5. Tagung der V. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen der DDR 15.–19. September 1989 in Eisenach

Es folgt ein Doku­ment aus dem Sep­tem­ber 1989 und für die bes­se­re Les­bar­keit die Digi­ta­li­sie­rung. Die­ses Doku­ment war wohl inner­halb der evan­ge­li­schen Kir­chen­ge­mein­den der DDR zugäng­lich. Ste­fan Mül­ler 07.12.2024

5. Tagung der V. Syn­ode des Bun­des der Evan­ge­li­schen Kir­chen der DDR 15.–19. Sep­tem­ber 1989 in Eisenach

Beschluß
der Syn­ode des Bun­des der Evan­ge­li­schen Kir­chen in der DDR zum Bericht des Vor­sit­zen­den der Kon­fe­renz der Ev. Kir­chen­lei­tun­gen und dem Arbeits­be­richt des Sekre­ta­ri­ats des Bundes

Die Syn­ode des Bun­des der Ev. Kir­chen in der DDR hat den Bericht des Vor­sit­zen­den der Kon­fe­renz der Ev. Kir­chen­lei­tun­gen und den Arbeits­be­richt des Sekre­ta­ri­ats des Bun­des mit Dank ent­ge­gen­ge­nom­men. Aus­drück­lich dankt die Syn­ode der Kon­fe­renz für ihren Brief an den Vor­sit­zen­den des Staats­ra­tes, in dem zu bedrän­gen­den Pro­ble­men unse­res Lan­des Stel­lung genom­men wird.

Auch von der Syn­ode des Bun­des wird erwar­tet, daß sie sich dazu äußert:

Die Mas­sen­aus­wan­de­rung von Bür­gern der DDR in die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land zwingt dazu, Ursa­chen dafür zu benen­nen, daß offen­sicht­lich vie­le, beson­ders auch jun­ge Men­schen in unse­rem Land und für unser Land kei­ne Zukunft mehr sehen. In der Syn­ode wur­den viel­fäl­ti­ge Erfah­run­gen genannt:

  • erwar­te­te und längst über­fäl­li­ge Refor­men wer­den offi­zi­ell als
 unnö­tig erklärt;
  • die Mit­ver­ant­wor­tung des ein­zel­nen Bür­gers und sei­ne kri­ti­sche Ein­fluß­nah­me sind nicht ernst­haft gefragt;
  • den Bür­gern zuste­hen­de Rech­te wer­den viel­fach ledig­lich als 
Gna­dener­weis gewährt;
  • hier geweck­te und von außen genähr­te Wohl­stand­ser­war­tun­gen kön­nen nicht befrie­digt werden;
  • öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Miß­stän­de erschwe­ren zuneh­mend 
das Leben;
  • All­tags­er­fah­run­gen und die Bericht­erstat­tung der Medi­en klaf­fen weit auseinander;
  • eine öffent­li­che Aus­spra­che über Ursa­chen der Kri­sen­er­schei­nun­gen wird nicht zugelassen;
  • Hin­wei­se auf offen­sicht­li­che Unkor­rekt­hei­ten in der Durch­füh­rung der Wahl und der Bekannt­ga­be blie­ben ohne Reaktionen;
  • offi­zi­el­le Äuße­run­gen zu Vor­gän­gen in Chi­na und Rumä­ni­en wecken Befürch­tun­gen und Ängs­te für die Zukunft;
  • gewalt­lo­se
 Demons­tra­tio­nen jun­ger Men­schen wer­den gewalt­sam 
unter­drückt, Betei­lig­te wer­den zu Unrecht und über­dies unan­ge­mes­sen bestraft;
  • Frei­zü­gig­keit im Rei­se­ver­kehr wird nicht gewährt.

Aus die­sen und ande­ren Grün­den sind vie­le Hoff­nun­gen auf Ver­än­de­rung in der DDR erloschen.

