Correctiv bei Nazi-Treffen und Remigration

Am 11.01.2024 habe ich zur Zusam­men­set­zung der Grup­pe beim Nazi-Tref­fen, das Cor­rec­tiv doku­men­tiert hat­te, geschrie­ben (Cor­rec­tiv und die Nazi-Vor­stel­lun­gen bzgl. Remi­gra­ti­on). Von 22 Men­schen war einer aus dem Osten. Alle ande­ren Nazis kom­men aus dem Wes­ten. Nun gab es wie­der ein Tref­fen. Dies­mal nicht in Pots­dam, son­dern in der Schweiz. Bei die­sem Tref­fen waren Mit­glie­der der in Deutsch­land ver­bo­te­nen rechts­extre­men Orga­ni­sa­ti­on „Blood & Honour“, der rechts­extre­men schwei­zer Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on Jun­ge Tat, Mit­glie­der der Jun­gen Alter­na­ti­ve Baden-Würt­tem­berg und AfD-Politiker*innen. Eini­ge wur­den mit Namen genannt: Roger Beck­amp, Abge­ord­ne­ter für die AfD im Deut­schen Bun­des­tag, und Lena Kotré, AfD-Land­tags­ab­ge­ord­ne­te in Brandenburg. 

Ich neh­me an, dass bei der Jun­gen Alter­na­ti­ve aus BaWü kein Ossi dabei war. Beck­amp ist aus Köln und Kotré aus West-Ber­lin. Das heißt, dass bei dem Tref­fen kein Ossi dabei war. Obwohl Kotré im Bran­den­bur­ger Land­tag sitzt, ist sie nicht aus dem Osten. Die Asso­zia­ti­on Osten = Nazi wird durch die Erwäh­nung des Arbeits­or­tes ohne die Anga­be der Her­kunft ver­stärkt. Noch mal: Beim Tref­fen in der Schweiz waren aus­schließ­lich Westler.

Quellen

Peters, Jean & Gins­burg, Tobi­as & Fie­gert, Nic­las & Böh­mer, Mar­tin. 2024. Neue Rech­te: Kein Geheim­tref­fen gegen Deutsch­land – wir waren trotz­dem dabei. cor­rec­tiv. (https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/12/27/kein-geheimtreffen-gegen-deutschland/)

Peter Unfried, Lindner, Herbst in Peking und die Post

Lie­ber Peter Unfried,

Ich wün­sche Ihnen eine schö­ne Weih­nachts­zeit und ein gutes neu­es Jahr. 2025 dürf­te ja das wahr wer­den, wofür Sie immer in der taz argu­men­tiert haben: Wir bekom­men eine schwarz-grü­ne Regie­rung. Nur wird die­se nicht grün-libe­ral, son­dern neo­li­be­ral. Dank Merz. Ich schrei­be Ihnen die­se Kar­te, weil Sie vor einem Jahr in einer taz-Kolum­ne davon berich­tet haben, dass Sie sich eine Kar­te von Chris­ti­an Lind­ner in die Küche gehängt haben (taz, 07.01.2024). Ich wün­sche mir, dass ganz vie­le taz-Leser*innen Ihnen auch Post­kar­ten schi­cken, so dass Sie die von Lind­ner nicht mehr auf­hän­gen müs­sen, falls er Ihnen die­ses Jahr auch wie­der eine geschickt hat. Wahr­schein­lich haben Sie aber inzwi­schen auch erkannt, dass Lind­ner eine von Por­sche kor­rum­pier­te (taz, 25.07.2022) und von Döpf­ner pro­te­gier­te Per­son (taz, 16.04.2023) ist, deren Haupt­ziel es war, kon­struk­ti­ve Regie­rungs­ar­beit zu sabo­tie­ren (taz, 29.11.2024), auf kei­nen Fall also jemand, des­sen Weih­nachts­kar­ten man sich in die Küche hän­gen würde.

Weih­nachts­kar­te für Peter Unfried, damit er nicht wie­der eine von Chris­ti­an Lind­ner auf­hän­gen muss.

Ich möch­te Ihnen auch noch mal für Ihren Kling-Klang-Arti­kel zum Osten dan­ken. Beim Nach­den­ken über die­se Kar­te und dar­über, wie sie zu Ihnen gelan­gen könn­te, fiel mir eine Geschich­te von vor 35 Jah­ren ein. Der alter­na­ti­ve Radio­sen­der Radio 100 hat­te eine Sen­dung mit der Ost-Unter­grund­band Herbst in Peking gemacht und man konn­te eine Plat­te der Band gewin­nen. Dazu muss­te man eine Kar­te mit dem Mot­to der Band ein­schi­cken. Men­schen aus dem Osten wur­den aus­drück­lich auf­ge­for­dert zu schrei­ben. Die Hälf­te der Plat­ten soll­te an sie gehen. Die Bekannt­ga­be der Gewin­ner war für die Sen­dung in der kom­men­den Woche ange­setzt. Das Pro­blem war jedoch, dass die Post von Ost-Ber­lin nach West-Ber­lin damals 14 Tage brauch­te. Ich habe mich dann auf’s Rad gesetzt und mei­ne Post­kar­te in die Pots­da­mer Stra­ße gebracht. 

Plat­ten­co­ver von der ers­ten Lang­spiel­plat­te von Herbst in Peking.

Und so ist es, dass Men­schen aus dem Wes­ten mit­un­ter gar nicht mer­ken, dass eigent­lich gut gemein­te Din­ge nicht funk­tio­nie­ren. Im Osten.

Da die Zustell­zei­ten der Post sich denen in der Wen­de­zeit annä­hern, brin­ge ich die Post­kar­te mit dem Rad in die Friedrichstraße.

Hand­ge­schrie­be­ne Weih­nachts­post­kar­te für Peter Unfried, Ber­lin, 15.12.2024

Herz­li­che Grü­ße auch an Ihre Frau, die das Auf­hän­gen von Lind­ner-Kar­ten schon im letz­ten Jahr rich­tig ein­ge­ord­net hatte

      Stefan Müller
Weih­nachts­kar­te für Peter Unfried am taz-Tre­sen, Ber­lin, 16.12.2024

Telegraph 9.10.1989

Das fol­gen­de Doku­ment aus dem Okto­ber 1989 ist eine Aus­ga­be des Tele­graphs, einer Unter­grund­zeit­schrift der Umwelt­bi­blio­thek. (Nicht nur) fol­gen­de Stel­len sind interessant:

Wir wol­len als selbst­be­wuß­te Bür­ger unse­res sozia­lis­ti­schen Staa­tes end­lich glaub­haft in den Ent­schei­dungs­me­cha­nis­mus im Lan­de ein­be­zo­gen wer­den, statt ein Leben in pri­va­ter Zurück­ge­zo­gen­heit zu führen.

Schrei­ben der Kulturbundgruppen

Die­se Aus­sa­ge ent­spricht dem, was Kat­ja Hoyer in ihrem Buch Die­seits der Mau­er betont: Es gab vie­le Men­schen in der DDR, die sich ein­fach aus­ge­klinkt hat­ten und sich ins Pri­va­te zurück­ge­zo­gen hat­ten. Zum Ende der DDR schien das eini­gen nicht mehr genug zu sein.

Zum State­ment der Kampf­grup­pen in der Leip­zi­ger Volks­zei­tung gibt es einen län­ge­ren Wiki­pe­dia-Arti­kel: Staats­feind­lich­keit nicht län­ger dul­den.

Ste­fan Mül­ler, 08.12.2024

Aktuelle Blätter der Umwelt-Bibliothek Berlin

Grie­be­now­stras­se 16. Ber­lin 1058

tele­graph vom 09.10.1989

Reformunwillig

Der sowje­ti­sche Staats­chef Gor­bat­schow hat­te sich bereits an 6. Okto­ber bei Gesprä­chen mit jun­gen Leu­ten und Pres­se­ver­tre­tern auf den Stra­ßen indi­rekt für Refor­men in der DDR erklärt. Wenn die Bür­ger es woll­ten, wer­de es auch in die­sem Land eine Poli­tik der Pere­stroi­ka geben. Er habe Ver­trau­en, das es Kor­rek­tu­ren geben wer­de. Bei der Fest­ver­an­stal­tung zum 40. Jah­res­tag der DDR am 6. Okto­ber führ­te Gor­bat­schow aus, die DDR habe ihre eige­nen Ent­wick­lungs­pro­ble­me. Er bezweif­le nicht, daß die SED im Stan­de sei, in Zusam­men­ar­beit mit allen gesell­schaft­li­chen Kräf­ten Ant­wor­ten auf die Fra­gen zu fin­den, die durch die Ent­wick­lung der DDR auf die Tages­ord­nung gestellt wor­den sei­en und ihre Bür­ger beweg­ten. Fra­gen, die die DDR betref­fen, wür­den aber nicht in Mos­kau, son­dern in Ber­lin beantwortet.

Hon­ecker wuß­te dar­auf nur mit dem Hin­weis auf den bewähr­ten Kurs von lang­fris­ti­gen und tief­grei­fen­den Refor­men zu ant­wor­ten und beschul­dig­te die BRD, die Bür­ger der DDR durch eine zügel­lo­se Ver­leum­dungs­kam­pa­gne ver­wir­ren zu wol­len. Schon am Vor­mit­tag hat­te Hon­ecker gegen­über Jour­na­lis­ten das Vor­han­den­sein eines Flücht­lings­pro­blems geleug­net und die Lage in Leip­zig und Dres­den als „nor­mal“ bezeichnet.

Bei einem Gespräch mit Hon­ecker am Nach­mit­tag des 7. Okto­ber wur­de Gor­bat­schow deut­li­cher. Nach Aus­sa­ge des sowje­ti­schen Regie­rungs­spre­chers Ger­as­si­mow warn­te Gor­bat­schow in Anwe­sen­heit füh­ren­der Polit­bü­ro­mit­glie­der: „War­ten Sie nicht zu lan­ge, sonst wer­den sie es bereu­en! Er erläu­ter­te die Feh­ler, die man in der SU in den sieb­zi­ger Jah­ren began­gen habe. Damals sei es klar gewe­sen, daß die UdSSR ihre Tech­no­lo­gie revo­lu­tio­nie­ren muß­te, wenn sie mit dem Wes­ten Schritt hal­ten woll­te. Zu die­sem Zweck habe die KPdSU ein Son­der­ple­num in Erwä­gung gezo­gen. Doch dazu sei es nie gekom­men. Jetzt, ein Jahr­zehnt spä­ter, sei dies zu bedau­ern. Erst in jüngs­ter Zeit habe die KPdSU ein Son­der­ple­num zur Natio­na­li­tä­ten­fra­ge ver­scho­ben, was dann dazu geführt hät­te, daß das Natio­na­li­tä­ten­pro­blem nur noch schlim­mer gewor­den sei. Das Ple­num im ver­gan­ge­nen Monat sei dann zu spät gekom­men. Gor­bat­schow warn­te, dem Regie­rungs­spre­cher der UdSSR zufol­ge, davor, daß Regie­run­gen, die sich nicht den Ten­den­zen der Gesell­schaft anpaß­ten, sich selbst in Gefahr bräch­ten. Hon­ecker sei aber, so Ger­as­si­mow, nicht in der Stim­mung gewe­sen, sol­chen Bemer­kun­gen Auf­merk­sam­keit zu schen­ken. Er habe von der Not­wen­dig­keit gespro­chen, den Len­bens­stan­dard in der DDR zu erhöhen.

ADN führ­te aus, Hon­ecker habe betont, Hoff­nun­gen auf bür­ger­li­che Demo­kra­tie in der DDR bis hin zum Kapi­ta­lis­mus sei­en auf Sand gebaut.


Fluchtbewegung

Als ADN am 4. Okto­ber mel­de­te, in Über­ein­kunft mit der CSSR habe sich die Regie­rung der DDR ent­schlos­sen, auch die Per­so­nen, die sich neu­er­lich wie­der in der Bot­schaft der BRD in Prag auf­hiel­ten, über die DDR in die BRD aus­zu­wei­sen (haupt­säch­lich aus mensch­li­chen Erwä­gun­gen gegen­über den Kin­dern), konn­te die­se groß­mäu­li­ge nach­träg­li­che Ratio­na­li­sa­ti­on nur noch einen pein­li­chen Ein­druck hinterlassen.

Nach dem Abtrans­port der letz­ten 5.000 Bot­schafts­be­set­zer durch die Deut­sche Reichs­bahn in den Wes­ten war es sehr schnell zu neu­en Auf­läu­fen in den BRD-Bot­schaf­ten in Prag und War­schau gekom­men. BRD-Außer­mi­nis­ter Gen­scher beeil­te sich mit dem Wort von den “Nach­züg­lern” eine ähn­li­che Lösung vor­zu­be­rei­ten. Die DDR-Regie­rung pro­tes­tier­te und ver­wies auf ein Abkom­men, nach dem die BRD in ihren Bot­schaf­ten kei­ne neu­en Flücht­lin­ge auf­neh­men woll­te. Gen­scher wies zurück: Es kön­ne kei­ne Ver­trä­ge mit der DDR über die Bot­schaf­ten der BRD in sou­ve­rä­nen Staa­ten geben. Die BRD sei nicht für den Flücht­lings­strom verantwortlich.

Ob nun tat­säch­lich, wie aus ost­eu­ro­päi­schen Bot­schafts­krei­sen zu hören war, Gor­bat­schow im Fal­le des anhal­ten­den Pro­blems der DDR die Absa­ge sei­nes Besuchs zum 40. Jah­res­tag ange­droht hat, bleibt unklar. Jeden­falls bau­te die DDR-Regie­rung zuerst neu­en “Nach­züg­ler” vor und sperr­te ein­fach die Gren­ze für den visa­frei­en Ver­kehr in die CSSR. Hon­ecker habe, teil­te der bri­ti­sche Medi­en­zar Max­well aus dem Inhalt eines Gesprächs mit, der rie­si­ge Zufluß beun­ru­higt und er ent­schloß sich, die Gren­zen zur CSSR zu schlie­ßen, „damit der Fluß von Men­schen über die­sen Weg auf­hört“. Eine offi­zi­el­le Begrün­dung gab es dazu auch noch: „Bestimm­te Krei­se in der BRD berei­te­ten wei­te­re Pro­vo­ka­tio­nen zum Jah­res­tag der DDR vor, die gegen Ruhe und Ord­nung gerich­tet sei­en.” Jetzt ging es mit vol­ler Ener­gie an die Nach­züg­ler­re­ge­lung. Nicht gedacht hat­te man frei­lich dar­an, daß „Men­schen­strö­me“, die gestoppt wer­den, sich nicht etwa ver­lau­fen, son­dern in höchst staats­ge­fähr­den­der­wei­se zu Staus nei­gen, in die­sem Fall an Bahn­hö­fen und Stre­cken, die durch die Pra­ger Flücht­lings­zü­ge ver­mut­lich durch­quert wer­den mußten.

Am Dresd­ner Bahn­hof etwa, wo sich nach ver­schie­de­nen Anga­ben 1.00 bis 3.00 Per­so­nen auf Bahn­steig 5 gesam­melt hat­ten und pro­be­wei­se erst­mal einen Zug aus der Gegen­rich­tung stopp­ten, tes­te­te die rat­lo­se Behör­de das gan­ze Arse­nal von Ver­trös­tun­gen und Dro­hun­gen durch. Von „Bür­ger, wen­den Sie sich mit ihrem per­sön­li­chen Anlie­gen an die Abtei­lung Inne­res, tre­ten Sie die Heim­rei­se an!“ bis „Ver­las­sen Sie sofort den Bahn­hof, volks­po­li­zei­li­che Maß­nah­men wer­den jetzt anlau­fen!“. Nichts zog mehr und erst mit Knüp­pel­ein­satz und zahl­rei­chen Fest­nah­nen gelang es, den Bahn­hof vor­läu­fig zu räumen.

