Genau das ist das Problem: Selbstgefälligkeit und Arroganz

Vorgeschichte zur Einordnung

  1. Ich bin Anti­fa­schist, habe für #unteil­bar gear­bei­tet und bin zutiefst erschüt­tert über das Wahl­er­geb­nis der AfD in Bran­den­burg und in Sach­sen. Es ist umso schlim­mer, weil klar ist, dass Kal­bitz ein Nazi ist (taz, Spie­gel, Jung&Naiv). Mit tie­fer Ver­wur­ze­lung im rechts­extre­men Milieu.
  2. Ich bin in den 60ern in Jena gebo­ren wor­den und seit 2013 Ossi.
  3. Ana­tol Ste­fa­no­witsch ist ein guter Kol­le­ge von mir. Wir haben jah­re­lang zusam­men in Bre­men gear­bei­tet und uns zur Freu­de unse­rer Mit­ar­bei­te­rIn­nen jeden Tag beim Mit­tag­essen über alles Mög­li­che gestrit­ten. Meis­tens Grammatik.
  4. Ich tei­le vie­le sei­ner Ansich­ten und lie­be sei­ne poin­tier­ten Tweets. Sie sind oft auf den Punkt.

Klischees und wilde Behauptungen

In sei­nem Tweet vom 02.09.2019 direkt nach den Land­tags­wah­len in Sach­sen und Bran­den­burg schreibt Ana­tol Ste­fa­no­witsch fol­gen­des: Wahl­sta­tis­ti­ker: „War­um haben Sie AfD gewählt?“ Wäh­ler: „Aus Pro­test gegen Aus­län­der, Juden, Mus­li­me, Schwu­le, Frau­en und Gre­ta.“ Wahl­sta­tis­ti­ker: *kreuzt “Pro­test­wäh­ler” an.

Tweet von @aste­fa­no­witsch nach den Land­tags­wah­len in Bran­den­burg und Sach­sen, 02.09.2019

Damit tut Ana­tol (ich nehm’ mal den Vor­na­men) zwei Din­ge: Ers­tens er bezwei­felt die Wis­sen­schaft­lich­keit von Wahl­for­schung. Und er belei­digt die Pro­test­wäh­ler, denn er unter­stellt, dass ein gro­ßer Teil der Pro­test­wäh­le­rIn­nen Aus­län­der, Juden, Mus­li­me, Schwu­le, Frau­en oder Gre­ta Thun­berg ablehnt.

Infragestellung von Forschungsergebnissen: eine rechte Strategie, oder?

Der ers­te Punkt ist schlimm, denn er ent­spricht genau dem, was Rech­te und Rechts­extre­me tun: Sie zie­hen wis­sen­schaft­li­che Ergeb­nis­se in Zwei­fel. OK, wir alle wis­sen, dass mit Umfra­ge­er­geb­nis­sen auch Poli­tik gemacht wird. Aber es gibt ja meh­re­re Mei­nungs­for­schungs­in­sti­tu­te und man kann die Pro­gno­sen vor Wah­len sehr gut mit den Wahl-Ergeb­nis­sen abglei­chen und kann dann das Insti­tut ent­spre­chend ein­ord­nen. Je nach Insti­tut schwan­ken die Zah­len um eini­ge Pro­zent. Bei der Wahl­be­richt­erstat­tung in der ARD wur­de aber gesagt, dass nur 39 % der AfD-Wäh­le­rIn­nen in Sach­sen sie wegen der Inhal­te gewählt haben, 52 % dage­gen aus Ent­täu­schung. Von 8–9% wis­sen wir es nicht.

Wahl­be­richt­erstat­tung Land­tags­wahl Sach­sen und Bran­den­burg am 01.09.2019

Selbst wenn man hier eine Ver­fäl­schung des Ergeb­nis­ses in eine bestimm­te Rich­tung unter­stel­len woll­te, bekä­me man immer noch einen Wert um die 50% von Wäh­lern, die sich nicht mit den Inhal­ten der Par­tei identifizieren.

Protestwähler

Noch mal: Ich bin zutiefst erschüt­tert ob des Wahl­er­geb­nis­ses. Es gibt kei­ne Recht­fer­ti­gung dafür, eine Par­tei mit Nazi-Per­so­nal an der Spit­ze zu wählen.

Aber: Es gibt Leu­te, die aus Pro­test kei­ne der demo­kra­ti­schen Par­tei­en mehr wäh­len. Man sieht in Sach­sen sehr deut­lich, dass Wäh­le­rIn­nen der Lin­ken zur AfD gewech­selt sind.

Wäh­ler­wan­de­rung, Dar­stel­lung aus dem Spie­gel-Arti­kel Ana­ly­se zu Wah­len in Sach­sen und Bran­den­burg, 2019

Man kann sich die Deutsch­land­kar­ten anse­hen und stellt fest, dass sozio­öko­no­mi­scher Sta­tus stark mit dem Wahl­ver­hal­ten kor­re­liert ist. Guckt man nach Bay­ern (19,2% Deg­gen­dorf) oder Baden-Würt­em­berg (16,3% Pforz­heim) so fin­det man in eini­gen Wahl­krei­sen einen 15–20%-Anteil an AfD-Wäh­lern, ohne dass es in die­sen Orten irgend­wel­che Pro­ble­me der Art gibt, mit der der Osten kämpft. Ähn­lich gela­gert dürf­te es im Osten sein: Es gibt einen Anteil der­je­ni­gen, die AfD-Posi­tio­nen teilt (die 39% der Wäh­le­rIn­nen). Oben drauf kom­men dann die Abghäng­ten und Frus­trier­ten. Das ist kei­ne Ent­schul­di­gung für irgend­was, aber wir müs­sen uns damit aus­ein­an­der­set­zen, damit wir etwas ändern können.

