(Ost-)Deutsche Christen in Ost und West

In den letz­ten Jah­ren gibt es mit dem Erstar­ken der AfD wie­der eine grö­ße­re Debat­te zu Nazis in der DDR. Es wird immer wie­der die offi­zi­el­le Geschich­te des nazifrei­en Lan­des zitiert. Dass die DDR nazifrei war ist sicher nicht rich­tig, aber dass die Nazi-Dich­te gerin­ger war und dass sie eben nicht – im Unter­schied zu Nazi-Grö­ßen wie Hans Glob­ke und Hans Fil­bin­ger – in Füh­rungs­po­si­tio­nen waren ist und bleibt wahr. Im Wikip­deia-Arti­kel zu Rechts­extre­mis­mus in der DDR wer­den drei Per­so­nen exem­pla­risch genannt: Arno von Len­ski, Franz Füh­mann oder Erhard Mau­ers­ber­ger. Per­so­nen wie Arno von Len­ski habe ich schon in einem frü­he­ren Post bespro­chen. Len­ski war in Sta­lin­grad in sowje­ti­sche Gefan­gen­schaft gera­ten und hat dann die Sei­ten gewechselt:

Nach eini­gem Zögern trat Len­ski am 7. Mai 1944 dem Natio­nal­ko­mi­tee Frei­es Deutsch­land und dem Bund Deut­scher Offi­zie­re bei. Dafür wur­de er von einem Kriegs­ge­richt in Tor­gau in Abwe­sen­heit zum Tode ver­ur­teilt. Er war Mit­ar­bei­ter der Zei­tung und des Sen­ders Frei­es Deutsch­land in Luno­wo. Von Dezem­ber 1944 bis Mai 1945 stu­dier­te er Gesell­schafts­wis­sen­schaf­ten und Poli­ti­sche Öko­no­mie in der Anti­fa-Schu­le in Kras­no­gorsk. Von März 1946 bis August 1949 war er mili­tä­ri­scher Fach­be­ra­ter bei Mos­film für den Doku­men­tar­film Die Schlacht um Sta­lin­grad.

Wiki­pe­dia-Ein­trag von Len­ski, abge­ru­fen 22.06.2024

Franz Füh­mann war eben­falls auf einer Anti­fa-Schu­le und hat dann als Assis­tenz­leh­rer an Anti­fa-Schu­len gelehrt. Wenn wir über Faschis­mus und Faschis­ten reden, dann nicht über sol­che, die zu Antifaschist*innen wur­den, son­dern sol­che, die unbe­hel­ligt ihr Leben füh­ren konn­ten und es zum Teil noch füh­ren. Sol­che wie Karl M.:

Der drit­te Name ist Erhard Mau­ers­ber­ger, der Mit­ar­bei­ter des Insti­tuts zur Erfor­schung und Besei­ti­gung des jüdi­schen Ein­flus­ses auf das deut­sche kirch­li­che Leben war. Er hat dar­an mit­ge­wirkt, Kir­chen­lie­der umzu­dich­ten. Das wur­de zu DDR-Zei­ten nicht auf­ge­ar­bei­tet und ist in der Tat unakzeptabel.

Inter­es­sant ist, dass das Insti­tut sei­ne Mit­ar­bei­ter ver­öf­fent­licht hat, so dass man jetzt unter­su­chen kann, was aus den Nazis und Anti­se­mi­ten, die bis 1945 im Osten gelebt haben, gewor­den ist. Wiki­pe­dia hat eine lan­ge Lis­te mit Namen, von denen vie­le ver­linkt sind. Um zu zei­gen, dass nach dem Krieg weni­ger Nazis im Osten waren, muss man nur die Ost-Nazis anschau­en und unter­su­chen, wie vie­le von ihnen in den Wes­ten gegan­gen sind, denn es wird wohl kaum ein West-Nazi sein Leben auf­ge­ge­ben haben, um zu den Rus­sen in den Osten zu zie­hen. (Das setzt natür­lich eine Gleich­ver­tei­lung von Nazis in Ost und West direkt nach dem Krieg voraus.)

Die Wiki­pe­dia-Sei­te lis­tet die Mit­ar­bei­ter in drei Rubriken:

  • Mit­ar­bei­ter in kir­chen­lei­ten­der Funktion
  • Geist­li­che bzw. Pfarrer
  • Hoch­schul­leh­rer bzw. Akademiker

Im fol­gen­den sor­tie­re ich die Lis­ten nach Ster­be- oder Wohn­ort nach 1945 in West, Ost, unbekannt/irrelevant. Irrele­vant ist der Ster­be­ort zum Bei­spiel bei Per­so­nen, die in Kriegs­ge­fan­gen­schaft gestor­ben sind. Irrele­vant sind auch die­je­ni­gen, die schon vor Kriegs­en­de im Wes­ten waren.

In kirchenleitender Funktion

In den Westen gegangen 

  1. Bischof Fried­rich Peter, Ber­lin, gestor­ben 1960, Gro­nau, NRW „Obgleich Peter 1948 aus dem Pfarr­amt ent­las­sen wur­de, blie­ben ihm die geist­li­chen Rech­te erhal­ten. So erhielt er Beschäf­ti­gungs­auf­trä­ge in der Evan­ge­li­schen Kir­che von West­fa­len, zunächst in Oeding und seit 1953 in Gro­nau (Westf.).“
  2. Lan­des­bi­schof Walt­her Schultz, Schwe­rin, gestor­ben 1957 in Schna­cken­burg, Nie­der­sach­sen „Nach Kriegs­en­de wur­de Schultz, zusam­men mit Kon­sis­to­ri­al­prä­si­dent Her­mann Schmidt zur Ned­den, am 25. Juni 1945 von der bri­ti­schen Besat­zungs­macht ver­haf­tet und inter­niert. Zwei Tage spä­ter leg­te er sein Amt nie­der. Im Jah­re 1948 wur­de er aus dem Dienst der Lan­des­kir­che Meck­len­burgs ent­las­sen. Im Jah­re 1950 wur­de Schultz mit der pfarr­amt­li­chen Hil­fe­leis­tung in der St.-Dionysius-Kirchengemeinde Fal­ling­bos­tel in der Lüne­bur­ger Hei­de beauf­tragt. Als für die­se Auf­ga­be dort eine neue Pfarr­stel­le errich­tet wur­de, muss­te Schultz die Gemein­de ver­las­sen und über­nahm in Schna­cken­burg an der Elbe ein Gemein­de­pfarr­amt, das er bis zu sei­nem Tode innehatte.“
  3. Ober­kon­sis­to­ri­al­rat Theo­dor Ell­wein, Ber­lin, gestor­ben 1962 Mün­chen „Nach der Ent­las­sung im Dezem­ber 1949 wur­de er 1950 von kirch­li­cher Sei­te in den Ruhe­stand ver­setzt. Im Jah­re 1951 wur­de er Reli­gi­ons­leh­rer am Gym­na­si­um Pasing und Lehr­be­auf­trag­ter an der Leh­rer­bil­dungs­an­stalt Mün­chen-Pasing. Von 1954 bis 1961 war er Lei­ter der Päd­ago­gi­schen Arbeits­stel­le der Evan­ge­li­schen Aka­de­mie Bad Boll bei Göp­pin­gen. 1955 war er Mit­glied der Stu­di­en­kom­mis­si­on für Leh­rer­bil­dung („Tutz­in­ger Emp­feh­lun­gen“) in der Evan­ge­li­schen Aka­de­mie Tutz­ing. 1961 trat er in den Ruhestand.“
  4. Ober­kon­sis­to­ri­al­rat Hans Hohl­wein, Eisen­ach, gestor­ben 1996 in Solin­gen „Nach 1945 wirk­te Hohl­wein als theo­lo­gi­scher Hilfs­ar­bei­ter in der Props­tei Hal­ber­stadt, und von 1947 bis 1951 ver­wal­te­te er die Pfarr­stel­le Heu­de­ber in der Kir­chen­pro­vinz Sach­sen. Im Jah­re 1951 erfolg­te sei­ne Über­sied­lung in die Bun­des­re­pu­blik Deutschland.“
  5. Kir­chen­rat Wil­helm Bau­er, Eisen­ach, gestor­ben 1969 in Bay­ern „In dem von ihm 1935 her­aus­ge­ge­be­nen Buch „Fei­er­stun­den Deut­scher Chris­ten“ kamen neben Bibel­zi­ta­ten auch Autoren wie Adolf Hit­ler zu Wort. Zugleich betä­tig­te er sich als Schrift­lei­ter der Zeit­schrift „Deut­sche Fröm­mig­keit“, in der die Posi­tio­nen der Deut­schen Chris­ten ver­tre­ten wur­den. In einer ihrer Aus­ga­ben bekun­de­te er: „Wir sind Natio­nal­so­zia­lis­ten. Der Natio­nal­so­zia­lis­mus bedeu­tet uns die Wie­der­auf­rich­tung einer wahr­haf­ten Volks­ord­nung auf dem Grun­de der ewi­gen Geset­ze unse­res Blu­tes und unse­rer Hei­mat­er­de.“ Im Jah­re 1939 erklär­te er sei­ne Mit­ar­beit am Insti­tut zur Erfor­schung und Besei­ti­gung des jüdi­schen Ein­flus­ses auf das deut­sche kirch­li­che Leben. Zu Beginn der 1940er Jah­re wur­de er stell­ver­tre­ten­der Stu­di­en­lei­ter des Thü­rin­ger Pre­di­ger­se­mi­nars. Nach der Befrei­ung vom Natio­nal­so­zia­lis­mus leb­te Bau­er in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, publi­zier­te dort wei­ter und starb in einem Ort des Frei­staats Bayern.“
  6. Lan­des­su­per­in­ten­dent Fried­rich Kent­mann, Güs­trow, gestor­ben 1953 in Ham­burg „Nach dem Ende von Natio­nal­so­zia­lis­mus und Zwei­tem Welt­krieg 1945 wur­de er sei­nes Amtes als Lan­des­su­per­in­ten­dent ent­ho­ben und vom pfarr­amt­li­chen Dienst sus­pen­diert. Sein Nach­fol­ger als Lan­des­su­per­in­ten­dent wur­de mit Wir­kung vom 1. Okto­ber 1945 der Güs­trower BK-Pas­tor Sibrand Sie­gert (1890–1954). 1950 erfolg­te die Ent­las­sung Kent­manns aus dem Dienst der meck­len­bur­gi­schen Landeskirche.“
  7. Super­in­ten­dent Ger­hard Span­gen­berg, Alten­wed­din­gen, gestor­ben 1975 in Dül­men, NRW „Bis zum Antritt der Pfarr­stel­le im west­fä­li­schen Dül­men, wo er bis zu sei­nem Tod leb­te, arbei­te­te er als Ver­wal­ter einer Obst­fir­ma und spä­ter als Kran­ken­haus­ver­wal­ter. Die Kir­chen­lei­tun­gen ver­lang­ten zur Wie­der­auf­nah­me in den Dienst zunächst die Wie­der­ho­lung des Ordi­na­ti­ons­ge­lüb­des, ein Kol­lo­qui­um und die zeit­wei­li­ge Tätig­keit als Hilfs­pre­di­ger, was er ablehn­te. Den­noch stimm­te 1955 die Kir­chen­lei­tung in Bie­le­feld sei­ner Wahl zum Pfar­rer der Gemein­de in Dül­men zu, wo er nach sei­nem Ruhe­stand auch als Mili­tär­pfar­rer wirkte.“