Soviel „Tech­ni­sche Schwie­rig­kei­ten“ hat­ten die Züge schon auf den Weg nach Prag. Nach­dem die Son­der­zü­ge der Deut­schen Reichs­bahn dann end­lich mit den Flücht­lin­gen Prag ver­las­sen konn­ten, ver­schwan­den sie 8 Stun­den in der DDR, gejagt von tau­sen­den von Aus­rei­se­wil­li­gen, heim­lich über ver­schlun­ge­ne Stre­cken geführt, sorg­sam ver­tei­digt von den Genos­sen der Volks­po­li­zei. In Dres­den kam es wäh­rend der Nacht erneut zu Demons­tra­tio­nen von tau­sen­den von Aus­rei­se­wil­li­gen vor und auf dem Bahn­hof. Bei zum Teil gewalt­sa­men Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit der Poli­zei wur­den Pflas­ter­stei­ne gewor­fen, ein Auto ange­zün­det und Fens­ter­schei­ben des Bahn­hofs ein­ge­wor­fen. Nach Anga­ben aus Dres­den gab es 45 ver­letz­te Demons­tran­ten und 45 ver­letz­te Poli­zis­ten. Wie es scheint, wur­de damit eine Demons­tra­ti­ons­pra­xis für Aus­rei­se­wil­li­ge ein­ge­führt. Seit­dem sam­meln sie sich täg­lich vor dem Dresd­ner Bahn­hof. Mel­dun­gen aus Dres­den zufol­ge wer­den als Reak­ti­on auf die Ereig­nis­se jetzt im Dresd­ner Staats­si­cher­heits­ge­bäu­de Aus­rei­se­ge­neh­mi­gun­gen am Band ver­teilt. Ande­re Quel­len spre­chen immer­hin von 2 Tagen Bear­bei­tungs­zeit. Und schon war­ten neue Flücht­lin­ge in Prag und War­schau, ganz zu schwei­gen von den täg­li­chen 500, die über Ungarn gehen.

Offener Brief von Gewerkschaftsfunktionären

Erfreu­lich und für etli­che erstaun­lich zeig­te sich, daß auch die Arbei­ter in den Betrie­ben begin­nen, sich ein wenig in die inne­ren Ange­le­gen­hei­ten der DDR ein­zu­mi­schen. Aus 2 Ber­li­ner Groß­be­trie­ben, dem VEB Trans­for­ma­to­ren­werk „Karl Lieb­knecht“ und dem VEB Berg­mann-Borsig z. B. gin­gen inhalt­lich fast gleich­klin­gen­de Brie­fe an den den FDGB-Vor­sit­zen­den Har­ry Tisch. Die­se Brie­fe waren in den Betrie­ben selbst Anstö­ße zu wei­ter­ge­hen­den Dis­kus­sio­nen, vor allem zur Rol­le der Gewerk­schaf­ten, in denen unter ande­rem die For­de­rung nach Tren­nung von Gewerk­schafts- und Par­tei­ap­pa­rat deut­lich wurde.


Sehr geehr­ter Kol­le­ge Har­ry Tisch! Ber­lin, den 29. 9. 1989
Stell­ver­tre­tend für den über­wie­gen­den Teil von 480 Gewerk­schafts­mit­glie­dern wen­den wir Ver­trau­ens­leu­te und AGL-Funk­tio­nä­re der AGL-TK (Tech­ni­scher Bereich) des VEB Berg­mann-Borsig, Ber­lin, uns mit die­sem offe­nen Brief an Sie, um auf eini­ge sich in letz­ter Zeit ver­schär­fen­de Pro­ble­me in unse­rer Arbeit hin­zu­wei­sen. Wir tun das in der Über­zeu­gung, daß Sie in Ihrer Eigen­schaft als Vor­sit­zen­der des FDGB-Bun­des­vor­stan­des und Mit­glied des Polit­bü­ros des ZK der SED Ein­fluß auf die Über­win­dung der im fol­gen­den dar­ge­leg­ten Situa­ti­on aus­üben können.

Mit gro­ßer Auf­merk­sam­keit ver­fol­gen wir Gewerk­schafts­mit­glie­der die der­zei­ti­ge poli­ti­sche Ent­wick­lung in unse­rem Lan­de. Vie­le unse­rer Kol­le­gen tre­ten zuneh­mend kri­tisch auf und bekun­den Befrem­den und Unzu­frie­den­heit. Ins­be­son­de­re stößt die offi­zi­el­le Inter­pre­ta­ti­on der poli­ti­schen Rea­li­tät und aktu­el­ler Gescheh­nis­se durch die Mas­sen­me­di­en der DDR mehr als bis­her auf Unver­ständ­nis. Es liegt auf der Hand, daß sich in einem der­ar­ti­gen Stim­mungs­kli­ma Wett­be­werbs­mü­dig­keit und nach­las­sen­de Leis­tungs­be­reit­schaft breit machen, wie es z.B. bei der Plan­dis­kus­si­on 1990 zuta­ge trat.

In Dis­kus­sio­nen ist eine nahe­zu ein­hel­li­ge Ableh­nung der Art und Wei­se fest­zu­stel­len, wie Pres­se, Rund­funk und Fern­se­hen tief­grei­fen­de und die Werk­tä­ti­gen bewe­gen­de aktu­el­le poli­ti­sche Pro­ble­me abhan­deln oder zum Teil ver­schwei­gen. Dabei wird in kei­ner Wei­se der Tat­sa­che Rech­nung getra­gen, daß es sich bei unse­ren Men­schen um poli­tisch urteils­fä­hi­ge, mün­di­ge sozia­lis­ti­sche Per­sön­lich­kei­ten han­delt, die einen Anspruch auf objek­ti­ve Infor­ma­ti­on haben.

Beson­ders krass kommt im Zusam­men­hang mit der lega­len und ille­ga­len Aus­rei­se vie­ler unse­rer Mit­bür­ger in die BRD zum Aus­druck, wie weit Rea­li­tät und Pro­pa­gan­da von­ein­an­der ent­fernt sind. Inzwi­schen sind auch aus unse­ren Rei­hen schmerz­li­che Ver­lus­te zu bekla­gen. Ver­las­sen haben uns Men­schen, die in unse­ren Schu­len eine sozia­lis­ti­sche Erzie­hung erhiel­ten und die in unse­rem Land eine gesi­cher­te Exis­tenz­grund­la­ge hatten.

Es trifft nicht im ent­fern­tes­ten die Über­zeu­gung und Emp­fin­dun­gen der Mehr­zahl unse­rer Kol­le­gen, wenn die Medi­en nach pein­li­chem Schwei­gen nun den Ver­such unter­neh­men, die Abkehr so vie­ler unse­rer Men­schen aus­schließ­lich als Mach­werk des Klas­sen­geg­ners zu ent­lar­ven, bei dem die­se DDR-Bür­ger nur Opfer oder Sta­tis­ten sein sollen.

Wir sind auch nicht der Mei­nung, daß es nütz­lich ist, die Min­der­heit pro­zen­tu­al zu errech­nen und im übri­gen davon aus­zu­ge­hen, daß die Hier­ge­blie­be­nen die Zufrie­de­nen sei­en. Bei Anhal­ten die­ser Situa­ti­on wer­den über kurz oder lang schwer­wie­gen­de Fol­gen für vie­le Berei­che unse­rer Wirt­schaft und das gesell­schaft­li­che Leben ein­tre­ten. Wir hal­ten es des­halb für drin­gend erfor­der­lich, daß die wah­ren Grün­de, die zum Weg­gang unse­rer Bür­ger füh­ren, sorg­fäl­tig und ehr­lich unter­sucht und dis­ku­tiert werden.

Einer der Grün­de ist mit Sicher­heit die unzu­rei­chen­de öko­no­mi­sche Stär­ke der DDR und die gesam­te dar­aus resul­tie­ren­de Palet­te an Restrik­tio­nen für unse­re Men­schen, ein ande­rer, das gestör­te Ver­trau­ens­ver­hält­nis der Bevöl­ke­rung zum Staat und sei­ner füh­ren­den Partei.

Kol­le­ge Tisch, wir wen­den uns an Sie, weil wir um die Ent­wick­lung unse­res Lan­des besorgt sind und nach Wegen suchen, wei­te­ren Scha­den abzu­wen­den. Wir erwar­ten von Ihnen, daß sie Ihre gan­ze Kraft und die Ihnen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mög­lich­kei­ten ein­set­zen, um den öffent­li­chen Dia­log über drin­gend not­wen­di­ge Ver­än­de­run­gen in allen gesell­schaft­li­chen Berei­chen ein­zu­lei­ten und durch­zu­set­zen. Dabei kommt nach unse­rer Über­zeu­gung dem Ein­fluß der Gewerk­schaft ent­schei­den­de Bedeu­tung zu. Wir müs­sen den Men­schen neue Per­spek­ti­ven bie­ten, die es ermög­li­chen, das bis­her Erreich­te auf der Basis wirk­li­cher indi­vi­du­el­ler Ein­fluß­nah­me wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Der Sozia­lis­mus muß zu einer neu­en Attrak­ti­vi­tät ent­fal­tet wer­den, die alle moti­viert, sich mit ihm zu identifizieren.

Wir und unse­re Mit­glie­der wären Ihnen für eine bal­di­ge Ant­wort dank­bar.
20 Unterschriften

Willenserklärung von Kulturbundgruppen

Wir, die Ver­tre­ter von 25 Arbeits­ge­mein­schaf­ten des Kul­tur­bun­des aus gro­ßen Städ­ten unse­res Lan­des, die auf den Gebie­ten des Umwelt­schut­zes, der Stadt­öko­lo­gie und der Stadt­ge­stal­tung tätig sind, haben wäh­rend unse­res Tref­fens in Pots­dam am 7. und 8. Okto­ber 1989 einen Erfah­rungs­aus­tausch durch­ge­führt. Im Ergeb­nis der Dis­kus­si­on stell­ten wir fest, daß uns alle die glei­chen erns­ten Pro­ble­me beschäf­ti­gen und die gegen­wär­ti­gen gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen einen frucht­ba­ren Dia­log und effek­ti­ve Arbeit nicht zulas­sen. Des­halb wen­den wir uns mit die­ser Wil­lens­er­klä­rung an Sie, mit der drin­gen­den Bit­te um Veröffentlichung:

Wir sind am Tage des 40. Geburts­ta­ges unse­rer Repu­blik betrof­fen, trau­rig und auch wütend über den Zustand unse­res Lan­des. Das Gehen vie­ler ist für uns der Aus­druck der Ent­täu­schung und der Abkehr, die schon seit Jah­ren Tei­le der Bevöl­ke­rung erfasst haben. Wir sind von Unehr­lich­keit umge­ben, wo Auf­rich­tig­keit lebens­wich­tig wäre. Wir müs­sen fest­stel­len, daß Enga­ge­ment und Sor­gen um unser Dasein und das unse­rer Kin­der baga­tel­li­siert oder gar kri­mi­na­li­siert wer­den. Weil die vor­han­de­nen gesell­schafts­po­li­ti­schen Struk­tu­ren unglaub­haft sind und nicht den Erfor­der­nis­sen unse­rer Zeit ent­spre­chen, bil­den sich neue Platt­for­men mit gro­ßem Zuspruch.

Wir wol­len Wah­len, die durch­schau­bar sind, Alter­na­ti­ven bie­ten und von der Öffent­lich­keit lücken­los kon­trol­lier­bar sind.

Wir wol­len als selbst­be­wuß­te Bür­ger unse­res sozia­lis­ti­schen Staa­tes end­lich glaub­haft in den Ent­schei­dungs­me­cha­nis­mus im Lan­de ein­be­zo­gen wer­den, statt ein Leben in pri­va­ter Zurück­ge­zo­gen­heit zu führen.

Wir wol­len ehr­li­che Ana­ly­sen und Aus­sa­gen über den Zustand unse­rer Wirt­schaft und unse­rer Umwelt­be­din­gun­gen. Wir wol­len Medi­en, in denen wir uns, unser Leben und unse­re Pro­ble­me wiederfinden.

Wir wol­len im Beruf und in der Frei­zeit aktiv für eine sozia­lis­ti­sche Gesell­schaft arbei­ten, die sich durch Ehr­lich­keit, gegen­sei­ti­ge Ach­tung und Offen­heit aus­zeich­net, die die öko­lo­gi­sche Gefahr erkennt und pro­duk­tiv ver­ar­bei­tet, die durch eine men­schen­wür­di­ge Per­spek­ti­ve Leis­tungs­be­reit­schaft und Lebens­freu­de verbreitet.

Wir füh­len uns als Aus­hän­ge­schild mißbraucht.

Wir wol­len, daß der Kul­tur­bund der DDR, sich auf sei­ne Tra­di­tio­nen besin­nend, eine wich­ti­ge Platt­form zur demo­kra­ti­schen Erneue­rung unse­res Lan­des wird.

Wir wol­len nicht, daß die von uns allen in 40 Jah­ren geschaf­fe­nen Wer­te in Gewalt und Cha­os untergehen.

Pots­dam, den 8. 10. 1989
58 Unterschriften

Weitere Reformerklärungen

Der Dres­de­ner Phy­si­ker Man­fred von Arden­ne erklär­te, in der DDR müs­se die Wahr­heit auf allen Ebe­nen durch­ge­setzt wer­den. Nur so könn­ten die Men­schen auf brei­ter Basis wie­der akti­viert wer­den. Nach den Schrift­stel­lern und den Musi­kern haben in den letz­ten Tagen auch Schau­spie­ler zahl­rei­cher Thea­ter­en­sem­bles in Ber­lin und ande­ren Orten einen öffent­li­chen Dia­log über die Pro­ble­me des Lan­des gefor­dert. Am Abend des 5. Okto­ber häng­te bei­spiels­wei­se das Ensem­ble des Gor­ki-Thea­ters eine sol­che Erklä­rung offen im Foy­er aus. Dar­in schlie­ßen sich die Schau­spie­ler und übri­gen Mit­ar­bei­ter einer vom Ost­ber­li­ner Schrift­stel­ler­ver­band ver­faß­ten Reso­lu­ti­on von vor 3 Wochen an. Am 7. Okto­ber ver­öf­fent­lich­ten die Schau­spie­ler der Ber­li­ner Volks­büh­ne und des Deut­schen Thea­ters ihre Reso­lu­ti­on. Eine der­ar­ti­ge Reso­lu­ti­on gab es auch im Staats­schau­spiel Dres­den. Sie wur­de am 6. Okto­ber nach der Vor­stel­lung ver­le­sen. An 7. Okto­ber wur­de wegen eines Ver­bots statt der Ver­le­sung eine Schwei­ge­zeit eingelegt.

Drohgebärden

Der Super­in­ten­dent von Ber­lin-Pan­kow, Wer­ner Krät­schell, erhielt von staat­li­cher Sei­te die War­nung, die Oppo­si­ti­ons­be­we­gung in der DDR müs­se ein­ge­stellt wer­den. In einem Inter­view mit der BBC erklär­te Krät­schell, ein füh­ren­der Par­tei­funk­tio­när habe ihm gegen­über zum Aus­druck gebracht, falls irgend­wel­che Grup­pen die Absicht hät­ten, dem Sozia­lis­mus in der DDR Scha­den zuzu­fü­gen, soll­ten sie sich dar­an erin­nern, was in Chi­na pas­siert sei. Nach. Auf­fas­sung von Krät­schell han­del­te es sich um eine bewuß­te War­nung, die ver­brei­tet wer­den sollte.