Die Fol­gen der Abwan­de­rung betref­fen alle in die­sem Land:

Fami­li­en und Freund­schaf­ten wer­den zer­ris­sen, alte Men­schen füh­len sich im Stich gelas­sen. Kran­ke ver­lie­ren ihre Pfle­ger und Ärz­te, Arbeits­kol­lek­ti­ve wer­den dezi­miert, haben die Gren­ze ihrer Belast­bar­keit erreicht und über­schrit­ten, die Fol­gen für die Volks­wirt­schaft sind unüber­seh­bar. Auch Kir­chen­ge­mein­den wer­den klei­ner. Das poli­ti­sche Kli­ma der Ent­span­nung ist bedroht. Feind­bil­der leben wie­der auf, Pro­ble­me zwi­schen den bei­den deut­schen Staa­ten belas­ten die Nach­barn, beson­ders Ungarn, gewach­se­ne Bezie­hun­gen und Gesprä­che wer­den abge­bro­chen. Der Ost-West-Kon­flikt in sei­ner deutsch-deut­schen Zuspit­zung ver­drängt Zukunfts­auf­ga­ben und bin­det Kräf­te, die zur Gewin­nung von Frie­den in Gerech­tig­keit und zur Bewah­rung der Schöp­fung drin­gend gebraucht werden.

Ange­sichts die­ser Situa­ti­on haben wir im Bund der Ev. Kir­chen Anlaß, uns selbst zu fra­gen, wie wir unse­rem Auf­trag gerecht gewor­den sind. Wir stel­len fest, daß unser Reden vie­le nicht mehr erreicht. Immer mehr Men­schen fra­gen danach, was sie aus ihrem Leben machen kön­nen, um sich dadurch selbst zu ver­wirk­li­chen. Ande­re, vor allem jun­ge Men­schen, kön­nen kei­ne Hoff­nung mehr benen­nen, die ihrem Leben ein Ziel gibt. Uns gelingt es nur schwer, die Hoff­nung zu ver­mit­teln, die uns Chris­ten gege­ben ist und auf den vom Evan­ge­li­um eröff­ne­ten Weg ein­zu­la­den, der jeden zur Erfül­lung sei­nes Lebens führt.

In der Nach­fol­ge Jesu Chris­ti erfüllt sich das Leben nicht in dem, was ich für mich selbst habe, son­dern in dem, was ich für ande­re bin. Dar­in sind wir nicht glaub­wür­dig, solan­ge unser eige­ner Lebens­stil, als Kir­che und als Chris­ten, weni­ger ein Bei­spiel dafür ist, was wir ande­ren sein kön­nen, als eher dafür, was wir sel­ber haben. Auch wir ori­en­tie­ren uns lie­ber an dem Lebens­stan­dard derer, die mehr haben als wir, obwohl die meis­ten Men­schen die­ser Erde, auch in Euro­pa, mit viel weni­ger aus­kom­men müs­sen. Das wirkt sich bis in unse­re öku­me­ni­schen Bezie­hun­gen aus.

Die Über­zeu­gungs­kraft unse­res Glau­bens und Redens hängt auch davon ab, daß wir als Kir­che glaub­wür­di­ger wer­den. Nach nun­mehr 20 Jah­ren ver­ste­hen sich die im Bund zusam­men­ge­schlos­se­nen Glied­kir­chen als eine Kir­che. So wird der Bund weit­hin auch von den Gemein­den ange­se­hen. Trotz­dem sind bis­her alle Bemü­hun­gen geschei­tert, unse­rer Gemein­schaft als Kir­che eine ent­spre­chen­de orga­ni­sa­to­ri­sche Form zu geben. Unse­re Gemein­schaft wird durch Allein­gän­ge, wie zuletzt im Zusam­men­hang mit der Dom­ein­wei­hung in Greifs­wald, und durch ver­här­te­te Struk­tu­ren gefähr­det. Der Gegen­satz zwi­schen Anspruch und Wirk­lich­keit unse­res Kir­che­seins steht uns vor Augen.

Geist­lich beweg­te und sozi­al enga­gier­te Grup­pen, die Impul­se der Erneue­rung in unse­re Kir­chen tra­gen wol­len, ste­hen sich zugleich ver­ständ­nis­los und ableh­nend gegen­über. Über­all dort, wo die Gemein­den trag­fä­hi­ge Gemein­schaf­ten sind, kön­nen sie ein­la­den, ohne zu ver­ein­nah­men, und Gebor­gen­heit geben, die zur Mün­dig­keit hilft. Sol­che Gemein­schaft erweist sich dar­in, daß sie trotz der Span­nun­gen und Mei­nungs­un­ter­schie­de zusam­men­bleibt in Gebet, Abend­mahl und Got­tes­dienst. Und die erweist sich dar­in, daß sie sich der in Not gera­te­nen fer­nen una nahen Nächs­ten annimmt. Wir lei­den unter der Erfah­rung, daß unser Ein­tre­ten für die ande­rer so wenig bewirkt. Es gelingt uns schwer so zu reden, die Betrof­fe­nen sich ver­stan­den füh­len, und daß uns die ver­ste­hen, an die wir uns wen­den. Aber ein Reden und Tun, das wir vor Gott ver­ant­wor­ten kön­nen, bleibt unse­re Aufgabe.

