Ich habe viele, viele Reaktionen zu meinem Artikel über Anne Rabes Buch in der Berliner Zeitung bekommen: Leserbriefe über die BLZ, Emails direkt an mich, Briefe und Post-Karten, Anrufe, Hinweise auf Bücher mit eigenen Biografien, ja sogar ein Päckchen mit einem solchen Buch. Eine Zuschrift war eine Interviewanfrage eines Hamburger Radio-Senders. Das Interview in „Heiße Tasse“ hat inzwischen stattgefunden und ist auch Bestandteil meines Blogs geworden. Insgesamt waren von den Zuschriften 30 positiv und sechs in einzelnen Punkten kritisch oder insgesamt negativ (Stand 14.06.2024). Zu den negativen/kritischen möchte ich hier Stellung nehmen. Teile positiver und negativer Briefe wurden in der Berliner Zeitung am 01.06.2024 veröffentlicht. Dazu gibt es eine Antwort in der BLZ vom 15.06.2024. Der ursprüngliche Antworttext war 17.000 Zeichen lang und lag somit deutlich über den 5.000 zur Verfügung stehenden Zeichen. Dieser Text überlappt sich etwas mit den Antworten hier.
Saarbrücken ist nicht Neunkirchen
Auf Mastodon und von einem Leser wurde ich darauf hingewiesen, dass Erich Honecker nicht in Saarbrücken sondern in Neunkirchen geboren ist. Dieser Fehler tut mir Leid. Er war im ursprünglichen Blogpost nicht enthalten und meine Erinnerung hat mich wohl der Pointe wegen beim Schreiben des Artikels getäuscht. Da ich den gedruckten Artikel in der Berliner Zeitung nicht mehr ändern kann, werde ich den Honecker-Eintrag in der Wikipedia ändern. (Das war ein Scherz, der zum nächsten Abschnitt überleitet.)
Wikipedia ist keine wissenschaftliche Quelle
Mehrfach kam der Einwand, dass Wikipedia keine wissenschaftliche Quelle ist. Das ist mir durchaus bewusst. Ich bilde Student*innen im wissenschaftlichen Arbeiten aus (siehe hier meine Richtlinien für Hausarbeiten). In der Online-Version des Artikels sind die wissenschaftlichen Quellen zitiert. Im Druck-Artikel war dafür kein Platz, aber am Ende des Artikels gibt es einen Verweis auf die Online-Version.
Wikipedia ist auch für Wissenschaftler*innen ein erster Anlaufpunkt. Man kann dort nachlesen und dann die dort zitierte Fachliteratur konsultieren. Im Fall der Amokläufe und der Kindstötungen habe ich das getan. Der Verweis auf Wikipedia im BLZ-Artikel und hier im Blog-Post hatte den Sinn zu zeigen, wie einfach es gewesen wäre, einen Startpunkt für weitere Recherchen zu finden. Weder Anne Rabe noch irgendeine*r der Buchpreis-Juror*innen oder Rezensent*innen (Ausnahme Wiebke Hollersen) hat das getan. Ich zitiere hier meinen Artikel:
Zusammenfassend kann man sagen, dass Anne Rabes Buch an vielen wichtigen Stellen gravierende Fehler enthält, die oftmals durch nur einen Klick in die entsprechenden Wikipedia-Artikel oder einen zweiten Klick in die dort verlinkte Fachliteratur als solche erkannt werden können.
Ein weiterer Grund, Wikipedia in bestimmten Situationen zu verwenden, ist, dass Argumentationen nachvollziehbar sein sollen. Die verlinkten Dokumente müssen dazu zugänglich sein. Das ist bei Fachpublikationen leider immer noch nicht der Fall. Eine Zusammenstellung der Fakten über die Wehrsportgruppe Hoffmann wäre zum Beispiel nicht zu leisten. Ich müsste dazu im Prinzip Wikipedia replizieren.
Absolute und relative Zahlen
Ein Professor schreibt mir:
Wenn Herr Professor Müller so stark auf die Richtigkeit der Fakten abstellt, was die Aussagen von Frau Rabe in Ihrem Buch „Die Möglichkeit von Glück“ angeht, so ist das nicht zu beanstanden. Es stimmt mich aber bedenklich — und das stellt dann auch den ganzen Artikel in Frage — wenn die Aussagen der Autorin bewusst (?) nicht richtig interpretiert werden. Wenn im Jahre 2006 im Westen 48 und im Osten 34 Kindstötungen erfolgten, dann kann man nicht einfach sagen, dass dies 29% weniger Tötungen im Osten waren als im Westen. Wer diese Zahlen nämlich ins Verhältnis zum Bevölkerungsanteil setzt, der stellt fest, dass 2006 4x mehr Westdeutsche als Ostdeutsche in Deutschland lebten. Wenn ich die Zahl 48 mit 4 multipliziere, dann ist das Ergebnis 192. Die Aussage von Frau Rabe — richtig interpretiert — fällt sogar noch günstig für die Ostdeutschen aus.
Herr Professor Müller: Wenn man so anspruchsvoll daherkommt, sollte man sich schon etwas mehr Mühe geben.
Leserbrief OL
Diese Aussage enthält die Unterstellung, ich hätte die Autorin bewusst fehlinterpretiert. Hier ist die zitierte Stelle aus meinem BLZ-Artikel:
Als letzten Punkt möchte ich die Kindstötungen ansprechen. Anne Rabe behauptet in ihrem Nicht-Sachbuch, dass die Zahl der Kindstötungen in den 90er- und 2000er-Jahren im Osten doppelt so hoch war wie im Westen und im Jahr 2006 auf das Vierfache anstieg. Schaut man in Studien zur Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) dieser Jahre, stellt man fest, dass die Fallzahlen insgesamt so klein sind, dass man keine statistisch relevanten Aussagen machen kann.
Außerdem weisen die Autorinnen darauf hin, dass die Fälle mit dem Jahr der Erfassung in die PKS eingehen. Das war für die neun Kindstötungen, die in Frankfurt (Oder) zwischen 1988 und 1999 stattfanden, das Jahr 2006. Dadurch ist der extreme Anstieg von 2006 zu erklären, denn die Fallzahlen insgesamt sind sehr klein. Zu guter Letzt ist die Aussage von Anne Rabe, die Zahl der Kindstötungen sei im Osten doppelt so hoch wie im Westen gewesen, schlicht falsch. Wenn dem so wäre, wäre das wirklich extrem, denn im Osten gibt es viel weniger Menschen und viel geringere Geburtenraten als im Westen.
Die absoluten Zahlen für 2006 betragen 48 tote Kinder für Westdeutschland und 34 für Ostdeutschland – das sind 29 Prozent weniger. Wenn die absoluten Zahlen im Osten viermal so groß wie im Westen gewesen wären, hätten es 192 statt 34 Kindstötungen sein müssen.