Im Osten geblieben

  1. Reichs­vi­kar Fritz Engel­ke, Schwe­rin, gestor­ben 1956 in Schwe­rin „Nach 1945 wirk­te er als Pas­tor der Evan­ge­lisch-Luthe­ri­schen Lan­des­kir­che Meck­len­burgs in Schwe­rin. Ab 1950 ver­trat er den im Gulag Worku­ta inhaf­tier­ten Aurel von Jüchen an der Kir­che St. Niko­lai (Schelf­kir­che) Schwerin.
  2. Ober­lan­des­kir­chen­rat Wil­ly Kretz­schmar, Dres­den, gestor­ben 1962 in Dres­den „Nach Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges 1945 erfolg­te zunächst sei­ne Ent­las­sung aus dem akti­ven Kir­chen­dienst. 1946 stell­te er den erfolg­rei­chen Antrag auf Reha­bi­li­tie­rung, in dem er sei­ne Mit­ar­beit im „Ent­ju­dungs­in­sti­tut“ in Eisen­ach extrem her­un­ter­spiel­te. In sei­nem Reha­bil­tie­rungs­an­trag an das säch­si­sche Lan­des­kir­chen­amt in Dres­den stell­te er sich selbst „als Ver­führ­ten der NSDAP“ dar. Spä­tes­tens seit 1939 habe er sich „zu akti­ven Geg­ner des NS-Regimes gewan­delt“ und sich anti­na­tio­na­lis­tisch und par­tei­schäd­lich ver­hal­ten sowie Grund­sät­ze der NSDAP bekämpft. 1959 ging Kretz­schmar als kirch­li­cher Finanz­ver­wal­ter der Lan­des­kir­che Sach­sens in den Ruhestand.“
  3. Ober­lan­des­kir­chen­rat Hein­rich Seck, Dres­den, gestor­ben 1947 in Stadt Weh­len „In die­ser Eigen­schaft und als Mit­glied der Deut­schen Chris­ten war er Mit­ar­bei­ter am Insti­tut zur Erfor­schung und Besei­ti­gung des jüdi­schen Ein­flus­ses auf das deut­sche kirch­li­che Leben und wur­de des­halb nach Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges 1945 aus dem akti­ven Kir­chen­dienst ent­las­sen. Er zog in die Säch­si­sche Schweiz, wo er im Alter von 51 Jah­ren in Stadt Weh­len starb.“
  4. Ober­kir­chen­rat Fried­rich Busch­töns, Ber­lin, gestor­ben 1962 in Ber­lin „1945 über­nahm er die Auf­sicht über die kirch­li­chen Ver­mö­gens­wer­te im Schloss Ilsen­burg und wenig spä­ter über das kirch­li­che Flücht­lings­la­ger in Stol­berg. 1946 wur­de Busch­töns in den Ruhe­stand ver­setzt. Er hat aber auch danach noch pfarr­amt­li­che Diens­te geleis­tet, so etwa in Klein­mach­now. 1955 gehör­te er zum Her­aus­ge­ber- und Redak­ti­ons­kreis der vom ZK der SED ange­reg­ten Zeit­schrift Glau­be und Gewis­sen: eine pro­tes­tan­ti­sche Monats­schrift.
  5. Kir­chen­rat Erhard Mau­ers­ber­ger, Eisen­ach, gestor­ben 1982 Leip­zig, Chor­lei­ter, Lei­ter Bach-Komi­tee, 1972 bei poli­ti­scher Säu­be­rung aus Chor­lei­tung entfernt. 

Unbekannt / irrelevant

  1. Lan­des­bi­schof Mar­tin Sas­se, Eisen­ach, gestor­ben 1942 an Schlaganfall
  2. Lan­des­bi­schof Erwin Bal­zer, Lübeck
  3. Lan­des­bi­schof Adal­bert Paul­sen, Kiel
  4. Bischof Wil­helm Sta­edel, Her­mann­stadt
  5. Bischof Hein­rich Josef Ober­heid, Bad Godesberg
  6. Prä­si­dent Chris­ti­an Kin­der, Kiel
  7. Prä­si­dent Fried­rich Wer­ner, Ber­lin-Char­lot­ten­burg
  8. Vize­prä­si­dent Hahn, Berlin-Charlottenburg
  9. Ober­kir­chen­rat Johan­nes Sie­vers, Lübeck
  10. Super­in­ten­dent Thie­me, Solingen
  11. Dekan Wal­ter Mulot, Wiesbaden
  12. Ober­kir­chen­rat Fröh­lich, Leipzig
  13. Ober­kon­sis­to­ri­al­rat Schön­rock, Schwerin
  14. Ober­kon­sis­to­ri­al­rat Schultz, Schwerin
  15. Ober­kon­sis­to­ri­al­rat Wie­ne­ke, Berlin
  16. Kir­chen­re­gie­rungs­rat Erwin Brau­er, Eisen­ach, gestor­ben 1946 Buchen­wald „Nach der Befrei­ung vom Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­lor er sei­ne Ämter und wur­de von den sowje­ti­schen Mili­tär­be­hör­den im Spe­zi­al­la­ger Nr. 2 in Buchen­wald inter­niert, wo er am 19. Dezem­ber 1946 verstarb.“
  17. Kir­chen­rat Ger­hard Braun­schweig, Dresden
  18. Kon­sis­to­ri­al­rat Hans Pohl­mann, Schnei­de­mühl
  19. Gene­ral­su­per­in­ten­dent Hans Schött­ler, Buch­schlag
  20. Lan­des­su­per­in­ten­dent Hans Hein­rich Fölsch, Neustrelitz
  21. Lan­des­ju­gend­pfar­rer Gar­ten­schlä­ger, Potsdam
  22. Kir­chen­rat Volk­mar Franz, Eisenach
  23. Propst Johan­nes Grell (1875–1947), Lei­ter der Kir­chen­pro­vinz Grenz­mark Posen-West­preu­ßen, Schneidemühl
  24. Super­in­ten­dent Krü­ger, Sagan
  25. Super­in­ten­dent Hugo Pich, Eisen­ach

Zwi­schen­fa­zit: Von den Nazi-Chris­ten mit kirch­li­cher Funk­ti­on im Osten sind 7 in den Wes­ten gegan­gen und 5 im Osten geblie­ben. Das bedeu­tet ers­tens, dass die Mehr­heit in den Wes­ten gegan­gen ist und zwei­tens, dass es im Osten sie­ben Nazis weni­ger und im Wes­ten sie­ben Nazis mehr gab als vor der Befreiung.

Geistliche bzw. Pfarrer

Die Lis­te der Geist­li­chen ist lang. Nur weni­ge sind in Wiki­pe­dia ver­linkt. Ich lis­te hier nur die ver­link­ten auf.

In den Westen gegangen 

  1. Pfar­rer Her­men­au, Pots­dam, gestor­ben 1981 Wies­ba­den „Im Jah­re 1939 erklär­te er sei­ne Mit­ar­beit am Insti­tut zur Erfor­schung und Besei­ti­gung des jüdi­schen Ein­flus­ses auf das deut­sche kirch­li­che Leben. In zahl­rei­chen Publi­ka­tio­nen ver­trat er sei­ne Über­zeu­gung von der Rol­le der deut­schen Frau im Reich Adolf Hit­lers. […] 1972: Ver­dienst­kreuz 1. Klas­se der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land“ Zur Ent­na­zi­fi­zie­rung und zum Grund für das Bun­des­ver­dienst­kreuz steht nichts in Wikipedia. 
  2. Pfar­rer Hosen­thien, Mag­de­burg, gestor­ben 1972 in Braun­schweig „1949 folg­te Albert Hosen­thien sei­nem Sohn und zog nach Fort Bliss in El Paso (Texas), kehr­te jedoch, da er mit den dor­ti­gen Gege­ben­hei­ten nicht zurecht­kam, 1954 wie­der nach Deutsch­land zurück. Da die Regi­on Mag­de­burg jetzt in der DDR lag, sie­del­te er sich in Braun­schweig, im west­li­chen Teil Deutsch­lands an. Er arbei­te­te hier auch wie­der als Pfarrer.“
  3. Pfar­rer Hun­ger, Eisen­ach, gestor­ben 1995 Müns­ter, NRW „Nach 1945 ori­en­tier­te er sich auf das Gebiet der Sexu­al­erzie­hung, was ihm den Spitz­na­men „Sex-Hun­ger“ ein­trug. Bis Ende der 1960er Jah­re publi­zier­te er sei­ne christ­lich-kon­ser­va­ti­ve Sexu­al­mo­ral im Güters­lo­her Ver­lags­haus. Er wur­de auch Redak­ti­ons­lei­ter der Zeit­schrift Der evan­ge­li­sche Reli­gi­ons­leh­rer an der Berufs­schu­le, die vom Schrif­ten­mis­si­ons­ver­lag Glad­beck her­aus­ge­ge­ben wurde.“ 
  4. Pfar­rer Kers­ten-Thie­le, Köthen, gestor­ben 1988 Göt­tin­gen, Nie­der­sach­sen „Nach 1945 wirk­te Kers­ten-Thie­le im Vor­stand der Deut­schen Ost­asi­en-Mis­si­on und publi­zier­te in deren Sin­ne meh­re­re Bücher. 1948 war er Pfar­rer in Göt­tin­gen-Gro­ne und 1954 in Düs­sel­dorf. Von 1960 bis 1964 war er Reli­gi­ons­leh­rer am Rethel-Gym­na­si­um (bzw. Jaco­bi-Gym­na­si­um) Düs­sel­dorf und zwi­schen 1968 und 1973 war er als Pas­tor in Sereetz tätig. Anschlie­ßend ging er in die Rhei­ni­sche Lan­des­kir­che zurück.“ 
  5. Pfar­rer Kuhl, Ber­lin, gestor­ben 1959 Kas­sel „Spä­te­re Wohn­sit­ze waren Nord­kir­chen, wo er von 1949 bis 1956 Pfar­rer war. Hier grün­de­te er einen Kirch­bau­ver­ein, um in Nord­kir­chen ein Gemein­de­zen­trum schaf­fen zu kön­nen. Im Jahr 1956 wur­de ihm von der evan­ge­lisch-theo­lo­gi­schen Fakul­tät der Uni­ver­si­tät Bonn die Ehren­dok­tor­wür­de ver­lie­hen. Nach­dem Kuhl 1957 in den Ruhe­stand gegan­gen war, leb­te er bis zu sei­nem Tod 1959 in Kas­sel und hin­ter­ließ eine Frau und zwei Kin­der. In sei­nen letz­ten Lebens­jah­ren hat­te er einen Lehr­auf­trag an der Georg-August-Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen. Gemein­sam mit Bo Rei­cke arbei­te­te er ab 1958 am Biblisch-his­to­ri­schen Hand­wör­ter­buch für den Ver­lag Van­den­hoeck & Ruprecht. Kuhl war von 1921 bis zu sei­nem Tod Mit­glied der Deut­schen Mor­gen­län­di­schen Gesellschaft.“
  6. Pfar­rer Schmidt-Claus­ing, Pots­dam-Babels­berg, gestor­ben 1984 in West-Ber­lin „Nach dem Zwei­ten Welt­krieg lei­te­te Schmidt-Claus­ing den Wie­der­auf­bau der Gemein­de von 1947 bis 1962 als Pfar­rer an der Ber­li­ner Kai­ser-Fried­rich-Gedächt­nis­kir­che. In der Kir­chen­rui­ne wur­de die ein­zi­ge ver­blie­be­ne Glo­cke wie­der gang­bar gemacht und bis in die 1950er Jah­re zum Begrü­ßungs­läu­ten für die Ber­li­ner Russ­land­heim­keh­rer benutzt. Im begin­nen­den Kal­ten Krieg setz­te Schmidt-Claus­ing damit ein poli­ti­sches Zei­chen und mach­te sei­ne Gemein­de bekannt – bis hin zur US-ame­ri­ka­ni­schen Wochen­schau, die das The­ma dank­bar auf­nahm. Fritz Schmidt-Claus­ing starb in einem West-Ber­li­ner Pfle­ge­heim und wur­de auf dem Fried­hof Wil­mers­dorf beigesetzt.“

