Vor einiger Zeit sind die Sächsischen Separatisten aufgeflogen. Eine Gruppe Rechtsextremer, die mit Waffen für den Tag X trainiert haben, wurde festgenommen. Einige von ihnen AfD-Funktionäre. Heute schreibt die taz zu dieser Gruppe:
Zu den Festgenommen gehören auch die Brüder Jörg und Jörn S. aus Brandis, deren Vater in den 1980er Jahren bereits in der militanten Neonazi-Szene in Österreich aktiv war. Jörg S. gilt der Bundesanwaltschaft als Anführer der Gruppe.
Das heißt, das wieder eine Gruppe von in den Osten gekommenen West-Nazis geleitet wird. Ich bitte, das zu berücksichtigen, wenn über „die Ossis“ berichtet wird und versucht wird, die Existenz von Nazis im Osten irgendwie auf Eigenschaften von Ossis zurückzuführen.
Übrigens hat Peter Kurth, früher Berliner CDU-Senator, den Terroristen den Kauf eines Hauses finanziert. Ost-Nazis verfügen normalerweise nicht über ausreichend Mittel zum Kauf von Häusern.
Johannes Geck, Doktorand am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin, schreibt in einem Meinungsbeitrag in der taz, dass das rechtsextreme Institut für Staatspolitik ernster genommen werden sollte. Dem ist unbedingt zuzustimmen. Es gibt nur eine Kleinigkeit in seinem Beitrag, die mich extrem stört. Eigentlich sind es zwei Kleinigkeiten. Oder eine, die zweimal vorkommt.
Das Institut war eine rechtsextreme Denkfabrik, die rechtsextremen Politiker*innen der AfD zuarbeitete. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Landesverfassungsschutz Sachsen-Anhalt stuften die Gruppierung als „gesichert rechtsextrem“ und als verfassungsfeindlich ein. Es wurde 2024 aufgelöst, wohl um einem Verbot zuvorzukommen.
Geck schreibt:
In der deutschen Berichterstattung über das Umfeld des neurechten Verlegers Götz Kubitschek entsteht bisweilen der Eindruck, es handle sich um einen Kreis verwirrter Hochstapler. Zuletzt sprach etwa die Spiegel-Redakteurin Ann-Kathrin Müller schmunzelnd von „ganz viel pseudointellektuellem Gerede“, das aus dem sachsen-anhaltinischen Schnellroda zu vernehmen sei. Eine solche Verharmlosung des inzwischen formal aufgelösten Instituts für Staatspolitik verkennt jedoch dessen Bedeutung für die radikale Rechte und führt zu einer gefährlichen Unterschätzung der organisierten Gegner der liberalen Demokratie. Neben Maximilian Krah und Alice Weidel sind die Protagonisten der Wahlerfolge im Osten, Björn Höcke, Jörg Urban und Hans-Christoph Berndt, gern gesehene Gäste in der ostdeutschen „Denkfabrik“.
Johannes Geck verwendet die Wortgruppe ostdeutsche „Denkfabrik“ noch ein weiteres Mal in seinem Artikel. Es scheint ihm also wichtig zu sein, einen Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus und Ostdeutschland herzustellen. Das Fachwort dafür ist Framing und die Hebbsche Lernregel erklärt, was im Gehirn passiert: „What fires together wires together.“. Wenn Konzepte immer wieder in Beziehung zueinander gesetzt werden, reicht es irgendwann, eins der Konzept zu erwähnen. Im konkreten Fall wäre dann Ostdeutschland in den Gehirnen der Medienkonsument*innen untrennbar mit Rechtsextremismus verknüpft.
Im gesamtdeutschen Diskurs ist es bequem, das Gruselige auszulagern und zu externalisieren. Die Nazis sind ostdeutsch. Sie sind alle so geworden, weil sie zu heiß gebadet wurden (Rabe)/nebeneinander auf dem Töpfchen sitzen mussten (Pfeifer, siehe Decker, 1999)/unter den Kommunisten gelitten haben (der ganze Rest, siehe Zeitung, Fernsehen, irgendwas). Leider ist das zu kurz geschossen, denn Nazis bzw. Nazi-Wähler*innen gibt es auch in Westdeutschland (und in Frankreich, Italien, Österreich und in den USA, wo ja nun kaum die Kommunisten Schuld gewesen sein konnten). Die Gründe für entsprechendes Wahlverhalten sind oft ähnlich und solange das nicht erkannt wird, rutschen wir weiter in Richtung Faschismus.
Westdeutsche Denkfabrik und westdeutsche Nazis
Hier noch kurz die Erklärung, warum mich die Phrase ostdeutsche „Denkfabrik“ ärgert. Das Institut für Staatspolitik wurde im Mai 2000 von Götz Kubitschek, Karlheinz Weißmann und dem Rechtsanwalt Stefan Hanz gegründet. Das Institut hatte seinen Sitz am Anfang in Bad Vilbel (Hessen) und ist erst 2003 nach Schnellroda in Sachsen-Anhalt umgezogen. Die Gründer kommen aus Ravensburg (Baden-Württemberg) und Northeim (Niedersachsen). Die Herkunft von Stefan Hanz ist mir nicht bekannt, ich vermute aber, dass er ebenfalls aus dem Westen kommt. Das Staatspolitik-Institut ist also eine westdeutsche Denkfabrik, die seit 2003 im Osten angesiedelt ist.
Auch die aufgezählten Politiker*innen sind fast zur Hälfte aus dem Westen: Höcke und Weidel sind beide aus NRW.
Lilane Eierdiebe und ultimative Attributionsfehler
In der Berichterstattung über Straftaten ist darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.
Wenn über einen Eierdiebstahl berichtet wird, ist die Hautfarbe der Täter*in normalerweise irrelevant und soll nicht genannt werden. Der Grund dafür ist genau das, was ich oben ausgeführt habe: Wenn ständig von lilanen Eierdieben gesprochen wird, verfestigt sich das Bild, dass alle Menschen mit lilaner Hautfarbe Eierdiebe wären oder zum Eiderdiebstahl neigen. Es kommt dann zum ultimativen Attributionsfehler:
Erklärt man sich das Verhalten eines Menschen damit, dass er Mitglied einer sozialen Gruppe ist, spricht man seit Pettigrew (1979) vom „ultimativen Attributionsfehler“. Oft dient diese dispositionale Ursachenzuschreibung der Aufrechterhaltung von Vorurteilen („Er handelt so, weil er Ausländer ist“).
Folgt man diesen Grundsätzen (Ossis sind eine Minderheit, da es fünf mal mehr Wessis als Ossis gibt, und sie haben in der Presse keine Stimme) und bedenkt, worum es in diesem Meinungsbeitrag geht, wird klar, dass das Wort ostdeutsch in Gecks Aufsatz Fehl am Platze war. Die Lage des Instituts war für die Aussage, des Artikels irrelevant. Der Effekt des Wortes ist das Framing von Rechtsextremismus als spezifisch ostdeutsch. Ob das die Absicht Gecks war, weiß ich nicht, aber wenn einem Doktoranden in Neuerer und Neuester Geschichte das aus Versehen passieren würde, würde das auch nicht für ihn sprechen.
Schlussfolgerung
Hört bitte auf damit, Rechtsextremismus als ostdeutsches Problem zu framen. Es ist unser aller Problem. Guckt nach unten auf Eure Füße, sie stehen schon jetzt im braunen Matsch.
Ich habe vor Kurzem das Buch Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz erneut gelesen. Darin gibt es die folgende Passage:
Ein SS-Mann legt einem zweiten nahe, dass er sich schon auf eine möglichst unauffällige Existenz nach dem Krieg vorbereiten sollte. Das hat mich an meine Recherche zum SS-Personal des KZ Lichtenburg erinnert und ich habe beschlossen, auch für Buchenwald mal nachzusehen, was aus dem Personal geworden ist.
Die Struktur und die Namen der SS-Verwaltung des KZs Buchenwald habe ich von der Wikipedia-Seite Personal im KZ Buchenwald übernommen. Die Daten zum Verbleib der SS-Männer nach 1945 sind aus den einzelnen Einträgen der Personen.
Abteilung I: Kommandantur
Lagerkommandant
Karl Otto Koch, Juli 1937 bis Dezember 1941, im April 1945 in Buchenwald von der SS hingerichtet
Hermann Pister, Januar 1942 bis April 1945, zum Tode verurteilt und im Gefängnis an Herzinfrakt gestorben
Adjutanten
Hartwig Block, 1937, unbekannt
Johannes Wellershaus, 1937, unbekannt
Hans Hüttig, 1938 bis 1939, 1954 in Metz durch ein französisches Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt, lebte bis 1980 in Wachenheim an der Weinstraße, Rheinland-Pfalz
Hermann Hackmann, 1939 bis 1940, vor 1945 mehrfach zum Tode verurteilt, wegen Buchenwald zum Tode verurteilt, 1948 begnadigt in lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt, 1955 entlassen, gestorben 1994 in Uslar
Heinz Büngeler, 1941 bis 1942, 1943 in SS-Panzergrenadier-Division „Totenkopf“ in der Sovjetunion gefallen
Abteilung II: Politische Abteilung (Lager-Gestapo)
Wilhelm Frerichs, 1937 bis 1941, verbleib unbekannt, zuletzt im Sommer 1947 im Speziallager Nr. 2 Buchenwald lebend gesehen
Walter Serno, 1941 bis 1945, gestorben 1961 in Bremen
Abteilung III: Schutzhaftlagerführung
Arthur Rödl, 1937 bis 1940, Suizid im April 1945 mit Handgranate
Hermann Florstedt, 1940 bis 1942, Verbleib unklar, angeblich von SS hingerichtet, aber auch bei Schwägerin in Halle gesehen und dann untergetaucht, angeblich 1962 bei Kriminalpolizei in Mainz gearbeitet. Ermittlungen ergebnislos. Oberstaatsanwalt in Ludwigsburg sah Tod 1975 nicht als erwiesen an.
Max Schobert, 1940 bis 1942, 1942 bis 1945, 1948 nach Buchenwaldprozess hingerichtet
Jakob Weiseborn, 1937 bis 1938, 1939 Suizid wegen Unterschlagungen im KZ Buchenwald
SS-Sturmbannführer Hans Hüttig, 1938 bis 1939, 1954 in Metz durch ein französisches Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt. 1956 entlassen, gestorben 1980 in Wachenheim, Rheinland-Pfalz.
SS-Obersturmführer Erich Gust, 1942 bis 1944, Gust betrieb ab 1966 das Lokal „Heimathof“ in Melle, Niedersachsen. Dort speisten bekannte Bonner Politiker (z.B. Kai-Uwe von Hassel und Willy Brandt). Die Stasi wusste, wo Gust sich aufhielt und wollte die Politikerkontakte ausnutzen. Die westdeutsche Justiz hat ihn nie gefunden. Gust ist 1992 in Melle gestorben.
Hans Merbach, 1945, wegen Verbrechen bei Evakuierung von Buchenwald zum Tode verurteilt und 1949 hingerichtet
Abteilung III/E: Arbeitseinsatz
Philipp Grimm, 1940 bis 1942, Im Buchenwald-Prozess zum Tod verurteilt, in lebenslänglich umgewandelt, 1954 entlassen, 1984 in Bayreuth, Bayern, gestorben.
SS-Hauptsturmführer Albert Schwartz, 1942 bis 1945, Im Buchenwald-Prozess zum Tod verurteilt, zu lebenslänglich umgewandelt, 1954 entlassen, in leitender Position in der Industrie tätig,1984 in Ahrensbök, Schleswig-Holstein, gestorben.
Abteilung IV: Verwaltung (SS-Standortverwaltung)
Christian Mohr, 1937
Karl Weichseldorfer, 1937 bis 1942
SS-Sturmbannführer Otto Barnewald, 1942 bis 1945, Im Buchenwald-Prozess zum Tod verurteilt, 1948 in lebenslänglich umgewandelt, 1954 entlassen, 1973 in Rheinhausen, NRW, gestorben.
Abteilung V: Sanitätswesen (Standortarzt)
Standortarzt
SS-Obersturmbannführer Werner Kirchert, 1937 bis 1938, Inhaftiert in Eichstätt, 1953 in München zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, Geschäftsführer bei der O.W.G‑Chemie in Kiel. Gestorben 1987 in Eitorf, NRW, Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Würzburg 1995 nach dem Tod Kircherts eingestellt
Hans Schlosser, 1939
Gustav Busse, 1939 bis 1941
SS-Hauptsturmführer Waldemar Hoven, 1942 bis 1943, 1945 von SS-Richter wegen Mord zum Tod verurteilt im April 1945 aber wegen Ärztemangels entlassen. 1947 im Nünberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet.
SS-Hauptsturmführer Gerhard Schiedlausky, 1943 bis 1945, 1947 zum Tod verurteilt und gehängt.
Weitere
Lagerärzte
SS-Hauptsturmführer Heinrich Plaza, nach 1945 Arzt in Altötting, Bayern, Leiter der Pathologie in Buchenwald und beteiligt am Massenmord, wegen Multipler Sklerose Ermittlungsverfahren 1952 von der Staatsanwaltschaft Traunstein eingestellt, 1954 in Frankreich in Abwesenheit zum Tod verurteilt, 1968 in Altötting gestorben.
Erwin Ding-Schuler, Menschenversuche, 1945 Suizid in amerikanischer Haft
Erich Wagner, 1948 aus Haft entflohen, lebte unter Pseudonym sechs Jahre in Bayern, ab 1957 arbeitete er in der Praxis seiner Frau, 1958 Festnahme und Anklage, 1959 Suizid.
SS-Hauptsturmführer Hans Eisele, 1943 im Dachau-Prozess zum Tod verurteilt, Umwandlung zu lebenslänglich, 1947 erneut Todesurteil im Buchenwald-Prozess, nach Überprüfung in zehn Jahre Haft umgewandelt, 1952 entlassen. Kassenarzt in München mit Existenzaufbauhilfe. 1958 andere Anschuldigungen und Flucht nach Ägypten. Wikipedia schreibt: „Unter dem ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abdel Nasser waren seit Mitte der fünfziger Jahre deutsche und österreichische, zum großen Teil ehemals nationalsozialistische Wissenschaftler ins Land gekommen, die in militärischen Forschungseinrichtungen an der Konstruktion von Kampfflugzeugen und Mittelstreckenraketen beteiligt waren, die Nasser für den Ausbau der ägyptischen Vorrangstellung im Nahen Osten und speziell für den Kampf gegen Israel benötigte. In diesen Kreisen tauchte auch Eisele unter, nachdem ein deutsches Auslieferungsgesuch abgelehnt worden war.“ Anschlag des Mossad schug fehl. 1967 in Ägypten gestorben.
SS-Untersturmführer Werner Greunuss, zu lebenslänglicher Haft verurteilt, auf 20 Jahre reduziert, 1949 geflohen, Verbleib unklar.
Carl Eisen,
Ludwig Ehrsam,
Herbert Gräff,
Heinz Gudacker,
Aribert Heim, 1945 verhaftet, 1947 im Zuge einer Weihnachtsamnestie entlassen, Entnazifizierung, Haftbefehle, 1962 Flucht nach Ägypten, 1992 in Kairo gestorben. Der Wikipedia-Eintrag ist wild, unbedingt dort lesen.
Peter Hofer,
Konrad Köbrich,
Richard Krieger,
Viktor Lewe,
SS-Hauptsturmführer Karl-Werner Maaßen „Nach Kriegsende betrieb er eine Arztpraxis in Kiel.“
Walter Pongs, ab 1945 betrieb er eine Zahnarztpraxis in Wiesbaden, Hessen.
Paul Reutter
SS-Sanitätsdienstgrade
SS-Untersturmführer Friedrich Karl Wilhelm, 1947 im Buchenwald-Prozess verurteilt, 1948 hingerichtet.
Wachkompanie KZ Buchenwald
Paul Kröger
Arnold Büscher
Otto Förschner, 1942 bis 1943, 1945 im Dachauer Prozess zum Tod verurteilt und 1946 gehängt
SS-Obersturmführer Guido Reimer, 1943 bis 1944, 1947 zum Tod verurteilt, zu lebenslänglicher Haft begnadigt, 1952 entlassen, Verbleib unbekannt
Offizier der Wehrmacht ab 1944
Zusammenfassung
Wie auch beim Personal von Lichtenburg gab es unter den Buchenwald-Nazis keinen einzigen, der in den Osten gegangen ist. Die SS-Männer sind alle hingerichtet worden, nach Ägypten geflohen oder nach Begnadigung (im Westen) und Entlassung im Westen geblieben. Es gibt einige, die geflohen sind und andere, bei denen der Verbleib unklar ist. Aber es steht zu vermuten, dass keiner von ihnen an die schöne Oder gezogen ist. Die Buchenwald-SS war auch an der systematischen Ermordung von Sowjet-Bürgern beteiligt und so ist es nicht verwunderlich, dass sie nicht in die SBZ bzw. die DDR zurück wollten.
Das sollte man bedenken, wenn man diese Behauptungen hört, dass es in der DDR auch Nazis gegeben habe. Ja, hat es, immerhin gingen die Mitgliedsnummern der NSDAP bis 10 Millionen. Aber die Frage ist natürlich, was für Nazis, in welchen Organisationen sie wie mitgearbeitet haben, welche Dienstgrade sie hatten, wenn es militärische Organisationen waren, und was aus ihnen dann später in der DDR im Vergleich zur BRD geworden ist.
Und eine HIAG gab es in der DDR nicht.
Nachtrag
03.11.2024: Mithilfe von Leide (2011) habe ich einen KZ-Arzt gefunden, der in den Osten gegangen ist: Horst Fischer
Als KZ-Arzt im KZ Auschwitz III Monowitz und Stellvertretender Lagerarzt im gesamten Konzentrationslager Auschwitz war er von 1942 bis 1945 an Morden von Gefangenen in tausendfacher Zahl beteiligt.
Er hat bis 1964 unentdeckt als Landarzt in Brandenburg praktiziert.
Quellen
Leide, Henry. 2011. NS-Verbrecher und Staatssicherheit: Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR (Analysen Und Dokumente: Wissenschaftliche Reihe Der Bundesbeauftragten Für Die Unterlagen Des Staatssicherheitsdienstes Der Ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) 28). 2nd edn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
In den letzten Jahren gibt es mit dem Erstarken der AfD wieder eine größere Debatte zu Nazis in der DDR. Es wird immer wieder die offizielle Geschichte des nazifreien Landes zitiert. Dass die DDR nazifrei war ist sicher nicht richtig, aber dass die Nazi-Dichte geringer war und dass sie eben nicht – im Unterschied zu Nazi-Größen wie Hans Globke und Hans Filbinger – in Führungspositionen waren ist und bleibt wahr. Im Wikipdeia-Artikel zu Rechtsextremismus in der DDR werden drei Personen exemplarisch genannt: Arno von Lenski, Franz Fühmann oder Erhard Mauersberger. Personen wie Arno von Lenski habe ich schon in einem früheren Post besprochen. Lenski war in Stalingrad in sowjetische Gefangenschaft geraten und hat dann die Seiten gewechselt:
Wikipedia-Eintrag von Lenski, abgerufen 22.06.2024
Franz Fühmann war ebenfalls auf einer Antifa-Schule und hat dann als Assistenzlehrer an Antifa-Schulen gelehrt. Wenn wir über Faschismus und Faschisten reden, dann nicht über solche, die zu Antifaschist*innen wurden, sondern solche, die unbehelligt ihr Leben führen konnten und es zum Teil noch führen. Solche wie Karl M.:
Interessant ist, dass das Institut seine Mitarbeiter veröffentlicht hat, so dass man jetzt untersuchen kann, was aus den Nazis und Antisemiten, die bis 1945 im Osten gelebt haben, geworden ist. Wikipedia hat eine lange Liste mit Namen, von denen viele verlinkt sind. Um zu zeigen, dass nach dem Krieg weniger Nazis im Osten waren, muss man nur die Ost-Nazis anschauen und untersuchen, wie viele von ihnen in den Westen gegangen sind, denn es wird wohl kaum ein West-Nazi sein Leben aufgegeben haben, um zu den Russen in den Osten zu ziehen. (Das setzt natürlich eine Gleichverteilung von Nazis in Ost und West direkt nach dem Krieg voraus.)
Die Wikipedia-Seite listet die Mitarbeiter in drei Rubriken:
Mitarbeiter in kirchenleitender Funktion
Geistliche bzw. Pfarrer
Hochschullehrer bzw. Akademiker
Im folgenden sortiere ich die Listen nach Sterbe- oder Wohnort nach 1945 in West, Ost, unbekannt/irrelevant. Irrelevant ist der Sterbeort zum Beispiel bei Personen, die in Kriegsgefangenschaft gestorben sind. Irrelevant sind auch diejenigen, die schon vor Kriegsende im Westen waren.
