch ganz vie­le inter­es­san­te Sachen zu Spio­na­ge, Ein­satz von Strah­lung an der Gren­ze, Zusam­men­ar­beit mit wis­sen­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen usw.

Die Sta­si hat zum Bei­spiel West­geld radio­ak­tiv mar­kiert, weil sie raus­fin­den woll­te, wer die Schei­ne aus den Brie­fen klaut. Ich dach­te ja immer, dass Post und Sta­si prak­tisch eins waren und dass die eben ab und zu Sachen aus Brie­fen und Pake­ten genom­men haben.

Den Post­ler haben sie geschnappt, aber 12 Schei­ne blie­ben ver­schwun­den. Wahr­schein­lich hat­te die in Wirk­lich­keit der Chef und das konn­te ja nicht in den Akten doku­men­tiert werden. =:-)

Die radio­ak­ti­ve Mar­kie­rung von Geld­schei­nen und deren Ergeb­nis ist in einem
wei­te­ren Fall belegt.124 Er doku­men­tiert einen gera­de­zu kri­mi­nell fahr­läs­si­gen Umgang des MfS mit radio­ak­ti­ven Sub­stan­zen. Auf­ge­deckt und nach­ge­wie­sen wer­den soll­te der Dieb­stahl von West­geld aus Post­sen­dun­gen. Dazu prä­pa­rier­ten Mit­ar­bei­ter des OTS am 4. Mai 1988 20 5 DM-Schei­ne mit dem »Wolke«-Mittel 113 (jeweils belas­tet mit einer Akti­vi­tät von 60 uCI), steck­ten sie in Brief­ku­verts und schick­ten sie einen Tag spä­ter, wie es heißt, »ope­ra­tiv in den Post­ka­nal«. Tat­säch­lich konn­te ein Mit­ar­bei­ter der Post des Dieb­stahls überführt und festge­nommen wer­den. Es konn­ten bei ihm aber nur acht der zwan­zig prä­pa­rier­ten Geld­schei­ne sicher­ge­stellt ‑wer­den. Zwölf der kon­ta­mi­nier­ten 5 DM-Schei­ne blie­ben ver­schwun­den und gaben den betei­lig­ten MfS-Mit­ar­bei­tern Anlaß zu ei­nigem Kopf­zer­bre­chen. Ihren Berech­nun­gen zufol­ge ver­ur­sach­te das Tra­gen auch nur eines die­ser Schei­ne am Kör­per über einen Zeit­raum von drei Mona­ten eine Belas­tung von 200 rem, »was ins­be­son­de­re im Gona­den­be­reich spä­te­re Wirkun­gen bei Jugend­li­chen ver­ur­sa­chen könnte«.125 Die­se Dosis wür­de jedoch, so heißt es, inner­halb eines Jah­res infol­ge der Zer­falls­zeit auf 16 rem sin­ken und wäre da­ nach »aus unse­rer Sicht ungefährlich«.126 Ande­rer­seits muß­te ein­ge­räumt wer­ den, daß alles auch davon abhing, wie die betref­fen­den Per­so­nen mit den Schei­nen umgin­gen. Wür­de eine Per­son meh­re­re die­ser Schei­ne am Kör­per tra­gen, so bestün­de die Gefahr einer »ver­viel­fach­ten« Belas­tung und »von Spätschäden an begrenz­ten Körperteilen«.127 Wenn man in Rech­nung stellt, daß die radio­ak­tiv mar­kier­ten Geld­schei­ne mög­li­cher­wei­se auch in die Hände von Klein­kin­dern oder schwan­ge­ren Frau­en fal­len konn­ten, so muß die­sem Mar­kie­rungs­ver­fah­ren ein gemein­ge­fähr­li­cher Cha­rak­ter beschei­nigt wer­den. Ob die Bemü­hun­gen des MfS, die zwölf feh­len­den radio­ak­tiv prä­pa­rier­ten Geld­schei­ne wie­der aufzufin­den, Erfolg hat­ten, ist nicht doku­men­tiert – und das spricht eher für ein nega­ti­ves Ergebnis.

Eisen­feld et al. 2002, Pro­jekt­be­richt »Strah­len« Ein­satz von Rönt­gen­strah­len und radio­ak­ti­ven Stof­fen durch das MfS gegen Oppo­si­tio­nel­le – Fik­ti­on oder Realität

Und obwohl offi­zi­ell die radio­ak­ti­ven Wol­ken einen Umweg um die DDR gemacht hat­ten, hat die Sta­si für ihre Track­ing-Aktio­nen einen #Tscher­no­byl-Auf­schlag berech­net und die Strah­lungs­do­sis erhöht:

Die Dosis von jeweils 450 uCi (gesamt 1,9 mCi) war so stark, daß auch »von außen […] in der Woh­nung gear­bei­tet« wer­den konnte.130 Außer­dem wur­de, wie es heißt, »der infol­ge der KKW-Hava­rie [gemeint ist offen­sicht­lich Tscher­no­byl] erhöh­te Strah­lungs­un­ter­grund […] rech­ne­risch berücksichtigt.«131 Am sel­ben Tag wur­den der Ent­wick­lungs­in­ge­nieur und sei­ne Frau in der Woh­nung und der West­ber­li­ner eine Stun­de spä­ter an der Grenz­über­gangs­stel­le über­ führt und fest­ge­nom­men. Der Ein­satz der bereit­ge­stell­ten »Wol­ke-Mit­tel« lag in der Regie der Abtei­lung 26. Der Erfolg brach­te Haupt­mann Thie­le­mann, der als Mit­ar­bei­ter des OTS die prak­ti­sche Mar­kie­rung durch­führ­te, noch am sel­ben Tag einen Prä­mi­en­vor­schlag in Höhe von 400 Mark ein.