In der SED-eige­nen „Leip­zi­ger Volks­zei­tung“ vom 6. Okto­ber wur­de in einem Auf­ruf von der Kampf­grup­pen­hun­dert­schaft „Hans Gei­fert“ erklärt: „Wir sind bereit und wil­lens, das von uns mit unse­rer Hän­de Arbeit Geschaf­fe­ne wirk­sam zu schüt­zen, um kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re Aktio­nen end­gül­tig und wirk­sam zu unter­bin­den, wenn es sein muß, mit der Waf­fe in der Hand.“

Massendemonstrationen in der DDR

Dresden


Am 3. Okto­ber ver­sam­mel­ten sich am Dres­de­ner Haupt­bahn­hof noch mehr Men­schen als am Tag zuvor. Nach Schät­zun­gen sol­len es fünf bis zehn­tau­send gewe­sen sein. Gegen 21.00 Uhr wur­den sie von Ein­hei­ten der Trans­port­po­li­zei und der Kampf­grup­pen zum Ver­las­sen des Bahn­ho­fes gezwun­gen. Das gesam­te Bahn­hofs­ge­län­de wur­de abge­sperrt. Nach mehr­ma­li­ger Auf­for­de­rung sei­tens der Ein­satz­kräf­te, die Ver­samm­lung vor den Bahn­hof auf­zu­lö­sen, gin­gen die­se bru­tal gegen die Demons­tran­ten vor. Aus einer Grup­pe von 200 bis 300 Per­so­nen kamen Stein­wür­fe in Rich­tung des Bahn­ho­fes. Zwei LOs wur­den umge­kippt, ein Wagen ange­zün­det. Aus den Rei­hen der Demons­tran­ten, die sich haupt­säch­lich aus Aus­rei­se­wil­li­gen zusam­men­setz­ten, erklan­gen Rufe nach „Frei­heit“ und der Zulas­sung des „Neu­en Forum“. Die Poli­zei war an die­sem Abend wie auch an den fol­gen­den mit Hel­men, Schil­den und Gum­mi­knüp­peln aus­ge­rüs­tet. Was­ser­wer­fer wur­den auf­ge­fah­ren. In der Nacht vom Don­ners­tag zum Frei­tag bil­de­ten sich Men­schen­an­samm­lun­gen in der Pra­ger Stra­ße und vor den Haupt­bahn­hof. Bei­de Grup­pen wur­den in der Pra­ger Stra­ße in einem Kes­sel zusam­men­ge­trie­ben. Was­ser­wer­fer fuh­ren in die Men­ge und trie­ben sie aus­ein­an­der. Danach erfolg­ten zahl­rei­che Fest­nah­men. Das Gelän­de des Dres­de­ner Haupt­bahn­ho­fes war wäh­rend der gan­zen Zeit durch die dort sta­tio­nier­ten Kampf­grup­pen abgeriegelt.

Am Frei­tag Abend soll sich ein Demons­tra­ti­ons­zug von der Kreuz­kir­che in Rich­tung Pra­ger Stra­ße bewegt haben. Nähe­re Infor­ma­tio­nen sind bis­her nicht bekamt. An 7. Okto­ber ab 20.00 Uhr for­mier­te sich ein Demons­tra­ti­ons­zug, der sich von Haupt­bahn­hof in Rich­tung Neu­stadt und wie­der zurück beweg­te. Die Zahl der Teil­neh­mer soll 20 bis 30 000 betra­gen haben. Auch an die­sen Abend kam es zu über­grif­fen der Poli­zei, die teil­wei­se mit Gas­mas­ken aus­ge­rüs­tet war und Knall­kör­per in die Men­ge warf, sowie zu zahl­rei­chen Festnahmen. 

Laut einer Infor­ma­ti­on aus Dres­den sol­len ein Pan­zer- und ein Flie­ger­ba­tal­li­on in höchs­te Alarm­stu­fe ver­setzt wor­den sein.

Am 8. Okto­ber for­mier­ten sich meh­re­re Demons­tra­ti­ons­zü­ge aus­ge­hend vom Thea­ter­platz. Ver­schie­de­ne Züge wur­den gestoppt, dabei gab es 70 bis 100 Fest­nah­men. Wei­te­re Grup­pen ver­sam­mel­ten sich am Bus­bahn­hof. Gegen 20.00Uhr durch­bra­chen meh­re­re Men­schen die Poli­zei­ket­te in der Pra­ger Stra­ße und began­nen einen Sitz­streik. Die Demons­tran­ten for­mu­lier­ten For­de­run­gen, die spä­ter dem Ober­bür­ger­meis­ter in Bei­sein von Bischof Hem­pel und Super­in­ten­dent Zie­mer über­ge­ben wur­den. Der Sitz­streitk wur­de unter der Bedin­gung abge­bro­chen, daß der Rat der Stadt Gesprä­che mit den Demons­tran­ten führt. Eine Dele­ga­ti­on erhielt die Aus­kunft, daß an 9. 10. eine Infor­ma­ti­on dazu von staat­li­chen Stel­len kom­me. Die Ergeb­nis­se der Gesprä­che wer­den in 4 Dres­de­ner Kir­chen am Abend in aus­ge­spro­chen poli­ti­schen Ver­an­stal­tun­gen bekanntgegeben.

Leipzig

Am Mon­tag, dem 2. Okto­ber, nach dem tra­di­tio­nel­len Für­bitt­got­tes­dienst in der Niko­lai­kir­che beweg­te sich ein Demons­tra­ti­ons­zug in Rich­tung Bahn­hof. Bin­nen kür­zes­ter Zeit war er auf 10 bis 20.000 Men­schen ange­wach­sen. Die Innen­stadt von Leip­zig wur­de voll­stän­dig abge­rie­gelt, trotz­dem soll sich die Zahl der Demons­tra­ti­ons­teil­neh­mer auf 25 000 erhöht haben. Die Sicher­heits­kräf­te gin­gen mit Bru­ta­li­tät gegen die Ein­ge­schlos­se­nen vor, es gab zahl­rei­che Ver­letz­te und Festnahmen.

Am 7. Okto­ber gegen 14.00 Uhr dis­ku­tier­ten etwa 100 Per­so­nen vor der geschlos­se­nen Niko­lai­kir­che. Der Platz um die Kir­che wur­de abge­sperrt und geräumt, dabei gab es eine unbe­stimm­te Zahl von Fest­nah­men. Eine Stun­de spä­ter ver­sam­mel­te sich in der Grim­ma­schen Stra­ße eine gro­ße Men­schen­men­ge. Sie wur­de von Sicher­heits­kräf­ten ein­ge­schlos­sen und eine Panik brach aus. Spä­ter beweg­te sich die Men­ge in Rich­tung Karl-Marx-Platz und obwohl die Innen­stadt voll­stän­dig abge­rie­gelt war, wuchs die Men­ge auf ca. 10 000 Men­schen an. Durch die teil­wei­se mit Maschi­nen­pis­to­len aus­ge­rüs­te­ten Poli­zei­kräf­te gab es regel­rech­te Hetz­jag­den auf Demons­tran­ten. Trotz­dem bil­de­ten sich immer wie­der Dis­kus­si­ons­grup­pen und wäh­rend der gan­zen Zeit wur­de nach der Zulas­sung des „Neu­en Forum“ und „Schämt auch was“ geru­fen. Wie­der­um gab es vie­le Festnahmen.

Arnstadt

Am 30. Sep­tem­ber tra­fen sich gegen 14.00 Uhr etwa 800 Men­schen auf dem Markt­platz. Ein Red­ner sprach über das „Neue Forum“. Nach leb­haf­ten Dis­kus­sio­nen lös­te sich die Men­ge nach etwa einer Stun­de von allein auf.

Am 7. Okto­ber beweg­te sich ein Demons­tra­ti­ons­zug von etwa 600 Per­so­nen von Markt­platz aus durch die Stadt. Von der anrü­cken­den Poli­zei wur­de ein Kes­sel gebil­det, die Demons­tran­ten wur­den zur Auf­lö­sung auf­ge­for­dert, die meis­ten folg­ten die­ser For­de­rung, auf die übri­gen wur­de eine Hetz­jagd veranstaltet.

Potsdam

In Pots­dam ver­sam­mel­ten sich am 7. Okto­ber 2 bis 3 000 Ein­woh­ner in der Nähe des Stadt­to­res und zog danach sin­gend in Rich­tung Platz der Natio­nen. Der Zug lös­te sich zum gro­ßen Teil vor dem Cafe Heyder von selbst auf; gegen die Übrig­ge­blie­be­nen ging die Poli­zei über­ra­schend vor. Eini­ge ver­such­ten sich den Fest­nah­men durch Fest­hal­ten an Absper­run­gen zu ent­zie­hen, die Poli­zei schlug bru­tal auf die Men­schen ein, dabei wur­den selbst eine schwan­ge­re Frau und ein 12-jäh­ri­ges Kind nicht verschont.

Karl-Marx-Stadt

Nach der Absa­ge einer Ver­an­stal­tung des „Neu­en Forum“ am Luxor-Platz ver­sam­mel­ten sich spon­tan 500 bis 1.000 Men­schen: Die­se Ver­samm­lung wur­de unter Ein­satz von Was­ser­wer­fern auf­ge­löst. Es gab Ver­letz­te und Festnahmen.

Magdeburg

Nach dem tra­di­tio­nel­len Sha­la-Gebet am 5. Okto­ber zog eine Grup­pe von vor­wie­gend Aus­rei­se­wil­li­gen in Rich­tung Rat­haus, dabei ver­grö­ßer­te sie sich auf etwa 300 bis 500. Rufe nach Demo­kra­tie und Frei­heit in der DDR ertön­ten. Die Poli­zei lös­te den Zug auf und nahm etwa 250 Per­so­nen fest.

Am 7. Okto­ber ver­sam­mel­ten sich ca. 500 Men­schen in der Innen­stadt. Sie wur­den von Bereit­schafts­po­li­zei und Kampf­grup­pen der Arbei­ter­klas­se aus­ein­an­der­ge­trie­ben. Dabei gab es 50 bis 90 Festnahmen.

Berlin

Aus Anlaß der tra­di­tio­nell am 7. jeden Monats statt­fin­den­den Aktio­nen gegen den Wahl­be­trug am 7. Mai 1989 fand am 7. Okto­ber eine klei­ne Grup­pe Men­schen auf dem Alex­an­der­platz ein. Sie for­der­ten in Sprech­chö­ren „Frei­heit“ und die Zulas­sung des „Neu­en Forum“. Dadurch erhiel­ten sie Zulauf von immer mehr Umste­hen­den. Es for­mier­te sich ein Demons­tra­ti­ons­zug, der sich in Rich­tung Staats­rats­ge­bäu­des beweg­te. Auf der Höhe des Palas­tes der Repu­blik, als der Zug bereits auf meh­re­re hun­dert Per­so­nen ange­wach­sen war, wur­den etwa 50 bis 60 Demons­tran­ten von der Poli­zei ein­ge­kes­selt. Nach Auf­lö­sung des Kes­sels zogen die Demons­tran­ten am ADN-Gebäu­de vor­bei in Rich­tung Prenz­lau­er Berg. Auf dem Weg zur Schön­hau­ser Allee rie­fen Sprech­chö­re „Bür­ger laßt das Glot­zen sein, kommt her­un­ter, reiht euch ein“, „kei­ne Gewalt” ange­sichts eines rie­si­gen Poli­zei­auf­ge­bots. Der Demons­tra­ti­ons­zug bestand inzwi­schen aus 5 000 bis 10 000 Men­schen. In Höhe der Geth­se­ma­ne-Kir­che, in der seit Mon­tag, dem 2. Okto­ber, eine Mahn­wa­che für poli­tisch Inhaf­tier­te in der DDR statt­fin­det, wur­den bei­de Grup­pen auf der Schön­hau­ser Allee bzw. der Pap­pel­al­lee gestoppt. Sie wur­den zum Helm­holtz­platz abge­drängt und wie­der ein­ge­kes­selt. Hier gab es wie­der unter bru­tals­tem Ein­satz von Gum­mi­knüp­peln eine gro­ße Zahl von Fest­nah­men. Klei­ne­re Grup­pen wur­den ver­sprengt, sie fan­den sich jedoch meist spä­ter in der Nähe des S‑Bahnhofes Schön­hau­ser Allee wie­der, auch weil vie­le in der Geth­se­ma­ne-Kir­che Schutz suchen woll­ten. Die­se war jedoch voll­kom­men abge­rie­gelt. Unter Ein­satz von Räum­git­ter­fahr­zeu­gen, Was­ser­wer­fern, Hun­den und Gum­mi­knüp­peln wur­den die Demons­tran­ten aus­ein­an­der­ge­trie­ben und hun­der­te fest­ge­nom­men. An den Ein­sät­zen waren Ord­nungs­grup­pen der FDJ (16 bis 20jährige!), Poli­zei, Bereit­schafts­po­li­zei und Armee betei­ligt, die oft­mals mit größ­ter Gewalt auch gegen Frau­en und Kin­der vor­gin­gen. Etwa gegen 23.30 Uhr führ­ten ca. 350 Per­so­nen eine Sitz­blo­cka­de vor dem S‑Bahnhof Schön­hau­ser Allee durch. Sie wur­den ein­ge­kes­selt, in einen Hin­ter­hof getrie­ben und von dort aus auf LOs ver­la­den und abtrans­por­tiert. Ins­ge­samt soll es an die­sem Abend unge­fähr 700 Fest­nah­men gege­ben haben.

Am 8. Okto­ber nach der Andacht in der Geth­se­ma­ne-Kir­che wur­de die­se voll­stän­dig von Bereit­schafts­po­li­zei, Kampf­grup­pen der Arbei­ter­klas­se, Sol­da­ten des Wach­re­gi­ments, Poli­zei und zivi­len Staats­si­cher­heits­mit­ar­bei­tern abge­rie­gelt. Auf der Schön­hau­ser Allee ver­sam­mel­ten sich spon­tan aus Soli­da­ri­tät meh­re­re hun­dert Men­schen. Nach Ver­hand­lun­gen mit den Sicher­heits­kräf­ten wur­de die Mög­lich­keit gewährt den Kes­sel um die Kir­che in Rich­tung Schön­hau­ser Allee zu verlassen.

Auf der Schön­hau­ser Allee stan­den Räum­git­ter­fahr­zeu­ge, Was­ser­wer­fer, Son­der­kor­man­dos mit Helm, Schild, Knüp­peln, Stahl­ru­ten sowie Zivil­kräf­te. Es bil­de­te sich ein Demons­tra­ti­ons­zug, setz­te sich in Rich­tung Zen­trum in Bewe­gung mit Rufen wie: „Kei­ne Gewalt“, „Gor­bi“, „Bür­ger auf die Stra­ße“ und „Väter, schießt nicht auf eure Söh­ne!“ Der Zug wur­de in Rich­tung S‑Bahnhof Schön­hau­ser Alle unter bru­tals­ten Poli­zei­ein­satz zurück­ge­trie­ben. Es gab vie­le Fest­nah­men sowie zahl­rei­che Verletzte.

Auch setz­ten Sicher­heits­kräf­te mehr­mals zum Sturm auf die Geth­se­ma­ne-Kir­che an, jedoch wur­de kein Kir­chen­ge­län­de betreten.

Kommentar

Chi­na ist nicht fern
„In den Kämp­fen unse­rer Zeit ste­hen DDR und VR Chi­na Sei­te an Sei­te“ (ND, 2. 10. 89)

Es ist nicht zu glau­ben: in einem sich sozia­lis­tisch nen­nen­den Staat gehen BePo und Kampf­trup­pen geschlos­sen gegen Bür­ger vor, die immer wie­der in Sprech­chö­ren wie­der­ho­len: „Kei­ne Gewalt, Kei­ne Gewalt“, „Frei­heit, Frei­heit“. Was ist das für ein Macht­sys­tem, das für sich den Anspruch erhebt, im Sin­ne und zum Woh­le aller Bür­ger zu regie­ren? Kann man das Gesche­he­ne über­haupt noch in Wor­te fas­sen? Haß macht sich breit, wenn Men­schen gejagt wer­den wie Hasen. Und eben­so wehr­los wie die­se gegen die Geweh­re der Jäger waren wir! Die Bei­ne schlot­tern mir vor Angst vor die­sem Auf­ge­bot der Gewalt. Hilft es, sich zu ver­bar­ri­ka­die­ren? War­um? Wozu? Wen beschüt­zen die­se „Freun­de und Hel­fer“? Doch nur ihre Men­schen wer­den miß­braucht, um die Macht die­ses über­al­ter­ten, reform­be­dürf­ti­gen Appa­ra­tes auf­recht­zu­er­hal­ten. Jun­ge Män­ner, die das Wohl­erge­hen eines Lan­des meh­ren könn­ten, wer­den oder lie­ßen sich in Uni­for­men pres­sen und muß­ten auf Befehl gegen fried­li­che Men­schen vor­ge­hen. Auf den Gesich­tern die­ser jun­gen Uni­for­mier­ten spie­gel­te sich Nai­vi­tät und Ver­wirrt­heit wider. Einer, der die Uni­for­mier­ten gefragt hat­te, sag­te: „Sie schä­men sich“. Und dann Was­ser­wer­fer, in Rei­hen mar­schie­ren­de Ein­hei­ten – kann man Asso­zia­tio­nen zu 1933 noch unter­drü­cken? Was geschieht mit den Leu­ten, die auf L0s unter Bewa­chung in Käfi­gen (man stel­le sich das vor: in Draht­ver­schlä­ge gepfercht!) weg­ge­fah­ren wur­den? Es ist unfaß­bar, was auf unse­ren Stra­ßen, die von übels­ter Geschich­te geprägt sind, pas­siert. Die Vor­stel­lungs­kraft reicht nicht aus, wenn man es nicht selbst erlebt hat.
Ber­lin, 8. 10. 1989, 1.45 MEZ

Mahnwache in der Berliner Gethsemanekirche

An 2. Okto­ber um 16.00 Uhr begann in der Ber­li­ner Geth­se­ma­ne-Kir­che eine Mahn­wa­che für die Inhaf­tier­ten der letz­ten Wochen. Die Betei­li­gung an den täg­li­chen Andach­ten wuchs im Lau­fe der Zeit bis auf 2.500 Leu­te. Der Staat ver­such­te zunächst, über den Gemein­de­kir­chen­rat Druck aus­zu­üben, Pla­ka­te am Kirch­turm wur­den kri­ti­siert und muß­ten abge­nom­men wer­den. Die Mahn­wa­che woll­te infor­mie­ren und dadurch Soli­da­ri­sie­rung aus der Bevöl­ke­rung errei­chen. In den Haupt­ver­kehrs­zei­ten wur­den vor der Kir­che Hand­zet­tel ver­teilt. Von fast allen Pas­san­ten wur­den sie mit gro­ßem Inter­es­se auf­ge­nom­men und die Reak­tio­nen reich­ten von ver­ba­len Soli­da­ri­täts­er­klä­run­gen bis zu Geld- und Essenspen­den. Es gab nur sehr wenig Ableh­nung und Unver­ständ­nis. Grund­satz der Mahn­wa­che ist Gewalt­lo­sig­keit. Sie will weder die Sicher­heits­kräf­te pro­vo­zie­ren, noch sich pro­vo­zie­ren lassen.