Die Kritik des Lesers ist sehr merkwürdig, denn ich habe im Satz vor den absoluten Zahlen geschrieben, dass es im Osten viel weniger Menschen und viel niedrigere Geburtsraten gibt als im Westen und dass man, wenn man die absoluten Zahlen betrachten würde, nicht auf eine um den Faktor vier höhere Tötungszahl kommen könnte. Im von mir eingereichten Beitrag stand auch noch ein Satz zur Ermittlung der Opferziffern (OZ). Relevant sind die Kindstötungen pro 100.000 Menschen im relevanten Alter (Kinder unter sechs Jahren).
Leider ist dieser Satz im Redaktionsprozess verloren gegangen, was mir nicht aufgefallen ist. Ich hätte den ganzen Absatz noch einmal sorgfältig lesen müssen. Jetzt steht folgendes in der Online-Version:
Die absoluten Zahlen für 2006 sind für Westdeutschland 48 und für Ostdeutschland 34. Was untersucht wurde, ist die Anzahl der Kindstötungen pro 100.000 Kindern unter sechs Jahren.
Im Original-Blogpost zum Thema ist das richtig. Hier noch einmal die Grafik aus der Polizeistatistik mit den relativen und absoluten Zahlen:
Man sieht sehr schön, dass die relativen Zahlen (West 1,28 vs. Ost 5,76) sich anders verhalten als die absoluten (48 vs. 34). Die relativen Zahlen sind in der Tat um den Faktor vier höher, die absoluten Zahlen sind aber um 29 % niedriger.
Wer spricht?
Leser Reinhard Brettschneider schreibt:
Sehr geehrter Herr Müller, liebe Berliner Zeitung, es ist sehr gut, dass die Berliner Zeitung so vielfältig und frei Menschen ihre Meinung schreiben lässt. Ich finde es super, Herr Müller, dass Sie diesen Freiraum nutzen. Ich bin froh, dass ich, seinerzeit 29 Jahre alt, mit dem Ende der DDR diese Freiheiten auch dort erleben konnte.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Ich finde mich in Ihren Artikel in keiner Weise wieder. Für mich ein Artikel mehr, der Spaltung zwischen Ost und West erhalten will. Und ich persönlich bin sehr froh, dass ich sowohl persönlich als auch beruflich diesen Spaltergeist nicht erlebe.
Eine Sache hat mich besonders irritiert. Gleich am Anfang schließen Sie
2 Gruppen aus dem Diskurs aus und Ihre Begründungen klingen für mich wie „niedrige Beweggründe“ mit denen beide Gruppe, ihre Meinung zur DDR bilden.. Wenn ich ehemalige Oppositionelle in Medien oder anderswo erlebe, so haben sie sehr unterschiedliche und differenzierte Meinungen.
Zu der anderen Gruppe hatte und habe ich zu wenig Kontakt.
Ich bin Physiker und deshalb etwas zahlenaffin. Herr Müller, Sie haben vollkommen recht, dass Frau Rabe falsch liegt, wenn sie behauptet hat, dass die absolute Zahl der Kindstötungen in in den neuen Bundesländern über den der alten Länder lag. Ich kenne das Originalzitat von Frau Rabe nicht, aber üblich sind in solchen Fällen für Vergleiche natürlich relative Zahlen.
Grobe Zahlen zum einfachen Rechnen: Neue Länder ca. 14 Mio (inkl. 1,4 Mio Berlin), alte Länder 70 Mio., 25 (=34–9 wegen des Sondereffekts) vs.
48 macht einen Anteil von 1,8 pro Mio Einwohner gegen 0,7 pro 1 Mio. Das ist etwa das 2,5 fache. Das ist schon eine deutliche Korrelation, insbesondere wenn es über einen langen Zeitraum so war. Korrelation ist keine Kausalität. Und ich vermute, dass die absolute Zahl (zum Glück) so klein ist, dass die gewiss vielfältigen Ursachen nicht wissenschaftlich erforscht werden.
Liebe Berliner Zeitung, auch wenn Sie für die OS-Artikel inhaltliche Verantwortung ausschließen, wäre ein Faktencheck bei einem Artikel, der sich auf Fakten beruft, vielleicht doch angebracht.
Hier die einzelnen Punkte kommentiert:
Für mich ein Artikel mehr, der Spaltung zwischen Ost und West erhalten will. Und ich persönlich bin sehr froh, dass ich sowohl persönlich als auch beruflich diesen Spaltergeist nicht erlebe.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Sehr geehrter Herr Brettschneider, ein erster Beitrag zur Heilung wäre ein angemessene Wahrnehmung der Tatsachen, eine faire Berichterstattung in den Medien. Diese ist nicht gegeben, weshalb ich diesen Blog betreibe. Ich erlebe diesen Spaltergeist auch weder beruflich noch persönlich. Wir hatten gerade eine private Party mit ca. 70 Menschen, bei denen wahrscheinlich 80 Prozent aus dem Westen waren. Wir waren mit Familien aus dem Westen im Urlaub usw. In meinem Umfeld an der Humboldt-Uni komme ich primstens mit allen aus. Einige meiner Kolleg*innen haben mich auch auf den Artikel angesprochen. Positiv. Die Spaltung ist real. Gerade auch bei Professuren zeigt sie sich. Ich bin an unserem Institut an einer Ost-Uni der einzige Ossi von neun Professuren. Von 22 Jura-Professor*innen sind zwei aus dem Osten. Ich habe in Ich will was sagen über meine Entwicklung zum Ossi und die Gründe für diesen Blog geschrieben. Spaltung liegt mir fern. Wissenschaft geht auch ohnehin nur gemeinsam. Ich habe lange Jahre in Saarbrücken, Bremen, in Jena und auch an der FU-Berlin gearbeitet. Ausschließlich mit West-Professor*innen. Ich bin auch ins DFG-Fachkollegium gewählt worden. Das Fachkollegium vergibt die Forschungsmittel, die Wissenschaftler*innen beantragen können. Wählen dürfen alle im betreffenden Fach Promovierten. Auch dort war ich der einzige Ossi. Ich habe als Ossi im beruflichen Umfeld keinerlei Probleme. Ich möchte hier auf Missstände hinweisen und die Spaltung überwinden. Dazu ist es wichtig, dass tendenziöser Berichterstattung etwas entgegengestellt wird.
Eine Sache hat mich besonders irritiert. Gleich am Anfang schließen Sie
Leserbrief Reinhard Brettschneider
2 Gruppen aus dem Diskurs aus und Ihre Begründungen klingen für mich wie „niedrige Beweggründe“ mit denen beide Gruppe, ihre Meinung zur DDR bilden.. Wenn ich ehemalige Oppositionelle in Medien oder anderswo erlebe, so haben sie sehr unterschiedliche und differenzierte Meinungen.
