Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe

Aktua­li­siert am 27.02.2024

Ich habe es geschafft. Ich woll­te es nicht, weil mich schon die Kri­ti­ken genervt haben (sie­he Gewalt­er­fah­run­gen und 1968 für den Osten), aber ich habe es gele­sen. Das neue Buch von Anne Rabe über ihre Gewalt­er­fah­run­gen mit ihrer Fami­lie nach der Wen­de: Die Mög­lich­keit von Glück. Ich hat­te erwar­tet, ein Buch zu lesen, in dem der Kampf einer Fami­lie in der Trans­for­ma­ti­on nach der Wen­de im All­tag beschrie­ben wird und die Gewalt, die aus der damit ver­bun­den Anspan­nung ent­ste­hen konn­te. Auf dem Cover steht Roman, aber das Buch ist wohl eher ein rela­tiv grad­li­ni­ger Bericht über ihre Nach­for­schun­gen bzgl. ihrer Fami­li­en­mit­glie­der und eine sehr ein­drück­li­che Schil­de­rung der Gewalt, die in ihrer Fami­lie üblich war. Das wird gemischt mit Spe­ku­la­tio­nen dar­über, was die Ursa­chen für Kinds­tö­tun­gen und Amok­läu­fe im Osten gewe­sen sein könn­ten. Das Buch hat ein Quel­len­ver­zeich­nis und ich dach­te schon, dass das ein Zei­chen für sorg­fäl­ti­ges Arbei­ten sein könn­te und das Buch doch so etwas wie ein Sach­buch über den Osten sein könn­te, aber das Quel­len­ver­zeich­nis lie­fert nur die Quel­len für die Zita­te, die den Kapi­teln vor­an­ge­stellt sind: Tho­mas Brasch, Ber­tolt Brecht, Hei­ner Mül­ler, Robert Have­mann und so.

Leser*innen, die die­sen Blog nicht ken­nen, möch­te ich noch die Über-Sei­te nahe­le­gen. Dort steht etwas über mei­nen Wer­de­gang. Ich hat­te nach der Wen­de die Mög­lich­keit, glück­lich zu wer­den, und ich hat­te Glück. Ich bin kei­ner der DDR-Nost­al­gi­ker, ich bin nicht wie Anne Rabes Eltern, ich war nie in der Par­tei, aber ich sehe ein gro­ßes Pro­blem dar­in, wie über die DDR geschrie­ben wird. Nun auch von unse­ren Kin­dern, die sie selbst nie erlebt haben.

Nun los.

Psychoeltern und die Unmöglichkeit von Glück

Anne Rabe tut mir Leid. Sie schil­dert in ihrem Buch ein­drück­lich die Gewalt, die sie und ihr Bru­der durch ihre Eltern und ihre Ver­wandt­schaft (Tan­ten, Onkels und Groß­el­tern) erfah­ren hat und wel­che Fol­gen das für sie hat­te. Man kann ihre Eltern und beson­ders ihre Mut­ter wohl als Psychopath*innen bezeich­nen. Nor­mal war das jeden­falls nicht. Ihre Mut­ter hat sie und ihren Bru­der in zu hei­ßes Bade­was­ser stei­gen las­sen und erwar­tet, dass sie sich irgend­wie dar­an gewöh­nen. Ein­mal war es so heiß, dass ihr Vater sie ret­ten muss­te (Kapi­tel 33). Im Früh­jahr muss­ten sie zu leicht beklei­det in die Schu­le gehen (S. 175). Wenn sie beim Essen mit Mes­ser und Gabel Feh­ler mach­ten, wur­den sie geschla­gen, auch von Tan­ten und Onkels. Und Bekannten.

Da fiel mir dann zum Bei­spiel ein, wie Tim und ich gelernt hat­ten, ordent­lich mit Mes­ser und Gabel zu essen. Wie selbst­ver­ständ­lich es war, dass einem jeder, von den Eltern über die Tan­ten und Bekann­ten, stän­dig auf die Fin­ger schlug.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S. 116

Auch sonst gab es „stän­dig“ Kopf­nüs­se, so dass der Schä­del krach­te, und ande­re Schlä­ge (S. 4, 63, 64). Die Mut­ter hat wochen­lang nicht mit ihr gespro­chen (Kapi­tel 41). Der Vater in die­ser Zeit nur ein­mal aus Ver­se­hen. Ihre Mut­ter hat sie gehasst und woll­te sie ver­nich­ten (S. 218). In Kapi­tel 17 wird beschrie­ben, wie ihre Groß­el­tern ihre Tan­te vom Baby­al­ter bis zum Alter von drei Jah­ren in einen Schup­pen gesperrt haben, wenn sie schrie. Mit drei hat sie dann auf­ge­hört. Die Mut­ter der Ich-Erzäh­le­rin hat es gehört. Spä­ter wur­de der Bru­der der Ich-Erzäh­le­rin in den Schup­pen gesperrt und die Ich-Erzäh­le­rin hört ihn schrei­en. Ein Miss­brauch durch den Vater wird auf S. 83 ange­deu­tet. Auch der Groß­va­ter schlug die Groß­mutter in Anwe­sen­heit der rest­li­chen Fami­lie (S. 245).

Als sie dann von mir ermun­tert noch ein­mal zum Erzäh­len ansetz­te, lan­de­te ein Faust­schlag an ihrer Schul­ter, der sie zu mir rüber­wan­ken ließ. „Nun halt aber mal dei­nen Mund, Ursel.“ So kann­te ich es und Oma Ursel auch. Alle, die dabei­sa­ßen, kann­ten es auch nicht anders. Kei­ner sag­te etwas.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S. 245

Das alles ist schlimm, ohne Zwei­fel. Nur stellt sich die Fra­ge, wel­che Rele­vanz die­se Schil­de­run­gen für die Ein­stu­fung des Lebens in der DDR haben. Der Roman wur­de in der Pres­se begeis­tert auf­ge­nom­men, er war sogar auf der Short­list für den Preis des deut­schen Buch­han­dels 2023. Mei­ner Mei­nung nach hat das Buch aber über­haupt kei­ne Rele­vanz für die Ein­ord­nung des Lebens in der DDR. Rabe schießt weit über das Ziel hin­aus, wenn sie aus ihrem Leben irgend­was für das gan­ze Land ablei­ten will. Sie schreibt ja auch selbst, dass ihre Fami­lie anders war als andere:

Alle Fami­li­en haben sol­che Geschich­ten. Gemein­sa­me Erleb­nis­se, die eine Fami­lie zu einer Fami­lie machen. Geschich­ten, die man sich immer wie­der erzählt. Die Geschich­ten von einem miss­glück­ten Weih­nachts­bra­ten, von Irr­fahr­ten zu einem lang ersehn­ten Urlaubs­ziel, Miss­ge­schi­cke und Toll­pat­schig­kei­ten, die einem noch immer die Lach­trä­nen in die Augen trei­ben. Die­se Geschich­ten, an die man denkt, wenn man Zuhau­se denkt.