Inner­halb der Mahn­wa­che läuft eine Fas­ten­ak­ti­on, der sich inzwi­schen ca. 20 Leu­te ange­schlos­sen haben. Die Fas­ten­den sind reli­gi­ös moti­viert, möch­ten sich von „Angst, Resi­gna­ti­on, Haß, Gewalt, Unge­duld und Sen­sa­ti­ons­lust rei­ni­gen“ und sehen im Fas­ten eine Pro­test­mög­lich­keit gegen „die Art und Wei­se, mit der unse­re Poli­ti­ker unge­rührt den Schein auf­recht­erhal­ten, die den 40. Jah­res­tag als ihren Sieg fei­ern“. Außer­dem geht es um Soli­da­ri­tät mit allen Men­schen, die sich für sozia­le Gerech­tig­keit ein­set­zen, die dafür lei­den müs­sen und ver­folgt werden.

In Zusam­men­hang mit den Demons­tra­tio­nen am 7. Okto­ber kam es zu einem Über­griff einer Spe­zi­al­ein­heit auf die Geth­se­ma­n­e­kir­che, dabei wur­den zwei Mit­glie­der des Gemein­de­kir­chen­ra­tes „ent­führt“.

Seit dem 7. Okto­ber sind die Andach­ten von einem unvor­stell­ba­ren Auf­ge­bot von Sicher­heits­or­ga­nen beglei­tet. Es kam wie­der­holt zu Knüp­pel­ein­sät­zen gegen Besu­cher der Andach­ten in der Geth­se­ma­n­e­kir­che. Die Geth­se­ma­n­e­kir­che war zeit­wei­se regel­recht ein­ge­kes­selt und nicht zu errei­chen.
Das Kon­takt­te­le­fon war oft­mals län­ge­re Zeit nicht zu erreichen.

“Demokratischer Aufbruch”

Am 1. Okto­ber ver­such­te sich eine neue Platt­form, „Demo­kra­ti­scher Auf­bruch“, unter dem Ber­li­ner Pfar­rer Eppel­mann und dem Erfur­ter Pfar­rer Edel­bert Rich­ter zu grün­den. Die Platt­form steht, wie Eppel­mann mit­teil­te, für „sozia­lis­tisch, demo­kra­tisch, christ­lich, öko­lo­gisch“ und sieht sich nicht als Anlauf­stel­le für Konservative.

Auf­grund mas­si­ven Poli­zei­ein­sat­zes konn­te die Grün­dungs­ver­an­stal­tung des „Demo­kra­ti­schen Auf­bruch“ nicht statt­fin­den. Die Platt­form soll, wie Eppel­mann mit­teil­te, dem­nächst eben­so wie das „Neue Forum“ ange­mel­det wer­den und wird sich an den nächs­ten Wah­len mit einer eige­nen Lis­te betei­li­gen. Am 3. Okto­ber traf das CDU-Mit­glied und Bun­des­ar­beits­mi­nis­ter Blüm, in der BRD bekannt als Vor­rei­ter des Abbaus sozia­ler Rech­te, mit vier Mit­glie­dern des „Demo­kra­ti­schen Auf­bruch“ zusammen.

Linke Gruppen und Sympatisanten trafen sich

Eine Dis­kus­si­on von lin­ken Grup­pen und Sym­pa­tis­an­ten war für den 2. Okto­ber in der Ber­li­ner Kir­che von Unten ange­setzt. Lei­der war ein gro­ßer Teil der etwa 120 Teil­neh­mer in der Erwar­tung gekom­men, es hand­le sich um eine Ver­samm­lung des „Neu­en Forum“. So wur­de von vie­len immer wie­der gefragt, ob denn nicht der Sozia­lis­mus bank­rott sei. Auch Anhän­ger einer Wie­der­ver­ei­ni­gung ver­such­ten sich Gehör zu schaf­fen. Es gelang nicht, zwi­schen den aus­ein­an­der­stre­ben­den Par­tei­en einen kon­struk­ti­ven Dis­kus­si­ons­strang zu ent­wi­ckeln.
Erstaun­lich genug war aber, daß sich die Ver­samm­lung auf fünf Essen­ti­als der Böh­le­ner Platt­form eini­gen konnte:

  • gesell­schaft­li­ches Eigen­tum an Pro­duk­ti­ons­mit­teln als die vor­herr­schen­de und per­spek­ti­vi­sche
Grund­la­ge sozia­lis­ti­scher Vergesellschaftung
  • Aus­bau der Selbst­be­stim­mung der Pro­du­zen­ten in Ver­wirk­li­chung rea­ler Ver­ge­sell­schaf­tung der gesam­ten öko­no­mi­schen Tätigkeit
  • kon­se­quen­te
 Ver­wirk­li­chung des Prin­zips der sozia­len Sicher­heit und Gerech­tig­keit für alle Gesellschaftsmitglieder
  • poli­ti­sche Demo­kra­tie, Rechts­staat­lich­keit, kon­se­quen­te Ver­wirk­li­chung der unge­teil­ten Men­schen­rech­te und freie Ent­fal­tung der Indi­vi­dua­li­tät jedes Gesellschaftsmitglieds
  • öko­lo­gi­scher Umbau der Industriegesellschaft.

Arbeits­grup­pen wur­den zu Schwer­punkt­the­men wie Wirt­schaft, Poli­tik, Kul­tur gebil­det. Bei einem Arbeits­wo­chen­en­de, das noch geeig­net ange­kün­digt wird, soll in Arbeits­grup­pen und Ple­num das Pro­jekt einer ver­ei­nig­ten Lin­ken eine Fort­set­zung finden.

Kommentar: schlechte Aussichten?

Der ers­te Anlauf zur öffent­li­chen Dis­kus­si­on einer ver­ei­nig­ten Lin­ken ist, so muß man wohl sagen, geschei­tert. Das lag sicher an einen gro­ßen Teil des Publi­kums, das ganz ande­re Erwar­tun­gen hat­te, eine Debat­te über nicht­so­zia­lis­ti­sche Alter­na­ti­ven zum exis­tie­ren­den Sys­tem woll­te, und den Titel der Ver­an­stal­tung offen­bar nur als augen­zwin­kern­des Ablenk­ma­nö­ver ver­stand. Es war tat­säch­lich ein neu­es Publi­kum, nicht die anony­men Lin­ken der „Böh­le­ner Platt­form“, auch nicht „die Mas­sen“, auf die man gehofft hat­te, son­dern ganz nor­ma­les DDR-Volk, das sich sonst in „Scene“-Veranstaltungen nicht bli­cken läßt. Auch die Umwelt­bi­blio­thek erleb­te über­rascht die­sen neu­en Andrang aus dem Volk. Bin­nen vier Tagen waren die 2 000 Exem­pla­re „Unwelt­blät­ter“ weg. Zum Zusam­men­le­gen der Sei­ten stand eine Schlan­ge an, als ob es Bana­nen gäbe und ohne Rück­sicht auf die Nach­fol­ger ris­sen die Leu­te gan­ze Sta­pel von für sie beson­ders inter­es­san­ten Sei­ten an sich. Neben­an muß­te trotz Arbeits­über­las­tung nach­ge­druckt wer­den. „Ego­zen­trisch“, „nicht grup­pen­fä­hig“, „poli­tisch dif­fus“, „Klein­bür­ger“ – so waren Urtei­le von Mit­ar­bei­tern. Das war unser bis­he­ri­ges Bild von Aus­rei­se­wil­li­gen – so sind aber ganz nor­ma­le DDR-Bür­ger und wir wer­den in Zukunft mit genau die­sen Leu­ten rech­nen und mit innen spre­chen müs­sen. Das bringt uns zu den Lin­ken zurück.

Ver­ständ­lich ist der Ärger, eine Ver­an­stal­tung, die ein guter Anlauf wer­den soll­te, in sol­cher Wei­se von brei­tes­ten Volks­mas­sen und auch wohl zu viel ver­langt, den Abend in eine Agit­prop-Ver­an­stal­tung umzu­funk­tio­nie­ren und Lies­chen Mül­ler und (einem eben­falls erschie­ne­nen) Gesell­schafts­wis­sen­schaft­ler zu erklä­ren, daß das, was wir „Lin­ke“ nen­nen, eine Mensch­heits­be­we­gung und ‑sehn­sucht ist, die seit den ers­ten Skla­ven­auf­stän­den datiert und nicht mit den per­ver­sen Inter­pre­ta­tio­nen eines Sta­lin und sei­ner Nach­fol­ger ver­wech­selt wer­den darf. Aber daß nicht nur hin­ter den Kulis­sen sich schon wie­der die Anhän­ger der ein­zel­nen Sys­tem­chen in die Bre­sche wer­fen, um der noch gar nicht geschaf­fe­nen Bewe­gung ihr beson­ders wiss­an­schaft­li­ches oder beson­ders revo­lu­tio­nä­res Modell­chen auf­zu­drän­gen, – das war nicht nötig, das war pein­lich, auch das hin­ter­ließ sicher beim Publi­kum einen nega­ti­ven Eindruck.

Über­wäl­ti­gend aber war doch der Anblick eines mehr­heit­lich libe­ra­len bis schwei­gen­den Publi­kums, das sich im Lau­fe des Dis­puts um zwei Drit­tel ver­min­der­te, gegen­über einer Hand­voll umso laut­stär­ker agie­ren­der Lin­ker, jeder auch noch von einer ande­ren Frak­ti­on. Wenn das nicht so blei­ben soll, wenn eine ver­ei­nig­te Lin­ke nicht als Sek­te mit Spalt­pilz enden soll, wer­den sich die Damen und Her­ren der „Böh­le­ner Platt­form“ schon aus ihren kon­spi­ra­ti­ven Schüt­zen­grä­ben ins Licht der Öffent­lich­keit wagen müssen.

Nach­satz: Schon vor der Ver­an­stal­tung begann die Mahn­wa­che in der Ber­li­ner Geth­se­ma­ne-Kir­che, ein Grund, war­um vie­le beson­ders jun­ge Leu­te nicht zur Kir­che von Unten kamen. Es wäre eine Fra­ge des (sagen wir mal) Anstands gewe­sen, daß die lin­ken Theo­re­ti­ker nach Abschluß der Ver­an­stal­tung bei der Mahn­wa­che vor­bei schau­en. Es gab aber wohl Wich­ti­ge­res zu tun. Auch in den nächs­ten Tagen fand sich nie­mand ein, was dadurch aus­ge­gli­chen wur­de, daß Ver­tre­ter des „Neu­en Forum“ eben­falls fehlten.

Sozialdemokratische Partei gegründet

„Wir wol­len damit ein Hoff­nungs­zei­chen set­zen in der Unru­he und Span­nung die­ser Tage und Wochen. Es soll ein Zei­chen sein des begin­nen­den Endes einer ent­mün­di­gen­den Herr­schaft und des not­wen­li­gen Anfangs einer wirk­lich demo­kra­ti­schen deut­schen Republik.“

So heißt es in einer Erklä­rung jener Initia­tiv­grup­pe zur Grün­dung einer Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei, die sich an 26. August 1989 mit ihrem Anlie­gen in einem Auf­ruf an die Öffent­lich­keit gewandt hat­te, zur Grün­dung der SDP am 7. Okto­ber. Besag­te Erklä­rung wur­de von den ca. 80 anwe­sen­den der Grün­dungs-Tra­di­ti­ons­li­nie der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie in Punk­ten wie z. B. dem „Ein­tre­ten für die Benach­tei­lig­ten im gesell­schaft­li­chen und wirt­schaft­li­chen Pro­zeß“ oder der Bin­dung der „Ver­fol­gung ihrer Zie­le an demo­kra­ti­sche Wege und Methoden“.

Sie will sich in lan­des­wei­ten und regio­na­len Struk­tu­ren auf­bau­en, die „den ein­zel­nen Mit­glie­dern eine ver­bind­li­che Mit­ar­beit ermög­licht und durch sie in fes­ter Ver­bin­dung zur Gesamt­par­tei ste­hen“. Zu pro­gram­ma­ti­schen Kon­zep­tio­nen wur­den in den ver­schie­dens­ten poli­tisch wich­ti­gen Berei­chen Arbeits­grup­pen gebil­det. For­mu­liert sind in der Erklä­rung Grund­sät­ze der demo­kra­ti­schen Ord­nung in Staat und Gesell­schaft, öffent­li­cher Kon­trol­le der Macht und eines demo­kra­ti­schen Rechts­staats. Die Not­wen­dig­keit einer neu­en Ver­fas­sung wird hervorgehoben.

Die Fra­ge, an der sich vie­le Grup­pie­run­gen schei­den – die wirt­schaft­li­chen Per­spek­ti­ven – wird in dem SDP-Papier im Wesent­li­chen in zwei Abschnit­ten behan­delt. In dem Abschnitt
„Markt und Staat“ wird fest­ge­stellt, daß Markt­me­cha­nis­men zu: Steue­rung der Wirt­schaft nicht durch staat­li­che Pla­nung ersetzt wer­den kön­nen, aber für den Staat sich regu­lie­ren­de Auf­ga­ben in Bezug auf die sozia­le Siche­rung, die Ein­be­zie­hung öko­lo­gi­scher Kos­ten in das Markt­ge­sche­hen und den Erhalt des Wett­be­werbs durch Ver­hin­de­rung von Mono­po­len und wirt­schaft­li­cher Macht­kon­zen­tra­ti­on erge­ben. Die Ver­ant­wor­tung des Staa­tes für die Infra­struk­tur und für not­wen­di­ge Gemein­schafts­gü­ter wird fest­ge­stellt und eben­so, daß das Finanz- und Kre­dit­we­sen in staat­li­chen Hän­den blei­ben müs­sen. Eine ent­spre­chen­de Rah­men­ge­setz­ge­bung soll ein will­kür­li­ches, rein pro­fit­ori­en­tier­tes Wachs­tum ver­hin­dern.
Es wer­den im nächs­ten Abschnitt viel­fäl­ti­ge Eigen­tums­for­men in einer gemisch­ten Wirt­schafts­struk­tur favo­ri­siert. Unter­neh­mens­viel­falt soll gegen Macht­kon­zen­tra­ti­on wir­ken; Mit­be­stim­mung, Kapi­tal­be­tei­li­gung und Selbst­ver­wal­tung sind Wege zur Demo­kra­ti­sie­rung der Wirt­schaft, für die die Ver­fas­ser ein­tre­ten. Durch ein kla­res Mit­be­stim­mungs­recht soll die brei­te Betei­li­gung „aller, die die Wer­te im Pro­duk­ti­ons­pro­zeß erar­bei­ten“ bei Ent­schei­dun­gen auf allen Ebe­nen garan­tiert wer­den. Freie, star­ke Gewerk­schaf­ten mit Streik­recht kom­men als eigent­lich selbst­ver­ständ­li­che For­de­run­gen am Schluß die­ses Abschnitts.