In kirchenleitender Funktion
In den Westen gegangen
Bischof Friedrich Peter, Berlin, gestorben 1960, Gronau, NRW „Obgleich Peter 1948 aus dem Pfarramt entlassen wurde, blieben ihm die geistlichen Rechte erhalten. So erhielt er Beschäftigungsaufträge in der Evangelischen Kirche von Westfalen, zunächst in Oeding und seit 1953 in Gronau (Westf.).“
Landesbischof Walther Schultz, Schwerin, gestorben 1957 in Schnackenburg, Niedersachsen „Nach Kriegsende wurde Schultz, zusammen mit Konsistorialpräsident Hermann Schmidt zur Nedden, am 25. Juni 1945 von der britischen Besatzungsmacht verhaftet und interniert. Zwei Tage später legte er sein Amt nieder. Im Jahre 1948 wurde er aus dem Dienst der Landeskirche Mecklenburgs entlassen. Im Jahre 1950 wurde Schultz mit der pfarramtlichen Hilfeleistung in der St.-Dionysius-Kirchengemeinde Fallingbostel in der Lüneburger Heide beauftragt. Als für diese Aufgabe dort eine neue Pfarrstelle errichtet wurde, musste Schultz die Gemeinde verlassen und übernahm in Schnackenburg an der Elbe ein Gemeindepfarramt, das er bis zu seinem Tode innehatte.“
Oberkonsistorialrat Theodor Ellwein, Berlin, gestorben 1962 München „Nach der Entlassung im Dezember 1949 wurde er 1950 von kirchlicher Seite in den Ruhestand versetzt. Im Jahre 1951 wurde er Religionslehrer am Gymnasium Pasing und Lehrbeauftragter an der Lehrerbildungsanstalt München-Pasing. Von 1954 bis 1961 war er Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle der Evangelischen Akademie Bad Boll bei Göppingen. 1955 war er Mitglied der Studienkommission für Lehrerbildung („Tutzinger Empfehlungen“) in der Evangelischen Akademie Tutzing. 1961 trat er in den Ruhestand.“
Oberkonsistorialrat Hans Hohlwein, Eisenach, gestorben 1996 in Solingen „Nach 1945 wirkte Hohlwein als theologischer Hilfsarbeiter in der Propstei Halberstadt, und von 1947 bis 1951 verwaltete er die Pfarrstelle Heudeber in der Kirchenprovinz Sachsen. Im Jahre 1951 erfolgte seine Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland.“
Kirchenrat Wilhelm Bauer, Eisenach, gestorben 1969 in Bayern „In dem von ihm 1935 herausgegebenen Buch „Feierstunden Deutscher Christen“ kamen neben Bibelzitaten auch Autoren wie Adolf Hitler zu Wort. Zugleich betätigte er sich als Schriftleiter der Zeitschrift „Deutsche Frömmigkeit“, in der die Positionen der Deutschen Christen vertreten wurden. In einer ihrer Ausgaben bekundete er: „Wir sind Nationalsozialisten. Der Nationalsozialismus bedeutet uns die Wiederaufrichtung einer wahrhaften Volksordnung auf dem Grunde der ewigen Gesetze unseres Blutes und unserer Heimaterde.“ Im Jahre 1939 erklärte er seine Mitarbeit am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. Zu Beginn der 1940er Jahre wurde er stellvertretender Studienleiter des Thüringer Predigerseminars. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus lebte Bauer in der Bundesrepublik Deutschland, publizierte dort weiter und starb in einem Ort des Freistaats Bayern.“
Landessuperintendent Friedrich Kentmann, Güstrow, gestorben 1953 in Hamburg „Nach dem Ende von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg 1945 wurde er seines Amtes als Landessuperintendent enthoben und vom pfarramtlichen Dienst suspendiert. Sein Nachfolger als Landessuperintendent wurde mit Wirkung vom 1. Oktober 1945 der Güstrower BK-Pastor Sibrand Siegert (1890–1954). 1950 erfolgte die Entlassung Kentmanns aus dem Dienst der mecklenburgischen Landeskirche.“
Superintendent Gerhard Spangenberg, Altenweddingen, gestorben 1975 in Dülmen, NRW „Bis zum Antritt der Pfarrstelle im westfälischen Dülmen, wo er bis zu seinem Tod lebte, arbeitete er als Verwalter einer Obstfirma und später als Krankenhausverwalter. Die Kirchenleitungen verlangten zur Wiederaufnahme in den Dienst zunächst die Wiederholung des Ordinationsgelübdes, ein Kolloquium und die zeitweilige Tätigkeit als Hilfsprediger, was er ablehnte. Dennoch stimmte 1955 die Kirchenleitung in Bielefeld seiner Wahl zum Pfarrer der Gemeinde in Dülmen zu, wo er nach seinem Ruhestand auch als Militärpfarrer wirkte.“
Im Osten geblieben
Reichsvikar Fritz Engelke, Schwerin, gestorben 1956 in Schwerin „Nach 1945 wirkte er als Pastor der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs in Schwerin. Ab 1950 vertrat er den im Gulag Workuta inhaftierten Aurel von Jüchen an der Kirche St. Nikolai (Schelfkirche) Schwerin.
Oberlandeskirchenrat Willy Kretzschmar, Dresden, gestorben 1962 in Dresden „Nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 erfolgte zunächst seine Entlassung aus dem aktiven Kirchendienst. 1946 stellte er den erfolgreichen Antrag auf Rehabilitierung, in dem er seine Mitarbeit im „Entjudungsinstitut“ in Eisenach extrem herunterspielte. In seinem Rehabiltierungsantrag an das sächsische Landeskirchenamt in Dresden stellte er sich selbst „als Verführten der NSDAP“ dar. Spätestens seit 1939 habe er sich „zu aktiven Gegner des NS-Regimes gewandelt“ und sich antinationalistisch und parteischädlich verhalten sowie Grundsätze der NSDAP bekämpft. 1959 ging Kretzschmar als kirchlicher Finanzverwalter der Landeskirche Sachsens in den Ruhestand.“
Oberlandeskirchenrat Heinrich Seck, Dresden, gestorben 1947 in Stadt Wehlen „In dieser Eigenschaft und als Mitglied der Deutschen Christen war er Mitarbeiter am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben und wurde deshalb nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 aus dem aktiven Kirchendienst entlassen. Er zog in die Sächsische Schweiz, wo er im Alter von 51 Jahren in Stadt Wehlen starb.“
Oberkirchenrat Friedrich Buschtöns, Berlin, gestorben 1962 in Berlin „1945 übernahm er die Aufsicht über die kirchlichen Vermögenswerte im Schloss Ilsenburg und wenig später über das kirchliche Flüchtlingslager in Stolberg. 1946 wurde Buschtöns in den Ruhestand versetzt. Er hat aber auch danach noch pfarramtliche Dienste geleistet, so etwa in Kleinmachnow. 1955 gehörte er zum Herausgeber- und Redaktionskreis der vom ZK der SED angeregten Zeitschrift Glaube und Gewissen: eine protestantische Monatsschrift.“
Kirchenrat Erhard Mauersberger, Eisenach, gestorben 1982 Leipzig, Chorleiter, Leiter Bach-Komitee, 1972 bei politischer Säuberung aus Chorleitung entfernt.
Unbekannt / irrelevant
Landesbischof Martin Sasse, Eisenach, gestorben 1942 an Schlaganfall
Kirchenregierungsrat Erwin Brauer, Eisenach, gestorben 1946 Buchenwald „Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus verlor er seine Ämter und wurde von den sowjetischen Militärbehörden im Speziallager Nr. 2 in Buchenwald interniert, wo er am 19. Dezember 1946 verstarb.“
Zwischenfazit: Von den Nazi-Christen mit kirchlicher Funktion im Osten sind 7 in den Westen gegangen und 5 im Osten geblieben. Das bedeutet erstens, dass die Mehrheit in den Westen gegangen ist und zweitens, dass es im Osten sieben Nazis weniger und im Westen sieben Nazis mehr gab als vor der Befreiung.
Geistliche bzw. Pfarrer
Die Liste der Geistlichen ist lang. Nur wenige sind in Wikipedia verlinkt. Ich liste hier nur die verlinkten auf.
In den Westen gegangen
Pfarrer Hermenau, Potsdam, gestorben 1981 Wiesbaden „Im Jahre 1939 erklärte er seine Mitarbeit am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. In zahlreichen Publikationen vertrat er seine Überzeugung von der Rolle der deutschen Frau im Reich Adolf Hitlers. […] 1972: Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland“ Zur Entnazifizierung und zum Grund für das Bundesverdienstkreuz steht nichts in Wikipedia.
Pfarrer Hosenthien, Magdeburg, gestorben 1972 in Braunschweig „1949 folgte Albert Hosenthien seinem Sohn und zog nach Fort Bliss in El Paso (Texas), kehrte jedoch, da er mit den dortigen Gegebenheiten nicht zurechtkam, 1954 wieder nach Deutschland zurück. Da die Region Magdeburg jetzt in der DDR lag, siedelte er sich in Braunschweig, im westlichen Teil Deutschlands an. Er arbeitete hier auch wieder als Pfarrer.“
Pfarrer Hunger, Eisenach, gestorben 1995 Münster, NRW „Nach 1945 orientierte er sich auf das Gebiet der Sexualerziehung, was ihm den Spitznamen „Sex-Hunger“ eintrug. Bis Ende der 1960er Jahre publizierte er seine christlich-konservative Sexualmoral im Gütersloher Verlagshaus. Er wurde auch Redaktionsleiter der Zeitschrift Der evangelische Religionslehrer an der Berufsschule, die vom Schriftenmissionsverlag Gladbeck herausgegeben wurde.“
Pfarrer Kersten-Thiele, Köthen, gestorben 1988 Göttingen, Niedersachsen „Nach 1945 wirkte Kersten-Thiele im Vorstand der Deutschen Ostasien-Mission und publizierte in deren Sinne mehrere Bücher. 1948 war er Pfarrer in Göttingen-Grone und 1954 in Düsseldorf. Von 1960 bis 1964 war er Religionslehrer am Rethel-Gymnasium (bzw. Jacobi-Gymnasium) Düsseldorf und zwischen 1968 und 1973 war er als Pastor in Sereetz tätig. Anschließend ging er in die Rheinische Landeskirche zurück.“
Pfarrer Kuhl, Berlin, gestorben 1959 Kassel „Spätere Wohnsitze waren Nordkirchen, wo er von 1949 bis 1956 Pfarrer war. Hier gründete er einen Kirchbauverein, um in Nordkirchen ein Gemeindezentrum schaffen zu können. Im Jahr 1956 wurde ihm von der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn die Ehrendoktorwürde verliehen. Nachdem Kuhl 1957 in den Ruhestand gegangen war, lebte er bis zu seinem Tod 1959 in Kassel und hinterließ eine Frau und zwei Kinder. In seinen letzten Lebensjahren hatte er einen Lehrauftrag an der Georg-August-Universität Göttingen. Gemeinsam mit Bo Reicke arbeitete er ab 1958 am Biblisch-historischen Handwörterbuch für den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Kuhl war von 1921 bis zu seinem Tod Mitglied der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft.“
Pfarrer Schmidt-Clausing, Potsdam-Babelsberg, gestorben 1984 in West-Berlin „Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete Schmidt-Clausing den Wiederaufbau der Gemeinde von 1947 bis 1962 als Pfarrer an der Berliner Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche. In der Kirchenruine wurde die einzige verbliebene Glocke wieder gangbar gemacht und bis in die 1950er Jahre zum Begrüßungsläuten für die Berliner Russlandheimkehrer benutzt. Im beginnenden Kalten Krieg setzte Schmidt-Clausing damit ein politisches Zeichen und machte seine Gemeinde bekannt – bis hin zur US-amerikanischen Wochenschau, die das Thema dankbar aufnahm. Fritz Schmidt-Clausing starb in einem West-Berliner Pflegeheim und wurde auf dem Friedhof Wilmersdorf beigesetzt.“
Hans-Joachim Thilo hat sich neuorientiert, so dass ich ihn hier extra aufzähle. Prinzipiell ist das bei den sechs oben genannten Personen natürlich auch denkbar, es steht aber ncihts dazuin Wikipedia.
Pastor Thilo, Pirna, gestorben 2003 in Lübeck „Thilos Erfahrungen im Kriegsdienst, seine Verwundung bei Kiew und seine Kriegsgefangenschaft, zunächst in Kanada, dann in England, führten ihn zu einem Umdenken und Neuanfang. Im Dezember 1947 kehrte er nach Deutschland zurück und erhielt eine Pfarrstelle der Kirchengemeinde am Lietzensee in Berlin-Witzleben. Gleichzeitig baute er hier die kirchliche Beratungsarbeit auf. Von 1956 bis 1961 wirkte er an der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Genf. Anschließend war er Referent an der Evangelischen Akademie Bad Boll, bis er 1966 zum Pastor der Marienkirche in Lübeck berufen wurde, wo er bis zu seiner Pensionierung wirkte. 1973 habilitierte er sich an der Universität Hamburg für das Fach Praktische Theologie. Er blieb Gemeindepastor, hielt jedoch regelmäßig Lehrveranstaltungen in Hamburg. 1979 wurde ihm der Titel Professor verliehen.“
Im Osten geblieben
Oberpfarrer Ungern von Sternberg, Ronneburg, gestorben 1949 in Gera „Noch im Januar 1945 gehörte er zu den Thüringer Pröpsten, die den DC-Kirchenpräsidenten Hugo Rönck dazu drängten, den Bischofstitel anzunehmen.[2] Aufgrund des Gesetzes zur Überprüfung der Pfarrerschaft und der Verwaltung der Thüringer evangelischen Kirche (Reinigungsgesetz) vom 12. Dezember 1945 wurde Ungern-Sternberg aus dem Pfarrdienst entlassen und die Dienstbezeichnung „Superintendent im Wartestand“ wurde ihm aberkannt. Er wurde aber zunächst kommissarisch als Pfarrer in Ronneburg weiterbeschäftigt, ab dem 1. Dezember 1947 wurde er dann wieder offiziell als Pfarrer in Niederpöllnitz eingesetzt.“
Pfarrer Delling, Leipzig, gestorben 1986 in Halle „Im Jahre 1945 geriet Delling in Dänemark in Kriegsgefangenschaft und wirkte bis 1947 als Seelsorger im Internierungslager Aarhus. Nach seiner Entlassung ging er nach Pommern und erhielt 1947 einen Lehrauftrag an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. 1948 habilitierte er sich hier mit der Schrift Gottesdienst im Neuen Testament (gedruckt 1952) für das Fach Neues Testament. Im Jahre 1950 wurde Delling als Professor mit Lehrauftrag an die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg berufen, 1952 bekam er den vollen Lehrauftrag, die Beförderung zum Professor mit Lehrstuhl für spätantike Religionsgeschichte erfolgte 1953. 1955 erhielt er durch Kurt Aland, dem Leiter der Kommission für spätantike Religionsgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, eine Stelle zur Reorganisation des Corpus Hellenisticum. 1955/56 übernahm Delling eine Gastprofessur an der Universität Leipzig, eine Berufung kam jedoch ebenso wenig zustande wie die von Teilen der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität in den 1960er Jahren gewünschte Versetzung nach Berlin. An der Universität Halle baute Delling das Institut für spätantike Religionsgeschichte auf, dem er seit 1963 als Direktor vorstand. Nach der IV. Hochschulreform wurde Delling 1969 zum ordentlichen Professor ernannt und 1970 emeritiert. Delling forschte vor allem zur Überlieferungsgeschichte des Neuen Testaments und zum antiken Judentum (Das Zeitverständnis des Neuen Testaments, 1940; Jüdische Lehre und Frömmigkeit in den paralipomena Jeremiae, 1967; gesammelte Aufsätze: Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum, 1950–1968, 1970; Studien zum Frühjudentum, 1971–1987, 2000). Außerdem gab er Bibliographien zur jüdisch-hellenistischen Forschung heraus und arbeitete am Corpus Hellenisticum Novi Testamenti mit. Die Universität Greifswald verlieh ihm 1964 die Ehrendoktorwürde. Delling verstarb am 18. Juni 1986, im Alter von 81 Jahren, in Halle.“
Pfarrer Ohland, Unkeroda (Thüringen), gestorben 1953 in Friedelshausen, Thüringen „Im Jahre 1946 verlor Ohland sein Amt, durfte aber seit 1948 in Behrungen als Pfarrvikar wieder amtieren, seit 1952 als Pfarrer in Friedelshausen.“
Pfarrer Joseph Roth, Diersheim, gestorben 1941 Tirol
Pastor Dungs, Weimar, gestorben 1947 durch Hinrichtung oder 1949 in Haft
Zwischenfazit: Von den Nazi-Pfarrern im Osten sind 7 in den Westen gegangen und 4 im Osten geblieben. Zählt man Hans-Joachim Thilo zu den irrelevanten Fällen, weil es bei ihm ein Umdenken und Neuanfang gab, bleiben 6 in den Westen gegangene, die zu den Nazis, die ohnehin aus dem Westen waren, dazugekommen sind und den Osten verlassen haben.
Hochschullehrer bzw. Akademiker
In den Westen gegangen
Johannes Hempel, Berlin, gestorben 1964 in Göttingen „Er übernahm die Herausgeberschaft der Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft. Im Jahre 1937 wurde er nach Berlin berufen und leitete das Institutum Judaicum zur Erforschung des Judentums „vom Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung aus“. Im Jahre 1939 erklärte Hempel seine Mitarbeit am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben als Leiter der Arbeitsgruppe Altes Testament. Auf der Arbeitstagung im März 1941 referierte er über Die Aufgabe von Theologie und Kirche von der Front her gesehen. Während des Zweiten Weltkrieges fungierte er als Militärpfarrer. Das Kriegsende erlebte er 1945 in einem Lazarett an der Nordsee. Im Jahre 1947 wurde Hempel Pfarrverweser in Salzgitter-Lebenstedt, einem Ort im Gebiet der Braunschweigischen Landeskirche. Im Jahre 1955 wurde er Honorarprofessor in Göttingen und betrieb ab 1958 als Emeritus seine wissenschaftliche Arbeit weiter, besonders für die von ihm betreute Zeitschrift.“
Wolf Meyer-Erlach, Jena, gestorben 1982 in Idstein, Hessen „Im Jahre 1945 ging er aller Ämter verlustig, auch eine Wiedereinstellung in der bayerischen Landeskirche blieb ihm versagt. 1950 flüchtete Meyer-Erlach aus der DDR. Von 1951 bis 1963 wurde er Pfarrverwalter in Wallrabenstein und Wörsdorf bei Idstein im Taunus (Evangelische Kirche in Hessen und Nassau). Von ihm wurden historische Sujets wie das Stück „Anno 1634“ aufgeführt.“
Max Adolf Wagenführer, Jena, gestorben 2010 irgendwo im Westen „Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam er an die Lutherkirche nach Köln-Nippes und wurde zunächst in den Pfarrdienst der Rheinischen Kirche übernommen. 1949 wurde er wegen seiner fehlenden Ordination vorübergehend suspendiert und wechselte in den Schuldienst. 1953 kam er zurück in den Pfarrdienst, wurde ordiniert und erhielt eine Berufung an die neuerbaute Erlöserkirche in Weidenpesch. Von 1970 bis 1982 war er Pfarrer in Prien am Chiemsee.“
Im Osten geblieben
Richard Barth, Jena, gestorben nach 1946 „Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus verlor er sein Amt. Ab 1946 arbeitete er als Grundschullehrer in Jena.“
Paul Fiebig, Leipzig, gestorben 1949 in Kalbe Sachsen Anhalt
Reinhard Liebe, Freiberg (Sachsen), gestorben 1956 in Freiberg. Der Wikipedia-Eintrag lässt zu wünschen übrig.
Heinz Erich Eisenhuth, Jena, gestorben 1983 Pferdsdorf/Werra, Thüringen „Nachdem er 1945 aus dem Universitätsdienst entlassen worden war, wurde er 1946 zunächst kommissarisch, später im Hauptamt Pfarrer in Jena-Zwätzen. 1952 wurde er Superintendent in Eisenach. Anders als in der Forschungsliteratur bisweilen behauptet wird, übernahm er jedoch nie die Leitung der Evangelischen Akademie Thüringen. Er gehörte aber zeitweise der Synode an und erhielt mehrere Lehraufträge am Theologischen Seminar Leipzig. Nachdem er 1967 in den Wartestand getreten war, ging er 1969 in den Ruhestand.“
Wilhelm Knevels, Rostock, gestorben 1978 in West-Berlin „Im Jahre 1950 erhielt er einen Lehrauftrag an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Nach seiner Emeritierung lebte er in West-Berlin und wirkte dort weiter an der Freien Universität Berlin. Er ist auf dem Waldfriedhof Dahlem bestattet. Auf dem Grabstein steht unter den Lebensdaten: „Theologe des dritten Weges / = Selbstbesinnung des Glaubens / zwischen Fundamentalismus / und Existenzialtheologie / Unser Glaube ist der Sieg / der die Welt überwindet“.“ Knevels ist 1897 gebohren, die Emeritierung muss also gegen 1962 gewesen sein. Ich liste ihn hier unter Im Osten geblieben, weil er sein gesamtes Berufsleben im Osten verbracht hat.