Eisen­feld et al. 2002, Pro­jekt­be­richt »Strah­len« Ein­satz von Rönt­gen­strah­len und radio­ak­ti­ven Stof­fen durch das MfS gegen Oppo­si­tio­nel­le – Fik­ti­on oder Realität

Die haben auch den Boden von Oppo­si­ti­ons­treff­punk­ten prä­pa­riert, so dass die Leu­te das Zeug dann an den Schu­hen hatten.

Oder Manu­skrip­te von Oppo­si­tio­nel­len radio­ak­tiv mar­kiert und dann geguckt, bei wem das im Wes­ten bzw. im Ost­block ange­kom­men ist.

Schon irre alles. Aber die Unter­su­chun­gen haben eben erge­ben, dass Rönt­gen­strah­lung nicht gezielt zur Schä­di­gung von Per­so­nen ein­ge­setzt wurde.

Quellen

Eisen­feld, Bernd & Auer­bach, Tho­mas & Weber, Gud­run & Pflug­beil, Sebas­ti­an. 2002. Pro­jekt­be­richt »Strah­len« Ein­satz von Rönt­gen­strah­len und radio­ak­ti­ven Stof­fen durch das MfS gegen Oppo­si­tio­nel­le – Fik­ti­on oder Rea­li­tät. Ber­lin: Bun­des­ar­chi­v/Sta­si-Unter­la­gen-Archiv. (http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292–97839421308513)

Das Recht auf Wür­de des Men­schen. 2023. Demo­kra­tie statt Dik­ta­tur. (https://www.demokratie-statt-diktatur.de/stasi-und-die-menschenrechte/wuerde-des-menschen/)

Die Ossis sind mit der Demokratie nicht zufrieden. Ach wirklich? Und warum sind es die Wessis?

Sor­ry, ich kom­me erst jetzt dazu. Im Janu­ar schlug ein Bericht des Ost­be­auf­trag­ten Wel­len. Er wur­de, wie üblich verdreht.

Die taz schreibt zum Bei­spiel, dass nur noch 39% der Ost­deut­schen mit der Demo­kra­tie zufrie­den wären:

Das Kon­zept des Ost­be­auf­trag­ten ver­weist auf die gesun­ke­ne Zufrie­den­heit mit der Demo­kra­tie beson­ders in den öst­li­chen Bun­des­län­dern. Sie lag zuletzt nur noch bei 39 Prozent.

Anna Leh­mann: Ost­deut­sche sind als Füh­rungs­kräf­te in Bun­des­be­hör­den rar. Die Bun­des­re­gie­rung will gegen­steu­ern, taz, 26.01.2023, S. 6

Die Zeit titel­te „Ost­be­auf­trag­ter: Nur 39 Pro­zent der Ost­deut­schen zufrie­den mit der Demo­kra­tie.“ Der Unter­ti­tel ist dann:

Laut dem aktu­el­len Bericht des Ost­be­auf­trag­ten der Bun­des­re­gie­rung wach­sen in Ost­deutsch­land die Zwei­fel an der Demokratie. 

Mer­kur: Nur vier von zehn Ost­deut­schen zufrie­den mit der Demokratie

Süd­deut­sche: Nur vier von zehn Ost­deut­schen zufrie­den mit der Demokratie

Das ist mal wie­der einer die­ser Hie­be in die Ker­be „Die Ossis leh­nen die Demo­kra­tie ab / sind nicht demo­kra­tie­fä­hig / sind komisch / sind anders als wir / saßen zusam­men im Kin­der­gar­ten auf dem Töpf­chen und lie­ben des­halb Diktaturen.“

In der Mit­tei­lung des Ost­be­auf­trag­ten der Bun­des­re­gie­rung steht aber:

Dem „Deutsch­land-Moni­tor“ zufol­ge sind nur noch 39 Pro­zent der Ost­deut­schen zufrie­den mit der Demo­kra­tie, so wie sie in Deutsch­land funk­tio­niert. Gera­de ein­mal 32 Pro­zent von ihnen glau­ben, dass Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker das Wohl unse­res Lan­des wich­tig sei. Und zwei Drit­tel sind der Mei­nung, Ost­deut­sche wür­den häu­fig als Men­schen zwei­ter Klas­se behandelt.

Man­che Medi­en brin­gen die Ein­schrän­kung „so wie sie in Deutsch­land funk­tio­niert“, man­che wei­sen dar­auf hin, dass die Zustim­mung auch im Wes­ten sinkt. Man­che unter­las­sen das aber.

Als Ossi fra­ge ich mich, wie kann man mit dem, was in die­sem Land läuft denn zufrie­den sein? Eigent­lich geht das nur, wenn man mate­ri­ell abge­si­chert und poli­tisch unin­ter­es­siert ist. Ansons­ten habe ich hier ein paar Punk­te, die man komisch fin­den könnte:

  • Mas­ken­af­fä­re: Ver­un­treu­ung von Mil­lio­nen ohne recht­li­che Konsequenzen
  • Kor­rup­ti­on im Öl und Gas­ge­schäft bei CDU/CSU und SPD
  • Scheu­ers Ver­sen­kun­gen von Mil­lio­nen Euros im Maut­de­sas­ter ohne recht­li­che Konsequnezen
  • Scheu­ers Umlen­kung von Gel­dern in sei­nen Wahlkreis
  • Gif­feys pla­gier­te Dok­tor­ar­beit und Mas­ter­ar­beit. Gif­fey tritt nach Aberken­nung ihres Dok­tor­titls als Fami­li­en­mi­nis­te­rin der Bun­des­re­gie­rung zurück, macht aber dann als Regie­ren­de Bür­ger­meis­te­rin von Ber­lin naht­los wei­ter. What? Eine Die­bin und Betrü­ge­rin gut genug für Berlin?
  • Gif­fey wur­de 2022 mit 58,9% zur Par­tei­vor­sit­zen­den in Ber­lin gewählt. Trotz Rot-Grün-Roter Mehr­heit wur­de 2023 RGR nicht wei­ter­ge­führt, son­dern nach einer Mit­glie­der­be­fra­gung, die mit einer mil­li­me­ter­dün­nen Mehr­heit von 54% für Schwarz-Rot aus­ging, dann die Koali­ti­on mit der CDU begon­nen. Das gan­ze Gif­fey-Paket hät­te frü­her mehr­fach für einen Rück­tritt gereicht.
  • Pla­gia­te und Titel­be­trug bei diver­sen ande­ren Politiker*innen
  • Lob­by-Zugang für den Bun­des­tag zum Bei­spiel von Waffenhändlern
  • Der ehe­ma­li­ge Chef des Ver­fas­sungs­schut­zes, der von der Poli­tik fest­ge­legt wird, ist ein Nazi.
  • Der Minis­ter­prä­si­dent eines Bun­des­lan­des, der frü­her beim Öffent­lich-recht­li­chen Rund­funk gear­bei­tet hat, for­dert die Strei­chung der Rund­funk­ge­büh­ren und ansons­ten alle drei Wochen das Gegen­teil von dem, was er frü­her gefor­dert hat. 
  • Por­sche ist life dabei bei der Aus­hand­lung des Koalitionsvertrags
  • Döpf­ner, Ver­lags­chef des Sprin­ger-Kon­zerns, weist sei­ne Blät­ter an, die FDP hoch­zu­schrei­ben, damit die­se dann die Koali­ti­on plat­zen las­sen kann.
  • Wie von Döpf­ner geplant, kann eine Par­tei, die für 11% der Wähler*innen steht, die Poli­tik der rest­li­chen Regie­rung sabo­tie­ren, wobei dazu natür­lich ein Machen-Sie-sich-kei­ne-Sor­gen-Kli­ma­kanz­ler gehört, der das mit sich machen lässt. 
  • Ver­hin­de­rung eines aus­sa­ge­kräf­ti­gen Ergeb­nis­ses beim Volks­ent­scheid durch die Tren­nung von Wahl­ter­min und Volks­ent­scheid in Ber­lin durch die SPD-Innensenatorin.

Viel­leicht sind wir Ossis alle etwas naiv. Wir waren geschockt, als wir sahen, was die Funk­tio­nä­re in Wand­litz alles hat­ten, obwohl das unter dem Niveau west­deut­scher Arbeiter*innen lag. Viel­leicht sind unse­re Ansprü­che an Politiker*innen ein­fach zu hoch. Höher als die der Wessis.

Viel­leicht geht es den Wes­sis auch ein­fach zu gut und/oder sie inter­es­sie­ren sich nicht so für die Kor­rup­ti­on und Berei­che­rung. Ist ja nor­mal, machen ja alle.

Also: Es ist nicht so, dass Ossis Demo­kra­tie als poli­ti­sches Sys­tem ableh­nen. Im Gegen­teil, die Zustim­mung zur Demo­kra­tie an sich war zumin­dest 2018 sogar noch höher als im Wes­ten 95% vs. 93% (Stu­die der Uni­ver­si­tät Leip­zig). Was abge­lehnt wird, ist die Art und Wei­se, in der Din­ge gera­de lau­fen. Und hier ist die Fra­ge an die 59% der Wes­sis, die mit der Demo­kra­tie, wie sie gera­de in Deutsch­land funk­tio­niert, zufrie­den sind: What’s wrong with you?

Alles Nazis im Westen?

Die taz berich­tet heu­te über Po­li­zis­t*in­nen, die durch Rechts­extre­mis­mus, Ras­sis­mus oder Anti­se­mi­tis­mus auf­ge­fal­len sind (taz, 21.10.2021). Inter­es­san­ter­wei­se sind alle Vor­fäl­le bis auf einen mit einer Poli­zis­tin aus Des­sau aus dem Wes­ten (Ber­lin zäh­le ich groß­zü­gig auch zum Wes­ten. Es geht wohl auch um Neukölln.):

  • Ber­lin:
  • Frankfurt/Main:
    • 6 Polizist*innen, rechts­ra­di­ka­le Bil­der, einer mit Waffen
    • 20 Beam­te des SEK: volks­ver­het­zen­der Chat­nach­rich­ten, 19 sus­pen­diert, 3 Vorgesetzte
    • Spe­zi­al­ein­heit aufgelöst
    • Min­des­tens 29 wei­te­re hes­si­sche Po­li­zei­be­am­t*in­nen gehör­ten zur Chat­grup­pe, 9 mit Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren, jedoch nicht straf­bar, weil pri­va­te Kommunikation
    • Poli­zei­prä­si­dent des Prä­si­di­ums West­hes­sen äußert sich rassistisch
  • Mühl­heim an der Ruhr/NRW:
    • Chat mit rechts­extre­men und ras­sis­ti­schen Inhal­ten, 20 Polizist*innen sus­pen­diert, Straf­be­feh­le gegen 6
    • alle Aspek­te von grup­pen­be­zo­ge­ner Men­schen­feind­lich­keit, näm­lich Ras­sis­mus, Frem­den­feind­lich­keit, Anti­se­mi­tis­mus, Isla­mo­pho­bie, Sexis­mus und Homophobie.
    • gegen 29 Po­li­zei­be­am­t:in­nen ermit­telt, Mül­hei­mer Dienst­grup­pe A samt Dienst­grup­pen­lei­ter kom­plett suspendiert
    • Ins­ge­samt in NRW 53 bestä­tig­te rechts­extre­me Fäl­le, 138 noch offen. Bei 59 Ver­dachts­fäl­len noch andau­ern­de straf­recht­li­che Prü­fun­gen und arbeits‑, dis­zi­pli­nar- oder beam­ten­recht­li­chen Prü­fun­gen, von 2017 bis Ende Sep­tem­ber 2021 275 Ver­dachts­fäl­le, 6 ent­las­se­ne Kommissaranwärter
  • Alsfeld/Hessen:
    • Hit­ler-Bild auf Whats­App geteilt, über das Aus­kunfts­sys­tem der Poli­zei Abfra­gen ohne dienst­li­chen Anlass vor­ge­nom­men und Infor­ma­tio­nen wei­ter­ge­ge­ben, uner­laub­te Schuss­waf­fen und Munition 
    • Geld­stra­fe 7000€, Jus­tiz fand Hit­ler­bild aber nicht rele­vant, weil war ja privat
  • Osnabrück/Niedersachsen:
    • Ermitt­lun­gen gegen 6 Beam­te, ver­fas­sungs­feind­li­che Sym­bo­le über whats­app ver­schickt, 4 suspendiert

