Prof. Dr. Heide Wegener hat auf meinen Kommentar zu ihrem WeLT-Artikel geantwortet und ich diskutiere hier einige Punkte.
Ost-Frauen erklären mir, sie hätten „das nicht nötig“, das = die Formen der Gendersprache, und ich denke, sie haben recht. Ich bewundere sie dafür, dass sie viel früher als die im Westen nicht nur Friseur, sondern auch Mechaniker lernten und nicht nur Pädagogik und Kunstgeschichte studierten, sondern auch Maschinenbau und Physik. Und anstatt den Kindern Formen wie dem/*der Patient*in beizubringen, sollten die Lehrer sie besser dazu animieren, auch die MINT-Fächer zu studieren.
Ja, ganz genau so habe ich auch Jahrzente lang gedacht. Das ist ja auch in meinem ersten Blog-Post zu dem Thema (Gendern, arbeiten und der Osten) beschrieben. Nach der Wende haben die Ostfrauen die Westfrauen überhaupt nicht verstanden, weil sie deren Probleme überhaupt nicht hatten. Wie Du sagst, liegt das eigentliche Problem viel tiefer, das bedeutet aber nicht, dass man nicht das, was man tun kann, schon machen kann. Ich kann nicht für mehr Kindergartenplätze sorgen, aber ich kann weiblichen und diversen Student*innen1 signalisieren, dass sie wertgeschätzt werden. (Einige, sehr wenige, kann ich auch einstellen. Das habe ich auch getan. Auch flexible Lösungen mit Kinderauszeiten gefunden usw. Aber darüber hinaus kann man eben noch Gendern.)
Der angeführte Test prüft musician, also Formen im Singular – und damit ist er völlig wertlos, was generische Lesart angeht, denn im Singular sind die Nomen nur in amtlichen Texten generisch, sonst fast nie (Mit dem Abitur erwirbt der Schüler…). Das zeigen auch die Ergebnisse des angeführten Tests S. 3 : „Es ergibt sich, dass Singularformen beider Wortklassen zu 83 Prozent als „männlich“, Pluralformen aber zu 97 Prozent als „neutral“ bewertet werden. Im Plural gelten Berufsbezeichnungen zu 94, Rollenbezeichnungen sogar zu 99 Prozent als „neutral““. Konsequenz: Im Singular muss man die movierte Form benutzen. Deshalb lässt sich auch der Chirurgentext nicht aufs Deutsche übertragen. Niemand würde eine Chirurgin (im referenziellen Modus!) mit Chirurg bezeichnen, nicht mal Ostfrauen. Die unterscheiden sehr genau zwischen referenzieller und generischer Lesart: „Ich bin / sie ist Arzt – aber: Meine Ärztin meint…
Man kann den Text übertragen: „Einer der Chirurgen soll operieren, sagt aber: ‚Ich kann nicht, das Kind ist mein Sohn.’“ Ja, aber dann ist es Plural, wie Du sagst.
Aber auch die Tests mit Pluralformen bestätigen nicht die Behauptung von Feministen, generische Maskulina würden eher spezifisch als ‚männlich‘ verstanden, weder die originalen Tests von 2001 oder 2008 noch die von Schunack/Binanzer durchgeführten Untersuchungen, s. ZS 2022. Es gibt keinen Grund, das GM zu meiden. Im Gegenteil: Die beste Art, die Kernbedeutung von Berufs-und Rollenbezeichnungen auszudrücken, ist die unmarkierte Grundform, Freund, Arzt, Virologe. Da diese Formen kein Merkmal für Geschlecht enthalten, unterspezifiziert also sind, schließen sie alle Geschlechter ein und sind dadurch inklusiv. Auch das Suffix der Nomina agentis -er ist kein Merkmal für ‚männlich‘, sondern für den Agens, im Gegensatz zu -ling für den Patiens, Lehrer — Lehrling. Wäre es anders, dann hätten wir in Lehr-er-in zwei sich gegenseitig ausschließende Morpheme hintereinander, etwas, was es m.W. in natürlichen Sprachen nicht gibt.
Das sind alles kluge Gedanken. Du und andere Linguist*innen können sich jetzt bis an ihr Lebensende damit beschäftigen, Laien zu erklären, warum die ungegenderten Formen perfekt funktioniert haben. Es wird aber dennoch Menschen geben, die gendern, weil sie einen Bedarf dafür haben. Siehe unten zur Pragmatik.