Wilhelm Koepp, Greifswald, gestorben 1965 Kleinmachnow „1952 erhielt er den Lehrstuhl an der Universität Rostock. 1954 emeritiert, lehrte er noch bis zu seinem Tode an der Universität Rostock weiter.“
Johannes Leipoldt, Leipzig, gestorben 1965 in Leipzig „Nach 1945 war er Domherr des Hochstifts Meißen und erhielt eine Professur mit Lehrstuhl für Neutestamentliche Wissenschaft in Leipzig. Er wurde als ordentliches Mitglied in die Sächsische Akademie der Wissenschaften aufgenommen und 1954 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Silber und 1960 in Gold ausgezeichnet. […] Leipoldt war von 1953 bis 1963 als Vertreter der CDU Abgeordneter der Volkskammer.“
Herbert von Hintzenstern, Eisenach, gestorben 1996 in Weimar „Seit August 1945 war er in Lauscha, ab 1948 als Pfarrer. Dort trat er der DDR-CDU bei, sein Parteiaustritt erfolgte zum 1. Mai 1947. Im Jahre 1952 wurde er zum Landesjugendpfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen berufen. Seit 1956 leitete er die Evangelische Akademie Thüringen und die Pressestelle der Kirche. Gleichzeitig wurde er zum Chefredakteur der Kirchenzeitung Glaube und Heimat berufen. 1962 wurde er zum Kirchenrat ernannt. Von 1968 bis 1986 war er nebenamtlicher Leiter des Pfarrhausarchivs im Lutherhauses in Eisenach. 1981 ging er in den Ruhestand.“
Rudolf Meyer, Leipzig, gestorben 1991 in Jena, Thüringen „Im Jahre 1947 wurde er außerplanmäßiger Professor und 1948 […] Ordinarius für Altes Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Hier unterrichtete er Generationen von Theologiestudenten in Hebräisch, der Geschichte des Volkes Israel und der Theologie des Alten Testaments. Zusammen mit […] wurde ihm 1952 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin die Ehrendoktorwürde verliehen. Meyer war seit 1959 ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und seit 1978 korrespondierendes Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.“
Siegfried Morenz, Leipzig, gestorben 1970 Leipzig „Morenz wurde 1946 Dozent an der Universität Leipzig und habilitierte sich im selben Jahr bei Wilhelm Schubart mit einer Schrift zu Ägyptens Beitrag zur werdenden Kirche. Ab 1948 leitete Morenz, zunächst kommissarisch, das Ägyptologische Institut der Universität Leipzig. Im Februar 1952 wurde er Professor mit Lehrauftrag, im September des Jahres mit vollem Lehrauftrag und zwischen 1954 und 1961 schließlich als Lehrstuhlinhaber für Ägyptologie und hellenistische Religionsgeschichte. Zwischen 1952 und 1958 nahm Morenz zudem nebenamtlich die Leitung der Ägyptischen Abteilung der Staatlichen Museen zu Berlin in Ost-Berlin wahr. Zwischen 1961 und 1966 lehrte Morenz als Lehrstuhlinhaber an der Universität Basel, leitete jedoch im Nebenamt weiterhin das Leipziger Ägyptologische Institut. Danach kehrte er nach Leipzig zurück, wo er bis zu seinem Tod 1970 wieder den Lehrstuhl für Ägyptologie innehatte.“
Konrad Weiß, Berlin, gestorben 1979 in Rostock „1946 wurde Weiß außerordentlicher Professor für neutestamentliche Theologie an der Universität Rostock, 1948 wurde er dort auf eine ordentliche Professur berufen und 1972 emeritiert. Die Universität Kiel zeichnete Weiß 1961 mit der Ehrendoktorwürde aus.“
Unbekannt / irrelevant
Adolf Bartels, Weimar, gestorben März 1945 in Weimar
Die Auswertung der Lebensdaten der Hochschullehrer ist verblüffend. Nur drei sind in den Westen gegangen. 11 sind im Osten geblieben. Man müsste die Einzelfälle näher ansehen und erforschen, wie intensiv ihre Mitarbeit im Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben war und was davon zu Lebzeiten bekannt war. Teilweise hatten die Wissenschaftler Ehrendoktortitle von Universitäten in Ost und West.
Weitere Nazis aus dem Umfeld der Deutschen Christen / dem Institut
In den Westen gegangen
Hugo Rönck deutscher evangelischer Pfarrer und Bischof, gestorben 1990, bis 1976 Pastor in Eutin, Schleswig-Holstein. „Im Jahre 1945 nahm er „kurz vor dem Einmarsch der amerikan[ischen] Truppen“ den Titel Landesbischof an. Im April 1945 wurde er von den Vertretern der innerkirchlichen Opposition um Moritz Mitzenheim, Erich Hertzsch und Gerhard Kühn zum Amtsverzicht gedrängt und wenige Tage später von US-amerikanischen Truppen verhaftet. Im August 1945 entließ ihn die Thüringer Kirche aus dem kirchlichen Dienst. Später war er von 1947 bis 1976 Pastor in Eutin.“
Im Osten geblieben
Johannes Klotsche gestorben 1963, Stadt Wehlen, Pirna, Sachsen, „Der „fanatische Antisemit“ Klotsche unterzeichnete im April 1939 gemeinsam mit zehn anderen Landeskirchenleitern die Bekanntmachung über Gemeinschaftsarbeit von Landeskirchenleitern, deren erste Maßnahme in der Gründung des Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben bestand. Im Dezember 1941 wurden Christen jüdischer Herkunft aus der Landeskirche ausgeschlossen, womit das Sakrament der Taufe in Sachsen partiell außer Kraft gesetzt war. Bis 1942 gehörte er dem Verwaltungsrat des sog. Entjudungsinstituts an. Nach Kriegsende absolvierte er 1951/52 eine Ausbildung zum volksmissionarischen Dienst an der Predigerschule Paulinum in Ost-Berlin.“
Walter Grundmann gestorben 1976 in Eisenach „1930 wurde er Mitglied der NSDAP und 1933 aktives Mitglied der Deutschen Christen, deren im ganzen Deutschen Reich gültige Richtlinien er verfasste. 1939 wurde er zum akademischen Direktor des neu gegründeten Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben in Eisenach ernannt, das im Dienst des staatlichen Antisemitismus die „Entjudung“ der Bibel und der theologischen Ausbildung betrieb. Ungeachtet seiner NS-Vergangenheit erlangte Grundmann in der DDR als Theologe erhebliches Ansehen: 1954 erteilten ihm das Katechetische Oberseminar Naumburg (Saale) und das Theologische Seminar Leipzig Lehraufträge und er wurde Rektor des Eisenacher Katechetenseminars; seine ab 1959 erschienenen Evangelienkommentare waren Standardliteratur und werden bis heute (2022) zitiert. Er arbeitete für das Ministerium für Staatssicherheit, unter dem Decknamen GI Berg. […] In der DDR galt Grundmann bis zu seiner Emeritierung 1975 trotz seiner NS-Vergangenheit als angesehener theologischer Lehrer. 1974 verlieh die Kirchenleitung ihm nochmals den Titel eines „Kirchenrats“, um seine Arbeit anzuerkennen und um seine Pension zu erhöhen.“ Seine Wikipedia-Seite enthält eine ausführlichere Schilderung der Stasi-Tätigkeit.
Irrelevant
Friedrich Coch gestorben September 1945 in amerikanischer Gefangenschaft „Führer der Glaubensgemeinschaft Deutsche Christen in Sachsen und Herausgeber der Monatszeitschrift Christenkreuz und Hakenkreuz.“
Schlussfolgerung
7 + 6 + 3 der Personen, die in der NSDAP waren und sich öffentlich zum Antisemitismus bekannt hatten, sind vom Osten in den Westen gegangen. Dazu noch mindestens ein leitendes Mitglied der Deutschen Christen. Damit hat sich die Anzahl der Antisemiten und Nazis im Osten verringert und im Westen erhöht. Von einigen dieser Personen ist klar, dass sie wirklich harte Nazis und Rassisten waren. Andere waren eventuell weniger involviert, einige haben sich vielleicht gewandelt. Das geht aus Wikipedia nicht hervor.
Der Chef von Combat 18 lebt in Thüringen. Netterweise schreibt die taz jetzt aber auch schon manchmal selbst dazu, wo die Nazis eigentlich herkommen:
Die vier Männer, darunter der Anführer Stanley Röske, sollen Combat 18 gemeinsam mit anderen Mitgliedern bis mindestens 2022 weiterbetrieben haben. […] Röske ist ein langjähriger Neonazi aus Kassel, der nach Thüringen übergesiedelt war und sich auch mit Stephan Ernst umgeben hatte, dem Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.
Der andere Chef kommt nach Spiegel aus Dortmund bzw. nach taz aus Castrop-Rauxel in Nordrhein-Westfalen.
Im taz-Artikel wird auch Knockout 51 erwähnt. Das ist eine Naziorganisation von Menschen aus Eisenach und Erfurt. Sie wurde laut MDR vom Neonazi Patrick Wieschke (NPD, jetzt Die Heimat) aufgebaut.
Was die bürgerliche Fassade als Buchhändler und das biedere Image der Partei für manche Beobachter verdeckte: Wieschke scharrte schon zu diesem Zeitpunkt immer mehr Jugendliche aus Eisenach und Erfurt um sich, die zwar rechts, aber noch nicht straff organisiert waren.
Wieschke ist selbst aus Eisenach, aber wurde erst 1981 geboren. Zur Wende war er also 8 Jahre alt. Den überwiegenden und für die Herausbildung politischer Überzeugungen wichtigeren Teil seiner Jugend hat er also im Nachwende-Deutschland verbracht.
Ha! Wieder! Die taz schreibt über den Schelm-Verlag, der Mein Kampf und Holocaust-Leugnung vertreibt (Die Lieferanten des Hasses). Sie schreiben über den Verlagsleiter als Rechtsextremist und früheren Leipziger.
der langjährige Rechtsextremist und frühere Leipziger Adrian Preißdinger.
Der Verlag war in Leipzig, das wird im Artikel auch erwähnt, aber wieso sollte die Information, dass der Verlagsleiter ein Leipziger war, relevant sein? Die wäre nur in der Ost-West-Diskussion wichtig. Und da ist sie falsch. Adrian Preißinger wurde 1964 in Kronach, einer oberfränkischen Stadt, geboren.
Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 271
Die Besprechung dieses einen Satzes ist viel zu lang geraten, so dass ich beschlossen habe, sie in einen extra Blog-Post auszulagern. Das ist dieser hier.
Ad hominem: Wer spricht?
Ich habe mich gefragt, wo hat Anne Rabe das nur herhat. Quellen hat sie keine angegeben. Da steht nur dieser eine Satz. Na, vielleicht von Ines Geipel. Dass sie mit Ines Geipel befreundet war/ist habe ich aus einem Artikel in der NZZ über ein angebliches Plagiat von Rabe erfahren (siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Dass Anetta Kahane und Ines Geipel gelogen haben (oder extrem unwissend sind), wenn sie behaupten, der Holocaust sei im Osten nicht vorgekommen, habe ich schon in Der Ossi und der Holocaust besprochen. Zum (fast) nicht vorhandenen Antisemitismus in der DDR hat die Jüdin Daniela Dahn viel geschrieben. Manches ist auch im Holocaust-Post erwähnt. Andere Sachen bespreche ich im Post über die Ausstellung über jüdisches Leben in der DDR, die vom jüdischen Museum organisiert wurde.
Ich habe diverse Interviews mit Anne Rabe gelesen und in einem Interview von Cornelia Geißler von der Berliner Zeitung steht:
Auch der Historiker Patrice G. Poutrus, der eher Oschmanns Generation angehört, hat beobachtet, dass Rechte und Rechtsextreme im Osten auf ein festes nationalistisches Weltbild trafen.
Ich bin ja immer bereit, Neues zu lernen und dachte mir: „Gut, mal gucken, was der Historiker Poutrus herausgefunden hat.“ Als erstes: Kurzer Chek: Er ist aus dem Osten. Also gut, mal gucken. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung habe ich einen Aufsatz von ihm gefunden, den er gemeinsam mit Jan C. Behrends und Dennis Kuck verfasst hat: Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern.
Anschließend arbeitete er als hauptamtlicher FDJ-Funktionär erst im VEB Werk für Fernsehelektronik und dann in der FDJ-Bezirksleitung Berlin. 1988 legte er sein Abitur an der Abendschule der Volkshochschule Berlin-Treptow ab. 1989 wurde er zum Fernstudium der Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin zugelassen.
Nun ja, nun ja. Ein FDJ-Sekretär, der sich für ein Geschichtsstudium beworben hat. In der DDR. Fächer wie Geschichte und Philosophie studierten in der DDR nur die rötesten Socken. Für mich fällt Poutrus damit in eine Gruppe mit Geipel (Vater IM für terroristische Anschläge auf BRD-Gebiet), Kahane (Vater ND-Chefredakteur, sie selbst IM, die aktiv jüdische Freunde verraten hat, siehe Wikipediaeintrag) und Rabe (Funktionärskind): ehemalige rote Socken bzw. Funktionärskinder, die auf die andere Seite vom Pferd gefallen sind. Der Punkt ist: Als belasteter Mensch darf man auf keinen Fall irgendetwas Gutes an dem finden, was man hinter sich gelassen hat, denn andere könnten ja dann denken, man sei immer noch „so einer“.
Rote Vergangenheit allein bedeutet nichts. Menschen können sich ändern. Ad hominem-Argumente sind in der normalen Wissenschaft unzulässig. Aber irgendwie scheint mir hier doch ein Muster vorzuliegen und es geht bei gesellschaftlich relevanten Aussagen eben doch darum, wer spricht. Die echten Argumente zu Poutrus kommen in den nun folgenden Abschnitten. Die gegen Kahane und Geipel habe ich bereits in Holocaust-Post vorgebracht. Die gegen Rabe in den beiden zu Beginn zitierten Blog-Posts und auch vermischt mit dem, was jetzt kommt.
Jugendliche Rechtsextremisten in Jugendtreffs
Ich gehe den Text von Poutrus, Behrends & Kuck einfach mal der Reihe nach durch. Die Autoren schreiben:
Trotz Vereinheitlichungstendenzen und internationaler Vernetzung in der rechten und Skinhead-Szene sind deutliche Unterschiede zwischen der Situation in Ost- und Westdeutschland zu beobachten. Kennzeichnend ist nicht nur die ’starke Dominanz jugendlicher Rechtsextremisten’ in den Jugendtreffs verschiedener ostdeutscher Brennpunkte, sondern die inzwischen erreichte voraussetzungslose Gewaltbereitschaft.
Hierzu möchte ich der geneigten Leser*in folgendes Video ans Herz legen:
Der Beitrag zeigt einen Jugendclub in Cottbus, in dem sich Rechtsradikale treffen. Sie werden dort vom CDU-Innenminister Jörg Schönbohm besucht, der die Jugendlichen prima findet (12:30). Die Familie Schönbohm floh 1945 in den Westen. Schönbohm war Generalleutnant in der Bundeswehr und Landesvorsitzender der CDU Brandenburg. Auch sieht man im Video, dass die Nazi-Partei Deutsche Alternative, die in Brandenburg aktiv war, von Menschen aus dem Westen aufgebaut wurde (11:25). Rabe schreibt dazu auch an einigen Stellen etwas und stellt den Einfluss von West-Nazis und Westpolitikern in Frage. Ihre Aussagen im Buch zum Beispiel bzgl. Lichtenhagen sind einfach falsch. Zu dieser Diskussion siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück.
Nationalstolz
Die Autoren argumentieren, dass die DDR einen Nationalstolz zu etablieren versucht habe, der dann später in den jetzt zu beobachten Nationalismus umgeschlagen sei. Im Folgenden möchte ich einige Bereiche untersuchen, auf die man hätte stolz sein können oder sollen.
Sport
Die Staatsführung wollte, dass wir stolz auf unser Land sind. Verständlich. Sie wollte, dass wir gern dort leben und nicht bei der erstbesten Gelegenheit abhauen. Aber hat das irgendwie geklappt? Ich bin ja fast noch nachträglich stolz auf die DDR geworden, als ich gestern gesehen habe, wie gigantisch die Last war, die die Generation meiner Eltern und Großeltern gestemmt hat: Reparationsleistungen und Wiederaufbau (siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Aber zu DDR-Zeiten war ich nicht stolz auf die DDR und kannte außer anderthalb Stasi-Kindern wahrscheinlich auch niemanden, der stolz war. Die DDR hat es versucht. Mit Sport. Katarina Witt war super. Ich habe sie als Kind beim Schaulaufen gesehen. Im Sport- und Erholungszentrum im Friedrichshain. Beim Kinderschaulaufen. Sie war ein Schlumpf. Wahrscheinlich so 14 Jahre alt. Später hing in jedem Klassenraum ein Bild von ihr. Im FDJ-Hemd. Sie war Mitglied der Volkskammer. Sie kannte Bryan Adams und hatte dafür gesorgt, dass er zu einem Konzert nach Berlin kam.
Sie ließ es sich nicht nehmen, ihn anzukündigen. Vor 65.000 Menschen. Sie haben sie ausgebuht.1 Die Gold-Käthe hat es nicht verstanden. Wo kam nur diese Abneigung her? Sie hatte doch alles gewonnen, was man gewinnen konnte? Für die FDJ, für Erich Honecker, für ihr Land. Wir mochten sie nicht.
Nach der Wende hat sie das Land verlassen. Wie man dem folgenden Video entnehmen kann, hat sie heute noch nicht verstanden, warum wir sie nicht mochten.
Sandow hat sogar ein Lied über die Konzerte damals (mit Bruce Springsteen) und über unseren Stolz auf Katharina Witt geschrieben:
Wir bauen auf und tapeziern nicht mit Wir sind sehr stolz auf Katharina Witt Katharina was born Born in the GDR.
Sandow: Born in the GDR. 1989
Betriebe
Meine Mutter hat Betriebsbesichtigungen organisiert. (Für die, die es nicht erlebt haben: Ein Großteil des kulturellen Lebens fand in der DDR auch über die Betriebe statt. Musik, Ausflüge usw. Freigeister fanden das doof. Diese klebrige Enge. Aber das war alles weg, als nach der Wende die Arbeitslosigkeit kam. Persönliche Bindungen weg, Arbeit weg, Kultur weg. Es blieb nur ein Trümmerhaufen.) Jedenfalls habe ich eine Lichtleiterfabrik, eine Fabrik von Sternradio und ein Kugellagerwerk besichtigt. Ich dachte, dass eine Lichtleiterfabrik etwas Hochmodernes sein müsste. Es war eine kleine Klitsche mit Maschinen aus den 70er Jahren. Die Kugellagerfabrik funktionierte. Ich fand es lustig, dass die fertigen Kugellagerrollen auf Schienen durch die Halle rollten. Die Fertigungsanlage für Sternradio wurde aus Schweden importiert. Cooles Zeug. Nestbauweise. Wir konnten sehen, wie die Schaltkreise auf die Platinen kamen usw. Die Taktstraße stand in einem alten Fabrikgebäude. Die Sternrecorder – muss wohl der SKR 700 gewesen sein – wurden ganz oben produziert. Wenn sie fertig waren schwebten sie am Förderband ins Treppenhaus, wo sie dann ins Erdgeschoss hinabgelassen werden sollten. Das Abbremsen der Recorder im Treppenhaus funktionierte nicht, so dass eine große Anzahl der Recorder sechs Stockwerke in die Tiefe stürzte. 1540 Mark einfach futsch. Pfusch. Sollte ich darauf stolz sein?
Ich bin in Buch aufgewachsen. In den Neubauten. Es gab die alten Neubauten, die Neubauten und die neuen Neubauten. Ich konnte dabei zusehen, wie Teile der Neubauten und der neuen Neubauten entstanden. Die Baustellen standen oft Monate lang still, weil Material fehlte. Die Bauarbeiter saßen in den Bauwagen davor. Sollte ich darauf stolz sein? Es gab Wohnungsnot. Später im Westen habe ich mich darüber gewundert, wie schnell man Häuser bauen konnte.
1987 war ich für drei Wochen im Braunkohlewerk Espenhain. Die Schwelerei war zugefroren und das Werk hatte die Armee um Hilfe gebeten. Die Kompanie vor uns hatte die Schwelerei vom Eis befreit, so dass die Förderbänder wieder liefen. Wir waren nur noch zur Sicherheit dort im Einsatz. Ich erinnere mich genau daran, wie wir hingefahren sind. Wir saßen auf einem Laster, ich war eingeschlafen. Irgendwann bin ich aufgewacht, hab einen kurzen Blick nach draußen geworfen und wusste: Wir sind da. Der Schnee war schwarz. Ich habe in der Nachtschicht gearbeitet und meine Aufgabe war es, ab und zu an ein Rohr einer Filteranlage zu klopfen, damit die Asche in einen mit Wasser gespülten Kanal fiel, denn die Klappe dafür verklemmte sich ab und zu. Es gab Förderbänder über die Kohlebriketts aus den Kohlepressen in Bahnwaggons transportiert wurde. Die Briketts kamen aus der Presse über Doppel-T-Träger aus Stahl. Die Träger waren so abgenutzt, dass in der Mitte das Metall weg war. Deshalb verklemmte sich ab und zu ein Brikett, die umliegenden Brieketts ploppten raus und fielen neben die Träger. Unsere Aufgabe war es, die Kohle auf die Bänder zu schippen. Ein Angestellter erzählte uns, dass das normalerweise „die Russen“ machen. Die T‑Träger befanden sich in der Höhe von 2 bis 3 Metern. Wenn dann so viele Briketts runtergefallen waren, dass sie in die Höhe der T‑Träger kamen, wurden die „Freunde“ gerufen und schippten das alles in einem Rutsch weg. Aber da wir nun schon mal da waren, konnten wir das auch erledigen.
Wenn es regnete, sah man die Pfützen nicht. Der Staub lagerte sich auf ihnen ab.
Das Werk Espenhain wurde 1937 von den Nazis gebaut. Schon kriegssicher in redundanter Doppeltausführung: zwei gleiche Kraftwerke nebeneinander.
Nach dem Kohleeinsatz bekamen wir drei Tage verlängerten Kurzurlaub (VKU). Ich habe jeden Tag gebadet. Die Kohle war noch lange in den Poren. (Nicht, dass wir in Espenhain nicht geduscht hätten. Das hat nur nicht viel geholfen.)
Sollte ich auf Espenhain stolz sein? Das war ein komplett runtergerocktes Kraftwerk!