Zu der anderen Gruppe hatte und habe ich zu wenig Kontakt.
Ich habe zu diesem Punkt in einem Blog-Post über einen Artikel von Patrice Poutrus geschrieben. Ad hominem-Argumente sind immer schwach, in bestimmten Diskussionen sogar schlecht, eine Form von Whataboutism. Aber in der aktuellen Situation ist es schon wichtig zu schauen, wer spricht. Mir geht es um extreme Ansichten. Es gibt Historiker oder andere Autor*innen, die kein gutes Haar an der DDR lassen und eben auch faktisch Falsches oder logisch Unhaltbares von sich geben. Und man fragt sich dann, warum sie das tun. Patrice Poutrus war in der DDR hauptamtlicher FDJ-Sekretär. Er hat vor der Wende angefangen Geschichte zu studieren. Das waren nur die rötesten Socken. Genauso kommt Ines Geipel aus einem Elternhaus mit Stasi-IM, der für Terroranschläge auf dem Gebiet der BRD zuständig war. Kahane ist die Tochter eines führenden DDR-Journalisten. Diese Menschen haben sich irgendwann von ihrer Vergangenheit gelöst, sind dabei aber über das Ziel hinausgeschossen. Sie sind keine verlässlichen historischen Zeitzeugen, so wie Anne Rabe auch keine verlässliche Quelle in Bezug auf die DDR ist. Der Abschnitt mit der Selbstvorstellung in der Berliner Zeitung ist – gemessen an dem, was ich hätte auch noch sagen wollen und müssen – vielleicht etwas zu lang geraten. Er war nötig, um zu zeigen, dass ich kein „Im Osten war alles dufte“-Mensch bin, kein Ostalgiker und kein Jammer-Ossi (ein Begriff zur pauschalen Zurückweisung aller Klagen).
Übrigens war ich beim taz-Lab mit zwei Ostlerinnen, die beide in der Jungen Gemeinde waren. Eine der beiden ist in der zehnten Klasse aus politischen Gründen von der Schule geflogen. Sie hat einen Ausreiseantrag gestellt und durfte zwei Wochen vor Maueröffnung in den Westen ausreisen. Wir fanden es alle drei kurios, dass jetzt die Dissident*innen die DDR verteidigen müssen. Also: Es gibt immer sone und solche. Ich versuche, ein differenziertes Bild von der DDR zu zeichnen.
Ich bin Physiker und deshalb etwas zahlenaffin. Herr Müller, Sie haben vollkommen recht, dass Frau Rabe falsch liegt, wenn sie behauptet hat, dass die absolute Zahl der Kindstötungen in in den neuen Bundesländern über den der alten Länder lag. Ich kenne das Originalzitat von Frau Rabe nicht, aber üblich sind in solchen Fällen für Vergleiche natürlich relative Zahlen.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Grobe Zahlen zum einfachen Rechnen: Neue Länder ca. 14 Mio (inkl. 1,4 Mio Berlin), alte Länder 70 Mio., 25 (=34–9 wegen des Sondereffekts) vs.
48 macht einen Anteil von 1,8 pro Mio Einwohner gegen 0,7 pro 1 Mio. Das ist etwa das 2,5 fache. Das ist schon eine deutliche Korrelation, insbesondere wenn es über einen langen Zeitraum so war. Korrelation ist keine Kausalität. Und ich vermute, dass die absolute Zahl (zum Glück) so klein ist, dass die gewiss vielfältigen Ursachen nicht wissenschaftlich erforscht werden.
Liebe Berliner Zeitung, auch wenn Sie für die OS-Artikel inhaltliche Verantwortung ausschließen, wäre ein Faktencheck bei einem Artikel, der sich auf Fakten beruft, vielleicht doch angebracht.
Lieber Herr Brettschneider, ich habe angefangen, Mathematik zu studieren, dann – als es den Fachbereich gab – zu Informatik gewechselt und in Informatik promoviert. Ich bin auch zahlenaffin. Im vorigen Abschnitt habe ich erklärt, was schief gegangen ist. Der Satz bezüglich der Kindstötungen pro 100.000 Geburten ist dem Ping-Pong mit der zuständigen Redakteurin zum Opfer gefallen. Sie hatte angemerkt, dass mit den absoluten Zahlen etwas unklar sei, weshalb ich dann noch eingefügt hatte, wie hoch die absoluten Zahlen sein müssten, wenn man Anne Rabes Aussage zugrundelegen würde. Hier können Sie auch sehen, dass die Redaktion durchaus auch inhaltlich mit mir an dem Artikel gearbeitet hat. Die Veröffentlichung wurde um mehrere Wochen verzögert, weil da noch Dinge geprüft wurden. Es wäre übrigens nicht korrekt, wie Sie vorgeschlagen haben, die Bevölkerungsgrößen zum Vergleich heranzuziehen. Das kann man sehen, wenn man sich überlegt, was wäre, wenn in den neuen Bundesländern in einem Jahr nur ein Kind geboren würde. Wenn dieses dann getötet würde, wäre die Zahl der getöteten Kinder pro Einwohner extrem gering. Die Zahl der Kindstötungen pro Geburt läge aber bei 100%. Was in der Polizeistatistik also angegeben wurde sind die Zahl der Kindstötungen pro 100.000 Geburten. Das wäre vergleichbar, wenn es nicht Probleme mit Dunkel- und Hellfeld in der Erfassung und das Problem der insgesamt zu niedrigen Fallzahlen gäbe, die Sie ja auch ansprechen. Man kann daraus absolut nichts ableiten. Das habe ich im Artikel auch geschrieben:
Schaut man in Studien zur Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) dieser Jahre, stellt man fest, dass die Fallzahlen insgesamt so klein sind, dass man keine statistisch relevanten Aussagen machen kann.
Die Autorinnen der zitierten Studie schreiben das auch explizit (Höynck, Behnsen & Zähringer. 2015: 337). Sie können in der Studie auch noch weitere problematische Aspekte finden. Zum Beispiel Aufnahme des Falls durch die Polizei vs. Anklage vs. Verurteilung. Die PKS listet die Fälle erst mal nur aus der Sicht der Polizei. Es kann sich dann immer noch herausstellen, dass die Sachlage anders war. Ich bitte Sie, noch meinen originalen Blog-Post zu dem Thema Kindstötungen zu lesen. Da sind die Gründe, warum man aus der PKS nichts ableiten kann, genau erklärt. Leider konnte ich auf der einen Seite, die mir zur Verfügung stand, nicht tiefer ins Detail gehen.