Hans-Joa­chim Thi­lo hat sich neu­ori­en­tiert, so dass ich ihn hier extra auf­zäh­le. Prin­zi­pi­ell ist das bei den sechs oben genann­ten Per­so­nen natür­lich auch denk­bar, es steht aber ncihts dazu­in Wikipedia.

  1. Pas­tor Thi­lo, Pir­na, gestor­ben 2003 in Lübeck „Thi­los Erfah­run­gen im Kriegs­dienst, sei­ne Ver­wun­dung bei Kiew und sei­ne Kriegs­ge­fan­gen­schaft, zunächst in Kana­da, dann in Eng­land, führ­ten ihn zu einem Umden­ken und Neu­an­fang. Im Dezem­ber 1947 kehr­te er nach Deutsch­land zurück und erhielt eine Pfarr­stel­le der Kir­chen­ge­mein­de am Liet­zen­see in Ber­lin-Witz­le­ben. Gleich­zei­tig bau­te er hier die kirch­li­che Bera­tungs­ar­beit auf. Von 1956 bis 1961 wirk­te er an der Deut­schen Evan­ge­lisch-Luthe­ri­schen Kir­che in Genf. Anschlie­ßend war er Refe­rent an der Evan­ge­li­schen Aka­de­mie Bad Boll, bis er 1966 zum Pas­tor der Mari­en­kir­che in Lübeck beru­fen wur­de, wo er bis zu sei­ner Pen­sio­nie­rung wirk­te. 1973 habi­li­tier­te er sich an der Uni­ver­si­tät Ham­burg für das Fach Prak­ti­sche Theo­lo­gie. Er blieb Gemein­de­pas­tor, hielt jedoch regel­mä­ßig Lehr­ver­an­stal­tun­gen in Ham­burg. 1979 wur­de ihm der Titel Pro­fes­sor verliehen.“

Im Osten geblieben

  1. Ober­pfar­rer Ungern von Stern­berg, Ron­ne­burg, gestor­ben 1949 in Gera „Noch im Janu­ar 1945 gehör­te er zu den Thü­rin­ger Pröps­ten, die den DC-Kir­chen­prä­si­den­ten Hugo Rönck dazu dräng­ten, den Bischofs­ti­tel anzu­neh­men.[2] Auf­grund des Geset­zes zur Über­prü­fung der Pfar­rer­schaft und der Ver­wal­tung der Thü­rin­ger evan­ge­li­schen Kir­che (Rei­ni­gungs­ge­setz) vom 12. Dezem­ber 1945 wur­de Ungern-Stern­berg aus dem Pfarr­dienst ent­las­sen und die Dienst­be­zeich­nung „Super­in­ten­dent im War­te­stand“ wur­de ihm aberkannt. Er wur­de aber zunächst kom­mis­sa­risch als Pfar­rer in Ron­ne­burg wei­ter­be­schäf­tigt, ab dem 1. Dezem­ber 1947 wur­de er dann wie­der offi­zi­ell als Pfar­rer in Nie­der­pöll­nitz eingesetzt.“
  2. Pfar­rer Busch, Dres­den, gestor­ben 1952, Pir­na, Sachsen 
  3. Pfar­rer Del­ling, Leip­zig, gestor­ben 1986 in Hal­le „Im Jah­re 1945 geriet Del­ling in Däne­mark in Kriegs­ge­fan­gen­schaft und wirk­te bis 1947 als Seel­sor­ger im Inter­nie­rungs­la­ger Aar­hus. Nach sei­ner Ent­las­sung ging er nach Pom­mern und erhielt 1947 einen Lehr­auf­trag an der Ernst-Moritz-Arndt-Uni­ver­si­tät Greifs­wald. 1948 habi­li­tier­te er sich hier mit der Schrift Got­tes­dienst im Neu­en Tes­ta­ment (gedruckt 1952) für das Fach Neu­es Tes­ta­ment. Im Jah­re 1950 wur­de Del­ling als Pro­fes­sor mit Lehr­auf­trag an die Mar­tin-Luther-Uni­ver­si­tät Hal­le-Wit­ten­berg beru­fen, 1952 bekam er den vol­len Lehr­auf­trag, die Beför­de­rung zum Pro­fes­sor mit Lehr­stuhl für spät­an­ti­ke Reli­gi­ons­ge­schich­te erfolg­te 1953. 1955 erhielt er durch Kurt Aland, dem Lei­ter der Kom­mis­si­on für spät­an­ti­ke Reli­gi­ons­ge­schich­te der Deut­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten zu Ber­lin, eine Stel­le zur Reor­ga­ni­sa­ti­on des Cor­pus Hel­le­ni­sti­cum. 1955/56 über­nahm Del­ling eine Gast­pro­fes­sur an der Uni­ver­si­tät Leip­zig, eine Beru­fung kam jedoch eben­so wenig zustan­de wie die von Tei­len der Theo­lo­gi­schen Fakul­tät der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät in den 1960er Jah­ren gewünsch­te Ver­set­zung nach Ber­lin. An der Uni­ver­si­tät Hal­le bau­te Del­ling das Insti­tut für spät­an­ti­ke Reli­gi­ons­ge­schich­te auf, dem er seit 1963 als Direk­tor vor­stand. Nach der IV. Hoch­schul­re­form wur­de Del­ling 1969 zum ordent­li­chen Pro­fes­sor ernannt und 1970 eme­ri­tiert. Del­ling forsch­te vor allem zur Über­lie­fe­rungs­ge­schich­te des Neu­en Tes­ta­ments und zum anti­ken Juden­tum (Das Zeit­ver­ständ­nis des Neu­en Tes­ta­ments, 1940; Jüdi­sche Leh­re und Fröm­mig­keit in den para­li­po­me­na Jere­miae, 1967; gesam­mel­te Auf­sät­ze: Stu­di­en zum Neu­en Tes­ta­ment und zum hel­le­nis­ti­schen Juden­tum, 1950–1968, 1970; Stu­di­en zum Früh­ju­den­tum, 1971–1987, 2000). Außer­dem gab er Biblio­gra­phien zur jüdisch-hel­le­nis­ti­schen For­schung her­aus und arbei­te­te am Cor­pus Hel­le­ni­sti­cum Novi Tes­ta­men­ti mit. Die Uni­ver­si­tät Greifs­wald ver­lieh ihm 1964 die Ehren­dok­tor­wür­de. Del­ling ver­starb am 18. Juni 1986, im Alter von 81 Jah­ren, in Halle.“
  4. Pfar­rer Ohl­and, Unkero­da (Thü­rin­gen), gestor­ben 1953 in Frie­dels­hau­sen, Thü­rin­gen „Im Jah­re 1946 ver­lor Ohl­and sein Amt, durf­te aber seit 1948 in Beh­run­gen als Pfarr­vi­kar wie­der amtie­ren, seit 1952 als Pfar­rer in Friedelshausen.“

Irrelevant

  1. Pfar­rer Dungs, Essen
  2. Pfar­rer Jäger, Frei­burg
  3. Pfar­rer Peters­mann, Bres­lau
  4. Pfar­rer Rie­ge, Lübeck
  5. Pfar­rer Joseph Roth, Diers­heim, gestor­ben 1941 Tirol
  6. Pas­tor Dungs, Wei­mar, gestor­ben 1947 durch Hin­rich­tung oder 1949 in Haft

Zwi­schen­fa­zit: Von den Nazi-Pfar­rern im Osten sind 7 in den Wes­ten gegan­gen und 4 im Osten geblie­ben. Zählt man Hans-Joa­chim Thi­lo zu den irrele­van­ten Fäl­len, weil es bei ihm ein Umden­ken und Neu­an­fang gab, blei­ben 6 in den Wes­ten gegan­ge­ne, die zu den Nazis, die ohne­hin aus dem Wes­ten waren, dazu­ge­kom­men sind und den Osten ver­las­sen haben.