Auf wei­te­re Punk­te kann hier im Ein­zel­nen nicht ein­ge­gan­gen werden.

Die Grün­dungs­ver­samm­lung bestimm­te ver­schie­de­ne Arbeits­grup­pen und wähl­te die vor­läu­fi­ge Grund­wer­te­kom­mis­si­on sowie den Vor­stand. Man möch­te von Anfang an so gut wie „unter den Bedin­gun­gen des Sozia­lis­ten­ge­set­zes“ (so ein Teil­neh­mer) mög­lich, in der Gestal­tung der eige­nen Struk­tu­ren an Ver­bind­lich­keit und demo­kra­ti­scher Arbeits­wei­se fest­hal­ten Im Gegen­satz zu den poli­ti­schen Geplän­keln des „Neu­en Forum“ plant die SDP nicht, sich als Ver­ei­ni­gung anzu­mel­den, son­dern beschränkt sich dar­auf, dem Minis­te­ri­um des Inne­ren die Grün­dung for­nell mitzuteilen.

Gleich am Grün­dungs­tag ver­ab­schie­de­te die SDP auch einen Auf­nah­me­an­trag in die Sozia­lis­ti­sche Inter­na­tio­na­le und ein kur­zes noch zu ergän­zen­des Statut.

(Alle Zita­te aus: „Pro­gram­ma­ti­scher Vor­trag zur Grün­dung der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei in der DDR“)

Erklärung der SDP Berlin, den 9. 10. 1989

Wir erle­ben im Moment in der gesan­ten DDR, wie Men­schen in unge­ahn­tem Maße durch Denon­stra­tio­nen grund­le­gen­de poli­ti­sche Ver­än­de­run­gen fordern.

Trotz bru­ta­ler Aus­schrei­tun­gen und Gewalt­pro­vo­ka­tio­nen von Sei­ten der Sicher­heits­kräf­te blie­ben die Demons­tran­ten der letz­ten Tage in erstaun­li­chem Maße gewaltfrei.

Da die Gren­ze des all­ge­mein gewalt­los Ertrag­ba­ren vor­sätz­lich weit über­schrit­ten wur­de, müs­sen wir mit gewalt­tä­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen von bei­den Sei­ten rech­nen, wenn sich der staat­li­che Ungang mit Demons­tra­tio­nen nicht grund­le­gend ändert.

Die Ver­ant­wor­tung für eine Eska­la­ti­on der Gewalt tra­gen allein die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen.
Ange­sichts die­ser Situa­ti­on for­dem wir die Bür­ger unse­res Lan­des zur ver­stärk­ten Soli­da­ri­tät mit den in ihrer Wür­de zutiefst ver­letz­ten Men­schen, ins­be­son­de­re mit den poli­ti­schen Gefan­ge­nen in der DDR, auf.

Für den Vor­stand der SDP: Mar­tin Gut­zeit, Ibra­him Böh­me, Ange­li­ka Bar­be, Rai­ner Hart­mann, Ste­fan Hilsberg.

Offener Brief der Mitarbeiter des Staatsschauspiels Dresden

Wir tre­ten aus unse­ren Rol­len heraus.

Die Situa­ti­on in unse­rem Lan­de zwingt uns dazu.

Ein Land, das sei­ne Jugend nicht hal­ten kann, gefähr­det sei­ne Zukunft.

Eine Staats­füh­rung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaubwürdig.

Eine Par­tei­füh­rung, die ihre Prin­zi­pi­en nicht mehr auf Brauch­bar­keit unter­sucht, ist zum Unter­gang verurteilt.

Ein Volk, das zur Sprach­lo­sig­keit gezwun­gen wur­de, fängt an, gewalt­tä­tig zu werden.

Die Wahr­heit muß an den Tag.

Unse­re Arbeit steckt in die­sem Land. Wir las­sen uns das Land nicht kaputt machen.

Wir nut­zen unse­re Tri­bü­ne, um zu fordern:

  1. Wir haben ein Recht auf Information.
  2. Wir haben ein Recht auf Dialog.
  3. Wir haben ein Recht auf selb­stän­di­ges Den­ken und auf Kreativität.
  4. Wir haben ein Recht auf Plu­ra­lis­mus im Denken.
  5. Wir haben ein Recht auf Widerspruch.
  6. Wir haben ein Recht auf Reisefreiheit.
  7. Wir haben ein Recht, unse­re staat­li­chen Lei­tun­gen zu überprüfen.
  8. Wir haben ein Recht, neu zu denken.
  9. Wir haben ein Recht, uns einzunischen.

Wir nut­zen unse­re Tri­bü­ne, um unse­re Pflich­ten zu benennen:

  1. Wir haben die Pflicht, zu ver­lan­gen, daß Lüge und Schön­fär­be­rei aus unse­ren Medi­en verschwinden.
  2. Wir haben die Pflicht, den Dia­log zwi­schen Volk und Par­tei- und Staats­füh­rung zu erzwingen.
  3. Wir haben die Pflicht, von unse­rem Staats­ap­pa­rat und von uns zu ver­lan­gen, den Dia­log gewalt­los
    zu füh­ren.
  4. Wir haben die Pflicht, das Wort Sozia­lis­mus so zu defi­nie­ren, daß die­ser Begriff wie­der ein annehm­ba­res Lebens­ide­al für unser Volk wird.
  5. Wir haben die Pflicht, von unse­rer Staats- und Par­tei­füh­rung zu ver­lan­gen, das Ver­trau­en der
    Bevöl­ke­rung wiederherzustellen.

Nachträge

  • Zusätz­lich zu den erwähn­ten Brie­fen von Gewerk­schafts­funk­tio­nä­ren des VEB Berg­mann-Borsig und des VEB TRO ist uns auch bekannt, daß ein ähn­li­cher Brief von Gewerk­schaf­tern des VEB EAW Ber­lin-Trep­tow existiert.

Ein Demons­trant kon­men­tier­te die Ereig­nis­se: „Wir brau­chen kein West­fern­se­hen mehr zu sehen, jetzt sit­zen wir ohne­hin in der ers­ten Reihe.“

In eigener Sache

Auf­grund der gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on war es für uns nicht mög­lich, sämt­li­che uns vor­lie­gen­den dru­ckens­wer­ten Bei­trä­ge auf­zu­neh­men. Es fehlt bei­spiel­wei­se ein Bericht über die Erklä­run­gen des „Neu­en Forum“ in den letz­ten Tagen sowie der gesam­te Aus­lands­teil. Wir hof­fen, das teil­wei­se in den nächs­ten Aus­ga­ben nach­ho­len zu können.

Redak­ti­ons­schluß: 9.10.89, vormittags

Kant auf Abwegen?

Der Prä­si­dent des DDR-Schrift­stel­ler­ver­ban­des und bekann­ter Hon­ecker-Inti­mus, Her­marn Kant, for­der­te in einem in der „Jun­gen Welt“ am 9.Oktober abge­druck­ten Leser­brief die SED-Füh­rung auf, Feh­ler ein­zu­ge­ste­hen und eine offe­ne Dis­kus­si­on über die gegen­wär­ti­ge Kri­se in der DDR zu begin­nen. Kant, selbst in der Ver­gan­gen­heit Trä­ger und Voll­stre­ckungs­ge­hil­fe der Regie­rungs­po­li­tik, beklag­te die Selbst­ge­fäl­lig­keit und Selbst­herr­lich­keit in den Medi­en der DDR. Wich­ti­ger als Bevor­mun­dung sei­en har­te und gedul­di­ge Bemü­hun­gen der DDR-Bür­get, um ein­an­der bes­ser zu verstehen.

Demonstrationen am 9.Oktober

In Leip­zig ver­lief am 9.Oktober eine Mas­sen­de­non­stra­ti­on im Anschluß an das mon­täg­li­che Frie­dens­ge­bet ohne Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit den Sicher­heits­or­ga­nen. Die Leip­zi­ger Grup­pen hat­ten zur Gewalt­lo­sig­keit auf­ge­ru­fen. Das war schwie­rig genug, denn die Sicher­heits­or­ga­ne
waren mit star­kem Auf­ge­bot erschie­nen. Schüt­zen­pan­zer­wa­gen der Armee durch­zo­gen am Nach­mit­tag Leip­zig. Kin­der­gär­ten und Betrie­be in der innen­stadt muß­ten bis 15 Uhr geräumt wer­den. Als sich der Markt mit Men­schen füll­te, wur­de er von BePos mit Schutz­mas­ken und Kampf­grup­pen umstellt. Elos mit Che­mi­ka­li­en stan­den bereit. Es gab min­des­tens zwei zen­tra­le Truppenstützpunkte. 

Erstaun­li­cher­wei­se ver­lief die Demons­tra­ti­on den­noch fried­lich. Mehr als 70.000 Men­schen for­mier­ten sich nach Andach­ten in ver­schie­de­nen Kir­chen zu einem Demons­tra­ti­ons­zug, der über den Ring zog. Die Fried­fer­tig­keit ging dann soweit, daß am Haupt­bahn­hof eine Grup­pen mit Poli­zis­ten diskutierten.

In den Kir­chen, über Laut­spre­cher in der Innen­stadt und über den loka­len Leip­zi­ger Sen­der war ein Auf­ruf von Pro­fe­sor Kurt Masur, Dr. Peter Zim­mer­mann, des Kaba­re­tis­ten Lutz und der Sekre­tä­re der SHD-Bezirks­lei­tung Dr. Kurt Wei­er, Jochen Pomert und Roland Not­zel ver­le­sen worden.

Unse­re gemein­sa­me Sor­ge und Ver­ant­wor­tung haben uns zusan­men­gefthrt. Wir sind über die Int­wick-Jung in unse­rer Stadt betro­fi­ten and such­ten nach einer lösung. Wir alle brau­chen einen frei­en Mein­ngs­aus­tausch über die Wei­ter­ent­wick­lung des Sozia­lis­mus in unse­rem Land. Des­halb ver­spre­chen die genann­ten Leu­te ali­en Bir­gern, ihre gan­ze kraft und Auto­ri­tät dafür ein­zu­set­zen, daß die­ser Dia­log nicht nur im Bezirk Leip­zig, son­dern auch mit unse­rer Regie­rung geführt wird. Wir bit­ten drin­gend um Beson­nen­heit, damit der fried­li­che Dia­log mög­lich wird.


Beob­ach­ter raten aller­dings zur vor­sich­ti­gen Bewer­tung, da even­tu­ell die rie­si­gen Mas­sen der Demons­tran­ten die loka­i­en SED-Füh­rer zu einer blo­ßen Beschwich­ti­gungs­tak­tik ver­an­laßt haben könnten.

In Dres­den infor­nier­ten sich an Abend des 9.Oktober meh­re­re tau­send Men­schen in vier gro­ßen Kir­chen über die Gesprä­che von 20 Ver­tre­tern der Demons­tran­ten und der Kir­chen­lei­tung mit Ver­tre­tern des Stadt­ra­tes, dar­un­ter der Ober­bür­ger­meis­ter von Dres­den. Dem Stadt­rat war ein 9‑Punk­te-Kata­log vor­ge­legt wor­den, in dem es u.a. um die Zulas­sung des Neu­en Forums, eine wahr­heits­ge­treue Bericht­erstat­tung in den DDR-Medi­en, Demons­tra­ti­ons- und Rei­se­frei­heit, Wahl­pro­ble­me, Zivil­dienst und die Frei­las­sung der Inhaf­tier­ten ging. Der Ober­bür­ge­reis­ter ver­sprach, sich für wei­te­re Gesprä­che ein­zu­set­zen und die ange­spro­che­nen Punk­te plu­ra­lis­tisch zu lösen. Eine nächs­te Gesprächs­run­de wur­de für den 16. Okto­ber vereinbart. 

In Ost-Ber­lin ver­sam­mel­ten sich an Abend vor der Geth­sen­an­e­kir­che 3000 Men­schen. Bischof Forck ver­las einen Auf­ruf der Kir­chen­lei­tung und des Gemein­de­kir­chen­rats der Gethsemanegemeinde:

„Fünf drin­gen­de Bitten

  1. Alle Bür­ge­rin­nen und Bür­ger bit­ten wir drin­gend, ab sofort angst­frei Mein­angs­frei­heit aus­zu­üben damit das Gespräch über unse­re Zukunft in Gang kommt.
  2. Die Staats- und Par­tei­füh­rung der DDR bit­ten wir drin­gend, unge­hend deut­li­che und glaub­haf­te
    Schrit­te ein­zu­lei­ten, eine brei­te Über­ein­stim­ming für eine rechts­staat­li­che, den­mo­kra­ti­sche, sozia­lis­ti­sche Per­spek­ti­ve der DDR gefun­den wird.
  3. Die Ord­nungs- und Sicher­heits­kräf­te bit­ten wir drin­gend, der Unge­duld kri­ti­scher Bür­ger, die sich auf den Stra­ßen zeigt, mit gößt­mög­li­cher Zurück­hal­tung zu begeg­nen, damit nicht wie­der gut­zu­ma­chen­der Scha­den ver­mie­den wird.
  4. Die beun­ru­hig­ten Men­schen unse­res Lan­des bit­ten wir drin­gend, jetzt von nicht geneh­mig­ten Demons­tra­tio­nen auf den Stra­ßen abzu­se­hen, damit die poli­tisch Ver­ant­wart­li­chen nicht sagen kön­nen, sie lie­ßen sich im Blick auf anste­hen­de Ver­än­de­run­gen nicht unter Druck setzen.

Ber­lin, den 9. Okto­ber 1989, 17 Unterschriften

Die in der Unge­bung der Kir­che auf­ge­zo­ge­nen Sicher­heits­kräf­te hiel­ten sich zurück.

Wich­tig: Die Umwelt-Biblio­thek sucht drin­gend Off­set-Maschi­ne oder Druckerei

Bürgerbewegung Demokratie Jetzt

Flug­blatt von Demo­kra­tie Jetzt vom 30.09.1989

Okto­ber 1989
Redak­ti­ons­schluß 30. 9.

Unser Land lebt in inne­rem Unfrie­den. Men­schen wer­den krank an der Gesell­schaft.
Vie­le ver­las­sen das Land. Ande­re, die blei­ben, haben mit dem Sozia­lis­mus, wie sie ihn
ken­nen, nichts mehr im Sinn. Wir haben in vier­zig Jah­ren man­ches erreicht. Doch zu viel ist in der Ent­wick­lung ste­cken­ge­blie­ben. Zu viel Mensch­lich­keit ist ver­lo­ren­ge­gan­gen. Zu wenig ist vom Traum von der Frei­heit, Gleich­heit und Brü­der­lich­keit geblieben.

Wir leiden, weil die Produktionsmittel nicht Eigentum des Volkes sind.

Der Staat hat sie sich ange­eig­net. Unse­re wer mit­re­gie­ren will, wird abge­scho­ben. Die
Wirt­schaft ist ver­al­tet und unef­fek­tiv. Betrie­be arbei­ten ohne Rück­sicht auf die Natur. Nicht Fach­leu­te, son­dern Funk­tio­nä­re haben viel­fach das Sagen. Vie­len Werk­tä­ti­gen ist ihre Arbeit gleich­gül­tig gewor­den. Sie weh­ren sich gegen Bevor­mun­dung und Miß­wirt­schaft durch nach­läs­si­ges Arbei­ten. Über­all in Land fehlt es an Waren und Arbeits­kraft. Werk­tä­ti­ge in Han­del, Hand­werk und Dienst­leis­tung geben ihre Unzu­frie­den­heit an ihre Kun­den wei­ter. Wie oft erle­ben wir Grob­heit und Unfreund­lich­keit. erle­ben wir Grob­heit und Unfreund­lich­keit. War das unser Traum von Brü­der­lich­keit und Schwesterlichkeit?