So. Wat sagt uns dit­te? Ich schrei­be jetzt mal eine Ein­ord­nung, so wie man sie mit­un­ter anders­rum in Zei­tun­gen findet:

<sarcasm>Dieser gan­ze Neo­fa­schis­mus ist sehr schwer erträg­lich und nicht zu ver­ste­hen. Die Men­schen im Wes­ten sind irgend­wie ganz anders als wir lie­ben Lin­ken aus dem Osten. Wir haben in der Schu­le auf­ge­passt, haben alle mehr­fach Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger besucht und wis­sen, dass Faschis­mus unglaub­li­ches Leid über vie­le Men­schen gebracht hat. Wie kann man die­se Ent­glei­sun­gen nur erklä­ren? Mir fal­len meh­re­re Erklä­run­gen ein: 

  • Nach dem Krieg gab es kei­ne wirk­li­che Auf­ar­bei­tung des Faschismus.
  • Opa/Oma bzw. Uropa/Uroma der klei­nen Hit­lers in der Poli­zei sind in einer Dik­ta­tur auf­ge­wach­sen. Die ent­spre­chen­den Defor­mie­run­gen wur­den in der Fami­lie weitergegeben.
  • Die Nazi-Poli­zis­ten sind nie in einen Kin­der­gar­ten gegan­gen, saßen stun­den­lang allei­ne auf dem Topf, weil Mama sie nicht wei­ter­spie­len ließ, bis die wich­ti­gen Sachen erle­digt waren, und haben wegen feh­len­dem Kon­takt zu ande­ren Kin­dern kein ver­nünf­ti­ges Sozi­al­ver­hal­ten erlernt.
  • Die Nazi-Müt­ter (Müt­ter der Nazis) waren frus­triert, weil sie öko­no­misch abhän­gig waren und sich des­halb nicht von den Vätern tren­nen konnten.

</sarcasm>

Ist bescheu­ert? Ja. Aber sol­ches Zeug müs­sen Ost­deut­sche immer wie­der in der Zei­tung lesen (Zei­tun­gen sind bis auf das Neue Deutsch­land und die Ber­li­ner Zei­tung alles West-Zei­tun­gen). Zum Bei­spiel, dass Kin­der Neo­na­zis gewor­den sei­en, weil sie im Kin­der­gar­ten neben­ein­an­der auf dem Töpf­chen geses­sen hät­ten (gute Bespre­chung der Pfeif­fer­schen The­se von Kers­tin Decker im tages­spie­gel, 11.05.1999). Oder dass die Tat­sa­che, dass die AfD im Osten erfolg­reich ist, an der Dik­ta­tur­so­zia­li­sie­rung läge. Die DDR ist schon über 30 Jah­re Geschich­te. Jun­ge AfD-Wähler*innen ken­nen die DDR nur noch aus Erzählungen.

Zusammenfassung

Die­ses Land hat ein Nazi-Pro­blem. Oder meh­re­re. Ver­schie­de­ne. Es ist zu ein­fach, ange­ekelt auf den jeweils ande­ren zu bli­cken und zu sagen: Ih, die sind so anders. Die Nazis. Da drü­ben. Es wird nicht bes­ser, wenn man von oben her­ab über Min­der­hei­ten schreibt. Man kann sich zwar schön selbst ver­ge­wis­sern und die Leser*innen fin­den es auch duf­te, aber man schließt eben ein Fünf­tel der Bevöl­ke­rung des Lan­des wei­ter­hin aus (Die taz hat mit 6% ost­deut­schen Leser*innen den höchs­ten Ossi-Anteil. Bei Spie­gel und Süd­deut­scher liegt er bei 4% und 2,5%. Sie­he taz, 09.03.2021). Die­ses Fünf­tel wird die Zei­tun­gen wei­ter­hin nicht lesen und sind somit für nor­ma­le Medi­en mit jour­na­lis­ti­schen Qua­li­täts­stan­dards ver­lo­ren. Die­ser Teil der Bevöl­ke­rung kriegt sei­ne Infor­ma­ti­on und Unter­hal­tung eben auf rech­ten Schwur­bel­ka­nä­len. Wie gefähr­lich das ist, haben wir wäh­rend der Coro­na-Kri­se gese­hen und das gilt genau­so für die Klimakrise.