Hochschullehrer bzw. Akademiker

In den Westen gegangen

  1. Johan­nes Hem­pel, Ber­lin, gestor­ben 1964 in Göt­tin­gen „Er über­nahm die Her­aus­ge­ber­schaft der Zeit­schrift für die alt­tes­ta­ment­li­che Wis­sen­schaft. Im Jah­re 1937 wur­de er nach Ber­lin beru­fen und lei­te­te das Insti­tu­tum Judai­cum zur Erfor­schung des Juden­tums „vom Boden der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Welt­an­schau­ung aus“. Im Jah­re 1939 erklär­te Hem­pel sei­ne Mit­ar­beit am Insti­tut zur Erfor­schung und Besei­ti­gung des jüdi­schen Ein­flus­ses auf das deut­sche kirch­li­che Leben als Lei­ter der Arbeits­grup­pe Altes Tes­ta­ment. Auf der Arbeits­ta­gung im März 1941 refe­rier­te er über Die Auf­ga­be von Theo­lo­gie und Kir­che von der Front her gese­hen. Wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges fun­gier­te er als Mili­tär­pfar­rer. Das Kriegs­en­de erleb­te er 1945 in einem Laza­rett an der Nord­see. Im Jah­re 1947 wur­de Hem­pel Pfarr­ver­we­ser in Salz­git­ter-Lebens­tedt, einem Ort im Gebiet der Braun­schwei­gi­schen Lan­des­kir­che. Im Jah­re 1955 wur­de er Hono­rar­pro­fes­sor in Göt­tin­gen und betrieb ab 1958 als Eme­ri­tus sei­ne wis­sen­schaft­li­che Arbeit wei­ter, beson­ders für die von ihm betreu­te Zeitschrift.“
  2. Wolf Mey­er-Erlach, Jena, gestor­ben 1982 in Idstein, Hes­sen „Im Jah­re 1945 ging er aller Ämter ver­lus­tig, auch eine Wie­der­ein­stel­lung in der baye­ri­schen Lan­des­kir­che blieb ihm ver­sagt. 1950 flüch­te­te Mey­er-Erlach aus der DDR. Von 1951 bis 1963 wur­de er Pfarr­ver­wal­ter in Wall­ra­ben­stein und Wörs­dorf bei Idstein im Tau­nus (Evan­ge­li­sche Kir­che in Hes­sen und Nas­sau). Von ihm wur­den his­to­ri­sche Sujets wie das Stück „Anno 1634“ aufgeführt.“
  3. Max Adolf Wagen­füh­rer, Jena, gestor­ben 2010 irgend­wo im Wes­ten „Nach dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs kam er an die Luther­kir­che nach Köln-Nip­pes und wur­de zunächst in den Pfarr­dienst der Rhei­ni­schen Kir­che über­nom­men. 1949 wur­de er wegen sei­ner feh­len­den Ordi­na­ti­on vor­über­ge­hend sus­pen­diert und wech­sel­te in den Schul­dienst. 1953 kam er zurück in den Pfarr­dienst, wur­de ordi­niert und erhielt eine Beru­fung an die neu­erbau­te Erlö­ser­kir­che in Wei­den­pesch. Von 1970 bis 1982 war er Pfar­rer in Prien am Chiemsee.“

Im Osten geblieben

  1. Richard Barth, Jena, gestor­ben nach 1946 „Nach der Befrei­ung vom Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­lor er sein Amt. Ab 1946 arbei­te­te er als Grund­schul­leh­rer in Jena.“
  2. Paul Fie­big, Leip­zig, gestor­ben 1949 in Kal­be Sach­sen Anhalt 
  3. Rein­hard Lie­be, Frei­berg (Sach­sen), gestor­ben 1956 in Frei­berg. Der Wiki­pe­dia-Ein­trag lässt zu wün­schen übrig.
  4. Heinz Erich Eisen­huth, Jena, gestor­ben 1983 Pferdsdorf/Werra, Thü­rin­gen „Nach­dem er 1945 aus dem Uni­ver­si­täts­dienst ent­las­sen wor­den war, wur­de er 1946 zunächst kom­mis­sa­risch, spä­ter im Haupt­amt Pfar­rer in Jena-Zwät­zen. 1952 wur­de er Super­in­ten­dent in Eisen­ach. Anders als in der For­schungs­li­te­ra­tur bis­wei­len behaup­tet wird, über­nahm er jedoch nie die Lei­tung der Evan­ge­li­schen Aka­de­mie Thü­rin­gen. Er gehör­te aber zeit­wei­se der Syn­ode an und erhielt meh­re­re Lehr­auf­trä­ge am Theo­lo­gi­schen Semi­nar Leip­zig. Nach­dem er 1967 in den War­te­stand getre­ten war, ging er 1969 in den Ruhestand.“
  5. Wil­helm Knevels, Ros­tock, gestor­ben 1978 in West-Ber­lin „Im Jah­re 1950 erhielt er einen Lehr­auf­trag an der Mar­tin-Luther-Uni­ver­si­tät Hal­le-Wit­ten­berg. Nach sei­ner Eme­ri­tie­rung leb­te er in West-Ber­lin und wirk­te dort wei­ter an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin. Er ist auf dem Wald­fried­hof Dah­lem bestat­tet. Auf dem Grab­stein steht unter den Lebens­da­ten: „Theo­lo­ge des drit­ten Weges / = Selbst­be­sin­nung des Glau­bens / zwi­schen Fun­da­men­ta­lis­mus / und Exis­ten­zi­al­theo­lo­gie / Unser Glau­be ist der Sieg / der die Welt über­win­det“.“ Knevels ist 1897 geboh­ren, die Eme­ri­tie­rung muss also gegen 1962 gewe­sen sein. Ich lis­te ihn hier unter Im Osten geblie­ben, weil er sein gesam­tes Berufs­le­ben im Osten ver­bracht hat.
  6. Wil­helm Koepp, Greifs­wald, gestor­ben 1965 Klein­mach­now „1952 erhielt er den Lehr­stuhl an der Uni­ver­si­tät Ros­tock. 1954 eme­ri­tiert, lehr­te er noch bis zu sei­nem Tode an der Uni­ver­si­tät Ros­tock weiter.“
  7. Johan­nes Lei­poldt, Leip­zig, gestor­ben 1965 in Leip­zig „Nach 1945 war er Dom­herr des Hoch­stifts Mei­ßen und erhielt eine Pro­fes­sur mit Lehr­stuhl für Neu­tes­ta­ment­li­che Wis­sen­schaft in Leip­zig. Er wur­de als ordent­li­ches Mit­glied in die Säch­si­sche Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten auf­ge­nom­men und 1954 mit dem Vater­län­di­schen Ver­dienst­or­den in Sil­ber und 1960 in Gold aus­ge­zeich­net. […] Lei­poldt war von 1953 bis 1963 als Ver­tre­ter der CDU Abge­ord­ne­ter der Volkskammer.“
  8. Her­bert von Hint­zen­s­tern, Eisen­ach, gestor­ben 1996 in Wei­mar „Seit August 1945 war er in Lauscha, ab 1948 als Pfar­rer. Dort trat er der DDR-CDU bei, sein Par­tei­aus­tritt erfolg­te zum 1. Mai 1947. Im Jah­re 1952 wur­de er zum Lan­des­ju­gend­pfar­rer der Evan­ge­lisch-Luthe­ri­schen Kir­che in Thü­rin­gen beru­fen. Seit 1956 lei­te­te er die Evan­ge­li­sche Aka­de­mie Thü­rin­gen und die Pres­se­stel­le der Kir­che. Gleich­zei­tig wur­de er zum Chef­re­dak­teur der Kir­chen­zei­tung Glau­be und Hei­mat beru­fen. 1962 wur­de er zum Kir­chen­rat ernannt. Von 1968 bis 1986 war er neben­amt­li­cher Lei­ter des Pfarr­haus­ar­chivs im Luther­hau­ses in Eisen­ach. 1981 ging er in den Ruhestand.“
  9. Rudolf Mey­er, Leip­zig, gestor­ben 1991 in Jena, Thü­rin­gen „Im Jah­re 1947 wur­de er außer­plan­mä­ßi­ger Pro­fes­sor und 1948 […] Ordi­na­ri­us für Altes Tes­ta­ment an der Fried­rich-Schil­ler-Uni­ver­si­tät Jena. Hier unter­rich­te­te er Gene­ra­tio­nen von Theo­lo­gie­stu­den­ten in Hebrä­isch, der Geschich­te des Vol­kes Isra­el und der Theo­lo­gie des Alten Tes­ta­ments. Zusam­men mit […] wur­de ihm 1952 von der Theo­lo­gi­schen Fakul­tät der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin die Ehren­dok­tor­wür­de ver­lie­hen. Mey­er war seit 1959 ordent­li­ches Mit­glied der Säch­si­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und seit 1978 kor­re­spon­die­ren­des Mit­glied der Hei­del­ber­ger Aka­de­mie der Wissenschaften.“
  10. Sieg­fried Morenz, Leip­zig, gestor­ben 1970 Leip­zig „Morenz wur­de 1946 Dozent an der Uni­ver­si­tät Leip­zig und habi­li­tier­te sich im sel­ben Jahr bei Wil­helm Schub­art mit einer Schrift zu Ägyp­tens Bei­trag zur wer­den­den Kir­che. Ab 1948 lei­te­te Morenz, zunächst kom­mis­sa­risch, das Ägyp­to­lo­gi­sche Insti­tut der Uni­ver­si­tät Leip­zig. Im Febru­ar 1952 wur­de er Pro­fes­sor mit Lehr­auf­trag, im Sep­tem­ber des Jah­res mit vol­lem Lehr­auf­trag und zwi­schen 1954 und 1961 schließ­lich als Lehr­stuhl­in­ha­ber für Ägyp­to­lo­gie und hel­le­nis­ti­sche Reli­gi­ons­ge­schich­te. Zwi­schen 1952 und 1958 nahm Morenz zudem neben­amt­lich die Lei­tung der Ägyp­ti­schen Abtei­lung der Staat­li­chen Muse­en zu Ber­lin in Ost-Ber­lin wahr. Zwi­schen 1961 und 1966 lehr­te Morenz als Lehr­stuhl­in­ha­ber an der Uni­ver­si­tät Basel, lei­te­te jedoch im Neben­amt wei­ter­hin das Leip­zi­ger Ägyp­to­lo­gi­sche Insti­tut. Danach kehr­te er nach Leip­zig zurück, wo er bis zu sei­nem Tod 1970 wie­der den Lehr­stuhl für Ägyp­to­lo­gie innehatte.“
  11. Kon­rad Weiß, Ber­lin, gestor­ben 1979 in Ros­tock „1946 wur­de Weiß außer­or­dent­li­cher Pro­fes­sor für neu­tes­ta­ment­li­che Theo­lo­gie an der Uni­ver­si­tät Ros­tock, 1948 wur­de er dort auf eine ordent­li­che Pro­fes­sur beru­fen und 1972 eme­ri­tiert. Die Uni­ver­si­tät Kiel zeich­ne­te Weiß 1961 mit der Ehren­dok­tor­wür­de aus.“

Unbekannt / irrelevant

Die Aus­wer­tung der Lebens­da­ten der Hoch­schul­leh­rer ist ver­blüf­fend. Nur drei sind in den Wes­ten gegan­gen. 11 sind im Osten geblie­ben. Man müss­te die Ein­zel­fäl­le näher anse­hen und erfor­schen, wie inten­siv ihre Mit­ar­beit im Insti­tut zur Erfor­schung und Besei­ti­gung des jüdi­schen Ein­flus­ses auf das deut­sche kirch­li­che Leben war und was davon zu Leb­zei­ten bekannt war. Teil­wei­se hat­ten die Wis­sen­schaft­ler Ehren­dok­tor­tit­le von Uni­ver­si­tä­ten in Ost und West.