Was Tim und ich uns erzäh­len, wenn wir über unse­re Kind­heit spre­chen, sind Geschich­ten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S. 23

Auf der Ebe­ne der anek­do­ti­schen Evi­denz kann ich nur all den­je­ni­gen, die die DDR nicht erlebt haben, ent­we­der weil sie im Wes­ten gelebt haben oder noch nicht geboh­ren waren, ver­si­chern, dass Rabes Mut­ter nicht nor­mal war. In dem Sin­ne, dass ande­re Müt­ter ihre Kin­der nicht zu heiß geba­det haben, dass ande­re Müt­ter ihre Kin­der nicht ver­brüht haben. Ich bin in mei­ner Kind­heit wahr­schein­lich von mei­nem Vater geschla­gen wor­den, an kon­kre­te Vor­fäl­le kann ich mich nicht erin­nern, aber Ohr­fei­gen gab es wahr­schein­lich. Wor­an ich mich erin­nern kann, ist, dass ich geschüt­telt wur­de. Das war aber auch sel­ten. Der Zugang zum Werk­zeug­schrank mei­nes Vaters war bei Andro­hung „mords­mä­ßi­ger Dre­sche“ ver­bo­ten. Wahr­schein­lich woll­te er ver­hin­dern, dass ich mir eine Ahle ins Auge sto­ße oder so was. Die Dro­hung war krass und der Erfolg durch­schla­gend: Ich fas­se bis heu­te kei­ne Werk­zeug­kis­ten an (Ich glau­be, bei so einem erns­ten The­ma muss man Iro­nie mar­kie­ren. Mein Vater hat mit mir gebas­telt. Das war schön und ich durf­te auch sein Werk­zeug benut­zen.). Mei­ne Mut­ter hat mich nie geschla­gen. Sie hat es ein­mal ver­sucht. Da war ich schon 16. Ich hat­te sie wirk­lich zur Weiß­glut gebracht und sie erhob bei­de Hän­de und woll­te mich von oben her­ab schla­gen. Ich habe bei­de ihrer Arme an den Hand­ge­len­ken gegrif­fen und sie fest­ge­hal­ten. Wir stan­den uns gegen­über und ich habe sie ange­grinst. Ich hat­te ein schlech­tes Ver­hält­nis zu mei­nen Eltern. Eher zu mei­nem Vater. Er war sehr streng und hielt mich für einen Ver­sa­ger. Das Ver­hält­nis zu mei­nem Vater ist in fol­gen­dem Song von Max Goldt (ausm Wes­ten) ganz gut beschrieben:

Foy­er des Arts (1982): Fami­lie und Beat­mu­sik. Von Bül­ler­bü nach Baby­lon. WEA Records.

Nach der Armee war ich genau einen Tag zuhau­se und bin dann aus­ge­zo­gen. Wir haben uns wie­der ver­stan­den, nach­dem ich mein Stu­di­um trotz Beat­mu­sik been­det hat­te. (Da ging es mir bes­ser als Tim im Buch, dem Bru­der der Ich-Erzäh­le­rin.) Unser etwas schwie­ri­ges Ver­hält­nis kam wohl daher, dass die früh­kind­li­che Bin­dung fehl­te, denn mein Vater war zu mei­ner Geburt bei der Armee, arbei­te­te danach in Ber­lin und war nur an den Wochen­en­den da. Erst als ich vier war zogen wir alle nach Ber­lin. Das Ver­hält­nis zu mei­nen Geschwis­tern war viel besser.

Also: Es gab bei mir gele­gent­li­che, sehr sel­te­ne, kör­per­li­che Stra­fen, aber nichts von dem was Anne Rabe schil­dert. Und wenn man sich aus heu­ti­ger Sicht über die Züch­ti­gun­gen zu Recht auf­regt, dann muss man beden­ken, dass das damals noch üblich war. Im Wes­ten wie im Osten. Ich habe in Gewalt­er­fah­run­gen und 1968 für den Osten bereits dar­über geschrie­ben: Prü­gel­stra­fe in Schu­len war im Wes­ten nicht ver­bo­ten, im Osten sehr wohl. Im pri­va­ten Bereich wur­de sie erst 2000 ver­bo­ten, weil eine UN-Vor­ga­be umge­setzt wer­den muss­te. Übri­gens durf­ten im Wes­ten bis 1958 nur Väter ihre Kin­der ver­prü­geln. Danach waren die Frau­en gleich­ge­stellt. Was für ein Fortschritt!

Ich war bei mei­ner Tan­te in den Feri­en. Zwei Wochen. Sie waren auch öfter bei uns. Ich war regel­mä­ßig bei mei­nen Groß­el­tern väter­li­cher­seits und bei mei­nem Groß­va­ter müt­ter­li­cher­seits in den Feri­en. Mein Opa war der lus­tigs­te, freund­lichs­te und gut­mü­tigs­te Mensch der Welt. Er hat mei­ne Oma nicht geschla­gen und auch sonst nie­man­den. Nie­mand, nie­mand von den Erwach­se­nen hat mich je geschla­gen. Das gilt auch für mein gesam­tes ande­res Leben. Leh­rer und Leh­re­rin­nen, Trai­ner im Sport­ver­ein (Schach, Leicht­ath­le­tik, Kara­te), Erwach­se­ne in Arbeits­ge­mein­schaf­ten (Astro­no­mie, Mathe­ma­ti­sche Schü­ler­ge­sell­schaft), Eltern ande­rer Kin­der und sons­ti­ge Bezugs­per­so­nen. Nie! 

Am 8. Okto­ber 1989 war ich vor der Geth­se­ma­n­e­kir­che und wir haben geru­fen: Kei­ne Gewalt!

(Viel­leicht ist es ja auch das, was dem Wes­ten gefällt: Das Buch von Anne Rabe kann man jetzt dazu benut­zen, die Geschich­te von die­sem einen gro­ßen Erfolg der Ossis, dem gewalt­lo­sen Sys­tem­um­sturz, zu zer­stö­ren. Denn in Wirk­lich­keit waren wir ja alle gewalttätig.)