Das steht hierzu in Wikipedia:
In den 1960er Jahren waren die Anlagen im Zusammenhang mit der Wirtschaftsorientierung auf die Erdölchemie massiv auf Verschleiß gefahren worden. Als Anfang der 1970er Jahre die Kohlechemie wieder an Bedeutung gewann, wurde die Produktion in den verschlissenen Anlagen auf maximale Leistung gesteigert. Dadurch und durch nicht vorhandene Investitionen im Bereich des Umweltschutzes stiegen die Schadstoffemissionen in Luft und Wasser sehr stark an. Über dem Ort und seiner Umgebung lag immer eine Wolke von Phenolen, Schwefel, Ruß und Asche. Der hohe Schadstoffausstoß machte es erforderlich, jeden Morgen Straßen und Gehwege zu kehren, da sich eine dicke Ascheschicht niedergelassen hatte. Einige Einwohner berichten, dass gelegentlich die Sonne hinter Aschewolken verschwand und dass Autos tagsüber mit Licht fahren mussten. Die gesundheitlichen Auswirkungen auf die Einwohner der Stadt waren verheerend. Die Lebenserwartung lag infolgedessen einige Jahre unter dem landesweiten Durchschnitt. Vor allem Kinder litten stark unter den auftretenden Haut- und Atemwegserkrankungen, wie z. B. Ekzemen und chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung (COPD). Auch heute noch sind viele Einwohner von Spätfolgen betroffen
Im Konsum des Werkes gab es Schnaps für 60 Pfennig (Wikipedia sagt 1,12 M) die Flasche (Brauseflasche). Der wurde Kumpeltod genannt. Bergleute und Leute in den Kraftwerken wurden exklusiv damit versorgt. Ich hab das nicht getrunken. Vielleicht bin ich darauf stolz …
In den Nachrichten wurde der 1‑Megabit-Chip gefeiert. Sollte ich darauf stolz sein? Freunde hatten West-Computer, ich arbeitete an Ost-Computern. Ich wusste, wo wir standen.
Alle wussten es. Es gab Witze: „Ein Japaner kommt in die DDR und reist durchs Land. Kurz vor seiner Abreise wird er gefragt, was er am besten fand. Die Antwort: ‚Die ganzen Museen: Pergamon, Robotron, Pentacon.’“ (Nebenbemerkung: Das bedeutet nicht, dass alles Schrott war. Es gab neu errichtete Werke, gut funktionierende Werke, es gab Bodenschatzvorkommen, die ergiebiger waren als die im Westen (Kali). Das alles konnte man in einem Film über die Treuhand sehen, der aber leider privatisiert wurde … (auf youtube auf privat gestellt wurde.))
Ich war nicht stolz auf die DDR. Ich war auch nicht stolz Deutscher zu sein. Wir hatten gelernt, dass Nationalismus das Wurzel allen Übels war. Ich bin nach der Wende noch jahrelang zusammengezuckt, wenn jemand „Deutschland“ gesagt hat, und würde dieses Wort auch heute noch gerne nicht verwenden.
Die Autoren schreiben:
Hilflos gegenüber der Allgegenwart des Westfernsehens und der wirtschaftlichen Überlegenheit der Bundesrepublik, versuchte die Partei eher durch den Vergleich mit den sozialistischen Bruderländern, den Verweis auf die eigene Spitzenstellung (hinter der Sowjetunion), Punkte zu sammeln. Insbesondere in Krisensituationen war die Parteiführung auch bereit, ungeniert antipolnische Stereotype (‘polnische Wirtschaft’) zu bedienen
Es stimmt, dass wir wussten, dass wir die Besten der Abgehängten waren. Noch vor der Sowjetunion. Ich war 1984 in Polen und 1988 in Rumänien und die Versorgung dort war unglaublich schlecht. Aber ich dachte: Puh, da haben wir aber Glück. Und muss ja, weil wir das Schaufenster waren (siehe Bananen im Post Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Stolz war ich darauf nicht. Die Sache mit den Polen stimmt. Das ging gegen Solidarność.
Worauf war ich stolz, worauf konnte ich stolz sein? Auf meine eigenen Erfolge im Sport? Im Schach? In Mathematikolympiaden? Ja.
Auf unsere Täterätä – wie Manfred Krug sie nannte – stolz zu sein, wäre mir nie im Traum eingefallen. Das war bei FDJ-Funktionären und bei Sachsen vielleicht anders.2
Nationalismus und Rassismus
Nationalismus
Zum Nationalismus schreiben die Autoren:
In der ‘patriotischen Erziehung’ der DDR wurden Begriffe wie ‘Heimatliebe’ oder ‘Stolz auf die Errungenschaften’ der DDR mit sozialistischer Ideologie aufgeladen. ‘Sozialistischer Patriotismus’, das hieß unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion, Liebe zur SED und Verehrung für die Parteiführung und Solidarität mit den ‘unterdrückten’ Völkern der Welt. Uns erscheint aber zweifelhaft, ob die Bevölkerungsmehrheit all diese Implikationen nachvollzog oder ob nicht eher nach der prägenden Kraft dahinterstehender tradierter Denkstrukturen, nämlich der kritiklosen Überhöhung des Eigenen und der exklusiven Identifikation mit dem eigenen Kollektiv zu fragen ist. Beruhte diese ‘imagined community’ (Benedict Anderson) also auf genau jenen Mechanismen, die für das Gefühl und das Erlebnis, einer ethnisch definierten ‘Nation’ anzugehören, typisch sind? Einige fachspezifische Forschungsergebnisse weisen in diese Richtung: Die bildungsgeschichtliche Studie von Helga Marburger und Christiane Griese attestiert der DDR-Pädagogik einen starken Homogenisierungsdruck nach innen. ‘Das Eigene war kollektives Eigenes und als solches streng genormt.’
Hm. Ja. Vielleicht. Wie die Autoren selbst schreiben, war es mit „Liebe zur SED und Verehrung für die Parteiführung“ nicht weit her. Den Erich haben wir nicht geliebt. Wir haben ja nicht mal die Katharina geliebt und die sah wirklich gut aus. Was die Staatsführung wollte und was real war, klaffte nicht nur bei der Wirtschaft auseinander.
Aber ist jetzt das DDR-System schuld daran, dass es wollte, dass die Bevölkerung dieses Land liebte und da blieb, statt bei der nächstbesten Gelegenheit in den Westen zu verschwinden? Die exklusive Identifikation mit dem eigenen Kollektiv gehörte sicher nicht zu den „dahinterstehenden tradierten Denkstrukturen“, denn uns wurde immer der Wert der Völkerfreundschaft beigebracht. Internationale Solidarität. Im Kampf für eine bessere Welt, ohne Ausbeutung usw. Das schreiben die Autoren ja auch selbst. Der oben zitierte Absatz scheint mir inkonsistent zu sein.
Weiter:
Lohnend ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf das Verhältnis der Stasi zu den auch in der DDR existenten Skinheadgruppen. In den Stasi-Akten zum Skinheadüberfall auf die Zionskirche von 1987 wird deutlich, wie stark die Denkschemata der Ermittler durcheinander gerieten. Waren doch die Opfer – Ziel des Überfalls war ein Punkkonzert – durch ihren Non-Konformismus bis dahin selbst Objekt von Beobachtung und Verfolgung der Sicherheitsorgane, weil ihre Einstellung als systemfeindlich galt. Was die rechten Schläger betrifft, so reichen die Akten über rechtsextreme Vorfälle bis 1978 zurück. Gleichwohl passte die ‘faschistische’ Orientierung dieser Tätergruppe nicht in das Raster der klassenkämpferisch geschulten Geheimdienstler, hatten die Skins doch wesentliche ’sozialistische Werte’ wie Arbeitsliebe, Ordnung, Sauberkeit und Bereitschaft zum Militärdienst für sich angenommen. Dieses Beispiel verdeutlicht die ’sozial-hygienischen’ Gemeinsamkeiten staatssozialistischer und rechtsextremer Leitbilder. Diese Übereinstimmung war es, die eine couragierte und offene Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus unmöglich machte, wären damit doch die genannten Grundwerte der DDR und letztlich der beschriebene Herrschaftsmodus der SED in Mitleidenschaft gezogen worden.
Sorry. Das geht nicht auf als Argument. Gruppe 1 hat Werte A, B, C, D. Gruppe 2 hat Werte A, B und X. Warum soll Gruppe 1 nicht Gruppe 2 wegen X bekämpfen können? Wenn es Nazi-Musik gibt, liegen Straftaten vor, gegen die man vorgehen kann. Ich hatte Kassetten in der Hand, auf denen Songs wie „Töte Deinen Nachbarn!“ und „Mein goldener Schlagring“ waren.
Übrigens kann man den Stasi-Unterlagen zum Vorfall in der Zionskirche auch entnehmen, dass da Skinheads aus West-Berlin dabei waren. Just saying.
Reisen
Zum Thema „Fremde und Ausländer in der DDR“ schreiben die Autoren:
Spätestens seit dem Mauerbau waren Auslandsreisen und internationale Mobilität aus dem Alltag der DDR verbannt. Nur wenige konnten sich private Urlaubsreisen etwa nach Bulgarien oder Ungarn leisten. Besuche im Westen waren Ausnahmen im Falle wichtiger Familienangelegenheiten. Für die Mehrheit der DDR-Bürger war Reisen ein staatlich gewährtes Privileg. Diesen eingeschränkten Erfahrungshorizont gilt es zu berücksichtigen, wenn man den Aufenthalt von Fremden und Ausländern in der DDR betrachtet. Die staatssozialistische Diktatur mit ihrem allumfassenden Regelungsanspruch ‘offizialisierte’ jede Form und Gelegenheit des Kontakts zu Fremden, so wie sie das mit allen sozialen Beziehungen zu verwirklichen suchte. ‘Gesellschaft’ im Sinne eines relativ autonomen Bereichs sozialer Beziehungen und Institutionen, wie er für bürgerlich-liberale Staaten typisch ist, sollte es in der DDR nicht geben, und das galt auch und gerade auf diesem Gebiet. Kontakte und Umgang außerhalb der staatlich festgelegten Regeln waren nicht vorgesehen, entweder explizit verboten, zumindest aber unerwünscht. Angehörige unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten sollten sich der SED-Ideologie zufolge gewissermaßen daher immer als ‘Repräsentanten’ ihrer jeweiligen Staatsvölker, quasi in diplomatischer Funktion, begegnen, nicht jedoch auf einer ‘Von-Mensch-zu-Mensch-Basis’. Das einander Akzeptieren als ‘Menschen wie du und ich’, als individuelle Gäste und Gastgeber, Durchreisende und Einheimische, als Zufallsbekanntschaften etc. wurde dadurch von vornherein erschwert bzw. erforderte bewusstes, eigensinniges Gegenhalten — wofür es durchaus Beispiele gab! Die Botschaft der offiziellen Regelungswut war aber: ‘Staatszugehörigkeit’ (und die machte sich praktisch an der Nationszugehörigkeit fest) ist eminent ‘wichtig’, der Internationalismus stellte die Vorrangstellung der Nation nie infrage .
Das hat mich einigermaßen verwundert. Denn ich war in Moskau, Carlovy Vary (Karlsbad) Prag, Budapest, Brașov, Bukarest, Sofia, Sosopol, Varna, Warschau und Puławy. An vielen Orten war ich mehrfach. Das Einzige, was man bezahlen musste, war eine Zugfahrkarte. Die war nicht teuer. Lebensmittel kosteten genau so viel wie zu hause. Geschlafen haben wir auf dem Zeltplatz. Ich war im Bucegi-Gebirge wandern. Wir hatten Seife und Kaffee mit. Beste Zahlungsmittel in Rumänien damals. Die Tour Berlin–Sosopol war der Standard damals. Ich weiß noch, dass die Sonnenschirme in Sosopol 3 Mark gekostet haben. Das haben wir uns nicht geleistet. Einmal hatte ich Fieber, da mussten wir. Man hat unterwegs dieselben Leute in Prag und Budapest getroffen. Die Reisen fanden zwischen 1984 und 1989 statt. Ich war jung und hatte kein Geld. Es ging dennoch.
In Budapest schliefen die Ossis immer einfach unter freiem Himmel auf der Magareteninsel. Das ging den Ungarn irgendwann so auf die Nerven, dass sie eine Speziallösung für uns Ostdeutsche entwickelten: Es gab am Ende der U‑Bahn-Linie einen mit Stacheldraht umzäunten Platz, auf dem man umsonst schlafen konnte (steht auch im Wikipediaeintrag zur Magareteninsel). Man musste seinen Personalausweis am Eingang abgeben und am Morgen kam um 6:00 die rendőrség, stellte sich neben die Schlafenden und drehte einmal voll die Sirene auf. Alle waren wach. Bis um 7:00 oder 8:00 hatte man das Gelände wieder zu verlassen. Manche haben gezeltet, manche unter freiem Himmel geschlafen. Findige Ungarn haben ein Geschäftsmodell entwickelt: Man konnte seinen Rucksack bei ihnen im Garten abstellen, denn die Schließfächer an den Bahnhöfen waren alle belegt. Ich habe einmal da draußen gezeltet. Wo dieser Zeltplatz war, konnte man herausfinden, indem man andere Ossis fragte. Wir haben uns an den Schuhen (Römerlatschen oder Tramper) erkannt. Bei meinen anderen Budapest-Besuchen habe ich immer in einem privaten Garten gezeltet. Mehrere Ungarn hatten ihre Gärten zu Zeltplätzen umfunktioniert.
Von der Schule aus war ich in Moskau, Carlovy Vary und Polen (Puławy, Warschau, Auschwitz). Das entspricht dem, was die Autoren geschrieben haben: Wir waren in diplomatischer Funktion dort. Ich bin auch Ehrenpionier der Sowjetunion geworden, was mir später in meiner Zeit als Kanzlerkandidat der Partei Die PARTEI sehr helfen sollte (siehe Korrektur Lebenslauf).
Ich brauchte keine rote Krawatte mehr zu kaufen, sondern habe einfach das rote Halstuch genommen, das noch im Keller lag. (Oh, gehöre ich jetzt zu einer Gruppe? Bin ich mitschuldig geworden? Im Sinne der Blutschuld, die Anne Rabe vertritt?) Der Rest der Reisen waren Individualreisen.
Nun kann man einwenden, dass ich und die anderen Menschen, die ich kannte, nicht repräsentativ für die DDR war. Schließlich war ich Abiturient und die Anzahl der Abiturient*innen war insgesamt eher gering. Zwei Schüler*innen aus einer POS-Klasse mit 30–31 Schüler*innen. Peer, ein Schulfreund, der auch mit in Moskau war, hat diesen Einwand auch sofort gebracht. Da er aber auch die beste Such-Maschine der Welt ist, hat er ihn dann auch gleich entkräftet. Und zwar so richtig.
Eine Meldung aus dem Jahre 1989 kündigt den neuen internationalen Jugendherbergsausweis an.
Da dieser Ausweis damals neu war, gab es das vorher noch nicht. Aber immerhin zeigt das schon mal, dass die Aussage der Autoren nicht richtig sein kann. Es geht explizit um Individualreisen, günstige Individualreisen ins Ausland.
Aber auch schon 1976 gab es Individualreisen nach Ungarn. Mit dem Bus.
Im Artikel steht, dass Privatquartiere am Balaton vermittelt werden. Das passt nicht zu den Angaben der Autoren. Staatlich organisierte Individualreisen. Unterstützender geht es nicht.
Peer hat auch Anzeigen für Fahrten ins Ausland gefunden:
Peer merkt an:
Dass man nicht alles glauben sollte, was in Zeitungen steht oder gar in DDR-Zeitungen stand, gilt hier natürlich auch. Aber es wäre keine propagandistische Glanzleistung, eine Nachfrage bzw. ein Bedürfnis nach Auslandsreisen zu wecken, das man eigentlich verhindern wollte.
Den Punkt „Ossis haben noch nie andere Menschen gesehen.“ können wir also getrost abhaken.
Jugend-Feldbettspiele
Die Autoren schreiben:
Tatsächlicher Kontakt der Bürger mit Ausländern stellte für die SED-Diktatur dagegen ein Sicherheitsrisiko dar. So unterlagen auch die wenigen internationalen Veranstaltungen wie die ‘Weltfestspiele der Jugend und Studenten’ im Sommer 1973 oder die ‘Festivals des politischen Liedes’ politischer Kontrolle.
Hey, warte mal. Auch das habe ich anders gehört. Es gab nach dem Festival viele internationale Kinder. Es war ein Fest der Völkerfreundschaft. Sollten die Organe des Inneren so versagt haben und komplett die Kontrolle über die äußeren Organe verloren haben? Das Festival der Jugend war unser summer of love.
Das schreibt der Tagesspiegel dazu:
Das eigentliche Festival findet nicht in den Bars oder Klubs statt, sondern unter freiem Himmel. Zehntausende von Jugendlichen kampieren in den Grünanlagen der Ost-Berliner Innenstadt. Das bleibt nicht ohne Folgen. Das Festival zeitigt Festival-Ehen und Festival-Kinder, und im Volksmund heißen die Jugend-Weltfestspiele bald Jugend-Feldbettspiele.
Es waren 8 Millionen Menschen in der Stadt. Es war die Hölle los. Der Tagesspiegel beschreibt auch die Maßnahmen der Stasi, aber die Verbrüderung bzw. Verschwesterung oder Vermenschung der 8 Millionen konnte und sollte nicht verhindert werden. Alle sprachen offen. Sogar mit den Typen von der CDU.
Vertragsarbeiter
Was stimmt, ist, dass man die Vertragsarbeiter eigentlich nicht gesehen hat und zu den Sowjetsoldaten hatte man im Prinzip auch keinen Kontakt. Ich hatte mal „diplomatischen“ Kontakt, weil wir bei unseren Freunden in ihrer Kaserne waren und Schach gespielt haben. Ich habe gewonnen. Geredet haben wir nicht viel. Wohl eher, weil mein Russisch zu schlecht war. Als Schüler habe ich bei Bernau Erdbeeren gepflückt. Da waren auch ein paar Sowjetsoldaten. Ich habe gegessen und gepflückt, sie haben nur gepflückt. Sie waren unglaublich schnell. Geredet haben wir nicht. Über „Меня зовут Стефан.“ wäre ich auch nicht hinausgekommen und vielleicht hätten sie auch Ärger bekommen. Bei meiner Frau an der Burg Giebichenstein in Halle haben Kubaner, Vietnamesen, Tschechen und Bulgaren studiert. Es gab Verträge mit den jeweiligen Ländern. An der Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin gab es Student*innen aus der Bulgarien, Mongolei, Nordkorea, China, der UdSSR, Kuba. Für diesen Austausch gab es Verträge. Das lief unter Entwicklungshilfe. Dass die Student*innen dann nicht hier geblieben sind, lag an ihren Entsenderländern. Bulgarien wollte eine hohe Summe für die Ausbildung ihrer Staatsbürger*innen als Ablöse, wenn diese nicht zurückkamen. Ehen und andere Gründe waren dabei egal.
Dass es Konflikte und rassistische Vorfälle mit den Vertragsarbeiter*innen in den Betrieben gab, kann ich mir vorstellen. Auch dass diese vertuscht wurden, weil nicht sein konnte, was nicht sein darf. Aber dass diese eben nicht sein durften, war die offizielle Staatslinie. Das war der Anspruch. Der Rassismus war nicht etwas, was den DDR-Bürger*innen beigebracht wurde. Als Beleg möge die folgende Seite aus Bummi für Eltern 1/1981 gelten:
Das Stück ist eindeutig ein Propagandatext. Es geht um den guten Menschen Lenin. Dann geht es um Urlaub im Ausland (erneut ein Widerspruch zu den Behauptungen der Autoren) und um ihren Freund aus Afrika. Auch wenn diese Texte vielleicht nicht viele gelesen habe, schon gar nicht bis zu der Stelle nach Lenin, so ist die Aussage des Bildes doch klar. Die Menschen aus Afrika sind lieb. Sie tragen unsere Kinder. Papi war ein Jahr dort und hat ihnen geholfen und jetzt studiert Ibrahima hier. Geht so Rassismus? Ich bin nicht zum Rassismus erzogen worden, sondern zu Völkerfreundschaft und Verständigung. Und zwar vom Kindergarten bis zum Untergang der DDR.
Mit der Zuspitzung der Versorgungskrise der DDR Ende der achtziger Jahre hielten die Schlagworte ‘Schmuggel’ und ‘Warenabkauf’ durch Ausländer Einzug in die gesteuerten DDR-Medien, versuchte die SED doch auf diesem Wege von ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik abzulenken. Die im Band Ausland DDR veröffentlichte Leserbriefsammlung der Berliner Zeitung aus der Zeit des Mauerfalls zeigt, welche Blüten die Fremdenfeindlichkeit bereits weit vor der Einheit getrieben hatte. Sie bietet ein Panorama aus besonders antipolnischen Vorurteilen (‘arbeitsscheu’, ‘faul’), Ausverkaufs- und Überfremdungsängsten (‘wollen wir etwa eine Mischrasse?’), aber auch wenigen mahnenden Stimmen .
Das kann sein. Und wenn diese Botschaften wirklich über die DDR-Medien verbreitet worden sind, dann ist auch wirklich die DDR-Führung dafür verantwortlich zu machen. Ansonsten ist die Tatsache, dass eine bestimmte Frage in der Leserbriefsammlung vorkam, noch nicht viel wert, denn es geht ja darum, den höheren Grad an Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der DDR zu erklären. Und diese Stimmen hätte man wohl im Westen mit seiner ungebrochenen Nazi-Tradition3 auch finden können. Ich erinnere nur an Horst Seehofer, der den Verfassungsschutzbericht über die Einstufung der AfD als rechtsextreme Partei hat ändern lassen, weil die CSU zum Teil dieselben Sprüche klopft, wie die AfD (Süddeutsche, 21.01.2022).
Medizinische Versorgung
Ich bin in Berlin Buch aufgewachsen. Meine Klassenkamerad*innen waren zum großen Teil Kinder von Ärzt*innen und sonstigem medizinischen Personal. In den 70ern und 80ern gab es eine spezielle Krankenstation zur Pflege und Versorgung Schwarzer Menschen, die in Namibia und Angola in der SWAPO im Widerstandskampf gegen das südafrikanische Apartheidsregime gekämpft hatten. Über diese Krankenstation und die Menschen und ihre Versorgung wurde in der Aktuellen Kamera und auf Titelseiten von gern gelesenen Zeitschriften berichtet.