Wir brauchen neue Hoffnung: Die solidarische Gesellschaft.

Die Bür­ger­be­we­gung
DEMOKRATIE JETZT will, daß die Pro­duk­ti­ons­mit­tel wirk­lich unser aller Eigen­tum sind. Die Betrie­be sol­len selb­stän­dig sein. Staat­li­che Vor­ga­ben soll es nur geben, wo das Gemein­wohl es erfor­dert. Wir wol­len vol­le Eigen­ver­ant­wort­lich­keit für die Genos­sen­schaf­ten. Wir wün­schen uns neue pri­va­te Eigen­tums­for­men in Dienst­leis­tung und Han­del. Wir wol­len wirk­li­che Mit­be­stim­mung in den Betrie­ben, unab­hän­gi­ge Gewerk­schaf­ten und das Streik­recht. Wir tre­ten für eine offe­ne und ver­ant­wort­li­che Umwelt­po­li­tik ein. Wir sind bereit, durch einen Wan­del unse­res Lebens­stils zu neu­em Umwelt­ver­hal­ten zu kom­men. Wir wol­len jene sozia­len Errun­gen­schaf­ten, die sich bewährt haben, schüt­zen. Wir wol­len ein freund­li­ches Land.

Wir wer­den vom Staat und von der SED gegän­gelt. Zei­tun­gen, Rund­funk und Fern­se­hen belü­gen uns. Eine Min­der­heit maßt sich das Recht auf Wahr­heit an. Die macht­stüt­zen­den Orga­ne ent­zie­hen sich der öffent­li­chen Kon­trol­le. Schu­len und Hoch­schu­len, Wis­sen­schaft und Kunst wer­den von Ideo­lo­gen beherrscht. Von unse­ren Nach­barn sind wir durch eine men­schen­ver­ach­ten­de Mau­er getrennt. Wir dür­fen nicht rei­sen, wohin wir wol­len. Bür­ger­rech­te wer­den wie eine Gna­de gewährt.

Wir leiden, weil unser Staat ein Obrigkeitsstaat ist.

Wer mit­re­gie­ren will, wird abge­scho­ben. Die Rech­te, die uns die Ver­fas­sung garan­tiert, wer­den durch Geset­ze und Ver­ord­nun­gen beschnit­ten. Die Recht­spre­chung ist nicht unab­hän­gig. Durch das Ein­ga­be­we­sen wer­den wir zu Bitt­stel­lern gemacht. Bei den Wah­len haben wir kei­ne Wahl. Die Volks­ver­tre­tun­gen wer­den von der SED beherrscht. Noch sind die ande­ren Par­tei­en unselb­stän­dig. Poli­ti­ker ent­schei­den in ein­sa­mer Selbst­herr­lich­keit über uns. War das unser Traum von der Gleich­heit aller Menschen?

Wir brauchen neue Hoffnung: Den DEMORRATISCHEN STAAT.

Die Bür­ger­be­we­gung DEMOKRATIE JETZT schlägt eine Wahl­re­form vor. Wir wol­len die wirk­li­che Wahl zwi­schen Pro­gram­men und deren Ver­tre­tern. Wir wol­len die Gleich­be­rech­ti­gung aller poli­ti­schen Par­tei­en und Grup­pen, aus­schließ­lich der Faschis­ten. Wir leh­nen den Füh­rungs­an­spruch der SED ab und stre­ben hier­zu Ver­fas­sungs­än­de­run­gen gemäß Arti­kel 106 der Ver­fas­sung an. Zum Zusam­men­ge­hen mit kri­ti­schen Mar­xis­ten sind wir bereit. Wir wol­len eine Rechts­re­form. Wir möch­ten, daß die Unab­hän­gig­keit von Rich­tern und Ver­tei­di­gern gewähr­leis­tet ist und Straf­tat­be­stän­de nicht will­kür­lich aus­leg­bar sind. Wir wol­len ein Ver­fas­sungs­ge­richt und eine ent­wi­ckel­te Ver­wal­tungs­ge­richts­bar­keit, die das Ein­ga­be­we­sen über­flüs­sig macht.

Wir lei­den, weil wir nicht als mün­di­ge Bür­ge­rin­nen und Bür­ger behan­delt werden.

Wir brauchen neue Hoffnung: Die Einhaltung aller Menschenrechte

Die Bür­ger­be­we­gung Demo­kra­tie Jetzt will für alle den gleich­be­rech­tig­ten Zugang zu den Medi­en. Wir wol­len Ver­samm­lungs- und Demons­tra­ti­ons­frei­heit, den Schutz per­sön­li­cher Daten und die Ein­hal­tung der Per­sön­lich­keits­rech­te. Wir wol­len Frei­heit für Wis­sen­schaft und Leh­re. Wir möch­ten, dass Eltern über Lehr­in­hal­te mit­be­stim­men kön­nen. Wir wol­len Rei­se­frei­heit und Aus­wan­de­rungs­recht. Wir wol­len, dass die Mau­er abge­tra­gen wird. Wir sind zur kri­ti­schen Arbeit in allen Gesell­schafts­be­rei­chen bereit.

Was also können wir tun?

Wir alle müs­sen es ler­nen, als mün­di­ge und selbst­be­wuß­te Bür­ge­rin­nen und Bür­ger zu den­ken und zu han­deln. Wir müs­sen aus der Ver­ein­ze­lung zur Gemein­schaft kom­men. Nur gemein­sam kön­nen wir unse­re Gesell­schaft umge­stal­ten. Fas­sen wir Mut, durch­bre­chen wir unser Schwei­gen, suchen wir Gleich­ge­sinn­te um uns herum!

Wir schla­gen Ihnen vor, sich in selbst­ver­wal­te­ten Bür­ger­ko­mi­tees zusam­men­zu­schlie­ßen: in den Betrie­ben und Wohn­ge­bie­ten, in den Schu­len und Hoch­schu­len, in den Städ­ten und Dör­fern. Spre­chen Sie mit­ein­an­der über die Pro­ble­me, die Sie bewe­gen. Brin­gen Sie sich mit Ihren Erfah­run­gen und Ihrem Wis­sen, Ihren Gefüh­len und Ihrer Hoff­nung ein. Wir alle müs­sen poli­ti­sches Han­deln jetzt lernen.

Wir schla­gen Ihnen vor, Ver­bin­dung zu gleich­ge­sinn­ten Grup­pen in Ihrer Nach­bar­schaft zu suchen. Orga­ni­sie­ren Sie Tref­fen in den Stadt­be­zir­ken und Krei­sen. Wäh­len Sie Spre­che­rin­nen und Spre­cher. Ent­sen­den Sie Ver­tre­ter zu über­re­gio­na­len Ver­an­stal­tun­gen. Sei­en sie soli­da­risch mit ande­ren gewalt­frei­en Reform- und Oppo­si­ti­ons­grup­pen. Stel­len Sie mit ihnen gemein­sam in Ihrem Wahl­kreis Kan­di­da­ten für alle Volks­ver­tre­tun­gen auf. Wir alle müs­sen Demo­kra­tie jetzt lernen.

Ver­viel­fäl­ti­gen und ver­brei­ten Sie die Zei­tung unse­rer Bür­ger­be­we­gung DEMOKRATIE JETZT. Arbei­ten Sie ihr zu durch Berich­te, Infor­ma­tio­nen und Mei­nun­gen. Ergän­zen Sie unse­re Zei­tung durch loka­le und regio­na­le Aus­ga­ben. Tra­gen Sie die Gedan­ken, den Namen und das Sym­bol der Bür­ger­be­we­gung unter die Men­schen unse­res Lan­des: Ein Schmet­ter­ling soll unser Zei­chen sein. Denn unser Land gleicht einer Rau­pe, die sich ein­ge­sperrt hat und zu einem unan­sehn­li­chen Kokon gewor­den ist. Ein Kokon ist in Gefahr, aus­au­trock­nen und zu ver­der­ben. Doch es kann aus ihm auch ein freund­li­cher Schmet­ter­ling gebo­ren wer­den. Der Schmet­ter­ling ist ein Zei­chen der Viel­falt und Friedfertigkeit.

So will die Bür­ger­be­we­gung DEMORTATIE JETZT dar­an mit­wir­ken, den inne­ren Frie­den unse­res Lan­des wie­der­her­zu­stel­len. Sie will dem äuße­ren Frie­den die­nen. Wir wün­schen uns gleich­be­rech­tig­te soli­da­ri­sche Nach­bar­schaft mit allen Völ­kern und respek­tie­ren die bestehen­den Gren­zen. Wir wol­len eine Welt­ord­nung, die allen Men­schen das glei­che Lebens­recht sichert. Mit den armen Völ­kern der Welt wol­len wir teilen.

Wir sind uns der beson­de­ren Frie­dens­pflicht des deut­schen Vol­kes bewußt. Des­halb tre­ten wir für weit­ge­hen­de Abrüs­tung und die Ein­füh­rung eines sozia­len Frie­dens­diens­tes ein.
Wir wün­schen uns ein gleich­be­rech­tig­tes und freund­li­ches Ver­hält­nis zum ande­ren deut­schen Staat. Wir möch­ten, daß sich die Deut­schen durch fried­li­che Ver­än­de­run­gen in bei­den Gesell­schaf­ten wie­der näherkommen.

Las­sen Sie uns gemein­sam han­deln und hof­fen, damit unser Land lie­bens­wert und freund­lich wird und jeder Mensch und jedes Gescöpf sei­nen Platz dar­in findet!

Den Auf­ruf DEMOKRANTE JETZT unter­zeich­ne­ten am 12. Sep­tem­ber 1989:
Wolf­gang Apfeld. Dr. Micha­el Bar­to­szek. Ste­phan Bick­hardt. Dr. Hans-Jür­gen Fisch­beck.
Rei­ner Flüg­ge. Mar­tin König. Lud­wig Mehl­horn. Dr. Ger­hard Weigt. Kon­rad Weiß.
Kein­hard Lam­pe. Ulri­ke Pop­pe. Dr. Wolf­gang Ull­mann.

5. Tagung der V. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen der DDR 15.–19. September 1989 in Eisenach

Es folgt ein Doku­ment aus dem Sep­tem­ber 1989 und für die bes­se­re Les­bar­keit die Digi­ta­li­sie­rung. Die­ses Doku­ment war wohl inner­halb der evan­ge­li­schen Kir­chen­ge­mein­den der DDR zugäng­lich. Ste­fan Mül­ler 07.12.2024

5. Tagung der V. Syn­ode des Bun­des der Evan­ge­li­schen Kir­chen der DDR 15.–19. Sep­tem­ber 1989 in Eisenach

Beschluß
der Syn­ode des Bun­des der Evan­ge­li­schen Kir­chen in der DDR zum Bericht des Vor­sit­zen­den der Kon­fe­renz der Ev. Kir­chen­lei­tun­gen und dem Arbeits­be­richt des Sekre­ta­ri­ats des Bundes

Die Syn­ode des Bun­des der Ev. Kir­chen in der DDR hat den Bericht des Vor­sit­zen­den der Kon­fe­renz der Ev. Kir­chen­lei­tun­gen und den Arbeits­be­richt des Sekre­ta­ri­ats des Bun­des mit Dank ent­ge­gen­ge­nom­men. Aus­drück­lich dankt die Syn­ode der Kon­fe­renz für ihren Brief an den Vor­sit­zen­den des Staats­ra­tes, in dem zu bedrän­gen­den Pro­ble­men unse­res Lan­des Stel­lung genom­men wird.

Auch von der Syn­ode des Bun­des wird erwar­tet, daß sie sich dazu äußert:

Die Mas­sen­aus­wan­de­rung von Bür­gern der DDR in die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land zwingt dazu, Ursa­chen dafür zu benen­nen, daß offen­sicht­lich vie­le, beson­ders auch jun­ge Men­schen in unse­rem Land und für unser Land kei­ne Zukunft mehr sehen. In der Syn­ode wur­den viel­fäl­ti­ge Erfah­run­gen genannt:

  • erwar­te­te und längst über­fäl­li­ge Refor­men wer­den offi­zi­ell als
 unnö­tig erklärt;
  • die Mit­ver­ant­wor­tung des ein­zel­nen Bür­gers und sei­ne kri­ti­sche Ein­fluß­nah­me sind nicht ernst­haft gefragt;
  • den Bür­gern zuste­hen­de Rech­te wer­den viel­fach ledig­lich als 
Gna­dener­weis gewährt;
  • hier geweck­te und von außen genähr­te Wohl­stand­ser­war­tun­gen kön­nen nicht befrie­digt werden;
  • öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Miß­stän­de erschwe­ren zuneh­mend 
das Leben;
  • All­tags­er­fah­run­gen und die Bericht­erstat­tung der Medi­en klaf­fen weit auseinander;
  • eine öffent­li­che Aus­spra­che über Ursa­chen der Kri­sen­er­schei­nun­gen wird nicht zugelassen;
  • Hin­wei­se auf offen­sicht­li­che Unkor­rekt­hei­ten in der Durch­füh­rung der Wahl und der Bekannt­ga­be blie­ben ohne Reaktionen;
  • offi­zi­el­le Äuße­run­gen zu Vor­gän­gen in Chi­na und Rumä­ni­en wecken Befürch­tun­gen und Ängs­te für die Zukunft;
  • gewalt­lo­se
 Demons­tra­tio­nen jun­ger Men­schen wer­den gewalt­sam 
unter­drückt, Betei­lig­te wer­den zu Unrecht und über­dies unan­ge­mes­sen bestraft;
  • Frei­zü­gig­keit im Rei­se­ver­kehr wird nicht gewährt.

Aus die­sen und ande­ren Grün­den sind vie­le Hoff­nun­gen auf Ver­än­de­rung in der DDR erloschen.

Die Fol­gen der Abwan­de­rung betref­fen alle in die­sem Land:

Fami­li­en und Freund­schaf­ten wer­den zer­ris­sen, alte Men­schen füh­len sich im Stich gelas­sen. Kran­ke ver­lie­ren ihre Pfle­ger und Ärz­te, Arbeits­kol­lek­ti­ve wer­den dezi­miert, haben die Gren­ze ihrer Belast­bar­keit erreicht und über­schrit­ten, die Fol­gen für die Volks­wirt­schaft sind unüber­seh­bar. Auch Kir­chen­ge­mein­den wer­den klei­ner. Das poli­ti­sche Kli­ma der Ent­span­nung ist bedroht. Feind­bil­der leben wie­der auf, Pro­ble­me zwi­schen den bei­den deut­schen Staa­ten belas­ten die Nach­barn, beson­ders Ungarn, gewach­se­ne Bezie­hun­gen und Gesprä­che wer­den abge­bro­chen. Der Ost-West-Kon­flikt in sei­ner deutsch-deut­schen Zuspit­zung ver­drängt Zukunfts­auf­ga­ben und bin­det Kräf­te, die zur Gewin­nung von Frie­den in Gerech­tig­keit und zur Bewah­rung der Schöp­fung drin­gend gebraucht werden.

Ange­sichts die­ser Situa­ti­on haben wir im Bund der Ev. Kir­chen Anlaß, uns selbst zu fra­gen, wie wir unse­rem Auf­trag gerecht gewor­den sind. Wir stel­len fest, daß unser Reden vie­le nicht mehr erreicht. Immer mehr Men­schen fra­gen danach, was sie aus ihrem Leben machen kön­nen, um sich dadurch selbst zu ver­wirk­li­chen. Ande­re, vor allem jun­ge Men­schen, kön­nen kei­ne Hoff­nung mehr benen­nen, die ihrem Leben ein Ziel gibt. Uns gelingt es nur schwer, die Hoff­nung zu ver­mit­teln, die uns Chris­ten gege­ben ist und auf den vom Evan­ge­li­um eröff­ne­ten Weg ein­zu­la­den, der jeden zur Erfül­lung sei­nes Lebens führt.

