Man sagt, Fehler zu begehen, sei nicht dumm. Nur denselben Fehler zum zweiten Mal zu begehen sei dumm. Ich habe denselben Fehler bzw. dieselbe Art Fehler zweimal begangen. Ich habe etwas nicht gelernt, von dem ich davon ausgegangen bin, dass ich es nicht brauchen würde. Im Leben, nicht in der Prüfung.
Die erste Prüfung war die Fahrprüfung. Ich konnte die Fahrerlaubnis für LKW machen, obwohl (mir) klar war, dass ich nie im Leben LKW fahren würde. Es gibt Verkehrsschilder, die nur für LKW relevant sind. Ich habe sie einfach ignoriert. Leider waren diese dann in der Fahrprüfung relevant.
Ein ähnlich gelagerter Fall war die Prüfung in Analysis. Prof. Bank hat mit uns den Satz von der impliziten Funktion besprochen. Der Beweis ging über 1 1/2 Vorlesungen von je 90 Minuten. Stefan dachte sich: Ein Beweis von 135 Minuten kann in einer Prüfung mit 30 Minuten Länge unmöglich drankommen. Die Prüfungen waren so aufgebaut, dass man zuerst in einem Nebenraum Aufgaben lösen musste und dann gab es eine mündliche Prüfung. Ich bekam ein paar Differentialgleichungen und Integrale zu lösen und das war alles kein Problem. In der mündlichen Prüfung war die Frage: „Nennen Sie den Satz von der impliziten Funktion mit all seinen Voraussetzungen und skizzieren sie den Beweis!“ Da ich darauf überhaupt nicht vorbereitet war, kannte ich die neun Voraussetzungen nicht und da ein Beweis nur funktioniert, wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, konnte ich somit auch den Beweis nicht verstanden haben. Das war das Ende der Prüfung.
Beim Nachprüfungstermin fragte mich Prof. Bank, ob ich zum Aufwärmen wieder Aufgaben haben wolle. Ich bejahte, da ich Differentialgleichungen und Integrale wirklich sehr gut lösen konnte. Ich hatte mich schließlich gut vorbereitet. Die Aufgabe war: „Geben Sie den Satz von der impliziten Funktion mit all seinen Voraussetzungen an.“ Ich habe acht von neun Voraussetzungen zusammenbekommen. Wir haben uns dann noch ein bisschen über andere Bereiche der Analysis unterhalten und Prof. Bank meinte dann: „Na, gut! Ich gebe Ihnen die Vier. Ich will sie hier nie mehr sehen.“ Ich mochte ihn.
Den zweiten Teil der Analysisvorlesung hatten wir dann bei Prof. März. Die Prüfung bei ihr lief sehr gut. In der DDR gab es ein Studienbuch, in das die Lehrenden die Ergebnisse eintrugen. Beim Eintragen sah sie das Ergebnis der ersten Prüfung und meinte: „Huch, was haben Sie denn hier gemacht?“ Ich war sehr froh, dass sie nicht vor der Prüfung ins Heftchen geschaut hatte. Das hätte eventuell das Ergebnis verfälscht.
In der Wendezeit hatte ich Probleme mit meinen Dozent*innen. Ich konnte es einfach nicht verstehen, dass sie einfach weiter ihre Mathematik betrieben, ohne ein einziges Wort zu dem Chaos zu sagen, dass uns umgab. Die Mathematik war clean, sauber. Sie funktionierte nach 89 genauso wie vorher. Ich fand das entsetzlich. Steril. Tot. Ich habe mir dann etwas gesucht, das auch komplex ist, aber krumm und schief: Sprache. Das Ergebnis ständiger Verhandlungen, Ausbalancierungen von Sprecher*innen (oder Sprechern, wie wir damals sagten). Der einzige Mensch, der etwas sagte, der einzige Mensch, der anders war, der keine Angst hatte, war Bernd Bank. Er hatte einen schwarzen Mantel an und einen roten Stern an der Mütze. Er war Trotzkist. Ich mochte ihn.
Ich habe das Studium in vier Jahren inklusive Auslandsjahr beendet. Über diverse Umwege bin ich 2016 wieder an der Humboldt-Universität gelandet. Als externes Mitglied war ich in einer Berufungskommission in den Erziehungswissenschaften und bin dort mit jemandem zusammengekommen, der mit Bernd Bank im Präsidium zusammengearbeitet hat. Bank war nach der Wende Vizepräsident. Meine Bekannte hat mir erzählt, dass Bank sich mitunter mit „Römisch-katholische Dampfbäder der Humboldt-Universität“ am Telefon gemeldet hat. Ich mag diese Geschichte.
Bernd Bank ist vor einigen Tagen gestorben. Die Telefonzentrale der Römisch-katholischen Dampfbäder der Humboldt-Universität ist jetzt nicht mehr besetzt.
Nachtrag
Beim Nachdenken über den Post ist mir klar geworden, dass ich denselben Fehler sogar dreimal gemacht habe. Ich bin für die Wiederholungsprüfung wahrscheinlich davon ausgegangen, dass der Satz über die implizite Funktion nicht mehr drankommt, weil der ja schon dran war. Entweder hatte Bank gedacht, dass ich denken könnte, dass das Thema jetzt durch ist, oder er fand den Satz so wichtig, dass er noch mal fragen wollte. Im ersten Fall wäre das so eine Art Prüfungsschach und er hätte gewonnen. Ich mag ihn deswegen.
Übrigens ist es vielen Hertz-Schülern so gegangen, dass sie im ersten Studienjahr durch die Prüfungen gefallen sind. Wir hatten den Stoff des ersten Studienjahrs schon in der Schule und weil wir alles schon kannten, haben wir die Prüfungen unterschätzt.