Prof. (em) Dr. Heide Wegener schreibt Artikel über das Gendern in der WeLT und schickt sie dann an Kolleg*innen. Ich habe auf diesem Blog schon öfter über das Gendern geschrieben. Obwohl ich der Meinung bin, dass Fragen der Gleichberechtigung letztendlich Fragen der ökonomischen Abhängigkeit sind, gendere ich inzwischen auch (Gendern, arbeiten und der Osten). Da Heide Wegener in ihren Artikeln auch immer wieder Ost-Themen anspricht (z.B. den Gender Pay-Gap in Ost und West), kann ich nicht anders als die Artikel hier zu kommentieren.
Vorweg: Der Beitrag Warum Maria Stuart nicht mehr „König“ sein darf enthält zu einem großen Teil Argumente, die in Ihrem ersten Beitrag Wo gegendert wird, ist die Lohnlücke größer bereits enthalten waren. Und das trotz meiner Diskussion mit ihr (Post 1, Post 2). Heide Wegener muss sich also eine gewisse Faktenresistenz vorwerfen lassen.
Im jüngsten Aufsatz diskutiert Heide Wegener das Gendern an Theatern. Hierzu einige Anmerkungen:
noch dazu mit Formen, die nach geltender Rechtschreibung falsch sind,
Die gegenderten Formen sind nicht falsch. Es gibt dafür nur noch keine Normierung. Der Rat für Deutsche Rechtschreibung hat in seiner Äußerung dazu festgehalten, dass er eine Normierung zum jetzigen Zeitpunkt nicht für sinnvoll hält.
Der Rat hat vor diesem Hintergrund die Aufnahme von Asterisk („Gender-Stern“), Unterstrich („Gender-Gap“), Doppelpunkt oder anderen verkürzten Formen zur Kennzeichnung mehrgeschlechtlicher Bezeichnungen im Wortinnern in das Amtliche Regelwerk der deutschen Rechtschreibung zu diesem Zeitpunkt nicht empfohlen.
Geschlechtergerechte Schreibung: Empfehlungen vom 26.03.2021
Hier kann man sich das von einem Volljuristen erklärt noch mal genau durchlesen: Kolter (2023). Noch mal zum Verständnis dieser Aussage: Wenn etwas nicht normiert ist, gibt es einfach keine offizielle Regel für die Schreibung. Zum Beispiel ist das Jugendwort des Jahres 2021 sus in allen Ausgaben des Dudens vor 2021 nicht enthalten. Wie auch? Dennoch gibt es natürlich Konventionen für die Schreibung. Aber keine verbindliche Reglung. Vielleicht wird/wurde es in spätere Auflagen aufgenommen. Genauso könnte eine Normierung für „mehrgeschlechtliche Bezeichnungen“ eines Tages erfolgen.
Und jetzt zum Kulturteil:
Bedauerlich ist, dass der Westen 1989 nicht wenigstens in der Sprache dem Osten gefolgt ist. Das Gegenteil ist der Fall, wie folgende Belege zeigen.
Die Theater in Berlin Mitte stehen der Charlottenburger Schaubühne in puncto Gendern in nichts nach, sie unterscheiden sich lediglich durch das graphische Zeichen mitten im Wort, statt des Unterstrichs _ wird ein Doppelpunkt : eingefügt und wir erhalten am Deutschen Theater Aktivist:innen, Mechaniker:innen, Tüftler:innen, Künstler:innen, sogar in Zusammensetzungen, Kurator:innenteam, Autor:innentheatertage bzw am BE Zuschauer:innen, Freund:innen, und sogar Gäst:innen wird wiederbelebt.