Weitere Nazis aus dem Umfeld der Deutschen Christen / dem Institut

In den Westen gegangen

  1. Hugo Rönck deut­scher evan­ge­li­scher Pfar­rer und Bischof, gestor­ben 1990, bis 1976 Pas­tor in Eutin, Schles­wig-Hol­stein. „Im Jah­re 1945 nahm er „kurz vor dem Ein­marsch der amerikan[ischen] Trup­pen“ den Titel Lan­des­bi­schof an. Im April 1945 wur­de er von den Ver­tre­tern der inner­kirch­li­chen Oppo­si­ti­on um Moritz Mit­zen­heim, Erich Hertzsch und Ger­hard Kühn zum Amts­ver­zicht gedrängt und weni­ge Tage spä­ter von US-ame­ri­ka­ni­schen Trup­pen ver­haf­tet. Im August 1945 ent­ließ ihn die Thü­rin­ger Kir­che aus dem kirch­li­chen Dienst. Spä­ter war er von 1947 bis 1976 Pas­tor in Eutin.“

Im Osten geblieben

  1. Johan­nes Klot­sche gestor­ben 1963, Stadt Weh­len, Pir­na, Sach­sen, „Der „fana­ti­sche Anti­se­mit“ Klot­sche unter­zeich­ne­te im April 1939 gemein­sam mit zehn ande­ren Lan­des­kir­chen­lei­tern die Bekannt­ma­chung über Gemein­schafts­ar­beit von Lan­des­kir­chen­lei­tern, deren ers­te Maß­nah­me in der Grün­dung des Insti­tuts zur Erfor­schung und Besei­ti­gung des jüdi­schen Ein­flus­ses auf das deut­sche kirch­li­che Leben bestand. Im Dezem­ber 1941 wur­den Chris­ten jüdi­scher Her­kunft aus der Lan­des­kir­che aus­ge­schlos­sen, womit das Sakra­ment der Tau­fe in Sach­sen par­ti­ell außer Kraft gesetzt war. Bis 1942 gehör­te er dem Ver­wal­tungs­rat des sog. Ent­ju­dungs­in­sti­tuts an. Nach Kriegs­en­de absol­vier­te er 1951/52 eine Aus­bil­dung zum volks­mis­sio­na­ri­schen Dienst an der Pre­di­ger­schu­le Pau­li­num in Ost-Berlin.“
  2. Wal­ter Grund­mann gestor­ben 1976 in Eisen­ach „1930 wur­de er Mit­glied der NSDAP und 1933 akti­ves Mit­glied der Deut­schen Chris­ten, deren im gan­zen Deut­schen Reich gül­ti­ge Richt­li­ni­en er ver­fass­te. 1939 wur­de er zum aka­de­mi­schen Direk­tor des neu gegrün­de­ten Insti­tuts zur Erfor­schung und Besei­ti­gung des jüdi­schen Ein­flus­ses auf das deut­sche kirch­li­che Leben in Eisen­ach ernannt, das im Dienst des staat­li­chen Anti­se­mi­tis­mus die „Ent­ju­dung“ der Bibel und der theo­lo­gi­schen Aus­bil­dung betrieb. Unge­ach­tet sei­ner NS-Ver­gan­gen­heit erlang­te Grund­mann in der DDR als Theo­lo­ge erheb­li­ches Anse­hen: 1954 erteil­ten ihm das Kate­che­ti­sche Ober­se­mi­nar Naum­burg (Saa­le) und das Theo­lo­gi­sche Semi­nar Leip­zig Lehr­auf­trä­ge und er wur­de Rek­tor des Eisen­acher Kate­che­ten­se­mi­nars; sei­ne ab 1959 erschie­ne­nen Evan­ge­li­en­kom­men­ta­re waren Stan­dard­li­te­ra­tur und wer­den bis heu­te (2022) zitiert. Er arbei­te­te für das Minis­te­ri­um für Staats­si­cher­heit, unter dem Deck­na­men GI Berg. […] In der DDR galt Grund­mann bis zu sei­ner Eme­ri­tie­rung 1975 trotz sei­ner NS-Ver­gan­gen­heit als ange­se­he­ner theo­lo­gi­scher Leh­rer. 1974 ver­lieh die Kir­chen­lei­tung ihm noch­mals den Titel eines „Kir­chen­rats“, um sei­ne Arbeit anzu­er­ken­nen und um sei­ne Pen­si­on zu erhö­hen.“ Sei­ne Wiki­pe­dia-Sei­te ent­hält eine aus­führ­li­che­re Schil­de­rung der Stasi-Tätigkeit.

Irrelevant

  1. Fried­rich Coch gestor­ben Sep­tem­ber 1945 in ame­ri­ka­ni­scher Gefan­gen­schaft „Füh­rer der Glau­bens­ge­mein­schaft Deut­sche Chris­ten in Sach­sen und Her­aus­ge­ber der Monats­zeit­schrift Chris­ten­kreuz und Haken­kreuz.“

Schlussfolgerung

7 + 6 + 3 der Per­so­nen, die in der NSDAP waren und sich öffent­lich zum Anti­se­mi­tis­mus bekannt hat­ten, sind vom Osten in den Wes­ten gegan­gen. Dazu noch min­des­tens ein lei­ten­des Mit­glied der Deut­schen Chris­ten. Damit hat sich die Anzahl der Anti­se­mi­ten und Nazis im Osten ver­rin­gert und im Wes­ten erhöht. Von eini­gen die­ser Per­so­nen ist klar, dass sie wirk­lich har­te Nazis und Ras­sis­ten waren. Ande­re waren even­tu­ell weni­ger invol­viert, eini­ge haben sich viel­leicht gewan­delt. Das geht aus Wiki­pe­dia nicht hervor.

Juden in den politischen Administrationen in der DDR und der BRD

Im Fol­gen­den zei­ge ich zwei Tabel­len. Sie basie­ren auf einem For­schungs­pro­jekt, das neben vie­len ande­ren Daten den reli­giö­sen Hin­ter­grund aller Mitarbeiter*innen in der Staats­füh­rung und Admi­nis­tra­ti­on im Kai­ser­reich, der Wei­ma­rer Repu­blik, im Natio­nal­so­zia­lis­mus, in der BRD und der DDR erho­ben hat. Dabei wur­den immer, soweit zugäng­lich, die obers­ten drei Hier­ar­chie­ebe­nen erfasst. 

Stro­bel et. al. 2021. Daten­be­richt zur Poli­tisch-Admi­nis­tra­ti­ve Eli­te der
DDR unter Wil­li Stoph I (1964–1973)

BRD

Tabel­le 1 zeigt den Anteil der Juden in den Eli­ten von 1949 bis 1998, Tabel­le 2 den der Juden in der DDR von 1949 bis 1989. Wie man sehen kann, ist der Anteil der Juden in der BRD 0. Kein ein­zi­ger war dort an Regie­run­gen betei­ligt. In der ers­ten Spal­te sind die Minis­ter zu sehen, in der zwei­ten die Verwaltung.

Politiker*innenBeamt*innen
Kon­rad Ade­nau­er 1949–1963 0/51 0/283
Lud­wig Erhard (1963–1966)
0/28
0/186
Georg Kie­sin­ger (1966–1969)
0/32

0/208
Wil­ly Brandt (1969–1974)
0/52
0/251
Hel­mut Schmidt (1974–1982)
0/64

0/279
Hel­mut Kohl (1982 – 1998)
0/133
0/480

DDR

In der DDR gab es neun, dann acht, dann einen. Even­tu­ell hat es noch wei­te­re gege­ben, aber die Daten, die in Kas­sel aus­ge­wer­tet wer­den konn­ten, waren im Gegen­satz zu denen, die für die BRD vor­la­gen, nicht vollständig.

In der ers­ten drei Spal­ten fin­det man Politiker*innen, in den zwei­ten drei Spal­ten das Ver­wal­tungs­per­so­nal. In der ers­ten Spal­te fin­det man jeweils die abso­lu­ten Zah­len. Danach kommt eine Anga­be in Pro­zent bezo­gen auf die gesam­te Grup­pe. Die jeweils drit­te Spal­te gibt den Pro­zent­wert in Bezug auf den Rück­lauf. D.h. wenn die Reli­gi­on nicht bekannt war, wur­de die betref­fen­de Per­son nicht mitgezählt.

Pro­zentGül­ti­gePro­zentGül­ti­ge
Otto Gro­te­wohl (1949–1964)9/3342,7%11,1%1/911,1%100%
Wil­li Stoph I (1964–1973)8/3792,1%16,3%1/205,0%33,3%
Horst Sin­der­mann (1973–1976)1/2910,3%3,4%0/6
Wil­li Stoph II (1976–1989)0/3950/11

Die Kass­ler Unter­su­chung lis­tet die jewei­li­gen Mit­glie­der der Admi­nis­tra­ti­on nament­lich auf. Man kann die Lis­ten also durch­ge­hen und nach Per­so­nen in Wiki­pe­dia suchen. Bis­her habe ich fol­gen­de Juden gefunden:

Bei den Juden, die ich in den Kass­ler Lis­ten fin­den konn­te, habe ich nach­ge­se­hen, war­um sie nach 1976 nicht mehr in den Regie­run­gen geführt wer­den. Wie man den fol­gen­den Zita­ten aus Wiki­pe­dia ent­neh­men kann, lag das nicht dar­an, dass sie irgend­wie in Ungna­de gefal­len wären. Auch ist zu berück­sich­ti­gen, dass Ver­folg­te des Nazi­re­gimes bereits mit 60 Jah­ren in Ren­te gehen konn­ten (Gosch­ler, 1993: 107). (Frau­en mit 55)

Über Her­bert Grün­stein steht fol­gen­des in Wikipedia:

Im Janu­ar 1951 wur­de er als Nach­fol­ger des abge­setz­ten Gene­ral­inspek­teurs Hans Klein Lei­ter die­ser Abtei­lung, die 1952 in Poli­ti­sche Ver­wal­tung umbe­nannt wur­de. Von Sep­tem­ber 1955 bis 1957 war er Stell­ver­tre­ter und vom Febru­ar 1957 bis Okto­ber 1973. Stell­ver­tre­ter des Minis­ters des Innern und gleich­zei­tig Staats­se­kre­tär im MdI. Im Juli 1957 wur­de er vom Chef­inspek­teur zum Gene­ral­ma­jor umat­tes­tiert und am 29. Juni 1962 auf Beschluss des Minis­ter­ra­tes der DDR zum Gene­ral­leut­nant beför­dert.
Von 1974 bis 1984 war er stell­ver­tre­ten­der Gene­ral­se­kre­tär bzw. Sekre­tär für inter­na­tio­na­le Bezie­hun­gen der Gesell­schaft für Deutsch-Sowje­ti­sche Freund­schaft (DSF), von 1976 bis 1989 Vor­sit­zen­der des Bezirks­ko­mi­tees Ber­lin der Anti­fa­schis­ti­schen Wider­stands­kämp­fer der DDR und gleich­zei­tig Mit­glied der SED-Bezirks­lei­tung Ber­lin. Er war 20 Jah­re lang von 1953 bis 1973 neben Erich Miel­ke zwei­ter Vor­sit­zen­der der Zen­tra­len Lei­tung der Sport­ver­ei­ni­gung Dyna­mo.
Grün­stein war Mit­glied des Vor­stan­des der Stif­tung Neue Syn­ago­ge Ber­lin – Cen­trum Judai­cum. Sei­ne jüdi­sche Iden­ti­tät hielt er – auch vor sei­ner Toch­ter Eva Grün­stein-Neu­mann – lan­ge verborgen.

