In der letzten Zeit gab es mehrfach Artikel in der taz zur Kinderverschickung (siehe Quellen). Berichtet wurde über Grausamkeiten, die in den Heimen stattfanden. Zum Beispiel, dass Schlafsäle nachts verschlossen wurden, so dass die Kinder nicht auf die Toilette gehen konnten (taz, 14.12.21).
Fast alle berichten von: Esszwang, nächtlichem Toilettenverbot, haarsträubenden hygienischen Zuständen, Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, Kontaktverbot zur Familie, Einschüchterung, die zu Angst- und Schuldgefühlen führten: Haben mich meine Eltern verstoßen, sehe ich sie je wieder, was habe ich falsch gemacht? Eine Atmosphäre, in der „seelische Grausamkeit“ gedieh. Aber auch Fälle von Prügel, Eisduschen, Strafmaßnahmen wie nächtlichem Wegsperren in dunkle, kalte Kammern oder Dachböden, also physischem – aber auch sexuellem – Missbrauch sind bekannt.
Sabine Seifert, Kuraufenthalte von Kindern:Wir Verschickungskinder, taz 14.12.2021
Betroffene organisieren sich in Vereinigungen, um die Vergangenheit aufzuarbeiten.
Heute wird in der taz wieder berichtet. Der Artikel enthält einen kleinen vergifteten Satz:
Vorsichtig geschätzt sind zwischen sechs und acht Millionen Kinder in der alten Bundesrepublik zur Kur geschickt worden, zum Gesundwerden oder zur Vorbeugung. Auch in der DDR gab es Kinderkuren. Viele Kinder – nicht alle – haben in den Kurheimen Lieblosigkeit, Schikanen, Misshandlungen oder sogar sexualisierte Gewalt erlebt.
Sabine Seifert, Forschungsbedarf, taz, 15.03.2022
Rein logisch wird nur mitgeteilt, dass es in der DDR Kinderkuren gab. Suggeriert wird aber, dass es in der DDR „Lieblosigkeit, Schikanen, Misshandlungen oder sogar sexualisierte Gewalt“ gab und zwar von der Art, wie sie in den vorangegangenen Veröffentlichungen thematisiert wurde. Zum Beispiel berichten Kinder davon, dass sie Essen aufessen mussten, egal, was es gab. Erbrochenes musste auch aufgegessen werden (taz, 14.12.21).
Frau Seifert verlinkt dann auf die Seite https://verschickungsheime.de/ und wenn man sich dort umsieht, findet man zum Thema DDR folgendes:
Ab 1945 sagte man „Verschickung“, in der DDR war der Begriff „Kurkinder“ gebräuchlicher. DDR-Kurkinder haben sich bisher bei uns nur wenige gemeldet. Die Kurbäder auf dem Gebiet der DDR erlitten nach 45 einen Niedergang, daher gab es in der DDR nicht annähernd so viele Kurorte wie im Westen (BRD 1964: ca. 1200 Heime in 350 Kurorten). Es können sich aber auch DDR-Kurkinder melden und bei uns mitmachen, sich gern auch als Heimortverantwortliche für ihre Heime einsetzen lassen.
verschickungsheime.de, 16.01.20??
Auf der Seite gibt es Logos von Bundesländern und bei den Ost-Bundesländern gibt es keine Einträge.
Kein Trauma!
Ich war als Kind zweimal zur Kur: einmal für drei Monate in Graal-Müritz und einmal für 6 Wochen in Ahlbeck. Laut https://verschickungsheime.de/ddr-kurkinder/ muss es sich um die Kurheime Kliniksanatorium „Richard Aßmann“ Graal-Müritz und die Kureinrichtung Insel Usedom, Betriebsteil IV: Kindersanatorium „Klaus Störtebeker“ Seebad Ahlbeck gehandelt haben. In den Einrichtungen wurden Kinder mit Asthma und/oder Neurodermitis behandelt. Ich war jeweils im Winter dort. Ich kann mich noch erinnern, dass in Graal-Müritz die Ostsee kurz vor dem Zufrieren war. Das Wasser sah aus wie Tapetenkleister und machte interessante Geräusche. Wir waren viel draußen, sind an der Ostsee spazieren gegangen und ich habe noch immer Bernsteine aus der Usedom-Zeit. Wir haben in kleinen Gruppen Unterricht gehabt, der auch so gut war, dass ich – zurück in Berlin – meiner Klasse weit voraus war. Das Essen war vernünftig. Kein Esszwang. (Später bei der Armee hatte ich Probleme, weil die Zeit zum Essen nicht reichte.) Wir haben in größeren Schlafsälen geschlafen. Die Betreuerinnen waren nicht übermäßig streng. Ich erinnere mich noch daran, wie wir immer lustige Furzgeräusche in der Armbeuge erzeugt haben. Das ging eben so lange, bis uns die Augen zugefallen sind. Mittags gab es Mittagsruhe. Wir lagen in unseren Betten, durften aber lesen. Es gab einen kleinen Laden auf dem Gelände, in dem ich mir ein Buch gekauft habe. Ich habe es immer noch. Bibliotheken gab es sicher auch.
Wir sind einmal in der Woche in die Sauna gegangen. Danach gab es eine Liegekur. Draußen. Wir sind zu Liegen durch den Schnee gestapft und Frauen haben uns ganz fest in dicke Decken eingewickelt. Es war sehr schön.
Ab und zu gab es Untersuchungen durch Ärzt*innen. Die waren auch sehr freundlich.
Meine Mutter hat mir ein Päckchen mit einer kleinen Woll-Handfigur geschickt: Stülpner-Karle.

Wie man im Bild sieht, hatte die Figur keine Beine. Ich habe meiner Mutter einen Brief geschrieben, der ging so:
Liebe Mutti,
Ich habe mir beide Beine gebrochen.