Eine Sache gehört noch in die­sen Abschnitt. Anne Rabe schreibt über das Stil­len und das Durch­schla­fen und den Umgang mit Kindern:

Mei­ne ers­ten Tage habe ich im Säug­lings­zim­mer zwi­schen ande­ren Schrei­häl­sen ver­bracht. Zu fes­ten Zei­ten hat man uns unse­ren Müt­tern zum Stil­len über­ge­ben und dann gleich wie­der in die klei­nen Bett­chen gelegt. […] Mich hät­te man schon nach weni­gen Wochen abends ein­fach bloß ins Bett legen brau­chen. Dort sei ich dann ein­ge­schla­fen. Ganz von allein. Oder ganz allein. Das Wich­tigs­te für einen ordent­li­chen Schlaf­rhyth­mus sei es, die Still­zei­ten ein­zu­hal­ten, beton­te Mut­ter. Nach vier Wochen hät­te ich schon durchgeschlafen.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S.13–14

Tja, vie­le in mei­nem Alter wer­den das ken­nen. Vie­le wer­den Recht­fer­ti­gun­gen ihrer Eltern ken­nen. Nur hat das alles nichts mit der DDR zu tun. Die Ursprün­ge kann man ziem­lich genau zurück­ver­fol­gen zum Buch Die deut­sche Mut­ter und ihr ers­tes Kind von Johan­na Haa­rer von 1934. 

Titel von Die deut­sche Mut­ter und ihr ers­tes Kind. Erst­aus­ga­be 1934.

Ihr drit­tes Buch hieß übri­gens Mut­ter, erzähl von Adolf Hit­ler! und erschien 1939. Ihre Bücher wur­den nach dem Krieg durch die Alli­ier­ten ver­bo­ten. Die deut­sche Mut­ter war jedoch nicht tot­zu­krie­gen und wur­de bis 1987 unter dem Titel „Die Mut­ter und ihr ers­tes Kind“ wei­ter ver­öf­fent­licht. Wiki­pe­dia lis­tet drei Auf­la­gen. Die ers­ten bei­den in Nazi-Deutsch­land 1934 und 1941. Die zwei­te dann 338.–440. Tau­send Bücher und die letz­te Auf­la­ge von 1987 dann mit 1222.–1231. Tau­send der Gesamt­auf­la­ge. Wie viel der letz­ten Auf­la­ge ver­kauft wur­de, weiß man nicht, aber es dürf­ten min­des­tens 1.222.000 Bücher im Umlauf gewe­sen sein. Ihr könnt ja mal bei Euren deut­schen Müt­tern bzw. Euren deut­schen Eltern ins Bücher­re­gal gucken, ob da noch was steht. Theo­re­tisch könn­te natür­lich auch in der DDR was von den ers­ten 690.000 Büchern (Krat­zer, 2018) übrig geblie­ben sein, aber da man für Nazi-Lite­ra­tur bestraft wer­den konn­te, ist es eher unwahr­schein­lich. Neu kau­fen konn­te man es jeden­falls nicht. Wiki­pe­dia schreibt dazu: „In der 1949 gegrün­de­ten DDR wur­de Haa­r­ers Buch nicht verlegt.“

Die Zeit-Autorin Anne Krat­zer schreibt zum Buch: 

„Das Kind wird gefüt­tert, geba­det und tro­cken­ge­legt, im Übri­gen aber voll­kom­men in Ruhe gelas­sen“, riet damals Johan­na Haa­rer. Sie schil­der­te detail­reich kör­per­li­che Aspek­te, igno­rier­te aber alles Psy­chi­sche – und warn­te gera­de­zu vor „äffi­scher“ Zunei­gung: „Die Über­schüt­tung des Kin­des mit Zärt­lich­kei­ten, etwa gar von Drit­ten, kann ver­derb­lich sein und muss auf die Dau­er ver­weich­li­chen. Eine gewis­se Spar­sam­keit in die­sen Din­gen ist der deut­schen Mut­ter und dem deut­schen Kin­de sicher­lich ange­mes­sen.“ […] statt in einer „läp­pisch-ver­ball­horn­ten Kin­der­spra­che“ sol­le die Mut­ter aus­schließ­lich in „ver­nünf­ti­gem Deutsch“ mit ihm spre­chen, und wenn es schreie, sol­le man es schrei­en las­sen. Das kräf­ti­ge die Lun­gen und här­te ab.

Krat­zer, Anne. 2018. NS-Geschich­te: War­um Hit­ler bis heu­te die Erzie­hung von Kin­dern beein­flusst. Die Zeit.

Die Kin­der­er­zie­hung im Wes­ten wie im Osten war frü­her sehr anders. Das hat sich erst im Lau­fe der Zeit geän­dert. Hier irgend­wie dem Osten einen Strick dre­hen zu wol­len oder Ostel­tern Vor­wür­fe machen zu wol­len, die man nicht auch Westel­tern machen wür­de, ist ungerechtfertigt.

Und auch noch zu mei­nem eige­nen Erle­ben als Vater. Ich lie­be mei­ne Kin­der. Jeden Tag mehr. Ich emp­fin­de eine äffi­sche Zunei­gung zu ihnen, ich habe sie nicht in den Schup­pen gesperrt, son­dern hin und her getra­gen und gesun­gen: „Wide­wi­de­wen­de heißt mei­ne Put­hen­ne, Sau­se­wind heißt mein Kind, Gro­ter­jan heißt mein Hahn, Wie­dewie­dewen­de heißt mei­ne Put­hen­ne. Kun­ter­bunt heißt mein Hund. Wie­dewie­dewen­de heißt mei­ne Put­hen­ne.“ OK, der Text ent­sprach nicht genau dem, was man auf you­tube sehen kann, aber ich habe auf jeden Fall län­ger als 2:48 min gesun­gen. So lan­ge, bis es gut war. (lan­ge, lan­ge) Und ich habe sie ganz fest gehal­ten. Mei­ne Toch­ter ist, seit sie ein Jahr alt ist, in der Puber­tät. Der gan­ze Prenz­lau­er Berg kennt sie. Sie ist eine Legen­de. Ihr könnt fragen.

Aber manch­mal, wenn ich sie auf dem Arm hielt, habe ich mir vor­ge­stellt, sie ein­fach fal­len zu las­sen. Ich dach­te, dann ist sie wie­der weg. Dann ist alles vorbei.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S.14

Ich weiß war­um. Ich kann das ver­ste­hen und die völ­lig fik­tio­na­le Per­son im Roman tut mir Leid. Aber ich wür­de mei­ne Kin­der nie fal­len las­sen. Ich lie­be sie und zwar so sehr, dass ihre Zukunft eine mei­ner Haupt­sor­gen ist, weil wir gera­de dabei sind, ihre Lebens­grund­la­gen zu zer­stö­ren. Weil mir das alles so wich­tig ist, ist die Kli­ma­be­we­gung zu mei­nem Haupt­ar­beits­ge­biet als Foto­graf gewor­den (Frü­her war ich Musik­fo­to­graf. Ach, war das schön. No future und so.).