Arroganz

Auf mei­ne Kri­tik an Ana­tols ursprüng­li­chem Post kam die Ant­wort von einem Nut­zer aus NRW: „Niveau sieht nur von unten wie Arro­ganz aus.“ Net­ter­wei­se hat er noch dazu­ge­schrie­ben, dass NRW in West­deutsch­land liegt. Ich hät­te sonst erst nach­gu­cken müssen.

Lus­ti­ger Aus­tausch auf Twit­ter. 02.09.2019

Das zeigt recht deut­lich, wo das Pro­blem liegt: Man bewegt sich niveau­voll in sei­ner Bla­se und spricht von oben nach unten. Das löst aber das Pro­blem nicht. Lei­der ver­stärkt es das Pro­blem nur. Ja, das Von-oben-nach-unten-Reden ist ein Pro­blem. Der Wes­ten ist immer noch wirt­schaft­lich stär­ker. Im Osten gibt es die Tari­fe nicht, die es im Wes­ten gibt. Schon über Jahr­zehn­te (z.B. seit 2003 35-Stun­den-Woche bei der IG Metall im Wes­ten, 38 Stun­den im Osten für glei­ches Geld).

Keine Toleranz für Nazis und Mitläufer

Es gibt ganz vie­le Ant­wor­ten auf den Tweet, die ihre Abgren­zung zum Aus­druck brin­gen. Kann ich voll ver­ste­hen. Nur was folgt dar­aus? Dass wir mit 18 % der Bevöl­ke­rung (18,6 % in Sach­sen, 14,4 % in Bran­den­burg bei Berück­sich­ti­gung der Nicht­wäh­ler) nicht mehr reden? Es ist zu ein­fach zu sagen, ich bin gut und ihr seid Nazis. Das ist selbst­ge­fäl­lig. Man macht es sich bequem auf sei­nem Sessel/Bürodrehstuhl und guckt mit Schau­dern gen Osten und zeigt mit dem Fin­ger. Davon ändert sich aber nichts. Im Gegen­teil. Die ande­ren Reden mit ihnen. Und sie hören das wahn­sin­ni­ge Gefa­sel von der Wen­de 2.0. Von Leu­ten, die damals noch ganz klein waren und in West­fa­len oder Mün­chen zur Schu­le gegan­gen sind.

Höcke: Dafür haben wir nicht die fried­li­che Revo­lu­ti­on gemacht

Hier noch mal für den Geschichts­leh­rer: Das haben die Bür­ger­be­we­gun­gen damals gewollt. Der gan­ze ande­re Scheiß kam später.

Demo­auf­ruf der ver­schie­de­nen Grup­pie­run­gen der Bür­ger­be­we­gung, 19.12.1989, DDR-Muse­um Eisenhüttenstadt

Schlussfolgerung

Wir müs­sen mit­ein­an­der reden. Wohl eher nicht mit den Nazis, obwohl Thi­lo von Jung auch das sehr gut hin­be­kom­men hat (Inter­view mit Kal­bitz). Aber wenn wirk­lich 61 % von 25 % nicht mit den Ansich­ten der AfD über­ein­stim­men, dann sind das doch sehr vie­le Men­schen. Und selbst bei den 39 % ist noch nicht alles ver­lo­ren. Da sind sicher Men­schen dabei, die wegen „Gre­ta“ die AfD gewählt haben, denn die Kli­ma­wan­del­leug­ner haben sich recht klar für Koh­le posi­tio­niert und das ist für eini­ge Bran­den­bur­ge­rIn­nen existenziell.

Also, ver­su­chen wir mit ihnen zu reden. Bit­te ver­sucht Ihr Wes­sis mit uns Ossis auf Augen­hö­he zu reden. Es ist Eure ein­zi­ge Chan­ce. Es ist unse­re ein­zi­ge Chance.

Nachtrag 04.09.2019

Lei­der muss ich mir hier gleich wider­spre­chen. Den oben ange­spro­che­nen Erkennt­nis­sen von infra­test dimap, wonach nur 39% der Wäh­le­rIn­nen in Sach­sen die AfD aus Über­zeu­gung gewählt haben, wider­spricht eine Stu­die der For­schungs­grup­pe Wah­len, der­zu­fol­ge 28 % das Motiv „Denk­zet­tel“ nann­ten und 70% die AfD „wegen ihrer poli­ti­schen For­de­run­gen“ wähl­ten (Tele­fon­be­fra­gung unter 1071 zufäl­lig aus­ge­wähl­ten Wahl­be­rech­tig­ten in der Woche vor der Wahl und Befra­gung von 18 411 Wäh­lern am Wahl­tag). Ein Unter­schied von 31% in den Ergeb­nis­sen ist doch ziem­lich groß. Ich wer­de mich bemü­hen, Nähe­res über die ers­te Befra­gung her­aus­zu­fin­den. Immer­hin ist die Zahl 28% auch nicht klein. In Bran­den­burg lag die Zahl der Pro­test­wäh­le­rinn­nen bei über 50%.