Rassismus war explizit ein Thema:
Für mich sind Rassisten Menschen, die solche Verbrechen begehen oder gutheißen. Nicht aber diejenigen, die sie anprangern und den Opfern dieser Verbrechen helfen und sie über lange Jahre gesund pflegen.
Ich war mit einem Jungen befreundet, dessen Vater ein Dichter aus Syrien war und dessen Mutter Ärztin. Er war voll integriert, anerkannt in der Schule. Null Problemo. Die Beziehung wurde nicht unterbunden. Es gab viele geflüchtete Kommunisten, die in der DDR Zuflucht gefunden hatte. Ein Junge aus meiner Klasse hatte einen italienischen Vater. Er war Chefarzt in einem Krankenhaus. Es waren Menschen aus Chile und aus Griechenland in der DDR. Honecker hatte einen chilenischen Schwiegersohn, zu dem er dann nach der Wende auch ausgewandert ist.
Der nationalistische Taumel der Wiedervereinigung
Ganz zum Schluss, im Fazit, wird das angesprochen, was ich für den eigentlichen oder zumindest den wichtigsten Grund halte.4 Im Fazit steht das wichtigste Wort: Wiedervereinigungseuphorie. Das ist der Punkt. Kohl kam nach Dresden. Er schwamm in einem Meer aus Fahnen. Ein nationalistischer Taumel. Vom Westen gewollt und gefördert. Die taumelten drüben genauso. Vielleicht ist es zu einfach, aber wir haben das damals gesehen.
Wir hatten Angst davor.
Deutschtümelei! Nationalismus! Das kam von der Bundesregierung. Nicht in Berlin. In Berlin wurde Kohl ausgebuht.
In Sachsen wurde er mit offenen Armen empfangen. Er hat den Ossis blühende Landschaften versprochen. Von Oskar Lafontaine, dessen Herz links schlug, und der damals Kanzlerkandidat der Partei war, in der auch Anne Rabe Mitglied ist, wollte niemand etwas Wissen. Er hat die Wahrheit gesagt. Aber „die Wahrheit ist hässlich und hat stinkenden Atem“.
Sicher ist alles nicht monokausal. Die Sache mit den Vertragsarbeiter*innen spielt bestimmt eine Rolle, aber den gesamtdeutschen Nationalismus nur in einem Satz zu erwähnen, ist nicht angemessen.
Zusammenfassung
Ich habe zu Beginn besprochen, dass einer der Autoren des hier besprochenen Aufsatzes, so wie Geipel, Kahane und Rabe, stark mit der DDR verbandelt war. Eine Erklärung für einseitige und falsche Positionen oder Sichtweisen kann dann sein, dass man überhaupt nicht erst in den Verdacht von Systemnähe kommen will.
Zu den „jugendlichen Rechtsextremisten in Jugendtreffs“ habe ich angemerkt, dass diese dort von höchster Stelle geduldet waren. Von Jörg Schönebohm, Generalleutnant der Bundeswehr a.D. und Vorsitzender der CDU, Brandenburg. Nazi-Aktivitäten wurden im Osten durch die Verantwortlichen, die fast ausschließlich aus dem Westen waren (siehe Rabe-Post) nicht ausreichend verfolgt. Die Autoren sprechen vom Nationalstolz, der in der DDR gefördert wurde. Vielleicht waren Menschen stolz auf verschiedene Sportler oder auf Gesamtergebnisse bei Olympiaden, aber bei Katharina Witt war das nicht der Fall. Sie wurde von Tausenden ausgebuht. Nach der Wende hat sie das Land verlassen, weil sie nicht verstanden hat, woher die Abneigung kam. Die Wirtschaft war marode, nichts worauf man stolz sein konnte. Die Behauptung, man hätte in der DDR nicht reisen können und Individualreisen seien unerwünscht gewesen, ist schlicht falsch. Auch die Bemerkungen zu den Jugend-Weltfestspielen entsprechen nicht den Tatsachen, wie man auch noch genauer im zitierten Tagesspiegel-Artikel nachlesen kann. Dass es nicht viel Kontakt zu Vertragsarbeitern gegeben hat, stimmt. Der nationalistische Taumel nach der Wende, der vom Westen auch befeuert wurde, ist sicher ein relevanter Faktor, wurde aber von den Autoren nicht angemessen diskutiert.
Für Anne Rabes Behauptung, im Osten hätte es ideologisch motivierten Nationalismus gegeben, liefern Poutrus, Behrends & Kuck jedenfalls keine Beweise.
Anne Rabe hat in ihrem Buch Eine Möglichkeit von Glück ihre traumatischen Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit in Wismar aufgearbeitet. Ihre Eltern und Großeltern waren DDR-Kader, ihr Großvater in Stalingrad gewesen und sie führt alle Gewalt auf die DDR-Zeit und die Kriegserlebnisse zurück. Ich habe in Keine Gewalt: Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe bereits dazu geschrieben, welche inhaltlichen Fehler ihr dabei unterlaufen sind und dass ihre Schlussfolgerungen nicht tragfähig sind. Hier möchte ich noch einige weitere Punkte diskutieren, die inhaltlich nicht in den ersten Blog-Post gepasst haben. Dabei geht es mir vor allem um eine korrekte Darstellung der DDR-Zeit aber es ist auch noch ein gravierender Fehler bezüglich der Vorfälle in Rostock-Lichtenhagen zu besprechen.
Nazis, Verantwortung und Scham
In diesem ersten Abschnitt möchte ich Rabes Ansichten bzgl. Kollektivschuld und ihre Scham bezüglich ihrer Eltern besprechen.
Schuld und Blut
Rabe schreibt, dass alle Deutschen „qua ihres deutschen Blutes“ zur SS, zur Wehrmacht, zu den Verbrechern gehören:
Die Nazis waren immer die anderen. Die SS, die Wehrmacht, die Verbrecher. Schlimm, schlimm das. So schlimm, dafür übernehmen wir sogar dann gern die Verantwortung, wenn wir ganz sicher sind, dass unsere Familien damit nichts zu tun haben. Aber qua Herkunft, qua Abstammung, qua unseres deutschen Blutes gehören wir eben dazu, sind wir eben mitverantwortlich.
S. 67
Ist das so? Ist das mit dem Blut nicht Nazi-Ideologie? Und niemand hat’s gemerkt? Die Lektorin nicht, kein Rezensent. Warum sollte irgendwer wegen Blut besser oder schlechter sein? Türke, Palästinenser, Jude, Russe, Deutscher? Ich empfehle allen den Wikipedia-Artikel zur Kollektivschuld. Das Folgende steht dort gleich zu Beginn:
Kollektivschuld bedeutet, dass die Schuld für eine Tat nicht dem einzelnen Täter (oder Tätern) angelastet wird, sondern einem Kollektiv, allen Angehörigen seiner Gruppe, z. B. seiner Familie, seines Volkes oder seiner Organisation. Das beinhaltet folglich auch Menschen, die selbst nicht an der Tat beteiligt waren. Das Strafrecht moderner Demokratien geht grundsätzlich von einer individuellen Verantwortlichkeit aus, so dass Kollektivschuld juristisch nicht relevant ist. Artikel 33 Genfer Abkommen IV bestimmt, dass keine Person für ein Verbrechen verurteilt werden darf, das sie nicht persönlich begangen hat. Eine Kollektivstrafe setzt Kollektivschuld voraus. Nach Art. 87 Abs. 3 Genfer Abkommen III und Artikel 33 Genfer Abkommen IV zählen Kollektivstrafen zu den Kriegsverbrechen.
Nun könnte man – völlig zu Recht – darüber nachdenken, ob die Sache mit den Deutschen vielleicht doch etwas spezieller ist. Die Alliierten verfolgten direkt nach dem Krieg einen Kollektivschuld-Ansatz. Das äußerte sich unter anderem darin, dass die Weimarer Bevölkerung durch das befreite KZ Buchenwald geführt wurde. Den Ettersberg kann man von Weimar aus sehen. Buchenwald hatten die Weimarer direkt vor der Nase. Sie haben den Rauch nicht gesehen, das verbrannte Menschenfleisch nicht gerochen. Oder es eben all die Jahre ausgeblendet. Es war richtig, sie alle sehen zu lassen, was ganz in ihrer Nähe geschehen war. Filmmaterial der US-Army und den Bericht einer Zeitzeugin, die den KZ-Besuch mitgemacht hat, hat der Spiegel veröffentlicht.
Im Urteil der Alliierten in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen steht 1948 Folgendes zur Kollektivschuld:
Es ist undenkbar, dass die Mehrheit aller Deutschen verdammt werden soll mit der Begründung, dass sie Verbrechen gegen den Frieden begangen hätten. Das würde der Billigung des Begriffes der Kollektivschuld gleichkommen, und daraus würde logischerweise Massenbestrafung folgen, für die es keinen Präzedenzfall im Völkerrecht und keine Rechtfertigung in den Beziehungen zwischen den Menschen gibt.“ (aus dem Urteil der Alliierten in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen gegen die I.G. Farben, 29. Juli 1948).
Richard von Weizäcker schlägt statt Kollektivschuld eine Kollektivhaftung vor:
auch Richard von Weizsäcker betonte in seiner viel beachteten Rede „Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“, die er am 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag hielt: „Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht“, rief aber gleichzeitig dazu auf, kollektiv die Verantwortung für das nationalsozialistische Unrecht zu akzeptieren. Weizsäcker bezeichnet diese Haltung als „Kollektivhaftung“.
Wikipedia über eine Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag
Diese Kollektivhaftung gab es für die DDR. Während die West-Alliierten den West-Deutschen den Marshall-Plan geschenkt haben, hat die Sowjetunion Fabriken und Infrastruktur abgebaut und nach Russland verschickt. Im Falle von Carl Zeiss Jena haben sie sogar Menschen mitgenommen, die die Fabrik in Russland wieder aufgebaut und über Jahre hinweg die Russen eingearbeitet haben. Die Russen haben alles mitgenommen, was ihnen nützlich erschien. In Wikipedia gibt es ein Liste aller seit 1882 stillgelegten Bahnverbindungen in Berlin und Brandenburg. In dieser Liste ist auch vermerkt, was die Russen mitgenommen haben.
Ich habe dazu auch eine persönliche Geschichte: Ab der fünften Klasse bin ich von Buch zur Humboldt-Uni zur Mathematischen Schülergesellschaft gefahren. Es gab damals noch eine direkte Verbindung von Buch zum Alexanderplatz. Die fuhr abwechselnd auf dem linken und auf dem rechten Gleis. Alle 20 Minuten. Dazwischen fuhr der Zug in die andere Richtung nach Bernau. Einmal war ich zu früh dran und sprang gerade noch in einen Zug auf dem linken Gleis. Die Türen schlossen sich, der Zug fuhr los. Leider in die falsche Richtung. Ich wartete auf die nächste Station, stürzte aus dem Zug und rannte hinüber zur anderen Seite, weil ich da den Zug in Gegenrichtung erwischen wollte. Aber, oh Schreck, da war gar kein Gleis! Die Russen hatten es mitgenommen. Von Röntgental bis Bernau ist die Strecke nur eingleisig.
Im Wikipediaartikel kann man auch lesen, dass die Sowjetunion fast die Hälfte des ostdeutschen Schienennetzes mitgenommen hat und mindestens 2000 der besten Betriebe. Und dann haben wir bis 1953 noch fast ein Viertel des Bruttosozialprodukts in die Sowjetunion abgeführt:
Die Reparationsleistungen der späteren DDR an die Sowjetunion geschahen bis 1948 hauptsächlich durch Demontage von Industriebetrieben. Davon betroffen waren 2000 bis 2400 der wichtigsten und bestausgerüsteten Betriebe innerhalb der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ). Bis März 1947 wurden zudem 11.800 Kilometer Eisenbahnschienen demontiert und in die Sowjetunion verbracht. Damit wurde das Schienennetz bezogen auf den Stand von 1938 um 48 Prozent reduziert. Der Substanzverlust an industriellen und infrastrukturellen Kapazitäten durch die Demontagen betrug insgesamt rund 30 Prozent der 1944 auf diesem Gebiet vorhandenen Fonds. Ab Juni 1946 begann sich mit dem SMAD-Befehl Nr. 167 die Form der Reparationen von Demontagen auf Entnahmen aus laufender Produktion im Rahmen der Sowjetischen Aktiengesellschaften zu verlagern, die von 1946 bis 1953 jährlich zwischen 48 und 12,9 Prozent (durchschnittlich 22 Prozent) des Bruttosozialprodukts betrugen. Die Reparationen endeten nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Auf der Grundlage erstmals erschlossener Archivmaterialien, vor allem in Moskau, kamen Lothar Baar, Rainer Karlsch und Werner Matschke vom Institut für Wirtschaftsgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin etwa 1993 auf eine Gesamtsumme von mindestens 54 Milliarden Reichsmark bzw. Deutsche Mark (Ost) zu laufenden Preisen bzw. auf mindestens 14 Milliarden US-Dollar zu Preisen des Jahres 1938.
Als die Reparationen 1953 für beendet erklärt wurden, hatte die SBZ/DDR die höchsten im 20. Jahrhundert bekanntgewordenen Reparationsleistungen erbracht.
Dem Plus der BRD aus dem Marshall-Plan von 1,41 Milliarden US-Dollar steht also ein Minus von mindestens 14 Milliarden US-Dollar für die DDR gegenüber. (Nebenbemerkung: Ej, liebe Wessis, „wir“ haben die aus der Haftung entstandenen Schulden übernommen und bezahlt und dann alles von vorn neu aufgebaut: die durch den Krieg zerstörte Infrastruktur und die demontierten Betriebe, wohingegen „Ihr“ schöne Geschenke bekommen habt bzw. Betriebe und Personal aus dem Osten mitgenommen habt. Unter anderem auch einen Teil von Carl Zeiss, Siemens, Schott usw. Außerdem konntet „Ihr“ „Eure“ Rohstoffe auf dem Weltmarkt kaufen (den globalen Süden ausbeuten), während „wir“ unsere Rohstoffe von „unsren Freunden“ kaufen mussten. Und zwar für West-Geld. Es gibt also keinen Grund zur Überheblichkeit und Arroganz.) (Nebenbemerkung 2: Insgesamt betrugen die Wiedergutmachungszahlungen 2022 81,967 Milliarden Euro. Die DDR hat sich an diesen Zahlungen nicht beteiligt, weil sie das Thema nach den Zahlungen an die Sowjetunion für erledigt gehalten hat. Ab 1989 war „die DDR“ natürlich an diesen Zahlungen beteiligt. Die Zahlungen wurden zu unterschiedlichen Zeiten geleistet, so dass die absoluten Zahlen nicht direkt vergleichbar sind.5
Weiter schreibt Wikipedia zum Thema Kollektivschuld:
Ralph Giordano wollte 1947 nicht von „Kollektivschuld“ sprechen. Es habe eine Minderheit von Deutschen gegeben, die ihrem Gewissen und nicht dem Führer gefolgt sei. Die Mehrheit habe jedoch kein Recht, sich dadurch entlastet zu fühlen und von deren Anständigkeit zu profitieren, besonders weil sie sich auch heute noch von dieser Minderheit distanziere.
Das ist wahr. Ein Verwandter meiner Frau, sollte in Norwegen Zivilist*innen töten und hat sich geweigert. Er wurde selbst erschossen. Der Westteils der Familie hat sich dafür geschämt. Sie haben nie darüber gesprochen. Und siehe auch den Bericht von Marianne Meyer-Krahmer Mein langer Weg zur Stunde Null, den ich hier im Blog veröffentlicht habe. Meyer-Krahmer ist die Tochter des Leipziger Oberbürgermeisters Goerdeler, der als einer der Hitler-Attentäter hingerichtet wurde. Sie saß im KZ. Übrigens ohne jeglichen Grund. Es war Sippenhaft. Sippenhaft ist die kleine Freundin von Kollektivschuld. Sie berichtet davon, wie ihr Menschen nach ihrer Befreiung begegnet sind, wie sie die Ablehnung der BDM-Mädchen, mit denen sie als Lehrerin zu tun bekam, überwand. Mit Goethe.
In Wikipedia findet man auch folgende Aussage des Neurologen und Psychiaters Viktor Frankl zum Thema Kollektivschuld:
es gibt nur zwei Rassen von Menschen, die Anständigen und die Unanständigen.
Frankl war Jude und hat Theresienstadt und Auschwitz überlebt. Seine restliche Familie wurde ermordet. Vater, Mutter, Bruder, Frau.
Rabe wirft ihren Lehrer*innen vor, dass diese keine vorwurfsvollen Allaussagen über die Vorfahren ihrer Schüler*innen gemacht hätten:
Diese ominösen deutschen Soldaten. Kein Lehrer sagte: Eure Großväter und Urgroßväter waren die deutschen Soldaten, die in Osteuropa und der Sowjetunion alles abgeschlachtet haben, was sich bewegte, die geraubt und vergewaltigt und ganze Dörfer angezündet haben.
S. 87
Vielleicht lag das daran, dass das zu platt und im Einzelfall auch nicht richtig gewesen wäre? Wenn wäre die Aussage ja wohl auch „Unsere Großväter und Urgroßväter“ gewesen. Und folgt es nicht automatisch, wenn man über die Verbrechen dieser Generation aufklärt, dass die Großeltern und Urgroßeltern von vielen, vielen Deutschen Täter*innen waren? Muss man diesen Gedanken nicht selbst denken?
Mein einer Opa war übrigens kriegswichtig (Ingenieur bei Körting in Leipzig) und deshalb nicht im Krieg und mein anderer war zwar bei der Wehrmacht aber als Koch.
Beide haben somit zwar irgendetwas zum Krieg beigetragen, aber der Vorwurf, den Rabes Lehrer*innen ihnen hätte machen sollen, hätte auf sie wohl nicht zugetroffen.
Der Großvater meiner Frau hat einem Juden ein Bahn-Ticket nach Wladiwostok gekauft, als Juden das schon längst nicht mehr konnten. Er hat ihm zur Flucht verholfen. Mit Hilfe eines israelischen Kollegen habe ich seinen Neffen in Israel ausfindig gemacht und mein Schwager hat ihn dann dort besucht. Der Großvater war Leiter des Arbeitsamtes in Insterburg. Er saß in der Nazizeit mehrfach im Gefängnis und stand mehrfach vor Gericht. Einmal hat ein Kind eines Menschen aus seiner Freundesgruppe sie verraten: Sie hatten Radio London gehört. Er konnte sich vor Gericht darauf berufen, dass die Aussage eines Kindes nicht zählen würde. Andere aus dem Freundeskreis kannten sich nicht aus und wurden verurteilt. Er wurde oft von Menschen gewarnt, denen er früher Arbeit verschafft hatte. Beim dritten Mal Schutzhaft half ihm der Polizeidirektor: Die anderen Angeklagten wurden ins KZ Dachau abtransportiert, der Polizeipräsident hielt den Großvater zurück mit der Behauptung, es habe keinen Platz mehr in den Transporten nach Dachau gegeben.
Ein Angehöriger der Familie meiner Frau hat sich im Krieg geweigert, norwegische Zivilist*innen (Partisanen) zu erschießen und wurde selbst erschossen. Ein Cousin meines Vaters ist in Norwegen mit einer Norwegerin desertiert und wurde erschossen.
Der Cousin scheint seine Waffe mitgenommen zu haben. Also: einmal Verweigerung des Schießens aus Menschlichkeit, einmal Fahnenflucht aus Liebe. „Todesanzeigen oder Nachrufe in Zeitungen, Zeitschriften und dergleichen sind verboten.“
Sind wir schuldig? Als Menschen mit deutschem Blut? Was ist das für ein rassistischer Unsinn! Sollten wir uns nicht alle daran messen, was wir jetzt tun? Wie wir die Taten anderer einordnen? An unserer Menschlichkeit? Am 4.11.1989 gab es eine große Demonstration am Alexanderplatz. Die erste freie Demonstration in der DDR. Ich lief im Antifa-Block mit. Die Stasi hat Bilder von diesem Block gemacht (siehe Wagner, 2018, Vertuschte Gefahr: Die Stasi & Neonazis).
Bin ich schuldig? Muss ich mich schämen? Ich habe nichts getan! Ich war sieben Mal in Buchenwald (siehe Weimartage der FDJ) und auch in Sachsenhausen, in Auschwitz. Ich habe mich intensiv mit der deutschen Vergangenheit auseinandergesetzt, aber ich konnte die 1000 Jahre zwischen 1933 und 1945 an keiner Stelle beeinflussen. Denn ich war da noch nicht gebohren. Für meine Eltern kann ich nichts, aber für meine Kinder. Ich würde mich schämen, wenn sie in die AfD eintreten würden und/oder die Vernichtung von Menschen planen würden.
Scham
Anne Rabe wird zum Opfer ihrer Vorstellungen von Kollektivschuld. Wie ich oben geschrieben habe: Sippenhaft ist die fiese kleine Schwester von Kollektivschuld. Das schreibt Rabe selbst:
Meine Eltern hatten studieren können und hatten es deshalb auch nach dem Systemwechsel leichter. Wir waren privilegiert und retteten einen Teil dieser Privilegien mit in die neue Zeit. Mutter und Vater würden sich auf dem Arbeitsmarkt etablieren können. Nicht ohne Probleme, nicht ohne Arbeitslosigkeit, nicht ohne Umschulungen und die berühmten Brüche in den Erwerbsbiografien, aber sie hatten bessere Startchancen als die meisten derjenigen, die das System zum Einsturz gebracht haben. Bessere Chancen als diejenigen, denen auch ich meine Freiheit zu verdanken habe. Ich schäme mich dafür. Immer noch.