Kausalität und Faktencheck
Im folgenden Leserbrief geht es um die Tatsache, dass der Faschismus im Osten in seiner jetzigen Ausprägung nicht ohne den Westen möglich gewesen wäre. Wie ich im Original-Artikel ausgeführt habe, haben die Polizei und auch zuständige Politiker*innen in Rostock-Lichtenhagen massiv versagt. Alle beteiligten waren aus dem Westen und trotz Ankündigung der Ausschreitungen im Wochenende. Parteistrukturen wurden von Neonazis aufgebaut (Deutsche Alternative), rechte und rechtsextreme Aktivitäten von Gerichten und Verfassungsschutz geschützt oder gedeckt. Ich gebe hier einen Leserbrief komplett wieder und gehe dann auf Details ein:
Das Lesen des Beitrages von Herrn Stefan Müller hat mich doch etwas ärgerlich gemacht, denn von einem Hochschullehrer hätte ich doch ein wenig mehr erwartet. Aber mal im einzelnen: Ich fand den Ton des Beitrages schon etwas geifernd, was eigentlich unnötig ist, denn wenn man jemanden Fehler nachweisen kann, kommt das in sachlicher Tonlage durchaus besser an. Ein Verständnis von Kausalität, was ist Ursache und was ist Folge, hat Herr Müller offenbar auch nicht so recht. Denn zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen schriebt er triumphierend: „Die Neonazis aus dem Westen kam am zweiten Tag“ – ja, wenn es einen ersten Tag, völlig ohne Neonazis aus dem Westen nicht gegeben hätte, dann hätte es auch keinen zweiten Tag geben können. Der Versuch ging dann doch in die Hose. Und der Versuch mit Höcke und Kalbitz geht daneben: „Höcke und Kalbitz sind aus dem Westen“. Ja, natürlich, aber da sind sie nichts geworden, waren kleine Lichter, groß sind sie erst im Osten geworden. Und ein paar Zeilen später sieht Herr Müller das dann offenbar auch selbst ein: „Natürlich gehört zum Erfolg der Nazis in Ostdeutschland das Fußvolk, das begeistert mitmacht“. Ja, natürlich, ohne Fußvolk kann man in der Politik gar nichts werden.
Und dann die Geschichte mit den „Nazi-Aufmärschen“. Dass die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut ist, ist gerade erst zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes wieder betont worden, und dass es hohe Hürden gibt, bevor eine Demonstration verboten werden kann sollte auch bekannt sein. Dafür die Verwaltungsrichter in Gera zu schelten und dann auch noch darauf hinzuweisen, dass alle drei „Wessis“ sind, das geht nun wirklich an der Sache vorbei. Es gibt in der Bundesrepublik – anders als früher in der DDR – eine politisch unabhängige Justiz, die nach Recht und Gesetz zu entscheiden hat und nicht nach politischer Opportunität. Dass das manchmal schwer auszuhalten ist, verstehe ich, zumal der zitierte Jenaer Bürgermeister, der den Aufmarsch verbieten wollte, ein Parteifreund von mir ist. Aber das gehört leider nun mal zu einem freiheitlichen Rechtsstaat dazu.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Ich verstehe die Emotionalität des Leserbriefschreibers. Ich bin auch manchmal emotional.
Nun zu den Details:
Ein Verständnis von Kausalität, was ist Ursache und was ist Folge, hat Herr Müller offenbar auch nicht so recht. Denn zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen schriebt er triumphierend: „Die Neonazis aus dem Westen kam am zweiten Tag“ – ja, wenn es einen ersten Tag, völlig ohne Neonazis aus dem Westen nicht gegeben hätte, dann hätte es auch keinen zweiten Tag geben können.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Wer am ersten Tag da war, weiß ich nicht. Darum geht es auch in dem Beitrag nicht. Es geht um die Fakten bzgl. Rostock-Lichtenhagen und da liegt Anne Rabe falsch. Bitte lesen Sie auch den Blog-Abschnitt „Nazis aus dem Westen“ zu diesem Thema. Man hätte diese Ausschreitungen sofort unterbinden müssen. Das ist nicht geschehen, weil die Polizeiführung und Politiker allesamt zuhause waren und der Mob trotz monatelanger vorheriger Ankündigung ungehindert toben konnte. Nazi-Verbrechen sind nie konsequent verfolgt worden, weshalb sich das Problem immer weiter zugespitzt hat.
Und der Versuch mit Höcke und Kalbitz geht daneben: „Höcke und Kalbitz sind aus dem Westen“. Ja, natürlich, aber da sind sie nichts geworden, waren kleine Lichter, groß sind sie erst im Osten geworden. Und ein paar Zeilen später sieht Herr Müller das dann offenbar auch selbst ein: „Natürlich gehört zum Erfolg der Nazis in Ostdeutschland das Fußvolk, das begeistert mitmacht“. Ja, natürlich, ohne Fußvolk kann man in der Politik gar nichts werden.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Bitte lesen Sie die Zusammenstellung der rechtsextremen AfD-Politiker*innen und auch der Landesvorsitzenden, die auch aus der Online-Version des Artikels verlinkt ist. Da können Sie sehen, welche anderen AfDler es noch gibt und gab. Sie können ihre Lebensläufe studieren und selbst nachprüfen, ob aus den jeweiligen Personen im Westen nichts geworden ist. Die AfD ist von neoliberalen Professor*innen aus dem Westen gegründet worden. Diese waren Mitglieder der CDU/CSU, der FDP und ja, sogar der SPD. Die Partei wurde nach und nach immer extremer. Nicht nur im Osten sind extrem rechte Politiker*innen am Werk. Die im Westen werden auch von ihren Landesverbänden immer wieder gewählt. Auch trotz Ausschlussverfahren wegen Holocaust-Leugnung und so weiter. Alles bestens verlinkt. Ich erinnere nur an Dr. Alexander „Wir werden sie jagen“ Gauland, Oberst a. D. Georg Pazderski, Dr. Alice Weidel, Offizier Martin Reichardt, Doris von Sayn-Wittgenstein, PD Dr. phil. Hans-Thomas Tillschneider, Dr. Wolfgang Gedeon. Das sind Menschen mit hohem Bildungsniveau, aus denen im Westen schon was geworden war. Der eindrücklichste Beweis:
Gauland war von 1973 bis 2013 Mitglied der CDU. Er war im Laufe seiner Parteikarriere im Frankfurter Magistrat und im Bundesumweltministerium tätig und leitete von 1987 bis 1991 die Hessische Staatskanzlei unter Ministerpräsident Walter Wallmann, der sein Mentor war.
Und vielleicht sollte man auch den Chef des Bundesverfassungschutzes Hans-Georg Maaßen erwähnen, der durch Bundesinnenminister Horst Seehofer ins Amt geholt worden war und der nun selbst durch seine eigene Behörde beobachtet wird. Wie wird man groß?