Quellen

Decker, Kers­tin. 1999. Das Töpf­chen und der Haß. tages­spie­gel. Ber­lin. (https://www.tagesspiegel.de/kultur/das-toepfchen-und-der-hass/77844.html)

Fromm, Anne. 2021. Pres­se in Ost­deutsch­land: Wer strei­chelt unse­re See­le? taz. Ber­lin. (https://taz.de/Presse-in-Ostdeutschland/!5756271/)

Giess­ler, Denis. 2021. Ver­dachts­fäl­le Ras­sis­mus bei der Poli­zei: Die lan­ge Lis­te der Ein­zel­fäl­le. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Verdachtsfaelle-Rassismus-bei-der-Polizei/!5806075/)

Gür­gen, Male­ne. 2020. Ermitt­lun­gen gegen Ber­li­ner Beam­ten: AfD, NPD, Poli­zei. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Ermittlungen-gegen-Berliner-Beamten/!5690788/)

Auf dem Berg der Ahnungslosen?

Man­fred Krie­ner schreibt in der taz einen guten Arti­kel über den Atom­aus­stieg nach der Reak­tor­ka­ta­stro­phe. Er ord­net dar­in Ange­la Mer­kels Han­deln ein. An sich ein schö­ner Arti­kel, den man schön wei­ter­vert­wit­tern könn­te, wenn, ja wenn nicht die­se eine Pas­sa­ge wäre:

Mer­kel, die Kanz­le­rin der schwarz-gel­ben Lauf­zeit­ver­län­ge­rung, wird als Kanz­le­rin des Atom­aus­stiegs in die Geschichts­bücher ein­ge­hen. Dabei hat­te sie nie ver­stan­den, wie fun­da­men­tal der Atom­kon­flikt die west­deut­sche Gesell­schaft über Jahr­zehn­te ver­gif­tet hat­te. Die blu­ti­gen Schlach­ten an den Bau­zäu­nen Ende der 70er Jah­re, die Mas­sen­pro­tes­te der 80er Jah­re, die jahr­zehn­te­lan­gen Kämp­fe unzäh­li­ger Bür­ger­initia­ti­ven, die die Grü­nen erst mög­lich mach­ten: Mer­kel kann­te die rele­van­tes­te Pro­test­be­we­gung der alten Bun­des­re­pu­blik nur aus den Kurz­mel­dun­gen im Neu­en Deutsch­land.

Man­fred Krie­ner: Die letz­ten Kur­ven der Tal­fahrt, taz, 9.3.2011

Was ist das Pro­blem? Aus­sa­gen wie die­se sind nicht nur Geät­ze gegen Mer­kel son­dern eine Belei­di­gung für jeden poli­tisch inter­es­sier­ten Ost­deut­schen. Es gab in der DDR vie­le Mög­lich­kei­ten, sich zu infor­mie­ren. Als Jugend­li­cher habe ich Zei­tun­gen aus­ge­tra­gen, das ND lasen nur die wenigs­ten. Die, mit denen man nichts zu tun haben woll­te. Die, die statt der DDR-Fah­ne (oder gar kei­ner Fah­ne = Wider­stand) zum ers­ten Mai die rote Fah­ne aus dem Fens­ter gehängt haben). Wenn man ein biss­chen was über Ange­la Mer­kel weiß, dann kann man ahnen, dass sie nicht das ND gele­sen hat, jeden­falls nicht als ein­zi­ge Tages­zei­tung. Außer­dem gab es noch ande­re Infor­ma­ti­ons­quel­len, die auch bis auf klei­ne Gebie­te in Sach­sen (dem so genann­ten Tal der Ahnungs­lo­sen) über­all ver­füg­bar waren:1 Radio und Fern­se­hen. Ange­la Mer­kel wohnt seit 1978 in Ber­lin (sie­he Wiki­pe­dia-Ein­trag) und konn­te also SFB, Rias und alle West-Fern­seh­pro­gram­me emp­fan­gen. Ab und zu kamen west­li­che Pres­se­er­zeug­nis­se über die Gren­ze. Von Ver­wand­ten oder Diplo­ma­ten rüber­ge­bracht. Die­se wur­den von vie­len, vie­len Men­schen gele­sen. Es gab in der DDR ein sehr gro­ßes Inter­es­se am Wes­ten und der poli­ti­schen Ent­wick­lung dort.

War­um schrei­be ich das alles auf? In der sel­ben Aus­ga­be der taz hat Anne Fromm über die Absatz­zah­len der West­pres­se in Ost­deutsch­land geschrieben:

2,5 Pro­zent ihrer Gesamt­auf­la­ge ver­kauft die Süd­deut­sche Zei­tung in den Neu­en Bun­des­län­dern. 3,4 Pro­zent sind es bei der FAZ, etwa 4 Pro­zent beim Spie­gel. Bei der taz sind es, das steht nicht in der Stu­die, rund 6 Prozent.

Anne Fromm: Pres­se in Ost­deutsch­land: Wer strei­chelt unse­re See­le? taz, 9.3.2021

Wor­an könn­te das nur lie­gen? Anne Fromm beschreibt es in ihrem Arti­kel sehr genau.

State­ments wie das von Man­fred Krie­ner sind Belei­di­gun­gen, wie auch Vor­schlä­ge wie der von Mar­kus Lis­ke, der – eben­falls in der taz – dazu auf­rief, nicht mehr in den Osten zu rei­sen, weil dort alle Nazis sei­en (sie­he Blog­bei­trag Rei­sen­de, mei­det Nord­rhein-West­fa­len!). Wenn das in aus­rei­chen­der Fre­quenz in Pres­se­er­zeug­nis­sen vor­kommt, hören Men­schen auf, das zu lesen. War­um soll­ten wir den Wes­sis noch Geld dafür geben, dass sie uns belei­di­gen? Legen­där ist auch das Spie­gel-Cover, nach dem die­ser Blog benannt ist (sie­he Ich will was sagen).