Amokläufe

Anne Rabe führt den Amok­lauf in Erfurt auf die Ost­so­zia­li­sa­ti­on des Amok­läu­fers zurück und beschwert sich dar­über, dass das in der Pres­se damals nicht so gese­hen wurde:

Es war der ers­te soge­nann­te Amok­lauf in Deutsch­land. Er geschah im Osten des Lan­des. Aber zum ers­ten Mal hieß es bei die­ser Form der „Jugend­ge­walt“ nicht, dass es sich um ein Phä­no­men der Nach­wen­de­zeit han­deln wür­de. Die Gewalt an die­sem Tag bedeu­te­te sieb­zehn Tote und eine gan­ze Schu­le vol­ler Angst. […] Viel­leicht durf­te die Tat des­halb nichts mit dem Osten zu tun haben, weil man sie gedank­lich über den Atlan­tik schob. Drei Jah­re zuvor hat­te es an der Colum­bi­ne High­school in den USA ein Mas­sa­ker gege­ben, das Stein­häu­ser sich zum Vor­bild nahm.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S.193

2002 erschoss der Amok­läu­fer elf Leh­rer, eine Refe­ren­da­rin, eine Sekre­tä­rin, zwei Schü­ler und einen Poli­zis­ten und sich selbst. 17 Tote. Rabe fragt: „Wie wahr­schein­lich war es denn, dass einer in Erfurt aus den glei­chen Grün­den schießt wie zwei in Colo­ra­do[?] Mob­bing, Bal­ler­spie­le, Leis­tungs­druck.“ (S. 194)

Wor­über die Eltern, Leh­rer und Fern­seh­re­por­ta­gen nie spra­chen, wenn sie für die Schwei­ge­mi­nu­ten noch ein­lei­ten­de Wor­te wähl­ten, waren sie selbst. Nie haben sie gefragt, ob die Schüs­se in Erfurt auch etwas mit ihnen zu tun haben könn­ten. Glaubt denn wirk­lich jemand, dass einer sieb­zehn Men­schen umbringt wegen Abi­stress? Dass einer sieb­zehn Men­schen abknallt, weil er ein Com­pu­ter­spiel zu oft gespielt hat? Dass einer sieb­zehn Men­schen hin­rich­tet, weil er Hor­ror­fil­me gese­hen hat? Ja, ganz sicher, Robert Stein­häu­ser hat geschos­sen, weil Mut­ti und Vati nicht streng genug waren und sei­ne Medi­en­zeit nicht begrenzt haben.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S.202

Nun gab es aber im Jah­re 2009 in Win­nen­den und Wend­lin­gen einen Amok­lauf mit 16 Toten inklu­si­ve Amok­läu­fer. Win­nen­den ist bei Stutt­gart, also sehr weit weg von der DDR. Oder zählt das nicht, weil es ein Toter weni­ger war? Bit­te, Frau Rabe, ein biss­chen mehr Mühe in der Argu­men­ta­ti­on hät­ten Sie sich schon geben können.

Der Psy­cho­lo­ge Jens Hoff­mann sagt 2016 zu den Amok­läu­fen an Schulen:

Fra­ge: Schul­at­ten­tä­ter ver­fol­gen doch kei­ne Ideologie. 

Ant­wort: Doch, inter­es­san­ter­wei­se gibt es so etwas auch dabei. Erstaun­lich vie­le Schul­a­mok­läu­fer bezie­hen sich auf das Atten­tat an der Colum­bi­ne-High­school im Jahr 1999. Die bei­den Atten­tä­ter woll­ten mit ihren Taten damals eine Revo­lu­ti­on der Aus­ge­sto­ße­nen begrün­den. Das ist vie­len auch zwei Jahr­zehn­te spä­ter noch ein Anknüpfungspunkt.

Kra­mer, Bernd. 2016. „Mehr­fach­tö­tun­gen im öffent­li­chen Raum“. Inter­view mit Psy­cho­lo­gen Jens Hoff­mann. flu­ter.

2016 gab es einen Amok­lauf in Mün­chen. Von einer 1998 in Mün­chen gebo­re­nen Per­son. In Wiki­pe­dia fin­det man dazu Folgendes:

Ehe­ma­li­ge Mit­schü­ler sag­ten, dass er am Tag der Tat durch eine Schul­prü­fung gefal­len sei.

Die Poli­zei fand in sei­nem Zim­mer das Buch „Amok im Kopf: War­um Schü­ler töten“ des US-ame­ri­ka­ni­schen Psy­cho­lo­gen Peter Lang­man, Zei­tungs­aus­schnit­te über ver­gan­ge­ne Amok­läu­fe und Fotos, die er im Vor­jahr an Orten des Amok­laufs von Win­nen­den auf­ge­nom­men hat­te. Den Anschlag hat­te er über etwa ein Jahr hin­weg geplant. Im Abschluss­be­richt der Staats­an­walt­schaft Mün­chen I und des Lan­des­kri­mi­nal­amts wird zudem dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Son­bo­ly in „sei­ner Frei­zeit […] exzes­siv am Com­pu­ter [spiel­te], ins­be­son­de­re soge­nann­te Ego-Shooter-Spiele.“

Und wäh­rend ich an die­sem Abschnitt arbei­te kommt die Mel­dung von einem bewaff­ne­ten Mann in einer Berufs­schu­le in Mölln und deren Eva­ku­ie­rung. Heu­te.

Das sagt die For­schung zu Erfurt und zu ande­ren Amoktaten:

Dage­gen stre­ben Nachahmungstäter nach der tatsächlichen Umset­zung ihrer Gewalt­fan­ta­sien (Robertz und Wickenhäuser 2010). Das Colum­bi­ne-Shoo­ting in Colo­ra­do scheint hier­bei für vie­le Jugend­li­che mit ähnlichen Vor­stel­lun­gen als „glo­ba­les Hand­lungs­mo­dell“ (Levin und Rei­chelm­ann 2016, S. 98) zu die­nen. Hin­wei­se dar­auf, dass sich Täter an den Colum­bi­ne-Taten ori­en­tier­ten, konn­ten sich in zahl­rei­chen Shoo- tings in den USA, Deutsch­land, Finn­land, Aus­tra­li­en, Eng­land und Bra­si­li­en wie­der­fin­den las­sen (Levin und Rei­chelm­ann 2016).