Und dann die Geschichte mit den “Nazi-Aufmärschen”. Dass die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut ist, ist gerade erst zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes wieder betont worden, und dass es hohe Hürden gibt, bevor eine Demonstration verboten werden kann sollte auch bekannt sein. Dafür die Verwaltungsrichter in Gera zu schelten und dann auch noch darauf hinzuweisen, dass alle drei „Wessis“ sind, das geht nun wirklich an der Sache vorbei. Es gibt in der Bundesrepublik – anders als früher in der DDR – eine politisch unabhängige Justiz, die nach Recht und Gesetz zu entscheiden hat und nicht nach politischer Opportunität. Dass das manchmal schwer auszuhalten ist, verstehe ich, zumal der zitierte Jenaer Bürgermeister, der den Aufmarsch verbieten wollte, ein Parteifreund von mir ist. Aber das gehört leider nun mal zu einem freiheitlichen Rechtsstaat dazu.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Bitte lesen Sie den auch verlinkten Artikel über die drei Richter in der taz. Wenn man sich anguckt, wie ihre Urteile im Vergleich zum Bundesgebiet ausfallen, ist klar, wer da sitzt.
In Jena durfte die NPD Märsche im Gedenken an die Reichspogromnacht und an den Tod von Hitlerstellvertreter Rudolf Heß durchführen. Die Neonazi-Gruppe „Thügida/Wir lieben Ostthüringen“ durfte Hitlers Geburtstag am 20. April 2016 mit einem Fackelzug in Jena feiern. Das Gericht kassierte dabei immer wieder zuvor verhängte Versammlungsverbote des damaligen SPD-Oberbürgermeisters Albrecht Schröter.
Wagner, Joachim. 2024. AfD-nahe Justiz: Die rechten Richter von Gera. taz. Berlin.
Ist das von der Versammlungsfreiheit gedeckt? Freudenmärsche zur Reichsprogromnacht? Feiern zu Hitlers Geburtstag? Wirklich? Das Bundesverwaltungsgericht sah das bezüglich Heß-Aufmärschen in Wunsiedel anders:
Der erweiterte Paragraf 130 stelle tatsächlich einen Eingriff in die Meinungsfreiheit dar, urteilten jetzt die Leipziger Richter. Dieser sei jedoch gerechtfertigt, weil es dem Schutz des öffentlichen Friedens und der Menschenwürde der Opfer und ihrer Nachkommen diene. Der verbotene Aufmarsch in Wunsiedel hätte laut Urteil den öffentlichen Frieden gestört. Er hätte weit über die Stadt hinaus Beachtung gefunden und insbesondere bei Opfern des NS-Regimes die verständliche Furcht ausgelöst vor der gefährlichen Ausbreitung des Gedankenguts der Neonazis, hieß es.
Erleichtert reagierte Wunsiedels Bürgermeister Karl-Willi Beck (CSU): “Wir sind wirklich sehr froh. Damit ist ein gewichtiger Kelch an uns vorüber gegangen.” Die Entscheidung sei jedoch nicht nur für die Kommune von großer Bedeutung, sondern bundesweit.
“Wir freuen uns, dass der Spuk im August beendet ist”, sagte Wunsiedels Landrat, Karl Döhler (CSU). Die Richter hätten seine Behörde auf der gesamten Linie bestätigt. Bayerns Ministerpräsident Günter Beckstein (CSU) sprach von einem “guten Tag für den Rechtsstaat”. Die Entscheidung stärke diesen gegen Verfassungsfeinde.
dpa. 2019. Verschärftes Versammlungsrecht bestätigt. Frankfurter Rundschau. Frankfurt/Main.
Auch zu anderen Gelegenheiten wurden NPD-Demos verboten. Ich habe im folgenden nur Fälle aufgeführt, bei denen keine besonderen Verbotsgründe (Corona-Infektionsschutzmaßnahmen, polizeiliche Überlastung am 1. Mai usw.) angeführt wurden:
Rechtsextremistische Aufzüge an geschichtsträchtigen Orten und Gedenktagen sind künftig leichter zu verbieten. Laut einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss einer zuerst angemeldeten Demonstration nicht zwingend Vorrang gewährt werden.
Der Spiegel. 2005. Karlsruhe erleichtert Verbot von NPD-Demos. Der Spiegel. Hamburg.10.06.2005
Das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVG) in Karlsruhe hat die für Samstag geplante Demonstration der rechtsextremen NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) in Berlin endgültig verboten. Das teilte ein Sprecher der Berliner Polizei mit. Das Gericht wies in letzter Instanz eine Beschwerde der Partei gegen das polizeiliche Verbot des Aufmarsches zurück und bestätigte damit eine entsprechende Entscheidung der Vorinstanzen.
Zuvor hatten bereits das Verwaltungsgericht (VG) und das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin das Verbot bestätigt. In den Vorinstanzen hatten die Gerichte das Verbot der Demonstration damit begründet, dass bei dem Aufmarsch mit Straftaten wie Volksverhetzung zu rechnen sei. Zudem ziele das Motto der gegen islamische Zentren in der Stadt gerichteten Demonstration — “Berlin bleibt deutsch” — darauf ab, Feindseligkeiten gegen moslemische Bürger und insbesondere gegen Türken zu schüren. Die Veranstalter hatten rund tausend Teilnehmer erwartet.
Der Standard. 2004. Verfassungsgericht bestätigt Verbot von NPD-Demonstration. Der Standard. 26.09.2004
Es schockiert mich, dass ein SPDler im Eilentscheid aufgehobene Verbote von NPD-Demos zum Hitlergeburtstag normal findet, während sogar CSUler für ein Verbot von Demos am Todestag von Hitlers Stellvertreter gefochten haben und erleichtert sind, dass der Spuk vorbei ist.
Herr Kavemann, Mitglieder meiner Familie haben im KZ gesessen (siehe Blog-Post zur Kollektivschuld bei Anne Rabe) oder sind gerade noch so einer Verhaftung entgangen (aus beiden Teilen der Familie). Sie waren alle in Ihrer Partei bzw. deren Jugendorganisation SAJ. Und Sie schreiben mir, dass es schon ok ist, dass eine verfassungsfeindliche Organisation am Hitlergeburtstag mit Fackeln durch die Stadt zieht?