Lei­der weiß man nicht wie lan­ge „lan­ge“ war. Sicher kann man Grün­stein dann aber nicht als Beweis für Anti­se­mi­tis­mus oder das Gegen­teil in der DDR heranziehen.

Über Hertz­feldt steht fol­gen­des in Wikipedia:

Hertz­feldt gehör­te zu den weni­gen Juden, die in Ber­lin die NS-Herr­schaft in der Ille­ga­li­tät über­leb­ten.
Nach Kriegs­en­de 1945 war er im Jugend­not­ein­satz als Zim­mer­mann tätig. Hertz­feld war Grün­dungs­mit­glied der Anti­fa-Jugend und der Frei­en Deut­schen Jugend. 1945 trat er der KPD bei und Hertz­feldt war der jüngs­te Dele­gier­te auf dem Ver­ei­ni­gungs­par­tei­tag von KPD und SPD zur SED. Von 1947 bis 1949 war er Jour­na­list beim Ber­li­ner Rund­funk und anschlie­ßend bis 1962 als Mit­ar­bei­ter in der Redak­ti­on der theo­re­ti­schen Zeit­schrift des ZK der SED „Ein­heit“ und spe­zia­li­sier­te sich auf Außen­po­li­tik. Zwi­schen­zeit­lich absol­vier­te er von 1954 bis 1957 ein Stu­di­um an der Par­tei­hoch­schu­le beim ZK der KPdSU in Mos­kau mit Abschluss als Diplom-Gesell­schafts­wis­sen­schaft­ler.
1962 trat er in den diplo­ma­ti­schen Dienst der DDR. Von 1962 bis 1965 war Hertz­feldt Gene­ral­kon­sul der DDR in Jakar­ta. Von 1966 bis 1969 war er als einer der Stell­ver­tre­ter des Außen­mi­nis­ters tätig und ver­trat die DDR anschlie­ßend von März 1969 bis 1973 als Bot­schaf­ter in Peking. Der Antritt Herz­feldts fiel in die Zeit der mili­tä­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen der VR Chi­na mit der UdSSR am Uss­u­ri. Von 1973 bis 1983 war er Chef­re­dak­teur der Zeit­schrift „Deut­sche Außen­po­li­tik“, des Organs des DDR-Außenministeriums.

Über Hans Roden­berg kann man lesen:

Als er 1948 in die Sowje­ti­sche Besat­zungs­zo­ne zurück­kehr­te, konn­te Roden­berg sei­ne künst­le­ri­sche Ent­wick­lung fort­set­zen. Er grün­de­te das Thea­ter der Freund­schaft in Ber­lin-Lich­ten­berg und wur­de des­sen ers­ter Inten­dant. Er wur­de 1952 auch Ordent­li­ches Mit­glied der Aka­de­mie der Küns­te, Ber­lin (Ost), Sek­ti­on Dar­stel­len­de Kunst und blieb es bis zu sei­nem Tod.

1949 nahm er als Son­der­kor­re­spon­dent des Neu­en Deutsch­land am Pro­zess gegen Trajt­scho Kos­tow und sei­ne Grup­pe in Sofia teil.

Roden­berg war 1952 bis 1956 Haupt­di­rek­tor des DEFA-Stu­di­os für Spiel­fil­me. Zwi­schen 1956 und 1960 war Roden­berg Dekan an der Deut­schen Hoch­schu­le für Film­kunst in Pots­dam-Babels­berg; 1958 erhielt er sei­ne Ernen­nung zum Professor.

Außer­dem betä­tig­te er sich kul­tur­po­li­tisch als stell­ver­tre­ten­der Kul­tur­mi­nis­ter (1960–1963), Mit­glied des Staats­rats, der Volks­kam­mer und des Zen­tral­ko­mi­tees der SED.

Von 1969 bis 1974 war Roden­berg Vize­prä­si­dent der Aka­de­mie der Küns­te, Ber­lin (Ost).

Quellen

Gosch­ler, Con­stan­tin. 1993. Pater­na­lis­mus und Ver­wei­ge­rung — Die DDR und die Wie­der­gut­ma­chung für jüdi­sche Ver­folg­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus. In Benz, Wolf­gang (ed.), Jahr­buch für Anti­se­mi­tis­mus­for­schung, Band 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.

Stro­bel, Bas­ti­an & Scholz-Pau­lus & Ved­der, Ste­fa­nie & Veit, Syl­via. 2021. Die Poli­tisch-Admi­nis­tra­ti­ve Eli­te der BRD unter Hel­mut Kohl (1982–1998). Uni­ver­si­tät Kas­sel: Fach­ge­biet Public Manage­ment. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102193307)

Stro­bel, Bas­ti­an & Scholz-Pau­lus, Simon & Ved­der, Ste­fa­nie & Veit, Syl­via. 2021a. Daten­be­richt zur Poli­tisch-Admi­nis­tra­ti­ven Eli­te der DDR unter Horst Sin­der­mann (1973–1976). Zwi­schen­be­richt der Daten­er­he­bung zur DDR im Rah­men des For­schungs­pro­jek­tes „Neue Eli­ten – eta­blier­tes Per­so­nal? (Dis-)Kontinuitäten deut­scher Minis­te­ri­en in Sys­tem­trans­for­ma­tio­nen“. Uni­ver­si­tät Kas­sel: Fach­ge­biet Public Manage­ment. (https://www.uni-kassel.de/fb07/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3021&token=2c6fae1adfcbb1c4762fd67174cd664979d7f4f8)

Stro­bel, Bas­ti­an & Scholz-Pau­lus, Simon & Ved­der, Ste­fa­nie & Veit, Syl­via. 2021b. Daten­be­richt zur Poli­tisch-Admi­nis­tra­ti­ven Eli­te der DDR unter Otto Gro­te­wohl (1949–1964). Zwi­schen­be­richt der Daten­er­he­bung zur DDR im Rah­men des For­schungs­pro­jek­tes „Neue Eli­ten – eta­blier­tes Per­so­nal? (Dis-)Kontinuitäten deut­scher Minis­te­ri­en in Sys­tem­trans­for­ma­tio­nen“. Uni­ver­si­tät Kas­sel: Fach­ge­biet Public Manage­ment. (https://www.uni-kassel.de/fb07/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3023&token=8eb0f51761c4749523f5803ed4e6c6c62bd5de04)

Stro­bel, Bas­ti­an & Scholz-Pau­lus, Simon & Ved­der, Ste­fa­nie & Veit, Syl­via. 2021c. Daten­be­richt zur Poli­tisch-Admi­nis­tra­ti­ven Eli­te der DDR unter Wil­li Stoph I (1964–1973). Zwi­schen­be­richt der Daten­er­he­bung zur DDR im Rah­men des For­schungs­pro­jek­tes „Neue Eli­ten – eta­blier­tes Per­so­nal? (Dis-)Kontinuitäten deut­scher Minis­te­ri­en in Sys­tem­trans­for­ma­tio­nen“. Uni­ver­si­tät Kas­sel: Fach­ge­biet Public Manage­ment. (https://www.uni-kassel.de/fb07/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3022&token=f349d9887a6c7d9185e7fb9c0a54456aff6f27f6)

Stro­bel, Bas­ti­an & Scholz-Pau­lus, Simon & Ved­der, Ste­fa­nie & Veit, Syl­via. 2021d. Daten­be­richt zur Poli­tisch-Admi­nis­tra­ti­ven Eli­te der DDR unter Wil­li Stoph II (1976–1989). Zwi­schen­be­richt der Daten­er­he­bung zur DDR im Rah­men des For­schungs­pro­jek­tes „Neue Eli­ten – eta­blier­tes Per­so­nal? (Dis-)Kontinuitäten deut­scher Minis­te­ri­en in Sys­tem­trans­for­ma­tio­nen“. Uni­ver­si­tät Kas­sel: Fach­ge­biet Public Manage­ment. (https://www.uni-kassel.de/fb07/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3377&token=69d43af16bfd665bb2c0b29358fc169623c83639)

Stro­bel, Bas­ti­an & Scholz-Pau­lus, Simon & Ved­der, Ste­fa­nie & Veit, Syl­via. 2021e. Die Poli­tisch-Admi­nis­tra­ti­ve Eli­te der BRD unter Hel­mut Schmidt (1974–1982). Uni­ver­si­tät Kas­sel: Fach­ge­biet Public Manage­ment. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102193306)

Stro­bel, Bas­ti­an & Scholz-Pau­lus, Simon & Ved­der, Ste­fa­nie & Veit, Syl­via. 2021f. Die Poli­tisch-Admi­nis­tra­ti­ve Eli­te der BRD unter Kon­rad Ade­nau­er (1949–1963). Uni­ver­si­tät Kas­sel: Fach­ge­biet Public Manage­ment. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102183292)

Stro­bel, Bas­ti­an & Scholz-Pau­lus, Simon & Ved­der, Ste­fa­nie & Veit, Syl­via. 2021g. Die Poli­tisch-Admi­nis­tra­ti­ve Eli­te der BRD unter Kurt Georg Kie­sin­ger (1966–1969). Uni­ver­si­tät Kas­sel: Fach­ge­biet Public Manage­ment. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102193304)

Stro­bel, Bas­ti­an & Scholz-Pau­lus, Simon & Ved­der, Ste­fa­nie & Veit, Syl­via. 2021h. Die Poli­tisch-Admi­nis­tra­ti­ve Eli­te der BRD unter Lud­wig Erhard (1963–1966). Uni­ver­si­tät Kas­sel: Fach­ge­biet Public Manage­ment. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102183293)

Stro­bel, Bas­ti­an & Scholz-Pau­lus, Simon & Ved­der, Ste­fa­nie & Veit, Syl­via. 2021i. Die Poli­tisch-Admi­nis­tra­ti­ve Eli­te der BRD unter Wil­ly Brandt (1969–1974). Uni­ver­si­tät Kas­sel: Fach­ge­biet Public Manage­ment. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102193305)

„Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern“: Kommentare zu einem Aufsatz von Patrice G. Poutrus, Jan C. Behrends und Dennis Kuck

Einleitung

Ich arbei­te gera­de an einer Rezen­si­on von Anne Rabes Buch „Die Mög­lich­keit von Glück“. Ich habe dazu zwei Blog-Posts geschrie­ben (Kei­ne Gewalt! Zu Mög­lich­kei­ten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und Wei­te­re Kom­men­ta­re zu Anne Rabes Buch: Eine Mög­lich­keit aber kein Glück) und im zwei­ten auch den fol­gen­den Satz zu Anti­se­mi­tis­mus und Natio­na­lis­mus kommentiert:

Auch waren Anti­se­mi­tis­mus und Natio­na­lis­mus wich­ti­ge Bestand­tei­le der sowje­ti­schen und real­so­zia­lis­ti­schen Ideologie.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta.
S. 271

Die Bespre­chung die­ses einen Sat­zes ist viel zu lang gera­ten, so dass ich beschlos­sen habe, sie in einen extra Blog-Post aus­zu­la­gern. Das ist die­ser hier.