Ich bezweifle auch, ob nicht-binäre oder homosexuelle oder Trans-Menschen wirklich den ständigen Hinweis auf ihr Anderssein wollen. Wollen die nicht vielleicht lieber einfach nur dazugehören? Mit *Formen im Singular (die Autorin A und die Regisseur*in B) werden (nicht)binäre Menschen geradezu geoutet. Wollen die das überhaupt?
Das ist ein interessanter Punkt. Ich denke, dass auch gerade in der queeren Szene viel gegendert wird. Prof. Horst Simon, soweit ich weiß, ein glücklich verpartnerter cis-Mann, spricht von sich als Linguist*in. Mit dieser etwas extremen Art wäre es dann „die Autor*in A und die Regisseur*in B“. Junge Menschen stellen sich in Gesprächsrunden immer vor und geben zusätzlich zu ihrem Namen ihr bevorzugtes Pronomen an. Ich war neulich bei einem Treffen älterer Menschen (50–70) und eine männlich gelesene Person stellte sich mit Namen und Pronomen sie vor. Damit wussten alle Bescheid. Auf alle anderen männlich gelesenen Personen wird mit er verwiesen. Es ist ihre Wahl, wie offen sie leben wollen.
Es geht nicht nur um „Unterbrechung und minimale Verzögerung“, die massive Ablehnung durch die sprechende Mehrheit beruht u.a. auf der übertriebenen, da inhaltlich nicht gerechtfertigten Explizität der Genderformen. Etwa stellt die Paarform Schüler und Schülerinnen für Sprecher, für die ‚Schule‘ ganz selbstverständlich Jungen und Mädchen einschließt (in Deutschland, nicht in Afghanistan), keinen kommunikativen Nutzen, sondern eine Zumutung dar. Für sie ist die Information, dass neben Schülern auch Schülerinnen …, überinformativ und führt deshalb zu Verdruss. Sie verstößt gegen die Gricesche Konversationsmaxime der Relevanz, vgl. Grice (1975:45): „Do not make your contribution more informative than is required.“ Geglückte Kommunikation setzt voraus, dass die Information eine Informationslücke schließt, dass beim Gesprächspartner eine Lücke, Unwissenheit also besteht. Eine Information, die keine Lücke schließt, ist nicht nur überflüssig, sie ist beleidigend. Denn so dumm ist der Hörer nicht und will auch nicht so behandelt werden.
Ja, Verdruss. Das hatte ich ja gesagt (Das leidige Thema: Gendern). Das Gendern verstößt nicht gegen die Maxime der Relevanz, denn es geht den Sprecher*innen genau um diesen Effekt. Mit dem Umweg, der längeren Form wird etwas ausgesagt. Nämlich: „Ich, die Sprecher*in, gendere, weil ich möchte, dass Frauen und Trans-Personen explizit erwähnt werden.“ Es ist ein klassisches Form-Bedeutungspaar mit einer erweiterten Bedeutung und diese, dieses Das-immer-wieder-unter-die-Nase-gerieben-Bekommen nervt.
Wenn es darum geht, alle anzusprechen, wie oft behauptet, so tun wir das doch schon lange, indem wir Sehr geehrte Damen und Herren oder liebe Zuschauer und Zuschauerinnen sagen.
Ja. Wenn wir es sagen. Ich sage es manchmal in Lehrveranstaltungen statt Glottalverschluss. Dann fehlen die Transpersonen.
Wer so argumentiert und damit „geschlechtergerechte“ Sprache allgemein rechtfertigt, verkennt den Unterschied der drei Funktionen des Sprachzeichens (Organonmodell):
In der Anrede ist das Sprachzeichen Signal und erfüllt die Appellfunktion. Weit überwiegend, wenn wir über jn reden, ist es aber Symbol und erfüllt die Darstellungsfunktion. Schließlich ist es Symptom und erfüllt dann die Ausdrucksfunktion, sagt etwas über den Sprecher aus. Und in den meisten Fällen scheint mir das die eigentliche Motivation zu sein: Gendern dient der Imagepflege, es soll den Sprecher als woke, als progressiv ausweisen. Es ist eine Mode, und Moden sind endlich. Wer erinnert sich noch an das Pronomen “frau”?