Sol­che Bei­trä­ge kann man brin­gen, wenn man die Ossis nicht als sei­ne Leser*innen sieht. Wahr­schein­lich ist das bei vie­len Autor*innen so. Es ver­stärkt aber das Pro­blem, das wir auf sehr vie­len Ebe­nen haben. Men­schen bezie­hen Infor­ma­tio­nen aus Face­book-Grup­pen, Tele­gram-Kanä­len und ande­ren lus­ti­gen Quel­len. Das Ergeb­nis ist Popu­lis­mus, sich ver­stär­ken­de Echo­kam­mern mit Faken­ews, Hass auf Anders­den­ken­de, die Lügen­pres­se und den Öffent­lich-Recht­li­chen Rund­funk. Es ist also auch im eige­nen Inter­es­se der klas­si­schen Medi­en, auf die Ossis zu ach­ten, die Ossis zu ach­ten. Sich zu infor­mie­ren und zu ver­su­chen, die Posi­ti­on von Min­der­hei­ten mitzudenken.

Hier ein Vor­schlag: Als die taz noch old-school pro­du­ziert wur­de, gab es Set­zer. Die­se haben mit­un­ter lus­ti­ge Kom­men­ta­re in die Tex­te der taz-Autor*innen ein­ge­baut. (sie­he … die Säz­zer-Kom­men­ta­re) So etwas brau­chen wir wie­der. Es müss­te einen Ossi vom Dienst geben, der das Recht dazu hat, zu allen Belan­gen, die den Osten betref­fen, einen (kur­zen) Kom­men­tar ein­zu­fü­gen. Mir hät­te es schon gereicht, wenn hin­ter der oben zitier­ten Pas­sa­ge gestan­den hät­te „[Was fürn Quatsch, Ossi vom Dienst]“. Es könn­te ein Pool aus Ost-Autor*innen, ‑redakteur*innen gebil­det wer­den, die sich dann Arti­kel vor der Ver­öf­fent­li­chung noch ein­mal anse­hen. Ich wür­de dafür 100€ im Monat bezah­len und man könn­te das Vor­ha­ben sicher über Crowd-Fun­ding auch noch bes­ser aus­stat­ten. Ich wür­de auch selbst mit­ar­bei­ten, falls das mög­lich ist. Dann wür­de ich mich über die Arti­kel freu­en, an denen ich etwas rum­me­ckern kann, ehm, ich mein­te, zu denen ich mit mei­nem Erfah­rungs­schatz bei­tra­gen kann. =:-) Wenn sich das nicht in den mit­un­ter hek­ti­schen Pres­se­all­tag inte­grie­ren lässt, könn­te man zumin­dest ein Kom­men­tar­recht für die Online-Arti­kel eta­blie­ren und zwar für Säz­zer-style Ein­wür­fe im Text, nicht in irgend­wel­chen Kom­men­tar­funk­tio­nen. Die­se könn­ten dann auch nach Ver­öf­fent­li­chung ein­ge­fügt und sogar mit län­ge­ren Begrün­dun­gen ver­linkt wer­den. So wür­den alle lernen.

Der grö­ße­re Wurf wäre die Ein­rich­tung einer Stif­tung, die Ossis in der Jour­na­lis­ten­aus­bil­dung unter­stützt und ihnen danach eine Start­pha­se finan­ziert, denn wie Anne Fromm dar­ge­legt hat, braucht man für Jour­na­lis­mus zur Zeit finan­zi­el­len Rück­halt in der Fami­lie und der ist im Osten meis­tens schlicht nicht gegeben. 

Reisende, meidet Nordrhein-Westfalen!