So hat man z. B. her­aus­ge­fun­den, dass sowohl der 19-jährige Robert S., der im Jahr 2002 an einem Erfur­ter Gym­na­si­um 16 Men­schen tötete, als auch der 17-jährige Tim K., der im Jahr 2009 an einer Real­schu­le in Win­nen­den ins­ge­samt 15 Men­schen erschoss, vor ihren Taten Inter­net­re­cher­chen über die Columbine-Täter durchführten. Zudem wur­den auf dem Com­pu­ter von Robert S. gespei­cher­te Datei­en, u. a. zu den Taten an der Colum­bi­ne High School, gefun­den. Hin­wei­se konn­ten sich außer­dem bei Sebas­ti­an B. fin­den las­sen, der in Ems­det­ten im Jahr 2006 meh­re­re Men­schen in sei­nem Gym­na­si­um ver­letz­te (Ver­hov­nik 2014). In sei­nem Tage­buch konn­ten sich Text­pas­sa­gen mit deut­li­chem Bezug zu einem der bei­den Columbine-Tätern fin­den las­sen: „ERIC HARRIS IST GOTT! Da gibt es kei­nen Zwei­fel.“ (Robertz und Wickenhäuser 2010, S. 174). Imi­ta­tio­nen der bei­den Columbine-Täter konn­ten außer­dem im Tat­her­gang, in der Klei­dung (schwar­ze Hand­schu­he und Man­tel, umge­dreh­te Base­ball-Kap­pen), der eige­nen Überhöhung (Eric S. schrieb den Satz „Ich bin Gott“ in sein Tage­buch), der Hand­schrift sowie der Bewaff­nung gefun­den wer­den (Robertz und Wickenhäuser 2010; Ver­hov­nik 2014).

Zettl, Max Sebas­ti­an et. al. 2019. Ursa­chen. S. 71.

Zu guter Letzt sei noch ange­merkt, dass auch die Behaup­tung, dass der ers­te Schul­a­mok­lauf im Osten statt­ge­fun­den habe, ein­fach falsch ist. Wiki­pe­dia ist in sol­chen Fra­gen unschlag­bar. Es gibt für jeden Tod und Teu­fel eine Lis­te. Hier ist die Lis­te von Amok­läu­fen an Bil­dungs­ein­rich­tun­gen rele­vant. Ihr kann man ent­neh­men, dass der ers­te Amok­lauf bereits 1871 statt­fand. Da kön­nen Pieck, Ulb­richt und die Honeckers nun wirk­lich nichts dafür. Auch wenn der Amok­lauf in Saar­brü­cken statt­fand: Hon­ecker war da noch nicht gebo­ren. Er kam erst 41 Jah­re spä­ter auf die Welt. Die geneig­te Leser*in möge die Lis­te selbst kon­sul­tie­ren und schau­en, wer wann wen gemeu­chelt hat. Ich sage nur kurz: 1964, Köln mit Flam­men­wer­fer, 1983 in Eppstein, Hes­sen: Schuss­waf­fen. Auch nach den oben genann­ten Amok­läu­fe gab es noch vie­le wei­te­re mit vie­len, vie­len Toten, die längst wie­der in Ver­ges­sen­heit gera­ten sind.

Was Anne Rabe macht, ist Küchen­psy­cho­lo­gie. Sie glaubt, den Grund für alle Gewalt im Osten zu ken­nen. Es ist unver­ant­wort­lich vom Ver­lag gewe­sen, die­ses Buch zu ver­öf­fent­li­chen und es ist kurz­sich­tig und eben­falls unver­ant­wort­lich von Rezensent*innen, es zu fei­ern. Das Buch ist eine Ver­mi­schung von auto­fik­tio­na­lem Roman und Sach­buch und der Sach­buch­teil hät­te so nicht ver­öf­fent­licht wer­den dür­fen. Oh, sor­ry, ich habe die Gesamt­ein­schät­zung jetzt schon hin­ge­schrie­ben, aber es gibt noch wei­te­re Punkte.

Kindstötungen

Zwi­schen der Schil­de­rung einer Gewalt­sze­ne unter Jugend­li­chen und Kom­men­ta­ren zu den Base­ball­schlä­ger­jah­ren fin­det man fol­gen­den Satz:

Die Zahl der Kinds­tö­tun­gen ist im Osten Deutsch­lands in den 90er und 00er Jah­ren dop­pelt so hoch wie im Wes­ten und steigt im Jahr 2006 sogar auf das Vier­fa­che an.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S. 204

Will Anne Rabe uns nahe­le­gen, dass alle ihre Kin­der umbrin­gen, weil der gan­ze Osten durch und durch gewalt­tä­tig ist? Gin­ge es nicht irgend­wie dif­fe­ren­zier­ter? Viel­leicht spie­len ja Din­ge wie Armut und Per­spek­tiv­lo­sig­keit eine Rol­le? Ins­be­son­de­re bei den so genann­ten Neo­na­ti­zi­den, bei denen ein Kind direkt nach der Geburt getö­tet wird. Ich habe ver­sucht, mehr dar­über her­aus­zu­fin­den, und bin auf die Stu­die von Höynck, Behn­sen & Zäh­rin­ger (2015) gesto­ßen. Die Stu­die führt meh­re­re Pro­ble­me bzgl. der Daten auf:

Ein Punkt, der das Inter­es­se an der Ent­wick­lung des hier vor­ge­stell­ten For­schungs­pro­jekts ausgelöst hat, war die aus­weis­lich der Poli­zei­li­chen Kri­mi­nal­sta­tis­tik nicht unwe­sent­lich höhere Rate von Tötungsdelikten an Kin­dern in den neu­en Bundesländern ver­gli­chen mit den alten Bundesländern. Deut­lich war aber auch, dass die Fra­ge nach möglichen Ursa­chen für die­sen Befund auf ganz ver­schie­de­nen Ebe­nen lie­gen können und dass selbst wenn klar wäre, dass es sich nicht z.B. um unter­schied­li­che Hell­feld­ra­ten han­delt, son­dern um ein tatsächlich höheres Fall­auf­kom­men, ohne Wis­sen um die jewei­li­gen Fall­grup­pen­an­tei­le nicht sinn­voll nach möglichen Ursa­chen gefragt wer­den kann. Dies bedeu­tet aber gleich­zei­tig, dass die Fall­zah­len, die für eine Ana­ly­se zur Verfügung ste­hen, nur bei opti­ma­lem Rücklauf Rückschlüsse erlau­ben. Ange­sichts des uner­war­tet schwie­ri­gen und zudem regio­nal etwas unter­schied­li­chen Rücklaufes, der dazu führt, dass pro Jahr und Fall­grup­pe pro Bun­des­land oft ein­stel­li­ge Fall­zah­len zu ver­zeich­nen sind, ist eine regio­nal ver­glei­chen­de Dar­stel­lung der Belas­tungs­zah­len mit den ein­zel­nen Fall­grup­pen irreführend. Die Opfer­zif­fern wei­sen erwart­bar gro­ße Unter­schie­de auf, zei­gen aber kein kla­res Sche­ma.
Der ein­zi­ge Befund, der deut­lich wird und auf­grund der verhältnismäßig hohen Fall­zahl eine gewis­se Belast­bar­keit hat, ist, dass vier Bundesländer auffällig hohe Opfer­zif­fern bei den Neo­na­ti­zi­den auf­wei­sen. Die durch­schnitt­li­che Opfer­zif­fer (Opfer pro 100.000 Gebur­ten im sel­ben Jahr) beträgt in die­ser Fall­grup­pe 2,7, die Länderwerte lie­gen zwi­schen 0,39 und 11,22. Die vier Länder, die mit Abstand die höchsten Wer­te auf­wei­sen (7,91 — 11,22), sind Bran­den­burg, Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Sach­sen-Anhalt und Thüringen. Der höchste Wert unter den übrigen Ländern liegt bei 3,47. Die kleins­te Opfer­zif­fer von 0,39 zeigt Schles­wig-Hol­stein. Die Höherbelastung der genann­ten vier Länder fin­det kei­nen zeit­li­chen Schwer­punkt im Unter­su­chungs­zeit­raum, son­dern streut über die Jah­re. Bei allen genann­ten Wer­ten, dies sei erneut ausdrücklich betont, können Ver­zer­run­gen durch den Aktenrücklauf ent­stan­den sein und ange­sichts ins­ge­samt gerin­ger Zah­len würden sich die Opfer­zif­fern schon bei weni­gen Fällen Unter­schied nen­nens­wert ändern. Geht man davon aus, dass der Rücklauf nicht sys­te­ma­tisch ver­zerrt ist, stel­len die genann­ten Zah­len jeden­falls Unterschätzungen dar. Auf­grund der Aus­falls von 41 % gegenüber den Zah­len der PKS kann auch nicht mit Sicher­heit geschlos­sen wer­den, dass die Höherbelastung der neu­en Länder mit Tötungsdelikten an Kin­dern unter 6 Jah­ren, die eben auf­grund den Daten der PKS (mit) einen Anlass für die vor­lie­gen­de Unter­su­chung dar­stell­te, auf einer Höherbelastung mit Neo­na­ti­zi­den beruht. Die Daten spre­chen aller­dings durch­aus für die­se Annah­me. Über die Gründe hierfür kann nur spe­ku­liert werden.

Höynck, The­re­sia & Behn­sen, Mira & Zäh­rin­ger, Ulri­ke. 2015. Tötungs­de­lik­te an Kin­dern unter 6 Jah­ren in Deutsch­land: Eine kri­mi­no­lo­gi­sche Unter­su­chung anhand von Straf­ver­fah­rens­ak­ten (1997–2006). S.337

Ers­tens könn­te es ver­schie­de­ne Hell­feld­ra­ten geben. Das heißt, im Osten könn­ten ein grö­ße­rer oder klei­ne­rer Anteil der Kinds­tö­tun­gen gemel­det wor­den sein als im Wes­ten. Zwei­tens sind – wie die Autorin­nen der Stu­die beto­nen – die Sta­tis­ti­ken anhand der Poli­zei­li­chen Kri­mi­nal­sta­tis­tik (PKS) berech­net wor­den. Die­se spie­geln die Ermitt­lungs­er­geb­nis­se, d.h. Ver­mu­tun­gen über Tat­her­gän­ge und Schuld wie­der. Wich­tig sind aber die Pro­zess­ak­ten, denn es kann sich in einem Gerichts­ver­fah­ren die Unschuld einer beschul­dig­ten Per­son her­aus­stel­len. Da der Rück­lauf nur bei nur 59% der Akten lag, ist die Zahl der unter­such­ba­ren Fäl­le noch nied­ri­ger als ohne­hin schon. 

Und dann, lie­be Anne Rabe, sie sto­ßen ein gan­zes Land in die Schei­ße bzw. kip­pen Schei­ße über ihm aus. Wenn Sie das tun, soll­ten Sie ruhig, ratio­nal und sehr genau vor­ge­hen. Was Sie schrei­ben ist – so wie sie es geschrie­ben haben – garan­tiert falsch. Denn Sie schrei­ben über die abso­lu­ten Zah­len der Kinds­tö­tun­gen. Unter­sucht wur­de die Anzahl der Kinds­tö­tun­gen unter 100.000 Gebur­ten. Die abso­lu­ten Zah­len für 2006 sind für West­deutsch­land 48 und für Ost­deutsch­land 34. Die Zah­len für die ande­ren Jah­re kann man eben­falls der Tabel­le entnehmen:

Höynck, The­re­sia & Behn­sen, Mira & Zäh­rin­ger, Ulri­ke. 2015. Tötungs­de­lik­te an Kin­dern unter 6 Jah­ren in Deutsch­land: Eine kri­mi­no­lo­gi­sche Unter­su­chung anhand von Straf­ver­fah­rens­ak­ten (1997–2006). S. 17

Wie die Autorin­nen anmer­ken, sind das (rein mathe­ma­tisch gese­hen) sehr klei­ne Zah­len, was eine sinn­vol­le Aus­wer­tung erschwert:

Zu beach­ten ist zudem, dass Delik­te erst nach Abschluss der Ermitt­lun­gen, und damit frühestens im Jahr ihres Bekannt­wer­dens in die PKS auf­ge­nom­men wer­den, was nicht in jedem Fall iden­tisch mit dem Jahr der Tat­be­ge­hung ist. In einem extre­men Fall wie dem der neun tot auf­ge­fun­de­nen Neu­ge­bo­re­nen in Bries­kow-Fin­ken­herd führt dies auf­grund ins­ge­samt klei­ner Fall­zah­len bereits bei einer nur gro­ben regio­na­len Unter­glie­de­rung zu einer spürbaren Ver­zer­rung der Sta­tis­tik für das Erfas­sungs­jahr 2006 (vgl. die Wer­te für Ost­deutsch­land in Abbil­dung 1). 