Das ist ein Aspekt. Natürlich sagt meine Sprache auch etwas über mich aus.
Ich erinnere mich noch an „frau“. In der taz kommt es noch ab und zu vor. Auch sehr schön ist „maus“. Da gibt es aber nur eine Autorin, die das benutzt. Bzw. eine Autor*in. =:-)
Natürlicher Sprachwandel geht anders und hat andere Ziele, noch nie haben kompliziertere Formen die einfacheren verdrängt. Hier liegt Sprachlenkung, der Versuch einer Sprachlenkung vor.
Was ist, wenn Sprachlenkung von vielen Menschen angenommen wird und dann einfach Eingang in die Sprache findet? Esperanto war eine Plansprache. Künstlich. Inzwischen ist es eine lebendige Sprache. Und ich finde „Lehrer“ in Deinem ersten Zitat inzwischen schon komisch. Man gewöhnt sich an „Lehrer*innen“ und dann sind die „Lehrer“ eben nur noch männliche Personen. Das ist Sprachwandel.
Ob er dauert, bis die Frauen gleichberechtigt sind? In anderen Sprachen hat man die Suffixe längst abgeschafft, schon M. Thatcher wollte Prime Minister sein, nicht Ministress.
Oh, je. Thatcher als Beispiel für irgendwas zu benutzen, ist so, als würde man in der WeLT veröffentlichen.
Sind die Briten frauenfeindlich, sind sie noch stärker als wir unterdrückt vom Patriarchat? Oder sind sie im Gegenteil emanzipierter als wir?
Ich habe 1992 in Edinburgh studiert. Ein Dozent, den ich irgendwas zur Verwendung der Pronomina gefragt hatte, hat mir erklärt, dass manche auch das Pronomen ‘they’ verwenden. Ich habe das damals nicht verstanden, wusste es nicht einzuordnen. Aber diese Diskussionen gibt es auch in Großbritannien schon sehr lange. Insgesamt fällt das nicht so auf, weil das Englische eben viel weniger relevante grammatisch markierte Unterschiede hat.
Die „geschlechtergerechten“ Formen werden als diskriminierend empfunden: W. Goldberg „I’m an actor , I can play anything“, Cate Blanchett lehnt actress ab und besteht sogar als Dirigentin im Film auf der Anrede Maestro, nicht Maestra. Nele Pollatschek und Sophie Rois lehnen die deutschen Formen ab.
Ich denke, das sollte jede*r machen wie er/sie will. Horst ist eben Linguist*in, ich bin Linguist und Du Linguistin. Prima. Es gibt nur dann ein Problem, wenn jemand etwas vorschreiben will. Das sollte es nicht geben.
In der Schweiz, in der zunächst mehr gegendert wurde als in Deutschland, was verständlich ist, hatten dort die Frauen doch erst 1971 das Wahlrecht erlangt, wird jetzt eine “Renaissance des Generischen Maskulinums“ beobachtet, bei Studentinnen unter 25 (s. J. Schröter, A. Linke, N. Bubenhofer 2012: „Ich als Linguist“. Eine empirische Studie zur Einschätzung und Verwendung des Generischen Maskulinums, in: Susanne Günthner u.a. Genderlinguistik, Sprachliche Konstruktion von Geschlechtsidentität, Berlin: de Gruyter, 359–379, DOI :10.1515/9783110272901.359
OK. Siehe oben. Soll jeder machen, wie sie will. (Das war jetzt lustig, oder? =;-)
Ich habe keinen Zugang zu Studentinnen mehr, kann das aber durch einzelne Teenager bestätigen. Die finden Gendern doof und karikieren es durch die Kürzel die SuS und die LuL und dann weiter zu die Sus und die Lul.
Nun ja. SuS wird von Lehrer*innen bzw. an den Universitäten in der Lehramtsausbildung auch verwendet. Ist eine übliche Abkürzung. Ich habe auch noch mal bei Prof. Beate Lütke nachgefragt, die in der Lehrer*innenausbildung arbeitet. Hier ihre Antwort zu SuS und LuL und ihrer Sicht auf das Gendern:
SuS und LuL verwenden zumeist Studierende in Unterrichtsentwürfen, weil sie in den Planungstabellen wenig Platz fürs Ausschreiben haben. Diese Abkürzungen tauchen also eher im Rahmen schulpraktischer Materialien für den Einsatz in Schulen auf. In der wissenschaftlichen Kommunikation werden sie nicht verwendet, bei den Grundschulkolleginnen ist mir das bisher auch nicht aufgefallen. Als Referendarin habe ich ‘SuS’ auch in meinen tabellarischen Unterrichtsentwürfen verwendet, weil es darin so vorgegeben war; das ist aber 20 Jahre her.