Das ist ein lustiges Statement und es ist genauso schräg wie die Ausführungen zum Gender-Pay-Gap. Man kann in Wikipedia leicht eine Liste der Intendanten (keine weiter Endung nötig) des Deutschen Theaters und des Berliner Ensembles finden:
- 1984 – 1991: Dieter Mann
- 1991 – 2001: Thomas Langhoff (Zürich)
- 2001 – 2008: Bernd Wilms (Solingen)
- 2008 – 2009: Oliver Reese (Schloß Neuhaus bei Paderborn)
- seit 2009: Ulrich Khuon (Stuttgart)
- 1992–1993: Matthias Langhoff, Fritz Marquardt, Heiner Müller, Peter Palitzsch, Peter Zadek
- 1993–1994: Fritz Marquardt, Heiner Müller, Peter Palitzsch, Peter Zadek
- 1995: Heiner Müller
- 1996: Martin Wuttke (Gelsenkirchen)
- 1997–1999: Stephan Suschke (Weimar)
- 1999–2017: Claus Peymann (Bremen)
- seit 2017: Oliver Reese (Schloß Neuhaus bei Paderborn)
Die Volksbühne und das Maxim-Gorki-Theater hat Heide Wegener nicht erwähnt. Vielleicht gendern die nicht oder sie hatte kein Programmheft. Der Vollständigkeit halber hier auch die Intendant*innen:
Volksbühne:
- 1990–1991: Winfried Wagner, Marion van de Kamp, Annegret Hahn
- 1991–1992: Annegret Hahn
- 1992–2017: Frank Castorf
- 2017–2018: Chris Dercon (Lier, Belgien)
- 2021/2022: René Pollesch (Dorheim/Friedberg, Hessen)
- 1994–2001: Bernd Wilms (Solingen)
- 2001–2006: Volker Hesse (Hunsrück)
- 2006–2013: Armin Petras (Meschede, Sauerland)
- 2013–2019: Shermin Langhoff (Şermin Özel in Bursa, Türkei) und Jens Hillje (in Italien und Niederbayern aufgewachsen)
- seit 2019: Shermin Langhoff (Şermin Özel in Bursa, Türkei)
Seit dem Ausscheiden der Ossis, sind die Posten am BE und DT mit Ausnahme von Stephan Suschke alle von West-Männern besetzt gewesen. Am Gorki-Theater hat es immerhin eine Frau geschafft. Auch die ist nicht aus dem Osten. Man muss also bei Ost-West-Entwicklungen ein bisschen genauer hingucken. Was man auch herausbekommen müsste, bevor man solche Statements veröffentlicht, ist, wie das in den Häusern geregelt ist. Kann jeder schreiben, wie er bzw. sie will oder gibt es Hausregeln für das Gendern? Das machte einen gewaltigen Unterschied. Dazu unten mehr.
Wegener wiederholt ihr Argument aus dem früheren Aufsatz:
Etwa stellt die Paarform Schüler und Schülerinnen für Sprecher, für die „Schule“ ganz selbstverständlich Jungen und Mädchen einschließt (in Deutschland, nicht in Afghanistan!), keinen kommunikativen Nutzen, sondern eine Zumutung dar. Für sie ist die Information, dass neben Schülern auch Schülerinnen gemeint sind, überinformativ und führt deshalb zu Verdruss. Denn sie verstößt gegen Grices Zweite Konversationsmaxime der Quantität: „Do not make your contribution more informative than is required.“
Das Argument ist aber leider falsch. Für den konkreten Fall mag es zutreffend sein, dass keine neue Information in Bezug auf die Gruppenzusammensetzung mitgeliefert wird. Nur ist Sprache eben ein System und wenn ansonsten gegendert wird bzw. Paarformeln verwendet werden, dann wäre hier das Weglassen dieser längeren markierten Form ein Signal. Es ist alles nicht so einfach mit der Pragmatik.
Geglückte Kommunikation setzt voraus, dass die Information eine Informationslücke schließt, dass beim Gesprächspartner eine Lücke, Unwissenheit also besteht. Eine Information, die keine Lücke schließt, ist nicht nur überflüssig, sie ist beleidigend. Denn so dumm ist der Hörer nicht und will auch nicht so behandelt werden. Schon gar nicht mit moralisch erhobenem Zeigefinger.
Bei Kommunikation geht es nicht unbedingt um das Schließen von Informationslücken. Sprache und Sprechen hat viele Funktionen. Das müsste Heide Wegener auch wissen. Eine der Funktionen des Genderns nennt sie ja in ihrem Artikel selbst: „Gendern dient der Imagepflege, es soll den Sprecher als woke, als progressiv ausweisen“.