Ad hominem: Wer spricht?

Ich habe mich gefragt, wo hat Anne Rabe das nur her­hat. Quel­len hat sie kei­ne ange­ge­ben. Da steht nur die­ser eine Satz. Na, viel­leicht von Ines Gei­pel. Dass sie mit Ines Gei­pel befreun­det war/ist habe ich aus einem Arti­kel in der NZZ über ein angeb­li­ches Pla­gi­at von Rabe erfah­ren (sie­he Wei­te­re Kom­men­ta­re zu Anne Rabes Buch: Eine Mög­lich­keit aber kein Glück). Dass Anet­ta Kaha­ne und Ines Gei­pel gelo­gen haben (oder extrem unwis­send sind), wenn sie behaup­ten, der Holo­caust sei im Osten nicht vor­ge­kom­men, habe ich schon in Der Ossi und der Holo­caust bespro­chen. Zum (fast) nicht vor­han­de­nen Anti­se­mi­tis­mus in der DDR hat die Jüdin Danie­la Dahn viel geschrie­ben. Man­ches ist auch im Holo­caust-Post erwähnt. Ande­re Sachen bespre­che ich im Post über die Aus­stel­lung über jüdi­sches Leben in der DDR, die vom jüdi­schen Muse­um orga­ni­siert wurde.

Ich habe diver­se Inter­views mit Anne Rabe gele­sen und in einem Inter­view von Cor­ne­lia Geiß­ler von der Ber­li­ner Zei­tung steht:

Auch der His­to­ri­ker Patri­ce G. Pou­trus, der eher Osch­manns Gene­ra­ti­on ange­hört, hat beob­ach­tet, dass Rech­te und Rechts­extre­me im Osten auf ein fes­tes natio­na­lis­ti­sches Welt­bild trafen.

Geiß­ler, Cor­ne­lia. 2023. Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzäh­len“. Ber­li­ner Zei­tung.

Ich bin ja immer bereit, Neu­es zu ler­nen und dach­te mir: „Gut, mal gucken, was der His­to­ri­ker Pou­trus her­aus­ge­fun­den hat.“ Als ers­tes: Kur­zer Chek: Er ist aus dem Osten. Also gut, mal gucken. Bei der Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung habe ich einen Auf­satz von ihm gefun­den, den er gemein­sam mit Jan C. Beh­rends und Den­nis Kuck ver­fasst hat: His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern.

Zwei­ter Check: Wiki­pe­dia­ein­trag zu Patri­ce G. Pou­trus.

Anschlie­ßend arbei­te­te er als haupt­amt­li­cher FDJ-Funk­tio­när erst im VEB Werk für Fern­seh­elek­tro­nik und dann in der FDJ-Bezirks­lei­tung Ber­lin. 1988 leg­te er sein Abitur an der Abend­schu­le der Volks­hoch­schu­le Ber­lin-Trep­tow ab. 1989 wur­de er zum Fern­stu­di­um der Geschichts­wis­sen­schaf­ten an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin zugelassen.

Nun ja, nun ja. Ein FDJ-Sekre­tär, der sich für ein Geschichts­stu­di­um bewor­ben hat. In der DDR. Fächer wie Geschich­te und Phi­lo­so­phie stu­dier­ten in der DDR nur die rötes­ten Socken. Für mich fällt Pou­trus damit in eine Grup­pe mit Gei­pel (Vater IM für ter­ro­ris­ti­sche Anschlä­ge auf BRD-Gebiet), Kaha­ne (Vater ND-Chef­re­dak­teur, sie selbst IM, die aktiv jüdi­sche Freun­de ver­ra­ten hat, sie­he Wiki­pe­dia­ein­trag) und Rabe (Funk­tio­närs­kind): ehe­ma­li­ge rote Socken bzw. Funk­tio­närs­kin­der, die auf die ande­re Sei­te vom Pferd gefal­len sind. Der Punkt ist: Als belas­te­ter Mensch darf man auf kei­nen Fall irgend­et­was Gutes an dem fin­den, was man hin­ter sich gelas­sen hat, denn ande­re könn­ten ja dann den­ken, man sei immer noch „so einer“.

Rote Ver­gan­gen­heit allein bedeu­tet nichts. Men­schen kön­nen sich ändern. Ad homi­nem-Argu­men­te sind in der nor­ma­len Wis­sen­schaft unzu­läs­sig. Aber irgend­wie scheint mir hier doch ein Mus­ter vor­zu­lie­gen und es geht bei gesell­schaft­lich rele­van­ten Aus­sa­gen eben doch dar­um, wer spricht. Die ech­ten Argu­men­te zu Pou­trus kom­men in den nun fol­gen­den Abschnit­ten. Die gegen Kaha­ne und Gei­pel habe ich bereits in Holo­caust-Post vor­ge­bracht. Die gegen Rabe in den bei­den zu Beginn zitier­ten Blog-Posts und auch ver­mischt mit dem, was jetzt kommt.

Jugendliche Rechtsextremisten in Jugendtreffs

Ich gehe den Text von Pou­trus, Beh­rends & Kuck ein­fach mal der Rei­he nach durch. Die Autoren schreiben:

Trotz Ver­ein­heit­li­chungs­ten­den­zen und inter­na­tio­na­ler Ver­net­zung in der rech­ten und Skin­head-Sze­ne sind deut­li­che Unter­schie­de zwi­schen der Situa­ti­on in Ost- und West­deutsch­land zu beob­ach­ten. Kenn­zeich­nend ist nicht nur die ’star­ke Domi­nanz jugend­li­cher Rechts­extre­mis­ten’ in den Jugend­treffs ver­schie­de­ner ost­deut­scher Brenn­punk­te, son­dern die inzwi­schen erreich­te vor­aus­set­zungs­lo­se Gewaltbereitschaft.

Pou­trus, Patri­ce G., Beh­rends, Jan C. & Kuck, Den­nis. 2002. His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern. Aus Poli­tik und Zeit­ge­schich­te.

Hier­zu möch­te ich der geneig­ten Leser*in fol­gen­des Video ans Herz legen:

Der Bei­trag zeigt einen Jugend­club in Cott­bus, in dem sich Rechts­ra­di­ka­le tref­fen. Sie wer­den dort vom CDU-Innen­mi­nis­ter Jörg Schön­bohm besucht, der die Jugend­li­chen pri­ma fin­det (12:30). Die Fami­lie Schön­bohm floh 1945 in den Wes­ten. Schön­bohm war Gene­ral­leut­nant in der Bun­des­wehr und Lan­des­vor­sit­zen­der der CDU Bran­den­burg. Auch sieht man im Video, dass die Nazi-Par­tei Deut­sche Alter­na­ti­ve, die in Bran­den­burg aktiv war, von Men­schen aus dem Wes­ten auf­ge­baut wur­de (11:25). Rabe schreibt dazu auch an eini­gen Stel­len etwas und stellt den Ein­fluss von West-Nazis und West­po­li­ti­kern in Fra­ge. Ihre Aus­sa­gen im Buch zum Bei­spiel bzgl. Lich­ten­ha­gen sind ein­fach falsch. Zu die­ser Dis­kus­si­on sie­he Wei­te­re Kom­men­ta­re zu Anne Rabes Buch: Eine Mög­lich­keit aber kein Glück.

Nationalstolz

Die Autoren argu­men­tie­ren, dass die DDR einen Natio­nal­stolz zu eta­blie­ren ver­sucht habe, der dann spä­ter in den jetzt zu beob­ach­ten Natio­na­lis­mus umge­schla­gen sei. Im Fol­gen­den möch­te ich eini­ge Berei­che unter­su­chen, auf die man hät­te stolz sein kön­nen oder sollen.

Sport

Die Staats­füh­rung woll­te, dass wir stolz auf unser Land sind. Ver­ständ­lich. Sie woll­te, dass wir gern dort leben und nicht bei der erst­bes­ten Gele­gen­heit abhau­en. Aber hat das irgend­wie geklappt? Ich bin ja fast noch nach­träg­lich stolz auf die DDR gewor­den, als ich ges­tern gese­hen habe, wie gigan­tisch die Last war, die die Gene­ra­ti­on mei­ner Eltern und Groß­el­tern gestemmt hat: Repa­ra­ti­ons­leis­tun­gen und Wie­der­auf­bau (sie­he Wei­te­re Kom­men­ta­re zu Anne Rabes Buch: Eine Mög­lich­keit aber kein Glück). Aber zu DDR-Zei­ten war ich nicht stolz auf die DDR und kann­te außer andert­halb Sta­si-Kin­dern wahr­schein­lich auch nie­man­den, der stolz war. Die DDR hat es ver­sucht. Mit Sport. Kata­ri­na Witt war super. Ich habe sie als Kind beim Schau­lau­fen gese­hen. Im Sport- und Erho­lungs­zen­trum im Fried­richs­hain. Beim Kin­der­schau­lau­fen. Sie war ein Schlumpf. Wahr­schein­lich so 14 Jah­re alt. Spä­ter hing in jedem Klas­sen­raum ein Bild von ihr. Im FDJ-Hemd. Sie war Mit­glied der Volks­kam­mer. Sie kann­te Bryan Adams und hat­te dafür gesorgt, dass er zu einem Kon­zert nach Ber­lin kam.

Sie ließ es sich nicht neh­men, ihn anzu­kün­di­gen. Vor 65.000 Men­schen. Sie haben sie aus­ge­buht.1 Die Gold-Käthe hat es nicht ver­stan­den. Wo kam nur die­se Abnei­gung her? Sie hat­te doch alles gewon­nen, was man gewin­nen konn­te? Für die FDJ, für Erich Hon­ecker, für ihr Land. Wir moch­ten sie nicht.

Nach der Wen­de hat sie das Land ver­las­sen. Wie man dem fol­gen­den Video ent­neh­men kann, hat sie heu­te noch nicht ver­stan­den, war­um wir sie nicht mochten.

San­dow hat sogar ein Lied über die Kon­zer­te damals (mit Bruce Springsteen) und über unse­ren Stolz auf Katha­ri­na Witt geschrieben:

Wir bau­en auf und tape­zi­ern nicht mit
Wir sind sehr stolz auf Katha­ri­na Witt
Katha­ri­na was born
Born in the GDR.