Beate Lütke, p. M. 2023.
Ich selbst gendere flexibel und verwende Genderformen wie Lehrkräfte, Schüler*innen und setze in der Doppelform in die Kasus (‘bei Schülern und Schülerinnen’). Ich mache mir keine Sorgen, dass die deutsche Sprache durchs Gendern beschädigt wird. Mein Lesefluss wird dadurch nicht gestört :). Mir ist wichtig, dass sich in meinen Uni-Kursen alle einbezogen und angesprochen fühlen. Eine queere Person sagte mir einmal in meiner Sprachbildungsvorlesung, dass sie sich durch das Gender-* erstmalig in Lehrveranstaltungen einbezogen und angesprochen fühle. Das hat mich veranlasst, dazu eine Umfrage zu machen. Die große Mehrheit der Gruppe hat sich für das * ausgesprochen.
Außerdem gibt es Kollateralschäden. Die schon erwähnten Formen dem*der Arzt*in (in Papieren der Charité massenhaft) machen die deutsche Sprache nun wirklich nicht leichter für die (DaF)Lerner.
Ja. Ich schreibe immer die Ärzt*in. Dann hat man sich die Disjunktion beim Artikel gespart. Formal ist das für Grammatiker*innen natürlich die Hölle, weil es keine Kongruenz zwischen Artikel und Nomen mehr gibt, aber dann müssen sich diejenigen, die das modellieren wollen, eben etwas dafür ausdenken.
Und dieselben Leute, die so viel von Differenzierung reden, opfern die durchaus sinnvolle Differenzierung zwischen der Bezeichnung für eine aktuelle Tätigkeit und der für die Rolle: wie kann ich, ohne Generisches Maskulinum, sagen, dass “nicht alle Zuhörer auch Zuhörende waren“? Gilt das Schild “Radfahrer absteigen” nicht auch für mich? Radfahrer bin ich auch dann, wenn ich mein Rad schiebe, aber Radfahrende eben nicht mehr. Aber nach dem adfc Berlin sind sogar Getötete noch Radfahrende, nicht nur an Ostern, dem Fest der Auferstehung! Es ist grotesk. Und wenn Linguisten solche Formen empfehlen, ist das beschämend.
Ja. Das finde ich nicht gut und mache ich auch nicht. Das Beispiel ist schon älter und von Max Goldt: „In der Lobby lagen tote Studierende.“ Damit macht man das Partizip mehrdeutig. Das würde ich nicht so machen, aber wenn es sich durchsetzen würde, dann wäre es eben so. Ich muss es ja nicht aktiv so verwenden, denn die Form „Student*innen“ gibt es ja auch noch. Andererseits wird Lehrer dann eben eindeutig mit Bezug auf männlich gelesene Personen.
Beate Lütke hat mich auf einen Text von Helmuth Feilke (2022) aufmerksam gemacht, der im Wesentlichen genau die Punkte bringt, die ich hier auch vertreten habe, nur besser formuliert. Der Text weist im Vorübergehen auch auf ein lustiges neues Problem hin, das sich aus der Verwendung der Partizipformen ergibt: Im Singular gibt es einen Unterschied in der Flexion: ein Studierender vs. eine Studierende.
Soll jetzt dieser Pro-Gendern-Text mit einer Kritik an einer der verwendeten Formen enden? Nein. Er endet mit einem Ja. Ja, zum flexiblen Gendern. Wie das genau geht, hat Helmut Feilke gut beschrieben.
Quellen
Feilke, Helmuth. 2022. Gendern mit Grips statt Schreiben in Gips: Praktische Argumente für ein flexibles Gendern. Deutsch. 1–7. https://www.friedrich-verlag.de/fileadmin/fachwelten/deutsch/ blog-downloads/Gendern_Essay-Fassung.pdf.