Wie die Zitate oben zeigen, gibt es Gestaltungsmöglichkeiten. Die rechten Richter hätten also anders entscheiden können. Und selbst wenn dem nicht so wäre: Die Richter sprechen unser Recht. Wir können es ändern. Wir könnten dafür sorgen, dass solche Aufmärsche verboten wären, so wie es für Wunsiedel ja auch getan wurde. Wenn so eine Rechtsanpassung für Verbote von NPD-Aufmärschen nötig wäre, so müsste das von den zuständigen Stellen umgesetzt werden, die hauptsächlich mit West-Jurist*innen besetzt sind. Wir sind also wieder da gelandet, wo wir angefangen haben: Das ganze Land hat ein Problem und an den Positionen, wo man etwas tun kann, sitzen überwiegend Westler.
Jammer-Ossi
Brief aus Rostock.
ich, „Wessi“ lebe und arbeite in Rostock.
Ich lebe hier gerne und bin dieses Ost- West ziemlich müde.
Was mich an diesem (leider pseudo- wissenschaftlichen) Artikel massiv stört, ist das was ich hier so oft höre.
Die mangelnde Übernahme der Eigenverantwortung. Man war ja doch nur Opfer, man bekam etwas übergestülpt, es gibt doch einen großen Wessi Plan hinter allem, dahinter stecken doch amerikanische Mulits und „es gab auch sehr viel Gutes in der DDR“.. das Softeis und der Original DDR Eierlikör…
Ich kann’s nicht mehr hören!
1. Es gab und gibt viele “Ossi” die Gewinner sind. Rostock ist voll von gut situierten gebürtigen Rostockern, auch die ehemaligen LPG Vorsitzenden im Landkreis haben sich gut bedient.
2. Zur Wahrheit gehört auch: MV ist das Bundesland mit der höchsten Alkoholikerquote, der höchsten Schulabbrecher Quote, die höchste Rate an Diabetikern,… ( Ich arbeite im Gesundheitswesen…). Das ist jetzt mal kein Wessi Ding aus, denn das war zu Zeiten der DDR nicht anders- nur besser vertuscht.
3. Fragt man nach Beweisen, wo genau die Wessi überall hinter stecken… Kommt nix! Auch mit den amerikanischen Multis… Nix.
Was für eine bequeme mär
4. Unwissenschaftlich: In MV (darüber weiß ich inzwischen gut Bescheid — auch über Lichtenhagen) leben 1.7 Mio. Menschen. Tendenz steigend — leider nur durch Zuzug 65+ Menschen aus dem Westen).
Wenn man schon Zahlen vergleicht, Herr Professor, dann sollte die Bezugsbasis stimmen. 1.7 Mio Menschen leben alleine in der Region Hannover mit Braunschweig, da komme ich ursprünglich her.
Es nervt total, dass sich die „Ossis“ selber gerne schön rechnen.…dann braucht man ja nicht ins Handeln zu kommen.
Wikipedia ist übrigens keine akzeptierte Quelle… Eher hier zur Verdummung des Lesers genutzt.
Auch das die linientreuen Richter, Polizisten, sprich der Kader, initial durch Wessis ausgetauscht wurde, ist jetzt kein Geheimnis und war auch richtig – oder sollten die SEDler weiter machen? Mein Onkel gehörte zum Kader auch dazu – und ist noch heute so was von linientreu… würde alles zurückdrehen. Echt unerträglich!
Es gibt hier (in MV) echt viele Probleme – genauso wie im Westen.
Mit dem Unterschied, daß sich dort niemand mit Wende, die Wessis, … rausreden kann.
Und dieses Narrativ sollte jetzt hier endlich auch mal aufhören.
Es gibt viele Rostocker die anpacken, die gestalten.
Es gibt aber auch viele, die genau so einen Artikel nutzen um sich entspannt zurück zu lehnen, als Opfer rumstöhnen, anstatt sich der eigenen Geschichte und Verantwortung kritisch zu stellen. Es gibt ihn schon: den Jammer Ossi.
Rechtfertigen tun sich die Ossis nur dauernd vor sich selber… und vergewissern sich, das sie ja nichts machen können.
Kann das endlich mal aufhören?!
Leserbrief HR
Ich war mir erst nicht sicher, ob der Vorstellungsteil, in dem ich über meinen Hintergrund geschrieben habe, nicht zu lang war. Jetzt bin ich froh, dass ich ihn geschrieben habe. Zur mangelnden Übernahme von Eigenverantwortung kann ich sagen, dass ich das aus eigener Anschauung bestätigen kann. Ich habe nach der Wende mit Glück eine Stelle im Wissenschaftlerintegrationsprogramm bekommen. Dieses Programm war für Ostwissenschaftler*innen als Brücke gedacht. Sie wurden drei Jahre finanziert und sollten diese Jahre dazu benutzen, sich in das neue akademische System zu integrieren. Ich hatte kurz nach der Wende bei Prof. Kunze an der Akademie der Wissenschaften eine Hilfskraftstelle und habe dann, als er an die Humboldt-Universität wechselte, eine Mitarbeiterstelle bekommen, weil seine Integrationsmittel frei wurden, da er einen Lehrstuhl an der HU bekam. Kurz vor Ablauf der Dreijahresfrist gab es ein Treffen all derjenigen, die in diesem Programm waren. Ich war auch dabei und war erschüttert: Alle klagten darüber, dass sie nun arbeitslos werden würden und fanden, die Politik müsse etwas tun. Dabei wäre es an ihnen gewesen, sich irgendwie innerhalb dieser drei Jahre zu bewerben.
Ich möchte Ihren Brief jetzt nach den Punkten beantworten:
1. Es gab und gibt viele „Ossi“ die Gewinner sind. Rostock ist voll von gut situierten gebürtigen Rostockern, auch die ehemaligen LPG Vorsitzenden im Landkreis haben sich gut bedient.
Leserbrief HR
Ich sehe mich als absoluten Gewinner an. Das habe ich auch in Ich will was sagen so geschrieben. Ich habe eine Familie, ein tolles Fahrrad (von 1997), eine Wohnung und eine Arbeit, die mir großen Spaß macht. Ich bin Professor am besten sprachwissenschaftlichen Institut, das es in diesem Land gibt. Zur Zeit bin ich sogar Direktor dieses Instituts. Ich habe über 500.000€ an Drittmitteln eingeworben und damit vielen Menschen eine Arbeitsstelle in meinen Projekten geben können. Seit 2014 bin ich Mitglied in der Academia Europaea, Section Linguistic Studies. Meine Erdős-Zahl ist 4. Mein h‑index liegt bei 35 (Google-Scholar-Profil). Ich habe mit meinem Leipziger Kollegen Prof. Dr. Martin Haspelmath (aus dem Westen und sehr in Ordnung) den wissenschaftlichen Verlag Language Science Press gegründet, der sprachwissenschaftliche Bücher im Open Access veröffentlicht. Über tausend Autor*innen haben bei uns veröffentlicht, der Verlag hat insgesamt über 2 Mio Downloads. Noam Chomsky ist einer unserer prominenten Unterstützer*innen. Steven Pinker gehört auch dazu. Ich habe mich nirgends bedient, das war alles harte Arbeit. Politisch aktiv bin ich auch: 2021 war ich Kanzlerkandidat für die Partei Die PARTEI. Außerdem arbeite ich nebenberuflich als Fotograf. Mein Leben ist erfüllt, man könnte auch sagen überfüllt. Mangelnde Eigeninitiative können Sie mir sicher nicht vorwerfen.