Höynck, The­re­sia & Behn­sen, Mira & Zäh­rin­ger, Ulri­ke. 2015. Tötungs­de­lik­te an Kin­dern unter 6 Jah­ren in Deutsch­land: Eine kri­mi­no­lo­gi­sche Unter­su­chung anhand von Straf­ver­fah­rens­ak­ten (1997–2006). S. 16

Rabe erwähnt den Fall in Bries­kow-Fin­ken­heerd (spricht aller­dings von Frankfurt/Oder). Dass die Fäl­le von Kinds­tö­tung, die zwi­schen 1988 und 1999 statt­ge­fun­den haben, wie sie selbst schreibt (S. 203) in die Sta­tis­tik des Jah­res 2006 ein­ge­hen, ist ihr nicht klar.

Viel­leicht kann man nicht von jeder Autorin ver­lan­gen, dass sie sich wirk­lich mit Sta­tis­tik beschäf­tigt, aber von einer Autorin, die ein poli­tisch bri­san­tes Buch schreibt, soll­te man das ver­lan­gen. Und erst recht von einem Ver­lag, der das Buch dann her­aus­bringt. Und von Rezen­sen­ten, die das Buch bespre­chen. Ich habe mich einen Tag mit dem The­ma Kinds­tö­tung beschäf­tigt und ohne Fach­wis­sen­schaft­ler zu sein, die hier dis­ku­tier­te Infor­ma­ti­on gefun­den. War­um hat das nie­mand von den genann­ten Per­so­nen getan? Weil das Bild, das die Autorin zeich­net, gar zu schön ist? Weil es passt?

Die Fall­zah­len bei den extre­me­ren Fäl­len sind nied­rig. Man kann und muss jeden Ein­zel­fall anse­hen. Zur Ein­ord­nung in ein Gesamt­bild braucht man eine Qua­li­fi­ka­ti­on. Jemand der wie Anne Rabe Ger­ma­nis­tik, Thea­ter­wis­sen­schaft und Sze­ni­sches Schrei­ben oder wie ich Infor­ma­tik stu­diert hat, hat die­se Qua­li­fi­ka­ti­on nicht. Auch die Lek­to­rin Corin­na Kro­ker (Buch­wis­sen­schaft / Ver­lags­pra­xis, Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, Spa­nisch und Psy­cho­lo­gie an der Lud­wig-Maxi­mi­li­ans-Uni­ver­si­tät Mün­chen) und die Jury des Deut­schen Buch­prei­ses 2023 haben die­se Qua­li­fi­ka­ti­on nicht. Aber alle sind hoch­ge­bil­de­te Men­schen, denen zumin­dest klar sein soll­te, dass sie nicht über die rele­van­te Qua­li­fi­ka­ti­on verfügen.

Die FAZ berich­tet schon 2006 über Unter­su­chun­gen von Ulri­ke Böhm (Uni Leip­zig). Die Forscher*innen haben 1000 Todes­fäl­le über­prüft und kom­men zu fol­gen­dem Schluss:

Dafür, daß Kin­der im Osten Deutsch­lands häu­fi­ger an Miß­hand­lung oder Ver­nach­läs­si­gung ster­ben als im Wes­ten, haben die Leip­zi­ger For­scher kei­ne Bele­ge gefun­den. Auch sieht Böhm die Aus­sa­ge des Kri­mi­no­lo­gen Chris­ti­an Pfeif­fer, das Risi­ko für Kin­der in Ost­deutsch­land, von ihren Eltern miß­han­delt zu wer­den, sei gut dop­pelt so hoch wie für Kin­der in West­deutsch­land, durch ihre Ergeb­nis­se nicht bestä­tigt. „Der Unter­schied liegt eher zwi­schen Groß­stadt und länd­li­chem Raum.“

Bur­ger, Rei­ner. 2006. Stu­die zu Kin­des­miß­brauch: Immer mehr Eltern sind erzie­hungs­un­fä­hig. Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung.

Die­se Aus­sa­ge ist inter­es­sant, denn sie deckt sich mit Befun­den zu rechts­extre­men Ein­stel­lun­gen. Auch da ist es so, dass es einen Stadt-Land-Unter­schied gibt. Der Osten hat über wei­te Tei­le des Lan­des eine länd­li­che­re Struk­tur und ver­gleich­ba­re Gegen­den im Wes­ten sind ähn­lich in Bezug auf poli­ti­sche Ansich­ten („Die The­se vom Rechts­ruck im Osten ist Unsinn.“. Ber­li­ner Zei­tung. 08.07.2023)

Kinderpornographie, Pädophilie und Vergewaltigung in der Ehe

Wol­len wir wirk­lich einen Krieg anfan­gen, in dem wir gucken, wer schei­ßer ist? Mir fal­len diver­se Kin­der­por­no­han­dels­rin­ge ein, Skan­da­le auf Zelt­plät­zen (Miss­brauchs­fäl­le in Lüg­de: „Das ist abgrün­dig“), Miss­brauch durch Kir­chen­menschen. Katho­li­sche und evan­ge­li­sche. Miss­hand­lun­gen in Kin­der­hei­men, oft mit kirch­li­chen Trä­gern (sie­he Blog-Post Kin­der­land­ver­schi­ckung und die DDR?). Bru­ta­le Fäl­le von Kin­des­miss­brauch in Saar­brü­cken. Müt­ter, die ande­ren ihre Klein­kin­der und Babies für Sex anbie­ten. Es gibt schlim­me Din­ge, hier wie da. Soll man dar­aus was ablei­ten? Etwas über den Osten? Etwas über den Kapitalismus?

Und wie war das mit der Ver­ge­wal­ti­gung in der Ehe? 

Pan­ora­ma. 1995. Ver­ge­wal­ti­gung mit Trauschein.

Wer war 1997 nach 25jähriger Dis­kus­si­on im Bun­des­tag gegen die Geset­zes­än­de­rung, die die­se Ver­ge­wal­ti­gun­gen erst ande­ren Ver­ge­wal­ti­gun­gen gleich­set­ze? 183 Nein-Stim­men, dar­un­ter Horst See­ho­fer, Vol­ker Kau­der und Fried­rich Merz. Die Namen sind fein säu­ber­lich in den Bun­des­tags­pro­to­kol­len notiert. Ori­gi­nal­tö­ne der Män­ner zum The­ma kann man im Pan­ora­ma-Bei­trag sehen.

Warum kein Sachbuch?