S. 155
Jedes Mal, wenn ich von Hohenschönhausen, Torgau oder anderen Dunkelorten der DDR hörte, wurde ich von einer Schamwelle fortgeschwemmt, aus der ich mich nur langsam herauskämpfen konnte, indem ich sorgsam alles studierte.
S. 99
Aber wieso schämt sich Rabe für ihre Eltern? Sie kann nichts für ihre Eltern. Sie hat sich sogar von ihnen losgesagt. Damit ist dokumentiert, dass sie deren Haltung und ihre Gewalttätigkeit ablehnt. Rabe sollte sich nicht für ihre Eltern schämen. Aber sie könnte sich zum Beispiel für die inhaltlichen Fehler in ihrem Buch schämen. Für ihre Uninformiertheit. Für ihre nicht erfolgte Recherche zu Themen, über die sie geschrieben hat. Für den Schaden, den sie damit angerichtet hat. All ihre Fehler sind in Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch in diesem Blog-Beitrag dokumentiert. Oder für ihre Naivität bzw. Durchtriebenheit, auf die ich weiter unten zu sprechen komme.
Reden
Anne Rabe mahnt in ihrem Buch an, dass wir doch miteinander reden sollten. Dass wir Ossis unsere dunkle Vergangenheit aufarbeiten sollten. Aber sie selbst hat nicht geredet. Das Versagen liegt auch bei ihr. Hier einige Passagen aus dem Buch:
Ich bin einfach wütend. Auch auf Adas Eltern.
Auch sie haben uns im Stich und mit der ganzen Geschichte alleingelassen. Adas Vater hat über die roten Socken gesprochen, über sein Radar, das da anging bei meinen Eltern und anderen. Sein Hass, seine Wut, sie sind berechtigt gewesen. Aber statt sich mit denen auseinanderzusetzen, die dafür die Verantwortung trugen, statt mit ihnen die Dinge zu klären, hat er am Küchentisch seine Reden geschwungen und eben mich spüren lassen, wie wenig er mich leiden konnte.
S. 155–156
Adas Eltern waren Systemgegner*innen. Sie durften nicht studieren und haben unter der DDR gelitten. Unter Menschen wie Rabes Eltern. Und jetzt verlangt sie, dass die, die all das erlitten haben, zu denen gehen, die sich schuldig gemacht haben, und sich mal aussprechen?
Das zeigt ganz klar, dass sie das alles nicht verstanden hat. Sie hat nicht verstanden, was Bausoldat-Sein bedeutet hat. Man hatte sich komplett aus der restlichen Gesellschaft ausgeklinkt. Man konnte höchstens noch Theologie studieren. Ich war an einer Spezialschule mathematischer Richtung. Es gab dort einen Jungen, der nahm an internationalen Matheolympiaden teil. Er war genial. Er hat sich schon in der Schule geweigert, an dem zweiwöchigen GST-Lager, in dem wir auch mit automatischen Waffen geschossen haben, teilzunehmen. Die paramilitärische Ausbildung in der Schule war Pflicht. Der Schüler ist dann Schäfer geworden.
Ada hat mir erzählt, dass er in der DDR den Wehrdienst an der Waffe verweigert hat, was nur ging, wenn man sich den »Bausoldaten« zuteilen ließ. Das hatte Konsequenzen. Miese Schikanen während und nach der Dienstzeit – ein sehr bewusst gewähltes Außenseitertum, einer Gesellschaft zum Trotz, die einem keine Wahl lassen wollte. Der Preis, den Adas Vater für seine moralische Integrität hatte zahlen müssen, war hoch. Sein ganzes Leben würde davon bestimmt sein. Auf ein Studium brauchte er nicht mehr zu hoffen und überall, wo es sich anzustellen galt, hatte er sich ganz hinten einzureihen. Das hatte ihn dennoch nicht davon abgehalten, für seine Überzeugungen einzustehen.
S. 154
Jeder Kontakt mit dem System und dessen Kindern war potentiell gefährlich und in jedem Fall anstrengend. Als Bausoldat war man als Systemgegner aktenkundig geworden. Vielleicht wurde man bespitzelt. Rund um die Uhr. Arbeitskollegen meldeten Auffälligkeiten. Und sie verlangt jetzt von den Oppositionellen, dass sie mit ihren Eltern sprechen? Zwar nach der Wende, aber ???
Völlig unklar.
So wie Geipel und Kahane es nicht verstehen können, dass sie als rote Socken abgelehnt wurden, hat Rabe nicht verstanden, wie die DDR war und was man da nach der Wende gemacht hat und was nicht. Wir waren froh, dass wir Krenz & friends los waren. Mit denen wollte man nicht mehr reden. Ganz davon abgesehen, dass nach der Wende alle im Überlebenskampf waren, was Rabe ja auch selbst schreibt.
Wie kann Rabe eine Blutschuld für das gesamte deutsche Volk und alle Nachfahren fordern, für sich selbst aber verlangen, dass ihre Gegenüber ihr unvoreingenommen begegnen? Müsste diese Blutschuld nicht auch für sie gelten? Und für Anetta Kahane, deren Vater das Neue Deutschland, Zentralorgan der SED, geleitet hat? Und für Ines Geipel, deren Vater IM war und laut ihrem Wikipedia-Eintrag für „das Ausspähen von Objekten und die Vorbereitung von Sabotage auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland“ zuständig (Hartwich & Mascher, 2007)? Ist Unfug, oder? Anetta Kahane war übrigens selbst IM, nicht ihre Eltern. Sie hat ihre jüdischen Kumpels verpfiffen.
Ja, Adas Vater hätte sie nicht ablehnen sollen, so wie es auch von ihrer Lehrerin unprofessionell war, sie aufgrund ihrer Herkunft auszuschließen. Gerade in der Grundschule, wo ein betroffenes Kind das wahrscheinlich nicht verstehen kann. Aber als erwachsene Frau, und das ist die Ich-Erzählerin ja, sollte sie die Situation damals so weit einschätzen können, dass sie die Handlungen der Akteur*innen versteht. Aber das kann sie nicht, denn sie hat nicht mit ihnen gesprochen (ja, ja, das ist nur ein Roman, aber solche Romane würde man dann halte eben nicht schreiben, hätte man mit Menschen gesprochen):
Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich das Gespräch mit Adas Eltern plötzlich scheue. Ich will keine Absolution von ihnen, keine späte Verbrüderung mit denjenigen, die auf meine Eltern und ihr ganzes System zu Recht wütend waren. Ich wollte mich auch nicht als diejenige produzieren, die nun ihre Hausaufgaben gemacht und im Gegensatz zu den ewig Gestrigen verstanden hatte, aus was für einem Land sie kam.
S. 155
Hätte sie mit ihnen gesprochen, wüsste sie, dass Christ*innen in der DDR dazu genötigt wurden, vor der ganzen Klasse aufzustehen. „Wer von Euch glaubt an Gott? Du, Sabine? Dann steh mal bitte auf. Wer noch?“
Rabe schreibt:
Die Angehörigen der Opfer erfuhren nichts über den Verbleib ihrer Kinder, Väter, Mütter, Tanten, Onkel, Nachbarn und Freunde. Das Schweigen darüber war so total, dass heute kaum noch jemand um die Verbrechen der Anfangszeit der DDR weiß, obwohl es nahezu keine Familie geben kann, die davon unberührt blieb.
S. 265
Ich habe es immer geahnt: Ich bin einzigartig! Ich bin der einzige Ossi, der irgendwie wusste, dass in den 50ern Menschen abgeholt wurden. Dass es Menschen gab, die Angst hatten, wenn Autotüren klappten, weil sie dachten, jetzt würden sie geholt.
Sorry, Frau Rabe. „Auf der Suche nach Gatt“ wurde in der Schule behandelt. Da wurde uns natürlich erklärt, dass das am 17. Juni die Konterrevolution war. Aber man konnte seine Eltern fragen, was da war, was sie gemacht haben.
Der andere Teil meiner Familie kommt aus Frankfurt/Oder, einer Bezirkshauptstadt, der achzehntgrößten Stadt in der DDR, von der Sie schreiben: „Irgendwas Kleines in Brandenburg“. Die Mutter hat in der Bahnhofsmission gearbeitet. Der Vater war in den letzten Kriegstagen gefallen, als er sich vom Volkssturm abgesetzt hatte und von einer irrlichternden Granate erwischt wurde. Alleinstehende Frau mit fünf Kindern. Sie wurde eingesperrt. Das wissen wir, das weiß die ganze Familie, das weiß deren Umfeld. Christ*innen in der DDR wissen das. Sie haben halt nicht mit Ihnen drüber gesprochen und hätten das zu DDR-Zeiten auch nicht getan. Weil sie aus einer Funktionärsfamilie kommen. Mein Gott!
Sie fordern eine Aufarbeitung der SED-Zeit und Rezensenten greifen das begeistert auf: Ja, die Ossis sollen mal ihren Dreck im Keller aufarbeiten, so wie wir es ja getan haben 1968.
War Ihre Familie in das SED-Regime verwickelt? Gab es in Ihrer Familie Mitarbeiter der Staatssicherheit? Würden Sie sagen, dass Ihre Familie zu DDR-Zeiten eher Täter oder Opfer waren? Gehörten Sie zu den Mitläufern? Hat Ihre Familie vom SED-Regime profitiert? Gibt es in Ihrer Familie Mitglieder, die auf Grund ihres Glaubens oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt wurden? Hat Ihre Familie aktiven Widerstand gegen das SED-Regime geleistet? Ist es wichtig, dass kommende Generationen in der Schule über das Unrecht, das in der ehemaligen DDR begangen wurde, aufgeklärt werden?
Diese Fragen werden nicht gestellt. Man befragt uns nicht dazu und misst daran auch nicht den Grad unseres politischen Bewusstseins oder den Zustand der Republik.
S. 73
Sorry, Frau Rabe, da haben Sie wohl einen Ditsch von ihrem Elternhaus mitbekommen. Wer ist denn „man“? Wer soll denn was fragen? Der Staat uns? Sollten wir das nicht selbst tun? Und ja, 1) hat der Staat uns befragt bzw. unsere Daten abgefragt und 2) haben wir miteinander geredet. Das passierte in den 90ern ziemlich intensiv. Nur haben Sie davon nichts mitbekommen, weil Sie da noch zu klein waren. Das kann man Ihnen nicht vorwerfen, was man Ihnen vorwerfen kann, ist, dass Sie selbst nicht reden wollten (siehe oben) und dass Sie auch nicht recherchiert haben. Über „Wir müssen alle mal reden und wir brauchen ein 68 für den Osten“ habe ich auch in Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten noch ausführlicher besprochen.
Berlinerisch
Auf S. 210 schreibt Anne Rabe zum Berlinischen:
Zwar ist es in der intellektuellen Landschaft Ostberlins ganz schick gewesen, den Jargon der Arbeiter zu imitieren
S. 210
Anne Rabe hat an der FU-Berlin ab 2005 Germanistik und Theaterwissenschaften studiert. Als ich dort 2007 anfing, war sie wahrscheinlich schon weg. An der FU lehrte damals noch Prof. Norbert Dittmar, der zum Berlinischen geforscht hat. Aber eigentlich braucht es keine sprachwissenschaftliche Ausbildung, um zu wissen, dass das Berlinern in Berlin und Brandenburg in allen Bevölkerungsschichten üblich war. Ich konnte berlinern, schon bevor ich mit Arbeitern in Kontakt gekommen bin. Meine Eltern sind aus Jena und Wittenberg. Von denen habe ich es nicht gelernt. Das kam ganz normal über den Kindergarten und die Schule. So hat man gesprochen. Ein Kollege, der in den 90ern an der HU studiert hat, hat Vorlesungen in der Literaturwissenschaft gehört, in denen der Dozent bestens berlinert hat. Wir alle haben berlinert. Viele sind zweisprachig und können Standardsprache und Dialekt sprechen. Im Westen hat man den Schüler*innen das Berlinern ausgetrieben, so wie man in Bayern den Kindern das Bayrische abgewöhnt hat. Ich habe genau einen Freund aus Westberlin, der berlinert. Sonst sprechen alle West-Berliner hochdeutsch.
Ein möglicher Grund dafür, dass die Schulen nicht versucht haben, uns die Dialekte abzuerziehen, könnte natürlich sein, dass auch Funktionäre Dialekt sprachen, aber das ist etwas Anderes als das, was Anne Rabe geschrieben hat.
Jugendweihe – unser erster subversiver Akt
Zur Jugendweihe schreibt Rabe:
Das zweite Bekenntnis legte das Kind dann selbst ab. In der achten Klasse, also mit 14 Jahren, sollte das sozialistische Kind qua Jugendweihe in die Welt der Erwachsenen aufgenommen werden und musste dafür lauthals geloben, sich „mit ganzer Kraft für die große und edle Sache des Sozialismus einzusetzen“.
S. 114–115
Ja, die Jugendweihe war lustig! Und es war ganz praktisch, dass wir alle berlinerten (siehe vorigen Abschnitt). Wir sollten alle dieses blöde Gelöbnis sprechen bzw. dann immer jeweils nach einem Stück Text sagen: „Ja, das geloben wir!“
Was wir stattdessen sagten, war: „Ja, das globen wir.“, was übersetzt ins Standarddeutsche „Ja, das glauben wir.“ heißt. Wir hatten alle Spaß. Für viele war das ihr erster subversiver Akt. Hat keiner gemerkt.
Funktionärssprache
Ich hatte oben schon das Zitat zum Reden mit Oppositionellen. Darin war folgender Satz enthalten:
Ich wollte mich auch nicht als diejenige produzieren, die nun ihre Hausaufgaben gemacht und im Gegensatz zu den ewig Gestrigen verstanden hatte, aus was für einem Land sie kam.
S. 155
Ewig Gestrige ist für mich Funktionärssprache. Diese Floskel kam überall vor: im Geschichtsunterricht, im Staatsbürgerkundeunterricht, im FDJ-Studienjahr. Es ging um Revanchisten und Reaktionäre. Nun also Ossis. Hm. Vielleicht kommt diese Phrase auch im Westen vor. Ich hätte sie aber nicht in solch einem Roman verwendet.
Ein Scherz, oder?
Rabe schreibt als Ich-Erzählerin:
Hans ist das Licht des Laptops zu hell im Bett. Er stöhnt und will schlafen. Um sechs klingelt sein Wecker. Als du den Computer zuklappst, ist es nicht weniger hell. Der Mond scheint dich an. Du stehst auf und ziehst ins Wohnzimmer und schreibst: „Voller Mond, du dumme Sau/zieh dich zurück in deinen Verhau.“ Es geht doch. Geht doch noch.
Das ist ein Scherz, oder? Ich bin in der Lage Humor zu erkennen. Ist das der einzige fiktionale Teil im Roman? Oder doch mehr? Oder alles? Oder ist alles ernst?
Spinnen und Bananen
Anne Rabe bzw. ihre Ich-Erzählerin hatte es schwer. Ihre Kindheit war entbehrungsreich und hart. Sie musste auf ein Außenklo gehen, auf dem es Spinnen gab. Und grüne Bananen essen.
Liebe Frau Rabe, ich hab da ein paar Tipps für Sie: Wenn man nicht möchte, dass es an einem Ort Spinnen gibt, kann man sich ein Glas und Papier nehmen. Das Glas stülpt man über die Spinne. Das Papier schiebt man unter das Glas und dann kann man die Spinne zurück in die Natur befördern. Ich weiß, Ihre Kindheit war schwer, aber es gab hoffentlich Papier (zu meiner Zeit war das Papier knapp). Mindestens Klopapier wird es wohl gegeben haben und das sogar an dem Ort, wo sie es hätten benutzen können. Wenn es bei Ihnen kein Glas gab, gab es vielleicht diese Punkte-Becher:
Man hatte mit solch einem Becher leider keinen Sichtkontakt zur Spinne mehr, aber hey, Not macht erfinderisch. Wir Ossis haben eigentlich immer noch alles hinbekommen.
Und mit den grünen Bananen, das kann ich voll nachvollziehen. Die sind dann so klebrig. Aber auch da gibt es einen Trick: Man lässt die Bananen etwas liegen. Dann sind sie reif. Sie schreiben ja selbst, dass Sie schon einmal braune Bananen gesehen hätten.
Die Bananen, die ich nicht mochte, weil wir sie gegessen haben, wenn sie noch grün waren. Ich dachte lange, sie wären schlecht, sobald sie ein paar braune Stellen hatten.
S. 18
Dann müssten Ihnen doch eigentlich auch Bananen in mittlerer Reife untergekommen sein. Hätten Sie systematisch getestet, hätten Sie herausfinden können, dass man Bananen weder grün noch braun essen muss.
Übrigens: Bei uns damals war es so, dass wir überhaupt keine Bananen hatten. Auch keine grünen. Also, wir schon, denn wir lebten in Berlin und Berlin wurde immer besser versorgt als der Rest der DDR. Das hing damit zusammen, dass die Wessis nicht merken sollten, dass es bestimmte Dinge in der DDR nicht gab, wenn sie mal kurz ihr Mädchen aus Ostberlin besuchten. Also wir hatten welche, aber Ihre Eltern in Wismar nicht.
Bzw. sie hatten sehr selten welche. Ich erinnere mich an Bananen bei einer Kur in Ahlbeck. Die waren noch grün!!! In Berlin gab es aber auch nicht immer Bananen. Eigentlich gab es Südfrüchte immer so um die Weihnachtszeit, weshalb Obstsalat noch heute für mich mit Weihnachten verbunden ist.
Dass es die Südfrüchte nur zu Weihnachten gab, lag daran, dass Erich Honecker erst zum Jahresende genügend DDR-Oppositionelle in den Westen verkauft hatte, so dass dann die Bananen und Apfelsinen gekauft werden konnten. (Das war Sarkasmus.)
Übrigens: Die Szene mit der Badewanne. Ist das nicht genauso wie das mit den grünen Bananen? Stines Mutter, die Mutter der Ich-Erzählerin, war in der Küche, ihr Vater im Wohnzimmer. Sie stand in dem sehr heißen Wasser. Warum hat sie nicht einfach kaltes Wasser nachgefüllt? Warum hat sie sich und ihren kleinen Bruder in das heiße Wasser gestellt? Ich weiß, sie war noch klein und es war eine Stresssituation. Aber wenn das immer wieder passiert ist, hätte sie ja mal drüber nachdenken können. Oder war es vielleicht doch nicht so? Oder kann man das in diesem Alter noch nicht? Sie muss ja mindestens vier gewesen sein.
Mangelnde Eigenverantwortung und die Fahrt in den Abgrund
Wenn ich mich an Tim erinnere, spüre ich ihn hinter mir auf dem Schlitten sitzen. Damals in Tschechien, im Riesengebirge. Er klammert sich an mich, und wir fahren im Affenzahn einen Berg hinunter. Er vertraut mir, vertraut darauf, dass ich die Kurve noch kriege vor dem Abhang. Ich brülle: „Lenken, Timmi, du musst den Fuß raushalten!“ Aber Tim, der jünger ist als ich, vielleicht sechs oder sieben, weiß nicht, was ich meine, und so greife ich mit meinem rechten Arm hinter mich und rufe: „Spring!“ Der Schlitten saust ohne uns den Abhang hinunter.
S. 11
Die Frage ist: Wieso hat die Ich-Erzählerin nicht selbst die Füße rausgestellt? Ist Stine so? Ist Anne Rabe so? Warum greift sie nicht ein? Wenn so viel Zeit ist, dem zwei Jahre jüngeren Bruder Anweisungen zu geben, warum bremst SIE dann nicht? Ist das der bei Ossis immer wieder klischeehaft beschworene Mangel an Eigenverantwortung (siehe auch Leserbrief zum meinem Artikel in der Berliner Zeitung)? Oder nur ein schiefes Bild im Roman? Schlechte Literatur?
Schlagersüßtafel
Zum Thema Schlagersüßtafel schreibt Anne Rabe:
Darüber, wie die Revolution 89/90 auch durch die kleine Stadt gefegt war, schwieg sich meine Familie aus. Die DDR war dennoch oder gerade deshalb seltsam präsent. Ein verlorener Sehnsuchtsort. Ein Ort, an dem alles gut war und »wisst ihr noch, die Schlagersüßtafel?«. Diese Schokolade kam in fast allen Erzählungen der Eltern vor. Auch wenn sie sich ganz gut eingelebt hatten im schlechteren Deutschland, schien die Tatsache, dass es die Schlagersüßtafel nicht mehr zu kaufen gab, von größerer Bedeutung zu sein als das Haus, das sie nun bauten, die Urlaube, in die wir fuhren, und der Tenniskurs, den sie absolvierten. Irgendwann kamen sie zurück – die Ostprodukte. Sie füllten ganze Messehallen und auch die Regale in unserem Supermarkt. Plötzlich gab es wieder Bambina, Nudossi, Puffreis und Filinchen. Das erste Stück Schlagersüßtafel aber war eine Enttäuschung. So hatte sie also geschmeckt, diese DDR? Nach nichts, noch nicht einmal nach Kakaopulver. Vermutlich war das gar keine Schokolade.
S. 256
Schlagersüßtafel wird in Wikipedia als Genussmittel gelistet. Aber ich muss Anne Rabe Recht geben: Schlagersüßtafel war ungenießbar. Ich habe in Schlagersüßtafel und Klassenkeile bereits darüber geschrieben: Wir hatten sie gekauft, weil wir dachten, es wären Bilder von Schlagersänger*innen drin. Da sie zum Essen nicht taugte, benutzten wir sie, um Bauarbeiter zu bewerfen. Wie es dann weiterging, müsst Ihr in dem anderen Blog-Post lesen.