Woher weiß Heide Wegener, was Hörer*innen wollen? Das Gendern ist eine Sprachvariante und was Gendern-Gegner*innen tun, ist, Menschen, die anders sprechen, zu erklären, warum sie das, was sie tun, falsch finden. Das ist irgendwie ein interessanter Turn in der modernen Sprachwissenschaft, denn einige meiner Held*innen erklären nun, dass das, was Sprecher*innen tun, gar nicht ginge, denn es sei gegen das System der Sprache. Gegen die Theorien, die sie Zeit ihres Lebens ausgearbeitet haben. All die großartigen Grammatiker*innen wie Bierwisch, Eisenberg, Klein, Wegener, Wunderlich machen einen entscheidenden Fehler: Sie schreiben anderen Menschen vor, was sie zu tun oder zu lassen haben. Das ist preskriptive, normative Linguistik. Wir waren uns aber eigentlich immer einig, dass wir deskriptive Linguistik machen. Das heißt, wir beschreiben das, was Menschen tun. Die Graphematik beschäftigt sich mit Schreibvarianten. Mit dem, was Menschen tun. In Blogs und Foren. Die Rechtschreibfehler von heute sind die Orthographie von morgen. Genauso müssen wir als Syntaktiker*innen unsere Theorien ändern, wenn sie nicht mehr passen.
Ob die deutsche Sprache durch Genderformen ernsthaft Schaden nimmt, kann man erst dann beurteilen.
Das kann doch nicht sein. Das ist beste deutsche Sprachpflegerverein-Schreibe. Haben wir diese Leute nicht immer belächelt? Wie kann denn die Sprache Schaden nehmen? Was soll das denn bedeuten? Weil Menschen anderes sprechen, geht die Sprache kaputt? Dann sprechen sie eben anders. Wenn es irgendwann nicht mehr passt, wird es abgebaut oder es bilden sich andere, neue Formen. Nur weil es so ist, wie wir es nicht gewöhnt sind, so, dass es nicht zu unseren Theorien passt, ist es noch lange nicht kaputt.
Gendern ist eine Mode, und Moden sind endlich. […] Auch diese Mode wird, wie alle Moden, irgendwann untergehen.
Aber, liebe Heide, dann entspann Dich doch. Genieße Deinen Lebensabend und warte, bis es vorbei ist. Ich verstehe die Aufregung nicht.
Dein Unbehagen an der Verwendung des Partizips teile ich. Aber man kann ja auf andere Weise gendern. Auch diese Textteile sind Wiederholungen aus dem ersten Aufsatz und die Radfahrenden kommen hier wieder vor. Deshalb hier ein Kommentar dazu:
Dieselben Leute, die so viel von Differenzierung reden, opfern die durchaus sinnvolle Differenzierung zwischen der Bezeichnung für eine aktuelle Tätigkeit und der für die Rolle: wie kann ich, ohne generisches Maskulinum, noch sagen, dass „nicht alle Zuhörer auch Zuhörende waren“? Gilt das Schild „Radfahrer absteigen“ nicht auch für mich? Radfahrer bin ich auch dann, wenn ich mein Rad schiebe, aber Radfahrende eben nicht.
Das Argument verstehe ich nicht. Wenn Du Dein Rad schiebst, musst Du nicht mehr absteigen. Vielleicht wäre rollern hier besser für die Argumentation: Auch wenn Du nicht radfährst, sollst Du nicht auf dem Rad sitzend durch die Fußgängerzone rollern. Also „Radfahrer*innen absteigen!“. Problem ist hier die Länge. Bis man das gelesen hat, ist man schon vorbei geradelt. „Absteigen!“ mit Fahrradverbotszeichen ist eigentlich ausreichend.
Auch in den Newslettern und Programmheften der Theater schaffen es einige Wörter, in der Grundform zu überleben, beim BE beispielsweise Regisseure, Migranten, Juden, beim DT sogar die Bürger. Absichtlich oder versehentlich? Ausschließen kann man wohl, dass mit diesen Formen nur Männer gemeint sind.
Das ist auch ein interessantes Argumentationsmuster, das ich aus der Klimadiskussion kenne: Die Gegener*innen von XY finden irgendwo bei Aktivist*innen einen kleinen Fehler und leiten daraus ab, dass sie damit wohl nicht für Klimaschutz sein könnten, denn sonst würden sie ja (nicht) YZ.