Herzliche Grüße
Dein Stülpner-Karle.
Ich bin heute noch froh, dass sie nicht schon nach dem ersten Satz einen Herzinfarkt bekommen hat. Die Episode zeigt zwei Dinge: 1) Gab es – anders als im Westen – keine Zensur und wir – bzw. unsere Puppen – haben unsere Karten/Briefe selbst geschrieben. 2) War der kleine Stefan zu Scherzen aufgelegt. Auch wenn der Brief sonst nicht viel enthielt, war er doch eine positive Nachricht.
Beim zweiten Kuraufenthalt habe ich zwei Kinder vom ersten Mal wiedergetroffen. Einen mochte ich beim ersten Mal gar nicht, aber da wir uns schon kannten, haben wir uns dann gleich angefreundet. Wir hatten eine gute Zeit und den Beatels- und Hardcore-Fan habe ich dann später auch noch in Markleeberg besucht und er war zu Besuch bei mir in Berlin. Wir waren keine traumatisierten Kinder. Wir sind freiwillig zum zweiten Mal zur Kur gefahren.
Kirche und Kontinuitäten
Im Westen wurden viele Heime durch kirchliche Träger bewirtschaftet. Diese spielten in der DDR eine untergeordnete Rolle und ich bin mir ziemlich sicher, dass die Saatsmacht ihre Freude an der Verfolgung und Bestrafung von Sexualdelikten oder Sonstigem in der Kirche gehabt hätte. Die Ausgangslage ist hier völlig anders als in der westdeutschen Gesellschaft, wo es die katholische Kirche auch jetzt noch nicht richtig hinbekommt, die Straftaten ihrer Würdenträger aufzuklären.
Auch in der Pädagogik gab es nach 1945 einen Bruch. Es wurden Neulehrer*innen eingestellt. Die hatten zwar keine Ahnung und waren den Schüler*innen immer höchstens zwei Seiten im Buch voraus, aber wenigstens waren es keine Nazis. Ich habe darüber im Beitrag über Holocaust und Osten genauer geschrieben.
Gesundheit und Kommerz
Frau Seifert schreibt in einem früheren Artikel über die West-Kinderverschickungen:
Statt gesund, wurden sie oft krank, krank gemacht. Weil an diesen Orten ein pädagogisches Regime herrschte, das sie schikanierte, misshandelte, ihre gesundheitliche Verfassung und ihre natürliche Schwäche ausnutzte. Ein Regime, das nicht das Kind und seine physische und psychische Gesundheit in den Mittelpunkt stellte, sondern mit dessen Konstitution und den Sorgen der Eltern Geld verdiente.
Sabine Seifert, Kuraufenthalte von Kindern:Wir Verschickungskinder, taz 14.12.21
Das war ein wesentlicher Unterschied zur DDR. Das Gesundheitssystem war staatlich finanziert und konnte an niemandem Geld verdienen.
Schluss
Also: Vielleicht war in der DDR auch mal etwas besser. Ich fände es gut, wenn solche tendenziöse Sätze wie der heute in der taz einfach unterbleiben könnten.
Nachtrag: Gar nichts Negatives?
Ich habe den Fragebogen des Forschungsprojekts zur Kinderverschickung ausgefüllt, denn wenn Menschen, die kein Problem hatten, die Bögen nicht ausfüllen, gibt es eine Verzerrung. Eine Frage war „Gab es Geschehnisse in den Heimen, die problematisch für Sie waren?“ und es gab in der Tat eine Sache, die ich mir gemerkt habe und die ich auch heute noch in der Logik-Einführung benutze: Sonntags um 19:00 kamen im Fernsehen die Lottozahlen (Tele-Lotto). Die Betreuerin versprach uns: „Wenn ich im Lotto gewinne, dürft ihr länger aufbleiben.“ Wir erwarteten höchst gespannt die Ziehung der letzten Zahl und fragten sie: „Und?“ Die Antwort: „Ich spiele gar kein Lotto.“ In der Logik-Einführung verwende ich das Beispiel, um zu erklären, dass sie nicht gelogen hat: Wenn der Vorsatz falsch ist, kann man danach alles behaupten. Das war die schlimmste „seelische Grausamkeit“, an die ich mich erinnern kann. Im besten Fall ein grober Scherz.
Nachtrag 14.11.2024: Ups, she did it again
In ihrem Beitrag Den Machtmissbrauch aufarbeiten vom 04.11.2024 schreibt Sabine Seifert bezogen auf Kinderkurheime im Osten: „Mit der Lebensfreude war es in den Kinderkurheimen nicht weit her.“. Der definite Artikel im Plural wird für Allaussagen verwendet. Vor solch pauschalen Allaussagen sollte man sich als Journalist*in generell hüten. Insbesondere, wenn einem klar ist, dass sie falsch sind. Ich hatte mit Sabine Seifert 2022 einen Email-Wechsel zu meinen Erfahrungen und habe ihr diesen Blog-Post geschickt. Sie hat das wohl vergessen. Vielleicht hat es nicht in ihre Ansichten über die DDR gepasst.
Quellen
Knödler, Gernot. 2024. Verschickungskinder beim Roten Kreuz: Wer weint, wird eingesperrt. taz. Bremen. (https://www.taz.de/!6000563)
Seifert, Sabine. 2021. Kuraufenthalte von Kindern: Wir Verschickungskinder. taz. Berlin. (https://taz.de/Kuraufenthalte-von-Kindern/!5818643)
Seifert, Sabine. 2022. Studien zu Kinderverschickungen: Schikanen und Misshandlungen. taz. Berlin. (https://taz.de/Studien-zu-Kinderverschickungen/!5838490/)