Unser Glau­be gibt uns Grund, nach Wegen zu suchen, die heu­te und mor­gen gegan­gen wer­den kön­nen. Wir wis­sen uns vor Gott in unse­re Zeit und an unse­ren Ort gestellt. 40 Jah­re DDR sind auch ein Lern­weg unse­rer Kir­chen, Christ­sein in einem sozia­lis­ti­schen Staat zu bewäh­ren. Wir sehen uns heu­te vor die Her­aus­for­de­rung gestellt, Bewahr­tes zu erhal­ten und neue Wege in eine gerech­te­re und par­ti­zi­pa­to­ri­sche Gesell­schaft zu suchen. Wir wol­len mit­hel­fen, daß Men­schen auch in unse­rem Land ger­ne leben. Wir möch­ten sie dazu ermutigen.

So bit­ten wir sie, hier zu leben und einen Bei­trag für eine gute Zukunft in unse­rem Land zu leis­ten. Wir kön­nen und dür­fen aber nicht alle Pro­ble­me gleich­zei­tig lösen wollen.

Wir brau­chen:

  • ein all­ge­mei­nes Pro­blem­be­wußt­sein dafür, daß Refor­men in unse­rem Land drin­gend not­wen­dig sind;
  • die offe­ne und öffent­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit unse­ren gesell­schaft­li­chen Problemen;
  • jeden für die ver­ant­wort­li­che Mit­ar­beit in unse­rer Gesellschaft;
  • ver­ant­wort­li­che plu­ra­lis­ti­sche Medienpolitik;
  • demo­kra­ti­sche Parteienvielfalt;
  • Rei­se­frei­heit für alle Bürger;
  • wirt­schaft­li­che Reformen;
  • ver­ant­wort­li­chen Umgang mit gesell­schaft­li­chem und per­sön­li­chem
 Eigentum;
  • Mög­lich­keit fried­li­cher Demonstrationen;
  • ein Wahl­ver­fah­ren, das die Aus­wahl zwi­schen Pro­gram­men und Per­so­nen ermöglicht.

50 Jah­re nach Kriegs­aus­bruch wird uns erneut bewußt, daß die Erin­ne­rung wach­blei­ben muß und die Auf­ar­bei­tung von Grau­en und Schuld für uns Deut­sche nicht abge­schlos­sen sein kann. Die Syn­ode bit­tet alle Men­schen in Ost und West, neu erwa­chen­den natio­na­lis­ti­schen und nazis­ti­schen Stim­men und Stim­mun­gen mit aller argu­men­ta­ti­ven und admi­nis­tra­ti­ven Ent­schie­den­heit ent­ge­gen­zu­tre­ten und recht­zei­tig die tie­fe­ren Ursa­chen für sol­che Erschei­nun­gen, beson­ders bei der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on zu erken­nen und zu beseitigen.

Nach wie vor steht die unbe­ding­te Ver­pflich­tung im Vor­der­grund, für den Frie­den unter den Völ­kern ein­zu­tre­ten. Es gibt ermu­ti­gen­de Zei­chen auf dem lan­gen Weg zum Frieden.

Das “Neue Den­ken” hat wei­te­re Kon­tu­ren gewon­nen, z.B. durch die sowje­ti­sche Ein­la­dung zu “glo­ba­ler Soli­da­ri­tät” , die mili­tä­ri­sche öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Sicher­heits­part­ner­schaft in welt­wei­ten Per­spek­ti­ve einschließt.

Signa­le des Frie­dens sind ein­sei­ti­ge Rüstungs‑, Trup­pen- und Rüs­tungs­haus­halts­re­du­zie­run­gen sozia­lis­ti­scher Staa­ten, auch der DDR. Wir erwar­ten die Ant­wort von NATO-Staa­ten, ihrer­seits mit dem Abbau mili­tä­ri­scher Ungleich­ge­wich­te zu beginnen.

Trup­pen­re­du­zie­rungs­ver­hand­lun­gen auf­grund bei­der­sei­ti­ger Kom­pro­miß­be­reit­schaft kom­men vor­an. Immer mehr Sol­da­ten arbei­ten in der Indus­trie. Die Mili­tärs bei­der Bünd­nis­sys­te­me begeg­nen sich. Die Kon­zep­ti­on hin­läng­li­cher Ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit wird eben­so wei­ter­ent­wi­ckelt wie das Kon­zept der struk­tu­rel­len Angriffs­un­fä­hig­keit. Eine Kon­ver­si­ons­in­dus­trie nimmt kon­kre­te For­men an. Durch den Umbau von Rake­ten­schlep­pern zu Stra­ßen­krä­nen wur­de die pro­phe­ti­sche Visi­on “Schwer­ter zu Pflug­scha­ren” in unser tech­ni­sches Zeit­al­ter übersetzt.