Lie­ber Mar­kus Liske,

Sie schrei­ben heu­te in der taz über einen Rant von Kurt Tuchol­sky, der sei­ne Mitbürger*innen dazu auf­ruft, nicht mehr nach Bay­ern zu rei­sen. Wegen natio­na­lis­ti­scher Ten­den­zen dort. Sie for­dern Ihre Leser*innenschaft im Titel auf: Rei­sen­de, mei­det Sach­sen! und deh­nen das im Arti­kel auf den gesam­ten Osten aus. Sati­re und sol­che Rants funk­tio­nie­ren, wenn sich Schwä­che­re gegen Stär­ke­re oder Gleich­star­ke wen­den. Wenn der klei­ne Waden­bei­ßer sich im Bein des viel grö­ße­ren Geg­ners fest­beißt und ein­fach nicht abzu­schüt­teln ist. Sie funk­tio­nie­ren nicht aus der Posi­ti­on des Stär­ke­ren. Hier nun mein Rant: Ich habe mich über die­sen Arti­kel sehr geär­gert. Sie schla­gen vor, nicht mehr in den Osten zu fah­ren, weil dort die Nazis sind. Ers­tens belei­di­gen Sie mit sol­chen Pau­scha­li­sie­run­gen 18% der Einwohner*innen der Bun­des­re­pu­blik. Zwei­tens tref­fen Sie damit eine wich­ti­ge ver­blei­ben­de Ein­nah­me­quel­le. Nach der Wen­de wur­de die DDR-Indus­trie bewusst platt­ge­macht (MDR: 2020. D‑Mark, Ein­heit, Vater­land: Das schwie­ri­ge Erbe der Treu­hand), wei­te Tei­le des Lan­des sind deindus­tria­li­siert und es blie­ben nur die blü­hen­den Land­schaf­ten, die man berei­sen kann. Was wir statt Indus­trie bekom­men haben, sind Typen wie Hoff­mann von der Wehr­sport­grup­pe Hoff­mann, den Ihr gut für uns im Knast auf­be­wahrt und dann wegen guter Füh­rung eher wie­der raus­ge­las­sen habt. Er hat dann nach der Wen­de in Kahla/Thüringen das gemacht, was zu erwar­ten war. Eure Pro­fes­so­ren (weib­li­che Endung lass ich mal weg) haben die AfD auf­ge­baut. Fast die gesam­te Füh­rungs­rie­ge die­ser Par­tei ist aus dem Wes­ten. (hier eine Zusam­men­stel­lung) Die Chefs der Ost-Lan­des­ver­bän­de alle­mal: Kal­bitz, Höcke, Till­schnei­der, Rei­chardt. Die AfD­ler mit Kon­tak­ten zu Reichsbprgern und Holocaustleugner*innen kom­men aus Hes­sen: Doris von Sayn-Witt­gen­stein. Sie wur­de bei lau­fen­dem Aus­schluss­ver­fah­ren als Lan­des­vor­sit­zen­de Schles­wig-Hol­steins wie­der gewählt. Ihr habt über die ras­sis­ti­schen Ansich­ten des Chefs des Reser­vis­ten­ver­ban­des Sach­sen geschrie­ben. Was fehl­te: der ist aus dem Wes­ten. Der Ver­fas­sungs­schutz wur­de von Maa­ßen gelei­tet, der AfD-nah ist und nir­gend­wo Rechts­extre­mis­mus sehen konn­te. Der Ver­fas­sungs­schutz war bei den NSU-Mor­den anwe­send. Es gibt rech­te Netz­wer­ke in Poli­zei, KSK und Armee. Quel­len muss ich hier nicht auf­füh­ren, denn alles, was ich dar­über weiß, weiß ich aus der taz. Ihr müss­tet es also auch wis­sen. (Vie­len Dank übri­gens für die tol­len Arti­kel!). Ver­fas­sungs­schutz, Jus­tiz und Poli­zei wur­den nach der Wen­de vom Wes­ten in der ehe­ma­li­gen DDR instal­liert. In den Lei­tungs­po­si­tio­nen gibt es noch heu­te kei­ne oder sehr weni­ge Ossis (laut Stef­fen Mau, Lüt­ten Klein sind nur 13,3% der Richter*innen im Osten Ossis.). Wie Ihr selbst schreibt, wur­den die Täter von Con­ne­witz, Neo-Nazis, die zu Hun­der­ten kamen und einen (lin­ken) Stadt­teil platt gemacht haben, auch fünf Jah­re nach dem Vor­fall nicht bestraft (taz: 11.01.2021, Schlep­pen­de Auf­klä­rung). Einer der Täter macht gera­de sein Jura-Refe­ren­da­ri­at … Kürz­lich hat­tet Ihr einen Arti­kel über einen Brand­an­schlag auf eine Flücht­lings­heim in Lübeck 1995 (taz: Hoyers­wer­da, Solin­gen, Lübeck!). Die mut­maß­li­chen Täter sind bekannt, die Bewei­se erdrü­ckend, ange­klagt wur­de ein Geflüch­te­ter. Ein Jus­tiz­skan­dal ohne­glei­chen. Die Ver­tu­schen­den in Poli­zei und Gerich­ten sind aus dem Wes­ten. Das Fazit, das man zie­hen kann und muss, ist, dass das gan­ze Land ein ein­zi­ger brau­ner Sumpf ist. Ent­spre­chend besetz­te Stel­len in Poli­zei und Jus­tiz im Osten berei­ten den Boden für die Saat der AfD und der Neonazi-Netzwerke.

Wenn Sie nun vor­schla­gen, nicht mehr in den Osten zu rei­sen, ist das selbst­ge­recht und bil­lig. Und es wür­de nicht zur Lösung des Pro­blems bei­tra­gen, son­dern es ver­schär­fen. Nach der Wen­de wur­den alle Print­me­di­en vom Wes­ten über­nom­men, Wes­sis schrei­ben über Ossis. Von oben her­ab, pau­scha­li­sie­rend, so wie Sie in die­sem Arti­kel. Oft ohne Sach­kennt­nis. Das hat dazu geführt, dass vie­le sich ein­fach abge­wen­det haben und die West-Medi­en (#Lügen­pres­se) nicht mehr rezi­pie­ren. Die­se Lücke kann dann die AfD mit ent­spre­chen­den Alter­na­tiv­an­ge­bo­ten nut­zen und das hat sie auch getan. Ihr (die West­me­di­en) habt die Ossis ver­lo­ren (jeden­falls den AfD-wäh­len­den Teil der Ost­deut­schen). Es nützt nichts, wenn die Tages­schau oder irgend­wel­che Print­me­di­en über die Coro­na-Pan­de­mie berich­ten, denn das kommt an den ent­spre­chen­den Stel­len nicht mehr an. Mit Ver­schwö­rungs­the­sen, Popu­lis­mus und Ras­sis­mus fin­den AfD und fri­ends offe­ne Ohren. In der Wiki­pe­dia gibt es eine inter­es­san­te Sei­te zur Dis­kri­mi­nie­rung von Ost­deut­schen, auf der ent­spre­chen­de Stu­di­en zum White-Trash in den USA und zu den Ent­spre­chun­gen im Osten ver­linkt sind. Men­schen, denen es nicht gut geht, tre­ten nach unten. Men­schen, die sich unge­recht behan­delt füh­len, begeh­ren auf. Ihr Arti­kel trägt da nicht zu einer Lösung bei. Im Gegenteil.

Stel­len Sie sich ein­fach vor, es wür­de jemand einen Arti­kel mit der Über­schrift Rei­sen­de, mei­det Nord­rhein-West­fa­len! schrei­ben, weil es in NRW gan­ze Stadt­tei­le gibt, in denen nur Nazis woh­nen (Doku­men­ta­ti­on: 28.09.2020. pro sie­ben spe­zi­al: Rechts.Deutsch.Radikal, wiki­pe­dia: Dort­mund Dorst­feld). Lächer­lich, oder? Es funk­tio­niert nicht. Es funk­tio­niert nur anders­rum, aus einer Posi­ti­on der Stärke.