Hier fordert ein Gender-Kritiker (Nein, das geht bei mir nicht mehr, ich muss eine Gender-Kritikerin schreiben, denn, liebe Heide, das ist Sprachwandel, auch wenn Ihr das bestreitet.), dass Institutionen konsequent gendern. Aber selbst die taz gendert nicht konsequent. Sie stellt es ihren Autor*innen frei. Und so muss das auch sein.
Den Fehler habe ich übrigens selbst auch gemacht. In der Zeit, in der ich noch nicht gegendert habe, habe ich mich über einen taz-Artikel aufgeregt, in dem von Dieben und Mördern gesprochen wurde, obwohl es um ein Straflager für Frauen ging, in dem Diebinnen und Mörderinnen inhaftiert waren. Aber es schreibt eben nicht „die taz“, sondern verschiedene Autor*innen in der taz. Manche lehnen das Gendern konsequent ab, andere tun es bis zum Abwinken.
Prof. Dr. Helmuth Feilke (2022) argumentiert übrigens für ein maßvolles Gendern. Das Gendern setzt ein Signal. Es reicht aus, wenn nicht alle Formen gegendert werden, sondern ab und zu das Signal an die Empfänger*innen geschickt wird.
Daraus darf man den Schluss ziehen, dass man das Ganze nicht so ernst nehmen sollte. Alles nur Theater.
Ja. Durchsage an alle: Entspannt Euch!

Nachtrag
Ich bin gegen Sprachregelungen. Das Gendern sollte niemandem vorgeschrieben werden. Genauso sollte es niemandem verboten werden. Das habe ich bereits 2021 aufgeschrieben: Gendern und Bewertungen von Arbeitsleistungen im akademischen Bereich.
Nachtrag 2
Die lustigste Stelle im Artikel hätte ich beinahe übersehen, weil ich Heide Wegener ja kenne und ihre Kurz-Biographie nicht gelesen habe. Dort steht: „Prof. Heide Wegener ist Linguistin.“
Im Text steht:
Blatz hatte Recht. Es gibt keinen Grund, das Generische Maskulinum zu meiden. Im Gegenteil: Die beste, klarste Art, die Kernbedeutung von Berufs-und Rollenbezeichnungen auszudrücken, ist die endungslose Grundform, Freund, Arzt, Virologe. Da diese Formen kein Merkmal für Geschlecht enthalten, unterspezifiziert also sind, schließen sie alle Geschlechter ein und sind dadurch inklusiv.
In der Kurz-Bio hätte also stehen müssen: „Prof. Heide Wegener ist Linguist.“ Nun hat Heide Wegener das wohl nicht selbst geschrieben, sondern ihre Freund*innen aus der WeLT-Redaktion. Die sind nun, was Feminismus und Gendern angeht, sicherlich komplett unverdächtig und haben aus freien Stücken die feminine Form gewählt. Wohl weil sie diese intuitiv angemessener fanden. Wenn die endungslose Grundform im Westen auch benutzt wurde, wäre das nun aber der Beweis dafür, dass es Sprachwandel in diesem Bereich gibt, etwas, was Wissenschaftler*innen wie Heide Wegener und Josef Bayer vehement bestreiten. Wenn nicht, ist es immerhin noch ein Beweis dafür, dass Sprecher*innen das Bedürfnis haben, eben nicht das völlig ausreichende generische Maskulinum, sondern eben die feminine Form zu benutzen.
Quellen
Feilke, Helmuth. 2022. Gendern mit Grips statt Schreiben in Gips: Praktische Argumente für ein flexibles Gendern. Deutsch. 1–7. https://www.friedrich-verlag.de/fileadmin/fachwelten/deutsch/blog-downloads/Gendern_Essay-Fassung.pdf.
Kolter, Max. 2023. VG Berlin zum Gendern an Schulen: Auf die Sprachkompetenz kommt es an. LTO.de — Legal Tribune Online — Aktuelles aus Recht und Justiz. (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/vg-berlin-gendern-schueler-schule-klasse-lehrer-rechtschreibung/)