Cor­ne­lia Geiß­ler von der Ber­li­ner Zei­tung fragt in einem Inter­view: „Wie kam es nun zum Roman? War­um haben Sie kein Sach­buch geschrie­ben?“. Die Ant­wort ist interessant:

Weil die Fik­tio­na­li­sie­rung mir mehr Frei­heit lässt. In eini­gen Berei­chen gibt es ein­fach zu weni­ge Zah­len, um sie als Fak­ten beschrei­ben zu kön­nen. Das betrifft zum Bei­spiel Kin­des­miss­hand­lung, da wur­de die For­schung in der DDR ein­ge­stellt, auch sexua­li­sier­te Gewalt war in der DDR tabui­siert, auch dazu gab es kei­ne Stu­di­en, nur eine lose Samm­lung von Fra­ge­bö­gen von Bür­ger­recht­le­rin­nen. Im Roman kann ich Din­ge neben­ein­an­der­stel­len und neben­ein­an­der wir­ken las­sen, ohne sagen zu müs­sen, die­ses fol­ge zwangs­läu­fig aus jenem.

Das ist eine ehr­li­che Ant­wort. Aus der DDR-Zeit gibt es sicher zu wenig Zah­len. Aber Anne Rabe ver­brei­tet Unwahr­hei­ten über die Nach­wen­de­zeit, wie ich oben detail­liert dar­ge­legt habe. Die Infor­ma­ti­on, die sie gebraucht hät­te, liegt prak­tisch auf der Stra­ße. Ich habe alles inner­halb eines Tages her­aus­fin­den kön­nen. Es gibt aus­führ­li­che Wiki­pe­dia-Arti­kel zu den The­men und in denen fin­det man die Ver­wei­se auf die Fach­li­te­ra­tur. Schön, dass Anne Rabe selbst sagt, dass sie ein­fach Din­ge neben­ein­an­der stellt, ohne eine kau­sa­le Wir­kung zu behaup­ten. Das ist der Unter­schied zwi­schen Seman­tik und Prag­ma­tik. Die Leser*innen und Rezensent*innen zei­hen die Schlüs­se sel­ber. Ich war’s nicht, ich war’s nicht. Ich habe nur Fak­ten neben­ein­an­der­ge­stellt, die Ver­mu­tun­gen dar­über, was ich damit gemeint haben könn­te, habt ihr selbst gezo­gen. und dazu waren die Fak­ten noch nicht mal Fakten.

Zusammenfassung

Ich den­ke, dass Anne Rabe eine schreck­li­che Kind­heit in einer schreck­li­chen Fami­lie (inklu­si­ve Tan­ten, Onkels und Groß­el­tern) hat­te. Sie hat sich dar­aus befreit, aber die Kon­se­quen­zen und Schluss­fol­ge­run­gen, die sie zieht sind nicht trag­fä­hig. Ihre Erfah­run­gen sind nicht ver­all­ge­mei­ner­bar. Behaup­tun­gen im Buch sind nicht belegt und wenn man nach­forscht, stellt sich her­aus, dass sie nicht beleg­bar oder an den Haa­ren her­bei­ge­zo­gen (bit­te ent­schul­digt das gewalt­tä­ti­ge Bild) sind.

Danksagungen

Ich dan­ke Imma­nu­el Zirk­ler, der den Pan­ora­ma-Bei­trag zur Ver­ge­wal­ti­gung in der Ehe, gefun­den hat, und allen Diskussionsteilnehmer*innen auf Mastodon.

Quellen

Beer, Maxi­mi­li­an & Hol­ler­sen, Wieb­ke. 2023. „Die The­se vom Rechts­ruck im Osten ist Unsinn.“. Ber­li­ner Zei­tung. 08.07.2023. (https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/die-these-vom-rechtsruck-ist-unsinn-forscher-ueber-ostdeutschland-extremismus-und-afd-li.366563)

Bun­des­tag. 1997. Ste­no­gra­phi­scher Bericht, 175. Sit­zung. 15.05.1997. Bonn: Deut­scher Bun­des­tag. (https://dserver.bundestag.de/btp/13/13175.pdf)

Bur­ger, Rei­ner. 2006. Stu­die zu Kin­des­miß­brauch: Immer mehr Eltern sind erzie­hungs­un­fä­hig. Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung. (https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/studie-zu-kindesmissbrauch-immer-mehr-eltern-sind-erziehungsunfaehig-1385344.html)

Höynck, The­re­sia & Behn­sen, Mira & Zäh­rin­ger, Ulri­ke. 2015. Tötungs­de­lik­te an Kin­dern unter 6 Jah­ren in Deutsch­land: Eine kri­mi­no­lo­gi­sche Unter­su­chung anhand von Straf­ver­fah­rens­ak­ten (1997–2006). Wies­ba­den: Sprin­ger. (https://doi.org/10.1007/978–3‑658–07587‑3)

Kra­mer, Bernd. 2016. „Mehr­fach­tö­tun­gen im öffent­li­chen Raum“. flu­ter. (https://www.fluter.de/terroranschlag-oder-amoklauf-unterschiede-und-gemeinsamkeiten)

Krat­zer, Anne. 2018. NS-Geschich­te: War­um Hit­ler bis heu­te die Erzie­hung von Kin­dern beein­flusst. Die Zeit. (https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2018–07/ns-geschichte-mutter-kind-beziehung-kindererziehung-nazizeit-adolf-hitler)

Mika, Bascha. 1996. „Ich hab’ sie ver­packt wie einen Bon­bon“. taz. Ber­lin. 18.09.1996 (https://taz.de/!1437345/)

Pan­ora­ma. 1995. Ver­ge­wal­ti­gung mit Trau­schein. ARD. (Pan­ora­ma. 23.03.1995) (https://www.ardmediathek.de/video/panorama/vergewaltigung-mit-trauschein/das-erste/Y3JpZDovL25kci5kZS9kZDFmYjg0NC00NDk0LTQ0MmYtODU2MS1mMGFjZDVlMWYwNzI)

Rath, Chris­ti­an. 2023. Tötung eines Mäd­chens in Freu­den­berg: Ver­däch­tig­te Mäd­chen ohne Stra­fe. taz. Ber­lin. 15.03.2023 (https://taz.de/Toetung-eines-Maedchens-in-Freudenberg/!5918971/)

Schmol­lack, Simo­ne. 2019. Miss­brauchs­fäl­le in Lüg­de: „Das ist abgrün­dig“. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Missbrauchsfaelle-in-Luegde/!5614996/)

Zettl, Max Sebas­ti­an & Bock, Corin­ne & Bude­rus, Petra & Perei­ra, Anne-Sophie & Gon­çal­ves, Katya & Münch, Eva Eli­sa­beth. 2019. Ursa­chen. In Böh­mer, Mat­thi­as (ed.), Amok an Schu­len: Prä­ven­ti­on, Inter­ven­ti­on und Nach­sor­ge bei School Shoo­tings. Wies­ba­den: Sprin­ger. (https://doi.org/10.1007/978–3‑658–22708‑1)

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