Wikipedia kann man auch die Zutaten entnehmen. Ein bisschen Kakao war drin, aber nur 7%. Übrigens lustig: Beim Lesen der Zutaten musste ich an die Mutter des Ich-Erzählers von Stern 111 denken. Sie war Lebensmitteltechnikerin und ihre Aufgabe war es, Ersatzlebensmittel aus in der DDR verfügbaren Rohstoffen zu kreieren. Vielleicht war sie ja an der Kreation der Schlagersüßtafel beteiligt. Stern 111 ist übrigens ein sehr gelungener Nachwenderoman. Wer wissen will, wie es vor der Wende war, sollte Der Turm und Krokodil im Nacken lesen.
Plagiat? Nee! Oder doch?
In einem Beitrag in der Neuen Züricher Zeitung schreibt Peer Teuwsen, dass Anne Rabes Roman auf den Schultern von Ines Geipel stehen würde. Es werden drei Stellen angeführt. In einer fahren Kinder Schlitten, in der zweiten trägt ein Vater seinen Sohn auf den Schultern und in der dritten sprechen Kinder über das Sternbild großer Wagen. Plagiat ist mein drittes Hobby. Ich bin selbst plagiert worden und habe ein entsprechendes Verfahren eingeleitet. Ich war in einer Plagiatskommission, die sich mit einer plagierten Dissertation auseindergesetzt hat. Ich habe dieses Jahr ein Plagiat in einer BA-Arbeit gefunden und ein 80seitiges Gutachten über ein Buch und das restliche Werk eines systematisch plagierenden Autors verfasst. Der Vorwurf des Plagiats gegen Rabe ist lächerlich. (Nachtrag 29.06.2024: Aber siehe unten.) Die Textstellen, die Teuwsen anführt, sind komplett verschieden, ja, sie haben inhaltlich außer den oben genannten Themen selbst nichts miteinander zu tun.
Die Antwort des Verlags ist interessant:
„Die Ähnlichkeiten sind aus unserer Sicht zufällig und allenfalls dadurch bedingt, dass die Bücher der beiden Autorinnen thematisch so nahe beieinander liegen. Die Autorinnen haben einen ähnlichen Blick auf die DDR und es gibt biografische Parallelen (so haben beide Autorinnen jüngere Brüder und kommen aus einem systemnahen Milieu)“, schreibt Rabes Verlag.
Die Brüder sind vielleicht relevant, DDR ist komplett irrelevant und Systemnähe auch. Schlitten, Brüder und den Großen Wagen gibt es auch im Westen. Jedenfalls kann man Teuwsens Artikel entnehmen, dass Geipel und Rabe befreundet waren: „Die Ältere fand es wunderbar, dass eine jüngere Autorin sich ihrer Themen annimmt und ihnen eine neue Stimme verleiht.“
Also kein Plagiat, aber der Einfluss von Ines Geipel ist wahrscheinlich für das gesamte Ideengeflecht relevant: Funktionärskinder kritisieren den Osten. Wie ich in meinem Blogpost Der Ossi und der Holocaust gezeigt habe, lügt Ines Geipel. Es geht Ihr und Anetta Kahane, ebenfalls Funktionärskind, nicht um eine Aufarbeitung von Unrecht. Sie stellen Dinge wahrscheinlich bewusst falsch dar. Wie ich damals schon sagte: Entweder sie lügen bewusst oder sie sind unwissend. Beides wäre schlecht, wenn man sich so weit aus dem Fenster lehnt. Und das ist auch für Anne Rabe so, wie ich in Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch hier gezeigt habe: Entweder sie lügt bewusst oder sie ist unwissend. Wahrscheinlich das Letztere. Schade nur, dass sie damit solch einen Schaden anrichtet.
Nachtrag vom 29.06.2024: In „Ines Geipel lügt“ habe ich eine Dokumentation des MDRs zu Ines Geipels Behauptungen zu ihrer Vergangenheit als Leistungssportlerin besprochen und auch wie sie gegen Gegner*innen vorgeht. Es sieht also so aus, als hätte sie allgemein Probleme mit der Wahrheit und ihre Behauptungen in Bezug auf den Umgang mit dem Holocaust gehen nicht auf Unwissenheit zurück. Ich habe jetzt ihr Buch Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass gelesen und habe dort erfahren, dass sie das Buch Nackt unter Wölfen kannte und auch in Buchenwald war.
Zum Thema Plagiat kann man folgendes festhalten: Das Buch von Anne Rabe ist von der Struktur genau parallel zu Ines Geipels Buch aufgebaut. Es gibt kurze Kapitel mit Impressionen aus dem Privatleben und dann längere essayistische Abschnitte mit politischer Analyse. Die Themen sind sehr ähnlich. Insgesamt gibt es einen entscheidenden Unterschied: Bei Ines Geipel gibt es ein relativ langes Quellenverzeichnis mit 79 Einträgen, überwiegend Fachaufsätzen zur DDR; das Quellenverzeichnis von Anne Rabe enthält 14 Einträge, von denen die meisten Gedichtsammlungen, Romane oder Filme sind, aus denen sie ihren Kapiteln Auszüge vorangestellt hat: Bachmann, Brasch, Brecht, Inge Müller, Einar Schleef, Wera Küchenmeister. Dazu ein Gesetz und ein allgemeiner Verweis auf das Stasi-Unterlagen-Archiv. Die Qualität der Bücher insgesamt spiegelt sich an den Quellenverzeichnissen: Professorin mit Studium der Germanistik auf der einen Seite und Person mit abgebrochenen Germanistikstudium auf der anderen Seite. Rabes Ausrede, sie habe ja kein Sachbuch geschrieben, ist lahm. Sie hat bzw. wollte genau so ein Buch schreiben wie Geipel. Sie hätte ein Quellenverzeichnis gebraucht und in diesem hätte Geipel zitiert werden müssen. Und Teuwsen ist zuzustimmen: Ines Geipel hätte in den Danksagungen als Ideengeberin genannt werden müssen. Interessanterweise gibt es bei Geipel eine Behauptung, die Rabe von dort übernommen zu haben scheint. Solche Übernahmen fallen auf, wenn das Übernommene falsch ist. Geipel schreibt:
26. April 2002. Der erste Schulamoklauf in Deutschland, die öffentlichen Morde eines Gymnasiasten, das Unvorstellbare schlechthin.
Ines Geipel, 2019: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass, Stuttgart: Klett-Cotta. S.110 des E‑Books.
Dieselbe Behauptung findet sich bei Anne Rabe und wie ich im Beitrag zu den Amokläufen gezeigt habe, ist die Behauptung falsch: Der erste Amoklauf war 1871 in Saarbrücken und dann gab es noch viele weitere. Mit Schusswaffen und Flammenwerfern usw. Zum Beispiel 1964 in Köln, 1983 in Eppstein, Hessen.
Also: Ja, es gibt auch hier ein Problem bei Anne Rabe.
Antisemitismus und Nationalismus
Auf S. 271 kommt mal eben so eine Aussage zu Antisemitismus und Nationalismus:
Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
S. 271
Wo hat sie das nur her? Quellen? Na, vielleicht von Geipel. Dass Anetta Kahane und Ines Geipel gelogen haben (oder extrem unwissend sind), wenn sie behaupten, der Holocaust sei im Osten nicht vorgekommen, habe ich schon in Der Ossi und der Holocaust besprochen. Zum (fast) nicht vorhandenen Antisemitismus in der DDR hat die Jüdin Daniela Dahn viel geschrieben. Manches ist auch im Holocaust-Post erwähnt. Andere Sachen bespreche ich im Post über die Ausstellung über jüdisches Leben in der DDR, die vom jüdischen Museum organisiert wurde.
Ich habe diverse Interviews mit Anne Rabe gelesen und in einem Interview von Cornelia Geißler von der Berliner Zeitung steht:
Auch der Historiker Patrice G. Poutrus, der eher Oschmanns Generation angehört, hat beobachtet, dass Rechte und Rechtsextreme im Osten auf ein festes nationalistisches Weltbild trafen.
Einen meiner Meinung nach entscheidenden Bestandteil des Nationalismus erwähnen die Autoren nur im Vorübergehen im Nachwort: den nationalen Taumel in der Wiedervereinigung.Dieser war vom Westen gewollt und gefördert. Die Ost-Linken haben das damals gesehen und sich davor gefürchtet. Mein Freund XY hat mir die beiden folgenden Grafiken geschenkt.
Deutschtümelei! Nationalismus! Das kam von der Bundesregierung. Nicht in Berlin. In Berlin wurde Kohl ausgebuht.
In Sachsen wurde er mit offenen Armen empfangen. Er hat den Ossis blühende Landschaften versprochen. Von Oskar Lafontaine, dessen Herz links schlug, und der damals Kanzlerkandidat der Partei war, in der auch Anne Rabe Mitglied ist, wollte niemand etwas Wissen. Er hat die Wahrheit gesagt. Aber „die Wahrheit ist hässlich und hat stinkenden Atem“.
Sicher ist alles nicht monokausal. Andere mögliche Ursachen werden im genannten Blog-Post diskutiert.
Nazis aus dem Westen
Im Post „Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern“: Kommentare zu einem Aufsatz von Patrice G. Poutrus, Jan C. Behrends und Dennis Kuck verlinke ich einen Fernsehbeitrag, der zeigt wie der CDU-Innenminister Jörg Schönbohm einen Jugendclub mit Nazi-Skins besucht und die Jugendlichen dort prima findet. Schönbohm war Generalleutnant in der Bundeswehr und Landesvorsitzender der CDU Brandenburg. Auch sieht man im Video, dass die Nazi-Partei Deutsche Alternative, die in Brandenburg aktiv war, von Menschen aus dem Westen aufgebaut wurde (11:25). Rabe schreibt dazu auch an einigen Stellen etwas und stellt das in Frage. Die rassistischen Ausschreitungen in Lichtenhagen erwähnt sie explizit. Auch Lichtenhagen ist ein schlimmes Beispiel von Polizeiversagen (siehe Rostock-Lichtenhagen 1992: Ein Polizeidebakel). Polizei, Justiz, Verfassungsschutz, alle Institutionen wurden vom Westen aufgebaut und waren von Westlern geleitet.6 Der Bruder meiner Schwiegermutter noch heute AfD-Wähler hat zum Beispiel das Landesarbeitsgericht in Dresden aufgebaut. Der für Lichtenhagen zuständige Polizist ist ins Wochenende gefahren. Nach Bremen. Er hat die bepissten Nazis pöbeln und zündeln lassen. Im Wikipediaeintrag zu den Ausschreitungen steht es noch krasser. Nach einer langen, langen Vorgeschichte mit Ankündigungen und Drohungen ist die gesamte politische und polizeiliche Führung ins Wochenende verschwunden. In den Westen:
Trotz der angekündigten Krawalle und der aufgeheizten Stimmung rund um die ZAst fuhr fast das gesamte politisch und polizeilich leitende Personal, das nach der Wende nahezu vollständig mit westdeutschen Beamten aus den Partnerländern Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen besetzt worden war, wie üblich am Freitag zu ihren Familien nach Westdeutschland. So waren am Wochenende der Ausschreitungen der Staatssekretär im Innenministerium, Klaus Baltzer, der Abteilungsleiter Öffentliche Sicherheit, Olaf von Brevern, der Abteilungsleiter für Ausländerfragen im Innenministerium und zum damaligen Zeitpunkt zugleich Ausländerbeauftragter der Landesregierung, Winfried Rusch, der Leiter des Landespolizeiamtes, Hans-Heinrich Heinsen, der Chef der Polizeidirektion Rostock, Siegfried Kordus, sowie der Einsatzleiter Jürgen Deckert nicht in Schwerin bzw. Rostock zugegen. Deckert hatte die Führung an den noch in der Ausbildung befindlichen Siegfried Trottnow übergeben.
Rabe lässt ihre Mutter bzw. Stines Mutter sagen, dass man Nazis aus dem Westen angekarrt habe:
Mutter hat gesagt, dass man nichts gegen Ausländer haben darf. Die machen hier die Arbeit, auf die die Deutschen keine Lust mehr haben. Und die Vietnamesen, wo sie in Rostock das Haus angezündet haben, die sind sogar schon zu Ostzeiten in Rostock gewesen, die können gar nichts dafür. Außerdem waren da auch viele Nazis aus dem Westen dabei. Die hat man extra da hingefahren, damit sie Randale machen. Das waren Rowdys. Aber im Fernsehen sagen sie immer, dass die alle Rostocker sind.
S. 88
Im Interview mit Cornelia Geißler sagt Rabe:
Als die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen in Brand gesetzt wurde, 1992, hieß es, die Neonazis seien nur aus dem Westen angefahren worden. Die Eltern, die Lehrer, die wollten das immer von sich weghalten. Aber wir Jugendlichen kannten die Nazis ganz gut, die saßen neben uns am Strand, in den Klassen, im Sportverein.
In den beiden Textpassagen gibt es verschiedene Aussagen. 1) Es waren viele Nazis aus dem Westen dabei. 2) Die Neonazis seien nur aus dem Westen angefahren worden.
Das sind die Fakten:
Gegen 12 Uhr am Sonntag hatten sich bereits wieder etwa 100 Personen vor der ZAst versammelt. Nun trafen Rechtsextremisten aus der ganzen Bundesrepublik in Rostock ein, darunter Bela Ewald Althans, Ingo Hasselbach, Stefan Niemann, Michael Büttner, Gerhard Endress, Gerhard Frey, Christian Malcoci, Arnulf Priem, Erik Rundquist, Norbert Weidner und Christian Worch. Von diesen wurde nur Endress während der Ausschreitungen festgenommen.
Also: Fakt ist, dass Neonazis aus dem Westen dabei waren. Ob die angefahren worden sind und wenn ja von wem, weiß ich nicht, aber ansonsten hatte Rabes (Roman-)Mutter Recht. Ja, auch ehemalige Funktionäre können Recht haben.
Bei den NSU-Morden war der Verfassungsschutz selbst dabei (taz, 03.04.2017). Maaßen, ein Neo-Nazi erst CDU, jetzt Werteunion, war der, der denjenigen abgelöst hat, der wegen des Versagens beim NSU gehen musste. In Leipzig Connewitz ist eine Horde von über 200 Nazis eingefallen und haben den Stadtteil verwüstet. Die Verfahren wurden verschleppt, viele sind straffrei davongekommen. Einer war Jura-Student. Er hat danach weiterstudiert und trat 2018 sein Referendariat an. Ein JVA-Mitarbeiter und Täter arbeitete fröhlich weiter in der JVA (taz: 11.01.2021, Schleppende Aufklärung). Die AfD wurde von Neoliberalen Wirtschaftsprofessor*innen aus dem Westen aufgebaut und nach und nach von West-Nazis übernommen. Das habe ich Oschmann nach seinem ersten Artikel geschrieben und ihn auf meinen Blog-Beitrag Der Ossi ist nicht demokratiefähig. Merkt Ihr’s noch? mit den Quellen verwiesen. Er hat sich herzlich bedankt und wird jetzt dafür zitiert. Die Quellenangabe hat er wohl vergessen.
Bei Enthüllungen von Correctiv zu den Deportationsplänen, die AfD-Mitglieder, CDU-Mitglieder und sonstige Neonazis diskutiert haben, habe ich mir auch mal den Spaß gemacht, zu schauen, wo die beteiligten Personen herkamen. Überraschung: Das Verhältnis West zu Ost ist 19:1. Bitteschön: Correctiv und die Nazi-Vorstellungen bzgl. Remigration.
In dieser Aufzählung darf Karl-Heinz Hoffmann nicht fehlen. Hoffmann ist ein extremer Rechtsextremist. Er hat die Wehrsportgruppe Hoffmann gegründet und hat mit 400–600 Kumpels bewaffnet für den Endsieg trainiert. (Ej, liebe Wessis, das gab es in der DDR wirklich nicht. Hört auf, vom „verordneten Antifaschismus“ zu faseln.) Hoffmann ging dann irgendwann doch in den Knast und kam schließlich 1989 wegen guter Führung und positiver Sozialprognose passend zur Maueröffnung wieder raus. Dankeschön! Hoffmann ist aus Kahla (Thüringen), ging sofort wieder rüber, kaufte die halbe Stadt auf und begann Neo-Nazi-Strukturen aufzubauen.
So war es. Wir wissen das. Nur Anne Rabe tut so, als wäre es anders. Weil sie es nicht weiß? Weil sie nie mit jemandem geredet hat? Außer mit Geipel? Weil sich das Gegenteil besser verkauft? Siehe unten.
Verbot des Themas
Anne Rabe nimmt die Kritik an ihrem Buch vorweg: Was wisst Ihr schon, Ihr Nachgeborenen!
„Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut In der wir untergegangen sind Gedenkt Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht Auch der finsteren Zeit Der ihr entronnen seid.“
Der blöde Brecht macht mich noch wahnsinnig. Er marschiert mir gerade rein in die Gedanken und mahnt und mahnt. Bilde dir kein Urteil! Bilde dir ja kein Urteil, du Nachgeborene! Ja, wieso eigentlich nicht? Das ist doch ein billiger Trick. Hinter der wortschönen Mahnerei drei Keller tief Schweigen. Dort habt ihr eure Schuld verbuddelt und verbietet uns, sie auszuheben. Sprecht uns ab, dass wir zu unserem eigenen Urteil kommen. Was kümmert’s euch? Was geht’s euch an, was wir über euch denken?
Tja, Frau Rabe. Hätten’se mal mit Adas Eltern gesprochen. Die hätten Ihnen erzählt, wie die DDR sich für Oppositionelle angefühlt hat. Das wollten Sie aber nicht. Sie haben sich geschämt. Wenn Sie ein Sachbuch über den Osten schreiben wollen oder einen sachlich richtigen Roman, dann müssen Sie recherchieren. Sie können sich nicht einfach etwas aus den Fingern saugen, von dem Sie annehmen, dass es sich gut verkauft. Die „drei Keller tief Schweigen“ fantasieren Sie herbei. Oder sie sind da. Im Haus Ihrer Eltern. Aber da hätten Sie vielleicht nicht suchen dürfen. Es ist alles besprochen und Sie haben es availible at your fingertips: einen Klick entfernt. Alles, was hier steht, kommt aus Wikipeidia bzw. den dort verlinkten Quellen. Sie habe es nicht für nötig gehalten, den Artikel über Lichtenhagen, den über Kindstötungen zu lesen. Sie dachten, dass Sie genug wüssten. So wie fast alle, die in Zeitungen und Zeitschriften über Ihr Buch geschrieben haben, sich in ihren Vorurteilen bestätigt sahen. Ich würde Ihre Arbeit nicht als Plagiat einordnen, aber als ein glattes „Durchgefallen“.
Schwarz: Das ist natürlich ein Buch auch, was, und das sage ich jetzt mal ganz bewusst als Westdeutsche, die Bundesrepublik total entlastet.
Rabe: Das ist aber interessant, weil das ist schön, dass man das immer, weil ich habe gar nicht an die Bundesrepublik gedacht dabei und ich sage das auch immer wieder, weil ja manchmal auch so Leute kommen ja aber in Westdeutschland gab es das auch und so. Da sag ich immer ja wunderbar, bitte schreibt die Bücher, weil ich finde, ich lese die auch gerne. Ich kann nur nichts darüber schreiben.
Schwarz: Aber Sie wissen was meine, ne?
Rabe: Ich weiß total, was Sie meinen.
Schwarz: Ich habe mir auch so gedacht, okay, warum lade ich denn jetzt Anne Rabe ein, um mit ihr über die dieses Buch zu reden. Warum spricht mich dann dieses Buch an? Hat das damit zu tun, dass es sozusagen …
Rabe: Ich könnte jetzt was ganz böses sagen.
Schwarz: Bitte. Nur zu.
Rabe: Das ist wirklich interessant, weil deswegen meinte ich, ich habe gar nicht an Westdeutschland gedacht bei dem Schreiben. Und ich finde auch nicht, dass man immer, wenn man über den Osten schreibt, damit automatisch was über den Westen sagt. Aber, dass sie als Westdeutsche anscheinend sofort denken, naja, das bedeutet was für mich als Westdeutsche, oder das bedeutet etwas Entlastendes für mich als Westdeutsche, wo der Westen eigentlich gar keine Rolle spielt in diesem Buch.
Das kann nicht sein. Rabe hat Germanistik und Theaterwissenschaft studiert. Sie hat den PEN Berlin mitgegründet. Sie ist politisch aktiv, Mitglied der SPD. Sie ist entweder absolut naiv oder durchtrieben. Das Buch schlägt genau in die Kerbe, in die von 60% der taz-Autor*innen und von weiß nicht wie vielen Autor*innen in Zeit, FAZ, Spiegel usw. geschlagen wird. Die Wunde ist tief und schmerzt. Und wenn keine neuen Schläge kommen, wird mal eben ein bisschen Salz reingeschüttet. Dieser Blog ist voll von Beispielen. Nur Frau Rabe hat von diesem Ost-West-Diskurs noch nichts gemerkt, obwohl sie ja einen Termin mit Oschmann auf der Leipziger Buchmesse hatte (zu dem Oschmann nicht gekommen ist).
Und weiter:
Schwarz: Ja, das bedeutet halt etwas …
Genau! Das lernt man in Pragmatik. Im Germanistik-Studium. Als Autorin und politischer Mensch sollte man das allerdings auch ohne Studium sehen können.
Rabe: Aber es ist ihr Zentrum anscheinend sofort wieder und vielleicht auch das Zentrum dieser Bundesrepublik immer noch zum Teil.
Schwarz: Ja, glaube ich jetzt nicht, dass es mein Zentrum ist, aber es bedeutet etwas für den Diskurs über Ostdeutschland, das es mir nicht so gefällt … […] Rabe: Das stimmt schon mit der Entlastung, aber das würde ich mir nicht anziehen.