Ihr Arti­kel ist von der­sel­ben Art wie der vor eini­gen Jahr­zehn­ten eben­falls in der taz erschie­ne­ne von Eber­hard Sei­del-Pie­len, in dem er vor­schlug, dem Osten die Mit­tel zu strei­chen, bis die Ossis Demo­kra­tie ver­stan­den hät­ten: pau­scha­li­sier­dend, ver­let­zend, arro­gant und mies. Lie­ber Herr Lis­ke, wenn Sie sich in den ver­gan­gen Tagen wie Tuchol­sky gefühlt haben soll­ten, kann ich Ihnen nur sagen: Sie sind ganz weit weg davon. Ganz weit.

PS: Beim Schrei­ben von E‑Mails gibt es ja mit­un­ter Pro­ble­me, weil die­se viel här­ter aus­fal­len als das, was man Per­so­nen ins Gesicht sagen wür­de. Bei Zei­tungs­ar­ti­keln ist das wahr­schein­lich so ähn­lich. Viel­leicht stel­len Sie sich ja bei Ihrem nächs­ten Arti­kel vor, dass Sie mit einem 50jährigen Ossi in einer Knei­pe sit­zen und die­sem erzäh­len, was Sie dem­nächst über ihn schrei­ben wer­den. Ich wür­de mich auch als Test­per­son zur Ver­fü­gung stel­len. Das Ange­bot gilt auch für ande­re taz-Autor*innen.

Nee? Wol­len Sie nicht? Und ist Ihnen auch egal, was die Ossis so den­ken? Dann weiß ich nicht mehr wei­ter, dann ist die­ses Land verloren. 

Quellen

Klop­fer, Inge & Jobst Knig­ge, 2020. D‑Mark, Ein­heit, Vater­land: Das schwie­ri­ge Erbe der Treu­hand. mdr. (https://www.youtube.com/watch?v=6Ws4rfCBF4c)

Der titel-fixierte Ossi?

Simo­ne Schmol­lack, die ich sehr schät­ze und die vie­le wich­ti­ge und rich­ti­ge Arti­kel über den Osten geschrie­ben hat, hat heu­te einen Bei­trag in der taz über pro­mo­vier­te Sta­si-Mit­ar­bei­te­rIn­nen und über Jahns Vor­schlag, Dok­tor­ti­tel, die an der Sta­si-Hoch­schu­le in Pots­dam erwor­ben wur­den, statt als Dr. Jur. als Dr. Stas ein­zu­ord­nen. Ich stim­me ins­ge­samt in allem mit Simo­ne Schmol­lack über­ein, nur eine klei­ne Text­stel­le hat mich geärgert: 

Denn so ein Dok­tor­ti­tel ver­zückt, das hat er schon immer getan, beson­ders im obrig­keits- und titel­ori­en­tie­ren Osten.

Obrig­keits­ori­en­tiert? Weiß ich nicht. Vie­le Men­schen haben sich ein­fach aus­ge­klinkt und sich ins Pri­va­te zurück­ge­zo­gen. Titel­ori­en­tiert war der Osten sicher nicht. Im Wes­ten hat­te und hat ein Pro­fes­sor, Offi­zier, Arzt viel höhe­res Anse­hen als es die­se Beru­fe im Osten je hat­ten. Ich wür­de sogar soweit gehen, den Osten als intel­lek­tu­el­len­feind­lich ein­zu­stu­fen. Man hat es tun­lichst ver­mie­den, sei­nen Dok­tor­ti­tel in den Per­so­nal­aus­weis zu schrei­ben, weil einem das bei Kon­trol­len eher scha­den als nüt­zen konn­te. Sozia­le Hier­ar­chien waren in der DDR eher flach. Intel­lek­tu­el­le waren im All­tag zu nichts zu gebrau­chen, viel wich­ti­ger waren Bezie­hun­gen zu Men­schen, die begehr­te Waren ver­kauf­ten oder zu Hand­wer­kern. Hand­wer­ke­rIn­nen ver­dien­ten viel, viel mehr Geld als Wis­sen­schaft­le­rIn­nen und waren auch ent­spre­chend ange­se­hen. Zu stu­die­ren bedeu­te­te, dass man erst mal zur Armee muss­te und dann fünf Jah­re lang kein Geld ver­dien­te. Irgend­wann kam man irgend­wo an, aber die Men­schen mit Lehr­be­ruf ver­dien­ten schon jah­re­lang. Schön blöd. 

Nach­trag vom 26.01.2020: Ich möch­te mei­nen Blog­post mit die­sem Zitat aus einem Buch de Sozio­lo­gen Prof. Dr. Stef­fen Mau stär­ken. (Ich weiß, das ist lustig …):

In unse­rer Klas­se blick­te die gro­ße Mehr­heit, die eine Berufs­aus­bil­dung anstreb­te, ver­ächt­lich auf die »Stre­ber«, und es war schwer zu ver­mit­teln, war­um man wei­ter die Schul­bank drü­cken soll­te, wenn es doch dar­um ging, schnell Geld zu ver­die­nen und auf eige­nen Füßen zu ste­hen. Ein Hoch­schul­stu­di­um erschien nicht allen als Gip­fel des Glücks, was sicher­lich auch damit zu tun hat­te, dass die damit ver­bun­de­nen Ein­kom­mens­ge­win­ne mar­gi­nal blie­ben (ein Argu­ment, das noch stär­ker zu Buche schlägt, wenn man die län­ge­re Bil­dungs­pha­se einrechnet).

Stef­fen Mau. 2019. Lüt­ten Klein, Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung, BD 10490 bzw. Suhr­kamp.