Mein kleiner Bruder ist Professor, meine kleine Schwester promoviert. Uns allen geht es gut. Meine Eltern sind bis auf kurze Unterbrechungen bei meiner Mutter sogar als Wissenschaftler*innen durch die Wende gekommen. Es tut mir Leid, wenn ich Sie nerve, aber ich jammere nicht. Ich beschwere mich! Ich tue das, um Probleme zu lösen, um Dinge zu ändern. Nicht für mich, sondern für dieses Land. Sehen Sie sich die Wahlergebnisse an, dann verstehen Sie vielleicht meine Motivation.
Von Lebensmitteln habe ich im Artikel über Anne Rabe nichts geschrieben. Im Gegenteil ich stimme ihr sogar zu: Schlagersüßtafel ist eklig! (siehe Blog-Post zu Anne Rabe und Schlagersüßtafel. In einem früheren Blog-Post habe ich beschrieben, was ich mit meinem Freund mit Schlagersüßtafel gemacht habe: Schlagersüßtafel und Klassenkeile)
Zu 2. habe ich nichts zu sagen. Ich weiß nicht, was das mit meinem Beitrag zu tun hat.
3. Fragt man nach Beweisen, wo genau die Wessi überall hinter stecken… Kommt nix! Auch mit den amerikanischen Multis… Nix.
Was für eine bequeme mär
Leserbrief HR
Ich habe in meinem Beitrag konkrete Personen bzw. Ereignisse genannt, an denen West-Personen beteiligt waren. Politiker*innen und Polizisten in Lichtenhagen, Politiker, die ehemals Verfassungsschutzpräsidenten waren, die rechten Richter aus Gera, die Politiker der AfD.
Ansonsten gibt es inzwischen auch viel Information zur Treuhand. Der erste Chef von Kahla-Thüringen Porzellan hatte keine Ahnung von Porzellan. Seine einzige Qualifikation bestand darin, dass er einen Bruder bei der Treuhand hatte. Er hat dann auch sehr schnelle eine Pleite hingelegt. Zum Glück war sein Nachfolger ein Porzellaner von Rosenthal. Über die Abwicklung von Elmo in Wernigerode können Sie auch in der Berliner Zeitung lesen. Die Vorstellungen von Birgit Breuel und Detlef Rohwedder können Sie auch dem Artikel entnehmen. Aber eigentlich war das nicht Thema des Artikels.
Zu viertens: Was die Einwohnerzahl von MV mit irgend etwas, was in dem Artikel besprochen wurde, zu tun haben soll, ist mir unklar. Zu Wikipedia siehe oben.
Auch das die linientreuen Richter, Polizisten, sprich der Kader, initial durch Wessis ausgetauscht wurde, ist jetzt kein Geheimnis und war auch richtig – oder sollten die SEDler weiter machen? Mein Onkel gehörte zum Kader auch dazu – und ist noch heute so was von linientreu… würde alles zurückdrehen. Echt unerträglich!
Leserbrief HR
Ja, das stimmt, denn das Fachwissen war auf Ostseite außer bei ein paar Fachanwält*innen, die bei Schalk-Golodkowski gearbeitet haben, nicht vorhanden. Durch den selbst gewählten Anschluss galt plötzlich das westdeutsche Rechtssystem. Man hätte aber den Aufbau-Ost anders gestalten können und zum Beispiel Ost-West-Tandems für Posten bilden können. Ossi wird eingearbeitet und übernimmt dann später. Stattdessen gab es das Gefühl fremdbestimmt zu sein. Das rächt sich jetzt bitter, weil viele rechtsextrem wählen. Die AfD holt die Frustrierten ab.
Es gibt hier (in MV) echt viele Probleme – genauso wie im Westen.
Mit dem Unterschied, daß sich dort niemand mit Wende, die Wessis, … rausreden kann.
Leserbrief HR
Bitte schauen Sie sich statistische Karten an. Sie werden immer die Umrisse der DDR erkennen. Der Wohlstand ist verschieden verteilt. Die Firmen sitzen im Westen und besitzen den Osten. Steuern werden im Westen am Firmensitz gezahlt nicht vor Ort. Patente werden im Westen am Firmensitz angemeldet. Darüber kann man schon klagen. Übrigens ist der Passus mit den „gleichartigen Lebensverhältnissen“ in allen Landesteilen 1994 aus dem Grundgesetz gestrichen worden.
War in Artikel 72 Grundgesetz einst das Handlungsziel „einheitlicher Lebensverhältnisse“ verankert, wurde das Adjektiv „einheitlich“ 1994 durch das interprerarionsoffenere „gleichwertig“ ersetzt.
Mau, Steffen (2019). Lütten Klein. S. 163
Das Buch meines Kollegen Prof. Dr. Steffen Mau kann ich Ihnen nur wärmstens empfehlen. Er ist Soziologe und präsentiert Ihnen noch weitere Fakten. Auch zur Abwicklung der Eliten im Osten und zu den Transformationen im Ost-Block allgemein.
Es gibt aber auch viele, die genau so einen Artikel nutzen um sich entspannt zurück zu lehnen, als Opfer rumstöhnen, anstatt sich der eigenen Geschichte und Verantwortung kritisch zu stellen. Es gibt ihn schon: den Jammer Ossi.
Leserbrief HR
Das kann schon sein. Mir geht es um die andere Seite, die den gesamten Osten seit Jahrzehnten pauschal beschimpft. So wie auch Sie es getan haben. Ich weise darauf hin, dass die Schuld am Faschismus nicht der Osten allein trägt. Und ich kann das tun, weil ich kein Jammer-Ossi sondern ein erfolgreicher Wissenschaftler bin. Und nein, das hört nicht auf. Ich fange gerade erst an.
Kinderverschickung
Es erstaunt, dass ein deutscher professor ständig wikipedia als beweis bemüht. Seine meinung über kindstötungen ist einseitig: im westen hat niemand gleich mehrere neugeborene in blumentöpfen abgelegt. Aber im westen hat bisher niemand alle blumentöpfe untersucht und das ergebnis bei wikipedia verewigt.
Leserbrief F.F., Berlin-wilmersdorf
Die erwähnte „kinderlandverschickung“ fand übrigens im bombenkrieg statt.