Das Buch ist ein Erfolg und wird gefeiert, weil es den Westen entlastet. Die Ossis sind scheiße, alles Psychos, die in Schulen Amok laufen, ihre Kinder massenweise töten, Nationalisten und Antisemiten. Wir haben es immer gewusst und Anne Rabe hat es in ihrem Nicht-Sachbuch noch einmal gut zusammengefasst. Anschaulich bebildert mit Material aus ihrer eigenen Kindheit. Ich habe in der vergangenen Woche einem Professor für Politikwissenschaften einen kritischen Brief geschrieben. Er hat mir eine lange Antwort-Mail geschickt und mich dazu aufgefordert, doch einmal das Buch von Anne Rabe zu lesen. So gehen Fake News in unser Allgemeinwissen ein. Es wird in der Politikwissenschaft und in der Geschichtsforschung zitiert werden, obwohl es eben kein Sachbuch ist, obwohl es nicht von Fachwissenschaftler*innen begutachtet wurde.
Hier ein paar Ausschnitte aus den Rezensionen:
Die Zumutung dieses Buches besteht darin, erschütternde Lieblosigkeit und rohe Gewalt als Regelfall, nicht als Ausnahme dazustellen. Zu diesem Zweck durchziehen Archivrecherchen, Gesetzestexte und Umfrageergebnisse die 50 kurzen Kapitel. Sie vermischen sich mit Erinnerungen, Traumsequenzen und literarischen Zitaten zu einem kaleidoskopartigen Text.
Archivrecherchen hat es zu Anne Rabes Verwandten gegeben, aber wenn es Recherchen zu Rechtsextremen oder irgendwelchen DDR-Themen gegeben haben sollte, so sind sie nicht drei Keller tief gegangen, sondern waren oberflächlich. Umfrageergebnisse zum Osten gab es nicht. Rabe bezieht sich auf Umfragen wie den Erinnerungsmonitor der Uni Bielefeld und die von der Uni Hannover geleitete Mehrgenerationenstudie. Auf Ergebnisse von 2018 aus Bielefeld und es geht dabei um Erinnerungen an die Nazizeit. Diese sind „zu diesem Zweck“ ungeeignet.
Mit den folgenden Zitaten wirbt Anne Rabe selbst auf ihrer Web-Seite:
Liest man dieses Buch, sieht man Deutschland anders.
Dirk Hohnsträter, WDR 3
Ich hoffe, dass das Buch schnell in der Versenkung verschwindet. Und dass Dirk Hohnsträters Behauptung für diesen Blogbeitrag gilt.
Anne Rabe verbindet Archivarbeit mit politischem Essayismus und episodischer Autofiktion.
Katharina Teutsch, DLF Büchermarkt
Das Buch, das man jetzt lesen muss, wenn man nicht nach schlichten Antworten auf die schlichten Fragen sucht, was das Erbe des ersten sozialistischen Staats auf deutschem Boden sein könnte und warum ›im Osten‹ heute ›die Leute‹ wählen, wie sie wählen.
Ich würde ja die Antwort von Anne Rabe als schlicht bezeichnen. Sie nimmt die Gewalt, die sie in ihrer Familie erfahren hat, als monokausale Erklärung für alles.
Die Möglichkeit von Glück‹ (ist) ein Buch, das weit über seinen individuellen Gegenstand hinausreicht. Es erklärt, warum Ostdeutschland eine andere Gewaltgeschichte nach der Wiedervereinigung aufweist als Westdeutschland. (…) Und die auch den derzeit boomenden Büchern, die einer Normalisierung der DDR-Erfahrungen (und damit ihrer Relativierung) das Wort reden wollen, den Boden entziehen. Gegen den pauschalisierenden Blick hilft der aufs individuelle Schicksal. Dass es eines im Roman ist, nimmt ihm nichts an Wahrhaftigkeit. Oder an Erschütterungskraft.
Andreas Platthaus, FAZ
Ja. Ich bin erschüttert.
Wer sind eigentlich die Anderen?
Hier ist oft von „den Wessis“ und „den Ossis“, von „wir“ und „ihr“ die Rede. Das ist schlecht, denn diese Gruppeneinteilung ist Teil des Problems, das auch in diesem Beitrag besprochen wurde. Angefangen bei der Kollektivschuld, über die Scham Rabes, die angebliche Gewalttätigkeit des ganzen Ostens. Ich wollte nie ein Teil von „wir“ sein. Die DDR war mir zuwider. Zumindest der obere Teil. Also nicht Rostock sondern die Staatsführung. In einem Gymnasium in Gelsenkirchen habe ich mal gesagt, dass das Problem mit der DDR gewesen sei, dass die Herrschenden so doof gewesen seien. Das war sicher etwas vereinfachend, aber es war mein Problem. „Ihr“ habt mich zum Ossi gemacht. Prof. Dr. Naika Foroutan beschreibt das in ihrer Arbeit: „Ostdeutsche sind auch Migranten“. Mit „ihr“ sind in ihren Klischees gefangene Journalist*inne, Historiker*innen und sonstige Personen gemeint und ich hätte gehofft, dass „wir“ uns irgendwann auflösen, aber das ist nicht passiert. Wie ich an meinem eigenen Beispiel erfahren habe, werden „wir“ mehr, weil „ihr“ dafür sorgt. „Ihr“ konstruiert „Euch“ den Osten, so wie es der Oschmann gesagt hat. Jetzt helfen „Euch“ „unsere“ Kinder. Ich wünschte, das alles wäre nicht so. Ich wünschte, alle würden miteinander reden. Vielleicht hilft dieser Text.
„So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen.“
Ich bitte um Entschuldigung für diesen langen Blogpost. Und das war ja nur der zweite Teil zu den Möglichkeiten für Glück.
Daniela Dahn erklärt in ihrem 1997er Buch über mehrere Seiten, warum ein einziger Satz im West-Ost-Diskurs falsch gewesen ist, und schreibt danach:
So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen. Vielleicht versteht man, daß die Ostler zu solchem Kraftakt auf die Dauer keine Lust haben und oft nur abwinken: Ihr werdet es nie verstehen!
Dahn, Daniela. 1997. Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit S. 68
Ich musste viele Sätze in Anne Rabes Buch kommentieren. Entsprechend lang sind die Blog-Posts geworden. Ich würde mich freuen, wenn sie von genauso vielen Menschen gelesen werden wie Anne Rabes Buch. Das wird wahrscheinlich nicht passieren, denn ich habe keine Buchpreis-Jury und keine Marketingmaschine auf meiner Seite. Nur Euch. Aber vielleicht schaffen wir es ja. Empfehlt die Posts weiter. Danke. Bitte.
Schlussfolgerung
Anne Rabe hat Recht mit ihrer Aussage bezüglich Schlagersüßtafeln!
Danksagungen
Ich danke meiner Such-Maschine Peer für viele Belege und auch für die immer kritische Diskussion. Ich danke meinem kleinen Bruder dafür, dass er mir die Bummi-Hefte gekauft hat, weil die alten, an die ich mich erinnert hatte, irgendwann mal weggeworfen worden waren. Ich danke meiner Frau für die fortwährende Diskussion von Ostthemen. Wenn wir nicht über die Klimakatastrophe reden, reden wir eigentlich nur über den Osten. (Hat eigentlich schon mal jemand versucht, dem Osten die Klimakatastrophe anzuhängen? Ach ne, geht ja gar nicht, denn Deutschland steht ja nur deshalb halbwegs gut in der Klimabilanz da, weil die Ost-Industrie in den 90ern abgewickelt wurde.)
Und ich danke meinem Vater und meiner Mutter für die Erlaubnis, allein als Sechszehnjähriger bis ans Schwarze Meer zu fahren, und dafür, dass sie mich nicht zum Nazi erzogen haben.
Und Ihnen/Euch danke ich dafür, dass Ihr bis hierher gelesen und alle Videos angesehen und alle verlinkten Wikipediaartikel gelesen habt.
Goschler, Constantin. 1993. Paternalismus und Verweigerung: Die DDR und die Wiedergutmachung für jüdische Verfolgte des Nationalsozialismus. In Benz, Wolfgang (ed.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, vol. 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.
(Dieser Blog-Beitrag ist aus einem Mastodon-Post vom 30.01.2024 mit anschließender Diskussion entstanden. Ich danke allen, die sich an der Diskussion beteiligt haben.)
das verleugnete Wissen um den Holocaust und die Verbrechen des NS-Regimes konnte sich gleichwohl durch das Beschweigen auf verquere Art und Weise auf die nächsten Generationen übertragen.
Die Nachfolgegenerationen sind auch heute noch mit der sprachlosen Weitergabe eines schuldbelasteten Erbes konfrontiert.
Dies gilt für den Westen, aber noch stärker für den Osten Deutschlands: Unter dem dünnen Firnis des staatlich verordneten Antifaschismus wurden in den Familien noch stärker als im Westen Einstellungsmuster tradiert und konserviert, die nahtlos an die Zeit des Nationalsozialismus anknüpften.
So, so. Alles was bei Ihnen (den Autor*innen, solcher Artikel) scheiße ist, ist im Osten noch scheißer. In jedem Artikel. Immer. Seit über dreißig Jahren. Neulich ja auch in dem Beitrag von Garet Joswig.
Sehr geehrter Herr Professor, lieber Kollege, wo ist Ihre Evidenz? Ich bin auch Wissenschaftler. Wenn ich so arbeiten würde, würden mich alle Wissenschaftler*innen in meinem Fachgebiet auslachen! Könnte ich da bitte mal irgendwelche empirische Forschung sehen? Woher wissen Sie das denn? Und dann noch vergleichend Ost-West? Waren Sie jemals in der DDR? Wie groß war die Stichprobe? Nach der Wende? Befragungen?
Aber hey, wie wäre es denn, wenn Sie (Plural für all diejenigen, die völlig evidenzfrei Klischees verbreiten) mal die Juden fragtet, die in der DDR gelebt haben? Jan Feddersen war in der Ausstellung zu Juden in der DDR im jüdischen Museum und bedauerte, dort nichts darüber gefunden zu haben, wie es wirklich war. Nämlich total antisemitisch (siehe Blog-Post Ausstellung: „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR.“). Wenn er richtig gelesen hätte, hätte er gemerkt, dass es diesen Antisemitismus, so wie er ihn sich vorstellt, in der DDR nicht gegeben hat. Aber er weiß ja, dass es ihn gegeben hat. Evidenz ist dann auch irgendwie egal.
Lesen Sie doch mal das Buch Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute: Die Einheit – eine Abrechnung von Daniela Dahn, einer Jüdin. Darin geht es auch um Antisemitismus, u.a. über Friedhöfe und was da wie passiert ist und den Vergleich mit dem Westen, wo Neonazis jüdische Gräber in die Luft gesprengt haben. Und gehen Sie in die Ausstellung im jüdischen Museum, falls die noch läuft.
Bei einer Diskussion Ihres Beitrags auf Mastodon hat sich dann auch ergeben, dass es nicht nur so ist, dass Sie keine Evidenz für Ihre Anwürfe haben, sondern dass es sogar so ist, dass es Evidenz für das Gegenteil Ihrer Behauptung gibt. Interessanterweise wird diese ebenfalls von Daniela Dahn vorgebracht.
Wie SepiaFan, von dem auch das Bild seines Bücherregals mitgeschickt wurde, angemerkt hat, zitiert Daniela Dahn in Westwärts und nicht vergessen eine Emnid-Umfrage von 1991 zum Thema Antisemitismus und diese kommt zu dem Ergebnis, dass es in den alten Bundesländern bei 16% der Befragten ausgeprägte antisemitische Haltungen gab, in den neuen Bundesländern bei 4% (S. 58). Wenn man rechtsextreme und antisemitische Einstellungen auf die DDR-Vergangenheit zurückführen will, braucht man wohl Daten aus dieser Zeit, da man bei späteren Umfragen immer auch Einflüsse der traumatischen Nach-Wende-Zeit bekommt.
Daniela Dahn hat übrigens auch ein ganzes Kapitel zum „verordneten Antifaschismus“. Sehr interessante Überlegungen. Ich möchte das Kapitel jedem, der über den Osten und Faschismus schreibt, sehr ans Herz legen. Oder an den Kopf.
Bei der Lektüre dieses Kapitels ist mir klar geworden, dass Daniela Dahn meinen Kampf schon in den 90ern geführt hat (siehe auch Zitat am Ende des Blog-Posts). Sie konnte damals bei Rowohlt Bücher veröffentlichen. Mir war der Osten damals noch halbwegs egal. Jedenfalls soweit egal, dass ich mein Wissen nicht systematisiert und aufgeschrieben habe. Das habe ich dann erst mit diesem Blog begonnen. Und dann wird einem klar, wie schlimm es in Westdeutschland war, wie lange die Menschen nichts wussten oder Dinge, die sie wussten verdrängt haben. Ich erinnere nur einmal mehr an die Skandale um die Wehrmachtsausstellung: Nein, Opi war OK. Der war zwar in der Wehrmacht, aber die haben nur lieb andere Soldaten erschossen. So wie Rommel halt, nach dem noch heute Bundeswehrkasernen benannt sind. Im Osten wussten wir dagegen von Babyn Jar und dergleichen. Hier, damit die Anwürfe nicht immer nur von mir kommen, ein paar Punkte von Wolfgang Pomrehn aus der Mastodon-Diskussion:
Als Wessi überfällt mich bei derlei Lektüre immer Fremdschämen. Als linker Wessi älteren Jahrgangs möchte ich mal ein paar aus der Hüfte geschossene Fakten erwähnen:
Bundeswehr, Geheimdienste und Polizei wurden von alten Nazis aufgebaut.
Auf einigen Lehrstühlen saßen an den Unis bis an den 1980ern alte Nazis, die sich konkret an Verbrechen beteiligt hatten.
Deserteure galten noch viele Jahrzehnte als nach Recht und Gesetz ermordet.
Sinti wurden nach 45 weiter diskriminiert, alte Naziakten über sie weitergeführt.
Nach 1990 wurden Renten an alte Faschisten v.a. im Baltikum gezahlt, die in der SS waren und sich höchstwahrscheinlich an allerlei Verbrechen beteiligt hatten.
Wer über „verordneten Antifaschismus“ in der DDR schwadroniert, will von all dem ablenken, oder ist zu blöd zu sehen, dass er eben dies tut. Das sage ich im Übrigen als jemand, der nie ein Freund der DDR-Regierung gewesen ist.
Ein paar Anmerkungen zu den Punkten: Es gibt in meiner Verwandtschaft einen Angehörigen der Wehrmacht, der in Norwegen Zivilisten erschießen sollte. Er hat sich geweigert und wurde selbst erschossen. Der westliche Teil der Familie hat darüber nie gesprochen, weil sie sich geschämt haben.
Ich habe die Goerdeler-Tochter Marianne Meyer-Krahmer kennen gelernt. Sie hat darüber berichtet, wie ihr Anfang im Westen nach der Entlassung aus dem KZ war. Wie sie als Lehrerin gearbeitet hat und wie die normale Bevölkerung auf sie reagiert hat. Diesen Text hat sie uns gegeben: Mein langer Weg zur Stunde Null.
Irgendwann in den 90ern waren wir in Mannheim. Wir durften bei der Nachbarin derjenigen wohnen, die wir besucht hatten, weil die Nachbarin verreist war. Eine Lehrerin. An der Wand hing ein Bild ihres Vaters. In SS-Uniform. Mit Totenkopf an der Mütze. Die Wohnung war ansonsten piko-bello aufgeräumt. Wenn man irgendwie der Meinung wäre, dass ein SS-Vater etwas Schlimmes ist, dann hätte man den doch wenigstens vorübergehend in die Schublade gepackt. Aber es wahr wohl normal.
In einem Fernsehbeitrag von 1959 vom Hessischen Rundfunk, immerhin 14 Jahre nach dem Krieg, kann man sehen, was west-deutsche Schüler auf Volksschulen von Hitler denken.
Das ist wohl der direkte Reflex der jeweiligen Elternhäuser, unverdorben von irgendeiner Art Geschichtsunterricht: „Hitler hat für das deutsche Volk viel getan, war nur dann schlecht, dass er wahnsinnig geworden ist.“
Diese kleinen Geschichten zeigen Beispiele dafür, wie es im Westen war. Meine beschränkte Wahrnehmung, aber es ist schön, dass diese mit den Wahrnehmungen von Menschen aus dem Westen übereinstimmt.
Also, Herr Professor, lesen Sie die Bücher von Daniela Dahn und arbeiten Sie sorgfältiger.
Und liebe taz, behandelt die Ossis so, wie Ihr andere Minderheiten oder benachteiligte Gruppen behandelt: queere Menschen, Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund. Schreibt nicht einfach irgendwelchen Mist über sie und lasst das auch bei Gastautor*innen nicht zu. Danke!
Ich ende hier mit einem weiteren Zitat aus Daniela Dahns Buch von 1997 (vor 28 Jahren geschrieben):
So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen. Vielleicht versteht man, daß die Ostler zu solchem Kraftakt auf die Dauer keine Lust haben und oft nur abwinken: Ihr werdet es nie verstehen!
Dahn, Daniela. 1997. Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit S. 68
Seit 2013 gibt es Westler, die zuhören und die so tun, als würden sie etwas verstehen, als wären sie eine Alternative, und das ist ein ernsthaftes Problem.
Quellen
Dahn, Daniela. 1997. Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit (Rororo Sachbuch 60341). Hamburg: Rowohlt Verlag.
Wenn Ihr wissen wollt, was viele Ossis aufregt, dann lest diesen Beitrag in der taz: Den Radikalisierungsmotor stoppen. Gareth Joswig schreibt über Nazis von der Jungen Alternative in Bayern:
Wie radikal die Junge Alternative ist, haben vorletzte Samstagnacht wieder einige ihrer Mitglieder beim Feiern nach einem Parteitag im mittelfränkischen Greding in Bayern zur Schau gestellt. Eine Gruppe von bis zu 30 Personen grölte tanzend in einer Diskothek den stumpfen Neonazi-Slogan: „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“
Soweit so gut, aber dann geht es weiter:
– also exakt jene Parole, die Neonazis 1993 bei den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen riefen, während sie Brandsätze auf ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter warfen.
Was soll das? Lichtenhagen hat in dem ganzen Artikel nichts zu suchen. Was Gareth Joswig hier macht, vielleicht unbewusst, ist zu sagen: Ach gucke, die Bayern sind Nazis, aber die Ossis sind noch viel schlimmer. Obwohl das aktuell für den Artikel nicht der Punkt ist. Solches Ossi-Bashing kommt immer wieder zur Selbstentlastung und ist so was wie Whataboutism oder auch diese Hufeisen-Geschichte: Immer wenn jemand auf die Rechten schimpft, wird auch gleich mal kräftig auf die Linken geschimpft.
Inhaltlich ist es grober Unfug, den Ossis diesen Spruch anheften zu wollen. Wenn man mal bei Google-Books nachguckt, wie diese Phrasen verwendet werden, dann findet man … Überraschung.
Die Phrase „Ausländer raus“ gab es ab 1973 in Buch-Publikationen. (Nebenbemerkung: Den Ossis wird immer erklärt, dass es im Osten Faschismus und Rassismus gäbe, weil es dort kein 1968 gegeben habe. Deshalb ist es natürlich interessant zu sehen, dass die Ausländerfeindlichkeit erst nach 1968 auftrat.)
Am häufigsten war die Phrase um 1992.
Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen fanden im August 1992 statt. Da Bücher eine gewisse Vorlaufzeit haben, bis sie in den Druck und den Handel gehen, dürfte der Höhepunkt der Verwendung ein bis zwei Jahre vor den Ausschreitungen gelegen haben. Das heißt der Spruch geht nicht auf die pöbelnden bepissten Ost-Nazis aus Lichtenhagen zurück, sondern war schon vorher weit verbreitet. Man kann sich die Stellen in den Publikationen auch ansehen, indem man unten auf die Jahreszahlen klickt. Man findet dann Publikationen, die sich mit Ausländerhass beschäftigen.
„Gastarbeiter raus!“ in Arbeit und Arbeitsrecht von 1976.
Hier ein Ausschnitt aus einem 1984 erschienen Buch:
Die Parole wird Anfang der 80er in vielen Publikationen im Zusammenhang mit der NPD diskutiert.
Wir können uns noch mal den Stand zur Wende angucken.
1982 gab es ein Hoch, das dann aber 1989 noch übertroffen wurde. Ein Drittel des Höchstwertes von 1992 war 1989 bereits erreicht. Und es dürfte klar sein, dass die entsprechenden Publikationen nicht in der DDR erschienen sind. In der DDR gab es auch einige Nazis (viel, viel weniger und anders als im Westen nicht in leitenden Funktionen), aber diese hatten keinen Zugriff auf Druckereien. Es konnte nur gedruckt werden, was vom Staat genehmigt wurde. Es gab nicht genug Papier und eben auch nur staatliche Druckereien. Umweltgruppen haben in kleinen Auflagen Untergrundblätter produziert (siehe Umwelt-Bibliothek in Berlin). Von Nazis ist mir nichts dergleichen bekannt und die entsprechenden Druckerzeugnisse dürften es auch nicht zu Google Books geschafft haben. Wenn es die Phrase in Ost-Büchern gegeben haben sollte, dann wohl höchstens als Reflex der Vorgänge und Entwicklungen im Westen. Offiziell war Völkerverständigung und Völkerfreundschaft die Linie im Osten.
Das heißt, von der Phrase „Ausländer raus!“ die irgendwelche besoffenen Jung-Nazis in Bayern grölen, einen Schwenk nach Lichtenhagen zu machen, ist tendenziös und faktenfrei.