In der Nach­fol­ge Jesu Chris­ti erfüllt sich das Leben nicht in dem, was ich für mich selbst habe, son­dern in dem, was ich für ande­re bin. Dar­in sind wir nicht glaub­wür­dig, solan­ge unser eige­ner Lebens­stil, als Kir­che und als Chris­ten, weni­ger ein Bei­spiel dafür ist, was wir ande­ren sein kön­nen, als eher dafür, was wir sel­ber haben. Auch wir ori­en­tie­ren uns lie­ber an dem Lebens­stan­dard derer, die mehr haben als wir, obwohl die meis­ten Men­schen die­ser Erde, auch in Euro­pa, mit viel weni­ger aus­kom­men müs­sen. Das wirkt sich bis in unse­re öku­me­ni­schen Bezie­hun­gen aus.

Die Über­zeu­gungs­kraft unse­res Glau­bens und Redens hängt auch davon ab, daß wir als Kir­che glaub­wür­di­ger wer­den. Nach nun­mehr 20 Jah­ren ver­ste­hen sich die im Bund zusam­men­ge­schlos­se­nen Glied­kir­chen als eine Kir­che. So wird der Bund weit­hin auch von den Gemein­den ange­se­hen. Trotz­dem sind bis­her alle Bemü­hun­gen geschei­tert, unse­rer Gemein­schaft als Kir­che eine ent­spre­chen­de orga­ni­sa­to­ri­sche Form zu geben. Unse­re Gemein­schaft wird durch Allein­gän­ge, wie zuletzt im Zusam­men­hang mit der Dom­ein­wei­hung in Greifs­wald, und durch ver­här­te­te Struk­tu­ren gefähr­det. Der Gegen­satz zwi­schen Anspruch und Wirk­lich­keit unse­res Kir­che­seins steht uns vor Augen.

Geist­lich beweg­te und sozi­al enga­gier­te Grup­pen, die Impul­se der Erneue­rung in unse­re Kir­chen tra­gen wol­len, ste­hen sich zugleich ver­ständ­nis­los und ableh­nend gegen­über. Über­all dort, wo die Gemein­den trag­fä­hi­ge Gemein­schaf­ten sind, kön­nen sie ein­la­den, ohne zu ver­ein­nah­men, und Gebor­gen­heit geben, die zur Mün­dig­keit hilft. Sol­che Gemein­schaft erweist sich dar­in, daß sie trotz der Span­nun­gen und Mei­nungs­un­ter­schie­de zusam­men­bleibt in Gebet, Abend­mahl und Got­tes­dienst. Und die erweist sich dar­in, daß sie sich der in Not gera­te­nen fer­nen una nahen Nächs­ten annimmt. Wir lei­den unter der Erfah­rung, daß unser Ein­tre­ten für die ande­rer so wenig bewirkt. Es gelingt uns schwer so zu reden, die Betrof­fe­nen sich ver­stan­den füh­len, und daß uns die ver­ste­hen, an die wir uns wen­den. Aber ein Reden und Tun, das wir vor Gott ver­ant­wor­ten kön­nen, bleibt unse­re Aufgabe.

Unser Glau­be gibt uns Grund, nach Wegen zu suchen, die heu­te und mor­gen gegan­gen wer­den kön­nen. Wir wis­sen uns vor Gott in unse­re Zeit und an unse­ren Ort gestellt. 40 Jah­re DDR sind auch ein Lern­weg unse­rer Kir­chen, Christ­sein in einem sozia­lis­ti­schen Staat zu bewäh­ren. Wir sehen uns heu­te vor die Her­aus­for­de­rung gestellt, Bewahr­tes zu erhal­ten und neue Wege in eine gerech­te­re und par­ti­zi­pa­to­ri­sche Gesell­schaft zu suchen. Wir wol­len mit­hel­fen, daß Men­schen auch in unse­rem Land ger­ne leben. Wir möch­ten sie dazu ermutigen.

So bit­ten wir sie, hier zu leben und einen Bei­trag für eine gute Zukunft in unse­rem Land zu leis­ten. Wir kön­nen und dür­fen aber nicht alle Pro­ble­me gleich­zei­tig lösen wollen.

Wir brau­chen:

  • ein all­ge­mei­nes Pro­blem­be­wußt­sein dafür, daß Refor­men in unse­rem Land drin­gend not­wen­dig sind;
  • die offe­ne und öffent­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit unse­ren gesell­schaft­li­chen Problemen;
  • jeden für die ver­ant­wort­li­che Mit­ar­beit in unse­rer Gesellschaft;
  • ver­ant­wort­li­che plu­ra­lis­ti­sche Medienpolitik;
  • demo­kra­ti­sche Parteienvielfalt;
  • Rei­se­frei­heit für alle Bürger;
  • wirt­schaft­li­che Reformen;
  • ver­ant­wort­li­chen Umgang mit gesell­schaft­li­chem und per­sön­li­chem
 Eigentum;
  • Mög­lich­keit fried­li­cher Demonstrationen;
  • ein Wahl­ver­fah­ren, das die Aus­wahl zwi­schen Pro­gram­men und Per­so­nen ermöglicht.

50 Jah­re nach Kriegs­aus­bruch wird uns erneut bewußt, daß die Erin­ne­rung wach­blei­ben muß und die Auf­ar­bei­tung von Grau­en und Schuld für uns Deut­sche nicht abge­schlos­sen sein kann. Die Syn­ode bit­tet alle Men­schen in Ost und West, neu erwa­chen­den natio­na­lis­ti­schen und nazis­ti­schen Stim­men und Stim­mun­gen mit aller argu­men­ta­ti­ven und admi­nis­tra­ti­ven Ent­schie­den­heit ent­ge­gen­zu­tre­ten und recht­zei­tig die tie­fe­ren Ursa­chen für sol­che Erschei­nun­gen, beson­ders bei der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on zu erken­nen und zu beseitigen.

Nach wie vor steht die unbe­ding­te Ver­pflich­tung im Vor­der­grund, für den Frie­den unter den Völ­kern ein­zu­tre­ten. Es gibt ermu­ti­gen­de Zei­chen auf dem lan­gen Weg zum Frieden.

Das “Neue Den­ken” hat wei­te­re Kon­tu­ren gewon­nen, z.B. durch die sowje­ti­sche Ein­la­dung zu “glo­ba­ler Soli­da­ri­tät” , die mili­tä­ri­sche öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Sicher­heits­part­ner­schaft in welt­wei­ten Per­spek­ti­ve einschließt.

Signa­le des Frie­dens sind ein­sei­ti­ge Rüstungs‑, Trup­pen- und Rüs­tungs­haus­halts­re­du­zie­run­gen sozia­lis­ti­scher Staa­ten, auch der DDR. Wir erwar­ten die Ant­wort von NATO-Staa­ten, ihrer­seits mit dem Abbau mili­tä­ri­scher Ungleich­ge­wich­te zu beginnen.

Trup­pen­re­du­zie­rungs­ver­hand­lun­gen auf­grund bei­der­sei­ti­ger Kom­pro­miß­be­reit­schaft kom­men vor­an. Immer mehr Sol­da­ten arbei­ten in der Indus­trie. Die Mili­tärs bei­der Bünd­nis­sys­te­me begeg­nen sich. Die Kon­zep­ti­on hin­läng­li­cher Ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit wird eben­so wei­ter­ent­wi­ckelt wie das Kon­zept der struk­tu­rel­len Angriffs­un­fä­hig­keit. Eine Kon­ver­si­ons­in­dus­trie nimmt kon­kre­te For­men an. Durch den Umbau von Rake­ten­schlep­pern zu Stra­ßen­krä­nen wur­de die pro­phe­ti­sche Visi­on “Schwer­ter zu Pflug­scha­ren” in unser tech­ni­sches Zeit­al­ter übersetzt.

Das Wie­ner Abschluß­do­ku­ment eröff­net den euro­päi­schen Staa­ten kon­kre­te mensch­li­che, poli­ti­sche, wirt­schaft­li­che, öko­lo­gi­sche und kul­tu­rel­le Per­spek­ti­ven beim Bau des Euro­päi­schen Hau­ses. Die Syn­ode unter­streicht, daß sie auf eine akti­ve Betei­li­gung bei­der deut­scher Staa­ten und der christ­li­chen Kir­chen in die­sem Pro­zeß hofft. Wie­der­ver­ei­ni­gungs­wün­sche wecken Ängs­te bei ande­ren Völkern.

Die Syn­ode erin­nert an ihren Beschluß vom 20.9.88, in dem sie fest­ge­stellt hat “daß die künf­ti­ge Ent­wick­lung in unse­rem Land von Dia­log­fä­hig­keit und Dia­log­be­reit­schaft in Kir­che und Gesell­schaft wesent­lich abhängt.” Es gibt kei­ne ver­nünf­ti­ge Alter­na­ti­ve zur Fort­set­zung und Erwei­te­rung der Dia­log­po­li­tik auf allen Ebenen.

Eine sich ent­wi­ckeln­de “Kul­tur des Streits” hat in den letz­ten Jah­ren eini­ge wich­ti­ge außen- und innen­po­li­ti­sche Früch­te getra­gen. Die Syn­ode ist bestürzt, daß die seit lan­gem erbe­te­nen Sach­ge­sprä­che zwi­schen der Kon­fe­renz der Ev. Kir­chen­lei­tun­gen und der Regie­rung der DDR nicht mög­lich waren und daß das für den 12.9. zuge­sag­te Gespräch zum drit­ten KSZE-Fol­ge­tref­fen wie­der abge­sagt wur­de; dabei soll­te auch über die mensch­li­chen Dimen­sio­nen des Hel­sin­ki-Pro­zes­ses gespro­chen wer­den. Die Syn­ode bedau­ert auch die jüngs­te Absa­ge von Gesprä­chen zwi­schen Ver­tre­tern bei­der deut­scher Staa­ten. Gera­de jetzt sind Gesprä­che nötig. Gera­de jetzt kön­nen wir in und zwi­schen bei­den deut­schen Staa­ten das “Neue Den­ken” bewäh­ren und dazu bei­tra­gen, daß nicht alte Feind­bil­der medi­en­ver­stärkt das Kli­ma vergiften.

Um uns den Weg in eine sozi­al gerech­te, demo­kra­ti­sche, nach innen und außen frie­dens­fä­hi­ge und öko­lo­gi­sche Gesell­schaft nicht zu ver­bau­en, ist jetzt ein offe­ner gesamt­ge­sell­schaft­li­cher Dia­log dring­lich gewor­den. Dazu gehört auch eine Öff­nung der bis­he­ri­gen poli­ti­schen Strukturen.

Kei­ner hat gegen­wär­tig d i e Lösung.

Auf der Suche nach Wegen, die Zukunft eröff­nen, wer­den wir der Tat­sa­che ins Auge sehen müs­sen, daß uns Ver­än­de­run­gen nicht in den Schoß fal­len. Es bedarf gedul­di­ger und beharr­li­cher Bemü­hun­gen. Dar­um wol­len wir uns nicht ent­mu­ti­gen las­sen von Schwie­rig­kei­ten und Rück­schlä­gen, von Miß­ver­ständ­nis­sen und Ver­däch­ti­gun­gen. Es kommt auf den lan­gen Atem an. Unser Glau­be kann uns dazu Mut und Kraft geben. Uns ist nicht ver­hei­ßen, daß uns das Kreuz erspart bleibt, aber daß unser Herr mit uns das Kreuz trägt und einen Weg in die Zukunft eröffnet.


Eisen­ach, den 19. Sep­tem­ber 1989
Der Prä­ses der Syn­ode des Bun­des der Ev. Kir­chen in der DDR
Dr. Gaeb­ler

62/89 Sta­jupfa

Wehrdienst bei der NVA

Ich lese gera­de das Buch von Kat­ja Hoyer Dies­seits der Mau­er. Sehr inter­es­sant und vie­les wird mir so kla­rer. War­um der Strauß fast ganz zum Schluss noch mal ein paar Mil­li­ar­den in die DDR gebracht hat, die Aufs und Abs in der Wirt­schafts­ent­wick­lung usw. Ein paar Sachen sind aber auch ein­fach falsch. Das Kapi­tel über den Wehr­dienst ent­hält gro­be Fehler.

Der ver­pflich­ten­de Grund­wehr­dienst dau­er­te nor­ma­ler­wei­se 18 Mona­te. Ihn zu ver­wei­gern war aus­schließ­lich aus reli­giö­sen Grün­den mög­lich. In die­sem Fall muss­te die Zeit eben­falls abge­leis­tet wer­den, und zwar als soge­nann­ter Bau­sol­dat im nicht­kämp­fen­den Dienst. Män­ner, die stu­die­ren woll­ten, soll­ten sich zuvor unter Beweis stel­len, wie der Staat ab 1970 offen argu­men­tier­te. Sie hat­ten kei­ne Chan­ce, dem Mili­tär zu ent­ge­hen, son­dern waren oben­drein ange­hal­ten, sich zu einer drei­jäh­ri­gen Offi­ziers­lauf­bahn zu verpflichten. 

Das ist im Prin­zip rich­tig. Auf Total­ver­wei­ge­rung stand Gefäng­nis. Wenn man Bau­sol­dat wur­de, bau­te man in Uni­form Rake­ten­stel­lun­gen. Nicht unbe­dingt das, was man sich als Pazi­fist so erträumt. Bau­sol­da­ten hat­ten kei­ne rosi­ge Per­spek­ti­ve in der DDR, es sei denn, sie woll­ten Theo­lo­gie stu­die­ren. Ansons­ten ent­hält das Zitat einen bedau­er­li­chen Feh­ler, denn für das Stu­di­um muss­te man nicht Offi­zier wer­den, son­dern Unter­of­fi­zier. Ich wer­de die ver­schie­de­nen Lauf­bah­nen im Fol­gen­den genau­er erklären.

Militärische Laufbahnen in der DDR

Es gab in der NVA ver­schie­de­ne Laufbahnen:

  • Sol­dat, 1,5 Jah­re Grundwehrdienst
  • Unter­of­fi­zier, 3 Jah­re (ein hal­bes Jahr Aus­bil­dung, dann zwei­ein­halb Jah­re Dienst)
  • Offi­zier auf Zeit, bis 1983 drei Jah­re, danach 4 Jah­re (ein Jahr Stu­di­um, dann zwei bzw. drei Jah­re Dienst) 
  • Berufs­un­ter­of­fi­zier auf Zeit, 10 Jah­re ende­te mit Meisterabschluss
  • Fähn­rich, 15 Jah­re Fachschulingenieursausbildung 
  • Offi­zier, 25 Jah­re (vier Jah­re Stu­di­um, 21 Jah­re Dienst)

Der drei­jäh­ri­ge Wehr­dienst bestand aus einer halb­jäh­ri­gen Aus­bil­dung zum Unter­of­fi­zier und 2 1/2 Jah­ren Dienst in der ent­spre­chen­den Waf­fen­gat­tung. Eine Aus­bil­dung zum Offi­zier erfolg­te an einer Offi­ziers­hoch­schu­le und dau­er­te vier Jah­re. Drei­jäh­ri­ge Offi­ziers­lauf­bah­nen gab es nur bis 1983. 

Selbst die klügs­ten und viel­ver­spre­chends­ten künf­ti­gen Aka­de­mi­ker und Wis­sen­schaft­ler waren so gezwun­gen, eine lang­wie­ri­ge Mili­tär­aus­bil­dung zu absol­vie­ren, bevor sie einen Stu­di­en­platz bekamen. 

Das ist kor­rekt. 1981–1986 wur­de von uns erwar­tet, dass wir uns für drei Jah­re zur Armee ver­pflich­te­ten. Nicht als Offi­zie­re son­dern als Unter­of­fi­zie­re. Aus mei­ner EOS-Klas­se gin­gen alle bis auf einen Jun­gen für drei Jah­re zur Armee. Ich wäre bei­na­he nicht für mei­ne Schu­le (EOS Hein­rich Hertz) zuge­las­sen wor­den, weil ich einen von zwei Auf­nah­me­tests nicht bestan­den hat­te. Es gab einen Mathe­test mit Kno­bel­auf­ga­ben, den ich mit vol­ler Punkt­zahl abschloss und ein poli­ti­sches Auf­nah­me­ge­spräch, in dem ich als Drei­zehn­jäh­ri­ger gefragt wur­de, ob ich gern drei Jah­re zur Armee gehen wür­de. Ich hielt das spon­tan für kei­ne gute Idee und war somit lei­der raus. Nur dem unglaub­li­chen Ein­satz mei­ner Eltern ist es zu ver­dan­ken, dass ich doch noch auf die Mathe­schu­le gekom­men bin. Ich muss­te vor­her noch mit dem Direk­tor mei­ner POS ein Gespräch füh­ren, in dem ich ihm ver­si­cher­te, dass es mein größ­ter Wunsch sei, drei Jah­re mei­nes Lebens in einer mili­tä­ri­schen Ein­rich­tung zu ver­p­läm­pern. Ich habe in mei­nem Kli­ma­blog dar­über geschrie­ben: Der mora­li­sche Druck der Öko-Gut­men­schen ist ja wie in der DDR.