Gemeint ist hier schlicht die kinderverschickung – bei der es im osten wie im westen zu gewalt und missbrauch kam. Das sollte man bei wikipedia nachtragen.
Es stimmt, es hätte Kinderverschickung heißen müssen. Vielen Dank für den Hinweis, das wurde jetzt im Artikel und überall hier im Blog korrigiert. Kinderverschickung habe ich in einem Blog-Post diskutiert. Soweit ich weiß, sind keine Fälle von Missbrauch bekannt. Das ganze Gesundheitssystem war anders organisiert. Nicht überwiegend kirchlich und nicht profitorientiert. Die Prügelstrafe war – anders als im Westen – bereits 1949 abgeschafft worden (siehe Blog-Beitrag Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten), die staatliche und gesellschaftliche Kontrolle war in allen Bereichen des Lebens strikter.
Was haben die Blumentöpfe mit der Diskussion zu tun? Es geht um die Anzahl der Kindstötungen pro 100.000 Geburten pro Jahr. Dazu gibt es die Polizeiliche Kriminalstatistik. Und Forschungsliteratur.
Dunkeldeutschland
Auch, dass es ein „Dunkeldeutschland“ gar nicht gab, sondern eine Erfindung von Anne Rabe ist. Ich war übrigens bei der Lesung und Diskussion des Romans auf dem taz Kongress und habe die aggressiven, atemlos vorgetragenen detaillierten Vorwürfe des Herrn Stefan Müller mit angehört. Seine Wut war kaum zu bremsen. Niemand konnte seine Behauptungen nachprüfen.
Wir Leser*innen sind intelligent genug, zwischen einem Roman, der Anregungen für eigene Gedanken geben soll, und einer Pauschalisierung einer ganzen Bevölkerung wie Herr Müller behauptet, zu unterscheiden. Herr Müller war touché.
Ich habe nicht gesagt, dass es Dunkeldeutschland nicht gab.
Weil es so eine schöne Geschichte ist, die zu allem passt, was man über Dunkeldeutschland zu wissen glaubt.
Zitat aus meinem Artikel
Ich verwende den Begriff ja sogar selbst. Wenn auch sarkastisch. Ich möchte vorschlagen, dass man seine Verwendung auf das ganze Land ausweitet, denn es sieht allgemein recht finster aus (Man rechne nur mal die Wahlergebnisse von CSU, Freien Wählern und AfD in Bayern zusammen.) Übrigens habe ich im dunkelsten Erlangen für einen Aufbau West gekämpft. Laut CSU hat Erlangen marode Straßenlampen, weshalb da nur ein Plakat dran hängen darf. Das von der CSU. Leider hat es nicht für eine Mehrheit gereicht.
Hier ist das Video vom taz-Lab an der Stelle mit meinem Kommentar. Ich hatte Anne Rabe angeboten, ihr einen 80seitigen Ausdruck meiner Blog-Posts zu überlassen. Sie wollte ihn nicht haben und auch nicht darüber reden. Damit man meine Behauptungen nachprüfen kann, habe ich die Blog-Posts mit Quellenangaben und dann den Artikel in der Berliner geschrieben. Die Behauptungen über den „Ossi an sich“ finden sich im Roman, der kein Sachbuch ist. Zum Beispiel an den Stellen über Amokläufe, zum Beispiel an den Stellen über die Kindstötungen. An Stellen, wo einfach mal behauptet wird, dass Antisemitismus Bestandteil der realsozialistischen Ideologie war:
Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta.
S. 271
Siehe Blog-Post zu diesem Thema.
Anne Rabe wird dann von einem Bremer Politikprofessor als Quelle für seine nicht belegten Behauptungen bezüglich Antisemitismus zitiert. Das ist ein sich gegenseitig stützendes Netz von Falschbehauptungen. Hier der Blog-Post zum Politik-Professor. Und falls es Fragen zum Antisemitismus und zu offiziellen Einstellungen zum Holocaust in der DDR gibt, kann ich gleich noch den Blog-Beitrag Der Ossi und der Holocaust empfehlen.
Danksagungen
Ich möchte mich bei allen Leserbriefschreiber*innen bedanken. Außerdem danke ich allen Nutzer*innen von Mastodon, die sich an der Diskussion beteiligt haben und auch bei der Suche nach NPD-Gerichtsurteilen Tipps gegeben haben.
Quellen
Der Spiegel. 2005. Karlsruhe erleichtert Verbot von NPD-Demos. Der Spiegel. 10.06.2005. Hamburg. (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/verfassungsgericht-karlsruhe-erleichtert-verbot-von-npd-demos-a-359875.html)
Der Standard. 2004. Verfassungsgericht bestätigt Verbot von NPD-Demonstration. Der Standard. 26.09.2004 (https://www.derstandard.at/story/1804305/verfassungsgericht-bestaetigt-verbot-von-npd-demonstration)
dpa. 2019. Verschärftes Versammlungsrecht bestätigt. Frankfurter Rundschau. Frankfurt/Main. (https://www.fr.de/politik/verschaerftes-versammlungsrecht-bestaetigt-11568632.html)
Karlsruhe erleichtert Verbot von NPD-Demos. 2005. Der Spiegel. Hamburg.
Höynck, Theresia & Behnsen, Mira & Zähringer, Ulrike. 2015. Tötungsdelikte an Kindern unter 6 Jahren in Deutschland: Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997–2006). Wiesbaden: Springer. (https://doi.org/10.1007/978–3‑658–07587‑3)
Hollersen, Wiebke. 2023. Erziehung in der DDR: Gibt es im Osten „eine vererbte Brutalität“? Berliner Zeitung. Berlin. (https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/erziehung-in-der-ddr-gibt-es-im-osten-eine-vererbte-brutalitaet-li.418237)
Müller, Stefan. 2024. Professor kritisiert Anne Rabe: „Es geht mir auf die Nerven, wie über die DDR geschrieben wird“. Berliner Zeitung. Berlin. (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/berliner-professor-stefan-mueller-kritisiert-anne-rabe-es-geht-mir-auf-die-nerven-wie-ueber-die-ddr-geschrieben-wird-li.2213032)
Wagner, Joachim. 2024. AfD-nahe Justiz: Die rechten Richter von Gera. taz. Berlin. (https://taz.de/AfD-nahe-Justiz/!5999618/)
Wie SCHADE, daß ein solches Gegeneinander der beiden von mir hochgeschätzten Persönlichkeiten (St.M. und A.R.) gewachsen ist.
Wie SEHR ZU WÜNSCHEN ist es in dieser Zeit des Bedrohtseins, daß stattdessen die guten Kräfte dieser beiden – aus unterschiedlichem Lebenskontext heraus für die Gerechtigkeit brennenden – Menschen einander verstärken, ihre wertvollen Lebensbeiträge einander ergänzen.