Das Wie­ner Abschluß­do­ku­ment eröff­net den euro­päi­schen Staa­ten kon­kre­te mensch­li­che, poli­ti­sche, wirt­schaft­li­che, öko­lo­gi­sche und kul­tu­rel­le Per­spek­ti­ven beim Bau des Euro­päi­schen Hau­ses. Die Syn­ode unter­streicht, daß sie auf eine akti­ve Betei­li­gung bei­der deut­scher Staa­ten und der christ­li­chen Kir­chen in die­sem Pro­zeß hofft. Wie­der­ver­ei­ni­gungs­wün­sche wecken Ängs­te bei ande­ren Völkern.

Die Syn­ode erin­nert an ihren Beschluß vom 20.9.88, in dem sie fest­ge­stellt hat “daß die künf­ti­ge Ent­wick­lung in unse­rem Land von Dia­log­fä­hig­keit und Dia­log­be­reit­schaft in Kir­che und Gesell­schaft wesent­lich abhängt.” Es gibt kei­ne ver­nünf­ti­ge Alter­na­ti­ve zur Fort­set­zung und Erwei­te­rung der Dia­log­po­li­tik auf allen Ebenen.

Eine sich ent­wi­ckeln­de “Kul­tur des Streits” hat in den letz­ten Jah­ren eini­ge wich­ti­ge außen- und innen­po­li­ti­sche Früch­te getra­gen. Die Syn­ode ist bestürzt, daß die seit lan­gem erbe­te­nen Sach­ge­sprä­che zwi­schen der Kon­fe­renz der Ev. Kir­chen­lei­tun­gen und der Regie­rung der DDR nicht mög­lich waren und daß das für den 12.9. zuge­sag­te Gespräch zum drit­ten KSZE-Fol­ge­tref­fen wie­der abge­sagt wur­de; dabei soll­te auch über die mensch­li­chen Dimen­sio­nen des Hel­sin­ki-Pro­zes­ses gespro­chen wer­den. Die Syn­ode bedau­ert auch die jüngs­te Absa­ge von Gesprä­chen zwi­schen Ver­tre­tern bei­der deut­scher Staa­ten. Gera­de jetzt sind Gesprä­che nötig. Gera­de jetzt kön­nen wir in und zwi­schen bei­den deut­schen Staa­ten das “Neue Den­ken” bewäh­ren und dazu bei­tra­gen, daß nicht alte Feind­bil­der medi­en­ver­stärkt das Kli­ma vergiften.

Um uns den Weg in eine sozi­al gerech­te, demo­kra­ti­sche, nach innen und außen frie­dens­fä­hi­ge und öko­lo­gi­sche Gesell­schaft nicht zu ver­bau­en, ist jetzt ein offe­ner gesamt­ge­sell­schaft­li­cher Dia­log dring­lich gewor­den. Dazu gehört auch eine Öff­nung der bis­he­ri­gen poli­ti­schen Strukturen.

Kei­ner hat gegen­wär­tig d i e Lösung.

Auf der Suche nach Wegen, die Zukunft eröff­nen, wer­den wir der Tat­sa­che ins Auge sehen müs­sen, daß uns Ver­än­de­run­gen nicht in den Schoß fal­len. Es bedarf gedul­di­ger und beharr­li­cher Bemü­hun­gen. Dar­um wol­len wir uns nicht ent­mu­ti­gen las­sen von Schwie­rig­kei­ten und Rück­schlä­gen, von Miß­ver­ständ­nis­sen und Ver­däch­ti­gun­gen. Es kommt auf den lan­gen Atem an. Unser Glau­be kann uns dazu Mut und Kraft geben. Uns ist nicht ver­hei­ßen, daß uns das Kreuz erspart bleibt, aber daß unser Herr mit uns das Kreuz trägt und einen Weg in die Zukunft eröffnet.


Eisen­ach, den 19. Sep­tem­ber 1989
Der Prä­ses der Syn­ode des Bun­des der Ev. Kir­chen in der DDR
Dr. Gaeb­ler

62/89 Sta­jupfa

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