Mauerfall

Vor 34 Jah­ren war es kalt und dun­kel. Ich hat­te weder einen Fern­se­her noch ein Tele­fon. Inter­net gab es nur zwi­schen zwan­zig Rech­nern in der Hum­boldt-Uni. Ich habe mich auf den nächs­ten Tag vor­be­rei­tet und bin dann früh schla­fen gegan­gen, weil die ers­te Vor­le­sung immer 7:30 anfing. Am Mor­gen bin ich wie immer um 6:00 auf­ge­stan­den. Beim Früh­stü­cken habe ich das Radio ein­ge­schal­tet. Rei­se­frei­heit. Man kann einen Pass bean­tra­gen. Gren­ze ist auf. In der Stra­ßen­bahn konn­te ich sehen, wer es wuss­te: Man­che waren ver­schla­fen wie immer, man­che hell wach. In der Uni kam mir Udo Kru­schwitz mit einer taz und einem Spie­gel ent­ge­gen und mein­te, dass man bis 8:00 noch ohne Pass rüber kön­ne. Da ich ja gera­de aus der Armee ent­las­sen wor­den war und mei­ne Chan­cen auf einen Pass als eher gering ein­schätz­te, bin ich mit zwei Kom­mi­li­to­nen sofort los. (Einer war G., einer der Söh­ne von Chris­toph Hein.)

Wir gin­gen am Trä­nen­pa­last (Fried­rich­stra­ße) rüber und fuh­ren mit der S‑Bahn in den Wes­ten. Aus der S‑Bahn konn­te man das Grenz­ge­biet sehen. Dort patrouil­lier­ten Grenz­pos­ten, als habe man ver­ges­sen, sie abzuschalten.

Ich weiß nicht, wie wir uns ori­en­tiert haben. An den Plä­nen in der S‑Bahn? Irgend­wie kamen wir jeden­falls nach Kreuz­berg und lie­fen dort durch die Stra­ßen. G. sprach ein­fach einen Typ mit Gitar­re an, wo den hier ein Ate­lier sei, wir wür­den gern ein paar Künst­ler ken­nen­ler­nen. Wir lan­de­ten in der Nau­nyn­stra­ße bei ein paar Künstler*innen, die gera­de früh­stück­ten. Sie erfuh­ren von uns, dass die Mau­er offen war. „Tach! Wir sind aus dem Osten. Die Mau­er ist weg und wir woll­ten mal gucken, was Ihr so macht.“ Es gab Kaf­fee und Scho­ko­la­de. Ich habe mich dar­über gewun­dert, dass ihr Zucker so fein war. Man konn­te ihn kaum von Salz unter­schei­den. Eine Male­rin habe ich spä­ter noch besucht und sie war auch bei uns bei einer Per­for­mance in mei­ner Woh­nung 1990.

Ich woll­te ins Rauch­haus, weil ich das von den Scher­ben-Lie­dern kann­te (Rauch-Haus-Song). Wir frag­ten in der Gegend vor einer Apo­the­ke eine Pun­ke­rin, die gera­de her­aus­kam, nach dem Weg. Als sie erfuhr, dass wir aus dem Osten waren, war sie so geplät­tet und erfreut, dass sie uns ihr Wech­sel­geld schenk­te. Wor­über sie dann selbst erstaunt war: „Ich hab noch nie jeman­dem zwei Mark geschenkt!“. Ich war dann mit ihr im Betha­ni­en. Das war inzwi­schen ein Wohn­pro­jekt vom Senat. Die Pun­ke­rin hat mir erzählt, dass sie da Strip­shows mit lau­ter Musik gemacht haben, um die Gren­zer abzulenken/zu ärgern. Ich habe sie noch ein paar Mal im Betha­ni­en besucht. Wir haben Kas­set­ten getauscht. Ich habe ihr Ölfar­be mit­ge­bracht und sie mir Tee besorgt (Im Osten gab es nur Gru­si­ni­schen Tee, auch Gru­sel­mi­schung genannt). Am Wochen­en­de nach Grenz­öff­nung war ich auch dort. Die Ossis ver­wüs­te­ten West-Ber­lin. Über­all über­quel­len­de Müll­ei­mer. Bana­nen­scha­len, Coca-Cola ver­schenk­te ihre Dosen palet­ten­wei­se vom Las­ter. Die Ossis stell­ten sich an. Kai­sers hat­te Las­ter mit Tüten mit Kaf­fee und Zeug drin. Die Ossis stell­ten sich an. Ich stand im Betha­ni­en am Fens­ter und mei­ne Bekann­te sag­te zu einem ande­ren Mann: „Oh, Gott, die Ossis kom­men.“ Der Mann war aus Isra­el und mein­te: „Deutsch­land wird in weni­ger als zwei Jah­ren wie­der­ver­ei­nigt sein.“ Mei­ne Ant­wort war: „Aber nie­mand will das!“. Er hat­te Recht, ich lag kom­plett daneben.

Wir gin­gen dann noch Begrü­ßungs­geld abho­len. Jede*r DDR-Bürger*in hat­te das Anrecht auf 100 West­mark. Wir waren in irgend­ei­ner Bank­fi­lia­le, aber deren Com­pu­ter­sys­tem war zusam­men­ge­bro­chen, weil alle Ossis Begrü­ßungs­geld haben woll­ten. Sie haben ein­fach so das Geld aus­ge­ge­ben und einen Ver­merk im Per­so­nal­aus­weis gemacht, damit die Men­schen das Begrü­ßungs­geld nicht ein zwei­tes Mal abho­len konn­ten. Man­che haben dann ihren Aus­weis ver­lo­ren oder mit dem Pass, den sie spä­ter bean­tragt haben, noch ein­mal das Geld abgeholt.

In Wiki­pe­dia steht dazu Folgendes:

Als nach dem Mau­er­fall alle DDR-Bür­ger in die Bun­des­re­pu­blik und nach West-Ber­lin rei­sen konn­ten, führ­te dies zu erheb­li­chen logis­ti­schen Pro­ble­men. Es kam kurz­zei­tig zu chao­ti­schen Sze­nen, so am ers­ten Mon­tag nach der Mau­er­öff­nung vor der Spar­kas­se in der Bad­stra­ße in Ber­lin-Gesund­brun­nen, am Moritz­platz in Ber­lin-Kreuz­berg oder am Zoo­lo­gi­schen Gar­ten in Ber­lin-Tier­gar­ten, als jeweils bis zu 10.000 DDR-Bür­ger gleich­zei­tig vor den Aus­zah­lungs­stel­len Schlan­ge stan­den, der Ver­kehr total zusam­men­brach und Poli­zei, Feu­er­wehr und Ret­tungs­diens­te auf­fuh­ren, um die Lage unter Kon­trol­le zu bringen.

Wiki­pe­dia­ein­trag zu Begrüßungsgeld

Bei uns lief es rela­tiv geord­net ab. =:-)

Abends war ich zurück. Fried­rich­stra­ße. Der S‑Bahnhof war voll. Gro­ßes Geschie­be. Ich hat­te Angst, dass ich nicht mehr zurück­kom­men wür­de. Plötz­lich ging irgend­wo eine gro­ße Tür in einer Wand auf und wir waren alle wie­der im Osten. Ein tol­ler Tag und ich war froh, wie­der zu hau­se zu sein mit der Aus­sicht, irgend­wann mal einen Rei­se­pass zu bekom­men. Es ging dann alles sehr schnell ….