Schummeln bei den Verpflichtungen?

Hoyer schreibt:

Man­che von ihnen waren so mutig wie Tho­ralf und tricks­ten das Sys­tem aus, indem sie sich zunächst zu einer »frei­wil­li­gen Ver­län­ge­rung« ver­pflich­te­ten, um einen Platz an der Erwei­ter­ten Ober­schu­le zu erhal­ten, und spä­ter anga­ben, sie hät­ten es sich doch anders über­legt. Auf die­se Wei­se gelang es Tho­ralf, ledig­lich 18 Mona­te abzu­leis­ten anstel­le der vol­len drei Jah­re, für die er sich ursprüng­lich gemel­det hatte.

Da hat­te der Tho­ralf aber Glück. Ich habe neu­lich die Zulas­sung zu mei­nem Stu­di­um wie­der­ge­fun­den und in die­ser stand expli­zit drin, dass die Zulas­sung vor­be­halt­lich erfolgt und vom Wohl­ver­hal­ten wäh­rend der Armee­zeit abhing. Ich habe mich 1985 für einen Stu­di­en­platz 1989 bewor­ben, also nach mei­ner Armee­zeit. Hät­te ich nach mei­nem Abitur gesagt: „Hi, hi, April, April, ich mach jetzt doch nur Grund­wehr­dienst.“, hät­te die Hum­boldt-Uni gesagt: „Hi, hi, dann such Dir mal nen Job mit Abitur aber ohne Stu­di­um und mit dem ent­spre­chen­den Ver­merk in der Kader­ak­te.“. Ganz so ein­fach war die Sache also nicht. Wenn es einem gelang, bei der Armee aus­ge­mus­tert zu wer­den, dann konn­te das wohl funk­tio­nie­ren, dass man frü­her wie­der auf­tauch­te und in einem frü­he­ren Stu­di­en­jahr mit­stu­die­ren konn­te. Aber ein Sys­tem aus­zu­trick­sen, dass den gesam­ten Lebens­lauf in einer per­so­nen­ge­bun­de­nen Akte (Stich­wort: Kader­ak­te) beglei­te­te, war eben sonst nicht möglich.

Vertrag mit dem Staat: Militärische Ausbildung beim Studium

Das hier ist übri­gens die Ver­pflich­tungs­er­klä­rung für das Studium:

Ver­pflich­tungs­er­klä­rung für das Studium

Man ver­pflich­te­te sich nach Zutei­lung des Stu­di­en­plat­zes an einer Aus­bil­dung zum Offi­zier der Reser­ve teil­zu­neh­men und einen zen­tral zuge­teil­ten Arbeits­platz für min­des­tens drei Jah­re anzunehmen.

Drei Jahre Pflicht für’s Studium?

Es gab Men­schen, die trotz Grund­wehr­dienst stu­die­ren konn­ten, aber an mei­ner Schu­le gab es eben auch einen Jun­gen, der nicht mit ins GST-Lager zur vor­mi­li­tä­ri­schen Aus­bil­dung gefah­ren ist und das Schie­ßen ver­wei­gert hat. Er war geni­al und hät­te zur inter­na­tio­na­len Mathe­olym­pia­de fah­ren kön­nen, aber das wur­de alles nichts und er ist Schä­fer gewor­den. Ich wuss­te nicht, dass es auch ohne die drei Jah­re hät­te gehen kön­nen und in jedem Fall wäre es nicht ohne Risi­ko gewe­sen und da ich außer Mathe nichts konn­te, bin ich eben drei Jah­re gegan­gen. Es waren die schlimms­ten drei Jah­re mei­nes Lebens.

Bindung durch Isolation?

Hoyer schreibt weiter:

Die NVA woll­te die jun­gen Män­ner mög­lichst ganz für sich ver­ein­nah­men, um sie mili­tä­risch opti­mal zu indok­tri­nie­ren. Des­halb sta­tio­nier­te man Rekru­ten häu­fig so weit weg von zu Hau­se wie mög­lich und gewähr­te ihnen kaum Urlaub, damit sie nur sel­ten ihre Fami­lie, Freun­de und Freun­din in der Hei­mat besu­chen konn­ten. Sie wur­den bewusst iso­liert, um sie anein­an­der und an den Staat zu binden.

Es stimmt, dass man meist so weit weg von zuhau­se war wie mög­lich. Ich wur­de Anfang Novem­ber 1986 ein­ge­zo­gen und war Sil­ves­ter 1986 zum ers­ten Mal auf Urlaub. Aber wenn das Ziel wirk­lich war, die Sol­da­ten an den Staat zu bin­den, denn muss­ten die, die sich die­se Stra­te­gie über­legt hat­ten, über sehr gerin­ge Men­schen­kennt­nis ver­fü­gen. Alle, die zum Grund­wehr­dienst oder für drei Jah­re bei der Armee waren, haben die Armee (auch Asche genannt) als Gefäng­nis emp­fun­den. Na ja, fast alle.

Und übri­gens: Das war bei den Offi­zie­ren und Offi­ziers­schü­lern ganz anders. Sie haben außer­halb der Kaser­ne gewohnt. In den letz­ten Jah­ren vor dem Ende der DDR wur­den die Offi­ziers­wohn­hei­me sogar mit Sat­teli­ten­schüs­seln aus­ge­stat­tet, damit die Offi­zie­re West-Fern­se­hen gucken konn­ten. Die Fern­se­her im Fern­seh­raum der Sol­da­ten und Unter­of­fi­zie­re waren ver­plombt. Nix West­vern­se­hen. Offi­ziers­schü­ler konn­ten, glau­be ich, im letz­ten Stu­di­en­jahr außer­halb der Kaser­ne woh­nen. Ich habe in Kamenz an einer Offi­ziers­hoch­schu­le gedient und war dann irgend­wann mit einem ehe­ma­li­gen Offi­ziers­schü­ler befreun­det. Er hat­te abge­keult (mit­ten in der Aus­bil­dung sei­ne Ver­pflich­tung für 25 Jah­re wider­ru­fen: gesell­schaft­li­ches Hara­ki­ri) und muss­te noch die Rest­zeit des nor­ma­len Grund­wehr­diens­tes abdie­nen. Wir moch­ten bei­de Punk und sons­ti­ge absei­ti­ge Musik, haben uns Abends in dem Büro, in dem ich gear­bei­tet habe, getrof­fen und auf dem Kas­set­ten­re­cor­der des Ober­leut­nants, dem das Büro gehör­te, Punk gehört. Das war lus­tig, denn als nor­ma­ler Sol­dat oder Unter­of­fi­zier durf­te man kei­ne Kas­set­ten­re­cor­der haben und man hat­te natür­lich auch kei­nen Platz, an dem man sich mal eben so tref­fen konn­te. Es gab einen Club­raum, aber da gab es natür­lich kei­nen Kas­set­ten­re­cor­der, son­dern den Schall­plat­ten­spie­ler und Plat­ten von Sil­ly. Ich war auch mal mit ihm und ande­ren Offi­ziers­schü­lern in Dres­den im Jugend­club Spi­ra­le bei einem Punk­kon­zert. Einer von denen hat­te einen Tra­bant. Ansons­ten, wenn ich allein unter­wegs war, bin ich die Stre­cke immer mit dem Rad gefahren.

Ich hat­te es nach der Grund­aus­bil­dung in Bad Düben und anfäng­li­chen Wir­ren in Kamenz (Ich war erst in der FLA-Rak­ten-Werk­statt) geschafft, in die Com­pu­ter­grup­pe zu kom­men. Von da bin ich dann einem Oberst­leut­nant direkt unter­stellt wor­den und lan­de­te in dem Büro des Leut­nants, der für die FDJ-Arbeit der Kom­pa­nie zustän­dig war. Der ging pünkt­lich 16:00 oder 16:30 nach Hau­se und ich hat­te mei­ne Ruhe. Das Para­dies (inmit­ten der Höl­le). Manch­mal schlief ich im Büro mit Schlaf­sack auf dem Tisch. Ich konn­te so aus­schla­fen und wur­de am Mor­gen nicht von der nor­ma­len Rou­ti­ne der Kom­pa­nie gestört. Das funk­tio­nier­te aber eben nur, weil Offi­zie­re etwas ganz ande­res waren als Unter­of­fi­zie­re. Die waren abends bis auf den Offi­zier vom Dienst weg. 

Ungebildete Opportunisten?

Die­se Stra­te­gie hat­te für das Regime jedoch auch eini­ge Nach­tei­le. Denn sie zwang vie­le gebil­de­te, weni­ger akti­ve und eher ableh­nend ein­ge­stell­te Per­so­nen dazu, einen Mili­tär­dienst zu absol­vie­ren, für den sie nicht son­der­lich geeig­net waren. Dies stärk­te die Oppo­si­ti­on gegen den Staat oder erzeug­te sie bis­wei­len regel­recht bei Men­schen, die sich ansons­ten mit der Rea­li­tät in der DDR abge­fun­den hät­ten. Ande­rer­seits ermög­lich­te sie auch Oppor­tu­nis­ten den Zugang zur begehr­ten höhe­ren Bil­dung, selbst wenn sie dafür von ihren Leis­tun­gen her gar nicht geeig­net waren.

Das stimmt im Prin­zip, ist aber hoch­gra­dig irre­füh­rend, weil der Unter­of­fi­ziers­dienst­grad mit dem Offi­ziers­dienst­grad durch­ein­an­der­ge­wor­fen wur­de. Die Zahl der Abitur­plät­ze war sehr gering. Weder im Wes­ten noch im Osten mach­ten damals so vie­le Men­schen Abitur wie heu­te. Von einer Klas­se mit 32 Schüler*innen wur­den zwei zum Abitur wei­ter­emp­foh­len. Da waren dann auch genü­gend sehr gut gebil­de­te dabei, die dann auch noch drei Jah­re zur Armee „woll­ten“. Anders war das bei den Offi­ziers­be­wer­bern. Es gab nicht vie­le, die sich für 25 Jah­re für den Dienst fürs Vater­land ver­pflich­ten woll­ten. Wenn das der Fall war, dann wur­den die betref­fen­den Per­so­nen geför­dert. So kamen auch leis­tungs­schwä­che­re Schü­ler auf Erwei­ter­te Ober­schu­len und Spezialschulen.

Das land­läu­fi­ge Argu­ment, dass sämt­li­che Offi­ziers­be­wer­ber nur durch die Aus­sicht auf einen Stu­di­en­platz gekö­dert wur­den, greift jedoch zu kurz. Das mit Rang und Abschluss ver­bun­de­ne Pres­ti­ge wäre für die über­wie­gen­de Mehr­heit von ihnen ansons­ten uner­reich­bar geblie­ben, sodass vie­le Arbei­ter­kin­der es weni­ger als Bür­de, son­dern eher als Chan­ce begriffen.

Das gesam­te Kapi­tel ver­liert natür­lich an Wert, weil nicht klar ist, ob Unter­of­fi­zie­re oder Offi­zie­re gemeint sind. Das Offi­ziers­stu­di­um dau­er­te vier Jah­re. Danach hat­te man eben ein abge­schlos­se­nes Hoch­schul­stu­di­um. Wie das mit dem Pres­ti­ge aus Arbei­ter­sicht aus­sah, ver­mag ich nicht zu beur­tei­len. Offi­zier war in der DDR etwas ande­res als in der BRD. Offi­zie­re waren Teil der Staats­macht und eben auch, weil jede*r das wer­den konn­te, war es nicht beson­ders ange­se­hen. Aber wahr­schein­lich vari­ier­te das auch über die ver­schei­de­nen Pha­sen der DDR hinweg. 

Die Unter­of­fi­ziers­lauf­bahn war in kei­nem Fall mit Pres­ti­ge ver­bun­den. Ich habe das Gan­ze eher als Schmach emp­fun­den. Ich muss­te mich dem Druck beu­gen und haben drei Jah­re mei­ner Jugend in Bad Düben und Kamenz verplämpert.

Es gab übri­gens zum Ende der DDR noch einen Spe­zi­al­witz: Die DDR brauch­te drin­gend Infor­ma­ti­ker. Des­halb war es irgend­wie irr­sin­nig, Män­ner mit ent­spre­chen­dem Stu­di­en­wunsch im Wald rum­lie­gen zu las­sen. Ab 1987 konn­te man des­halb mit dem Stu­di­en­wunsch Infor­ma­tik einen redu­zier­ten Wehr­dienst von nur neun Mona­ten ableis­ten. Vor­aus­set­zung war, dass man sich vor­her für drei Jah­re ver­pflich­tet hat­te. Lei­der kam die­se Reg­lung für mich zu spät, denn 1987 war ich schon ein Jahr bei der Armee. Die, die ein Jahr jün­ger waren als ich, kamen so ein Jahr vor mir wie­der raus. Tja.

Westgeld

In der DDR gab es ab den 70er Jah­ren Inter­shops, in denen man für Forumschecks West­wa­ren erwer­ben konn­te. West-Geld muss­te man in Forumschecks umtau­schen. Ich habe vor dem 10.11.1989 exakt 5,01 DM beses­sen. Das kam so: Ich war in der Komi­schen Oper unter den Lin­den und woll­te mit zwan­zig Mark zwei Kar­ten für ins­ge­samt 14 Mark bezah­len. Die Frau am Schal­ter gab mir zwei Mün­zen zurück. Eine war komisch. Ich woll­te mich erst beschwe­ren, aber zum Glück habe ich recht­zei­tig geschal­tet und nichts gesagt: Sie hat­te mir fünf West-Mark gegeben. 

5 DM.

Den West-Pfen­nig hat­te ich im Pio­nier­thea­ter Thea­ter der Freund­schaft gefun­den, wo wir ab und zu mit der Schu­le zu Auf­füh­run­gen gin­gen. West­geld! Aus­ge­rech­net da! Jeden­falls war ich durch den Opern­be­such zu unge­ahn­tem Reich­tum gekom­men. Ich habe die fünf Mark dann in den Inter­shop gebracht. Dar­an muss­te ich den­ken, als ich fol­gen­den Satz im Buch Dies­seits der Mau­er von Kat­ja Hoyer gele­sen habe:

Zum Reiz der Inter­shops mit all den aus­län­di­schen Waren trug zusätz­lich bei, dass die­se alles ande­re alles bil­lig waren. Kas­set­ten für die belieb­ten Rekor­der kos­te­ten 5, Match­box-Autos 2,50 und eine Ori­gi­nal-Wrang­ler-Jeans 50 D‑Mark.

Die­sen Satz kann man nicht rich­tig ein­ord­nen, denn es feh­len Ver­gleichs­prei­se. Auch fehlt der Zeit­punkt, zu dem die­se Prei­se gegol­ten haben. Als ich über die fünf Mark ver­fü­gen konn­te, kos­te­ten Kas­set­ten jeden­falls kei­ne fünf Mark. Das weiß ich genau, denn ich hat­te ja nur fünf Mark. Davon habe ich eine 90er Kas­set­te gekauft (BASF, wenn ich mich recht erin­ne­re, sie­he auch Ost­mu­sik / West­mu­sik) und einen Schlumpf für mei­nen klei­nen Bru­der. Dann blieb noch etwas übrig. In Inter­shops gab es kein Wech­sel­geld, so dass man dann bei Rest­be­trä­gen wie 60 Pfen­nig noch irgend­wel­chen Süß­kram neh­men muss­te. Ich glau­be, dass die Kas­set­te so etwa drei DM gekos­tet hat.

Nachtrag

Peer hat auf Mast­o­don dar­auf hin­ge­wie­sen, dass es ganz ver­schie­de­ne Typen von Kas­set­ten gab und dass die­se unter­schied­lich teu­er waren. Also gab es viel­leicht Super-duper-Bän­der, die 5 DM gekos­tet haben. Aber typisch war das nicht.