San­dow: Born in the GDR. 1989

Betriebe

Mei­ne Mut­ter hat Betriebs­be­sich­ti­gun­gen orga­ni­siert. (Für die, die es nicht erlebt haben: Ein Groß­teil des kul­tu­rel­len Lebens fand in der DDR auch über die Betrie­be statt. Musik, Aus­flü­ge usw. Frei­geis­ter fan­den das doof. Die­se kleb­ri­ge Enge. Aber das war alles weg, als nach der Wen­de die Arbeits­lo­sig­keit kam. Per­sön­li­che Bin­dun­gen weg, Arbeit weg, Kul­tur weg. Es blieb nur ein Trüm­mer­hau­fen.) Jeden­falls habe ich eine Licht­lei­ter­fa­brik, eine Fabrik von Stern­ra­dio und ein Kugel­la­ger­werk besich­tigt. Ich dach­te, dass eine Licht­lei­ter­fa­brik etwas Hoch­mo­der­nes sein müss­te. Es war eine klei­ne Klit­sche mit Maschi­nen aus den 70er Jah­ren. Die Kugel­la­ger­fa­brik funk­tio­nier­te. Ich fand es lus­tig, dass die fer­ti­gen Kugel­la­ger­rol­len auf Schie­nen durch die Hal­le roll­ten. Die Fer­ti­gungs­an­la­ge für Stern­ra­dio wur­de aus Schwe­den impor­tiert. Coo­les Zeug. Nest­bau­wei­se. Wir konn­ten sehen, wie die Schalt­krei­se auf die Pla­ti­nen kamen usw. Die Takt­stra­ße stand in einem alten Fabrik­ge­bäu­de. Die Stern­re­cor­der – muss wohl der SKR 700 gewe­sen sein – wur­den ganz oben pro­du­ziert. Wenn sie fer­tig waren schweb­ten sie am För­der­band ins Trep­pen­haus, wo sie dann ins Erd­ge­schoss hin­ab­ge­las­sen wer­den soll­ten. Das Abbrem­sen der Recor­der im Trep­pen­haus funk­tio­nier­te nicht, so dass eine gro­ße Anzahl der Recor­der sechs Stock­wer­ke in die Tie­fe stürz­te. 1540 Mark ein­fach futsch. Pfusch. Soll­te ich dar­auf stolz sein?

Ich bin in Buch auf­ge­wach­sen. In den Neu­bau­ten. Es gab die alten Neu­bau­ten, die Neu­bau­ten und die neu­en Neu­bau­ten. Ich konn­te dabei zuse­hen, wie Tei­le der Neu­bau­ten und der neu­en Neu­bau­ten ent­stan­den. Die Bau­stel­len stan­den oft Mona­te lang still, weil Mate­ri­al fehl­te. Die Bau­ar­bei­ter saßen in den Bau­wa­gen davor. Soll­te ich dar­auf stolz sein? Es gab Woh­nungs­not. Spä­ter im Wes­ten habe ich mich dar­über gewun­dert, wie schnell man Häu­ser bau­en konnte.

1987 war ich für drei Wochen im Braun­koh­le­werk Espen­hain. Die Schwe­le­rei war zuge­fro­ren und das Werk hat­te die Armee um Hil­fe gebe­ten. Die Kom­pa­nie vor uns hat­te die Schwe­le­rei vom Eis befreit, so dass die För­der­bän­der wie­der lie­fen. Wir waren nur noch zur Sicher­heit dort im Ein­satz. Ich erin­ne­re mich genau dar­an, wie wir hin­ge­fah­ren sind. Wir saßen auf einem Las­ter, ich war ein­ge­schla­fen. Irgend­wann bin ich auf­ge­wacht, hab einen kur­zen Blick nach drau­ßen gewor­fen und wuss­te: Wir sind da. Der Schnee war schwarz. Ich habe in der Nacht­schicht gear­bei­tet und mei­ne Auf­ga­be war es, ab und zu an ein Rohr einer Fil­ter­an­la­ge zu klop­fen, damit die Asche in einen mit Was­ser gespül­ten Kanal fiel, denn die Klap­pe dafür ver­klemm­te sich ab und zu. Es gab För­der­bän­der über die Koh­le­bri­ketts aus den Koh­le­pres­sen in Bahn­wag­gons trans­por­tiert wur­de. Die Bri­ketts kamen aus der Pres­se über Dop­pel-T-Trä­ger aus Stahl. Die Trä­ger waren so abge­nutzt, dass in der Mit­te das Metall weg war. Des­halb ver­klemm­te sich ab und zu ein Bri­kett, die umlie­gen­den Brie­ketts plopp­ten raus und fie­len neben die Trä­ger. Unse­re Auf­ga­be war es, die Koh­le auf die Bän­der zu schip­pen. Ein Ange­stell­ter erzähl­te uns, dass das nor­ma­ler­wei­se „die Rus­sen“ machen. Die T‑Träger befan­den sich in der Höhe von 2 bis 3 Metern. Wenn dann so vie­le Bri­ketts run­ter­ge­fal­len waren, dass sie in die Höhe der T‑Träger kamen, wur­den die „Freun­de“ geru­fen und schipp­ten das alles in einem Rutsch weg. Aber da wir nun schon mal da waren, konn­ten wir das auch erledigen. 

Wenn es reg­ne­te, sah man die Pfüt­zen nicht. Der Staub lager­te sich auf ihnen ab.

Das Werk Espen­hain wur­de 1937 von den Nazis gebaut. Schon kriegs­si­cher in red­un­dan­ter Dop­pelt­aus­füh­rung: zwei glei­che Kraft­wer­ke nebeneinander.

Nach dem Koh­le­ein­satz beka­men wir drei Tage ver­län­ger­ten Kurz­ur­laub (VKU). Ich habe jeden Tag geba­det. Die Koh­le war noch lan­ge in den Poren. (Nicht, dass wir in Espen­hain nicht geduscht hät­ten. Das hat nur nicht viel geholfen.)

Soll­te ich auf Espen­hain stolz sein? Das war ein kom­plett run­ter­ge­rock­tes Kraftwerk!

Das steht hier­zu in Wikipedia:

In den 1960er Jah­ren waren die Anla­gen im Zusam­men­hang mit der Wirt­schafts­ori­en­tie­rung auf die Erd­öl­che­mie mas­siv auf Ver­schleiß gefah­ren wor­den. Als Anfang der 1970er Jah­re die Koh­le­che­mie wie­der an Bedeu­tung gewann, wur­de die Pro­duk­ti­on in den ver­schlis­se­nen Anla­gen auf maxi­ma­le Leis­tung gestei­gert. Dadurch und durch nicht vor­han­de­ne Inves­ti­tio­nen im Bereich des Umwelt­schut­zes stie­gen die Schad­stoff­emis­sio­nen in Luft und Was­ser sehr stark an. Über dem Ort und sei­ner Umge­bung lag immer eine Wol­ke von Phe­no­len, Schwe­fel, Ruß und Asche. Der hohe Schad­stoff­aus­stoß mach­te es erfor­der­lich, jeden Mor­gen Stra­ßen und Geh­we­ge zu keh­ren, da sich eine dicke Asche­schicht nie­der­ge­las­sen hat­te. Eini­ge Ein­woh­ner berich­ten, dass gele­gent­lich die Son­ne hin­ter Asche­wol­ken ver­schwand und dass Autos tags­über mit Licht fah­ren muss­ten. Die gesund­heit­li­chen Aus­wir­kun­gen auf die Ein­woh­ner der Stadt waren ver­hee­rend. Die Lebens­er­war­tung lag infol­ge­des­sen eini­ge Jah­re unter dem lan­des­wei­ten Durch­schnitt. Vor allem Kin­der lit­ten stark unter den auf­tre­ten­den Haut- und Atem­wegs­er­kran­kun­gen, wie z. B. Ekze­men und chro­nisch-obstruk­ti­ver Lun­gen­er­kran­kung (COPD). Auch heu­te noch sind vie­le Ein­woh­ner von Spät­fol­gen betroffen

Wiki­pe­dia-Ein­trag zu Espen­hain. 24.02.2024

Im Kon­sum des Wer­kes gab es Schnaps für 60 Pfen­nig (Wiki­pe­dia sagt 1,12 M) die Fla­sche (Brau­se­fla­sche). Der wur­de Kum­pel­tod genannt. Berg­leu­te und Leu­te in den Kraft­wer­ken wur­den exklu­siv damit ver­sorgt. Ich hab das nicht getrun­ken. Viel­leicht bin ich dar­auf stolz …

In den Nach­rich­ten wur­de der 1‑Me­ga­bit-Chip gefei­ert. Soll­te ich dar­auf stolz sein? Freun­de hat­ten West-Com­pu­ter, ich arbei­te­te an Ost-Com­pu­tern. Ich wuss­te, wo wir standen. 

Alle wuss­ten es. Es gab Wit­ze: „Ein Japa­ner kommt in die DDR und reist durchs Land. Kurz vor sei­ner Abrei­se wird er gefragt, was er am bes­ten fand. Die Ant­wort: ‚Die gan­zen Muse­en: Per­ga­mon, Robo­tron, Pen­t­a­con.’“ (Neben­be­mer­kung: Das bedeu­tet nicht, dass alles Schrott war. Es gab neu errich­te­te Wer­ke, gut funk­tio­nie­ren­de Wer­ke, es gab Boden­schatz­vor­kom­men, die ergie­bi­ger waren als die im Wes­ten (Kali). Das alles konn­te man in einem Film über die Treu­hand sehen, der aber lei­der pri­va­ti­siert wur­de … (auf you­tube auf pri­vat gestellt wurde.))

Ich war nicht stolz auf die DDR. Ich war auch nicht stolz Deut­scher zu sein. Wir hat­ten gelernt, dass Natio­na­lis­mus das Wur­zel allen Übels war. Ich bin nach der Wen­de noch jah­re­lang zusam­men­ge­zuckt, wenn jemand „Deutsch­land“ gesagt hat, und wür­de die­ses Wort auch heu­te noch ger­ne nicht verwenden.

Die Autoren schreiben:

Hilf­los gegen­über der All­ge­gen­wart des West­fern­se­hens und der wirt­schaft­li­chen Über­le­gen­heit der Bun­des­re­pu­blik, ver­such­te die Par­tei eher durch den Ver­gleich mit den sozia­lis­ti­schen Bru­der­län­dern, den Ver­weis auf die eige­ne Spit­zen­stel­lung (hin­ter der Sowjet­uni­on), Punk­te zu sam­meln. Ins­be­son­de­re in Kri­sen­si­tua­tio­nen war die Par­tei­füh­rung auch bereit, unge­niert anti­pol­ni­sche Ste­reo­ty­pe (‘pol­ni­sche Wirt­schaft’) zu bedienen

Es stimmt, dass wir wuss­ten, dass wir die Bes­ten der Abge­häng­ten waren. Noch vor der Sowjet­uni­on. Ich war 1984 in Polen und 1988 in Rumä­ni­en und die Ver­sor­gung dort war unglaub­lich schlecht. Aber ich dach­te: Puh, da haben wir aber Glück. Und muss ja, weil wir das Schau­fens­ter waren (sie­he Bana­nen im Post Wei­te­re Kom­men­ta­re zu Anne Rabes Buch: Eine Mög­lich­keit aber kein Glück). Stolz war ich dar­auf nicht. Die Sache mit den Polen stimmt. Das ging gegen Soli­dar­ność.

Wor­auf war ich stolz, wor­auf konn­te ich stolz sein? Auf mei­ne eige­nen Erfol­ge im Sport? Im Schach? In Mathe­ma­tik­olym­pia­den? Ja. 

Auf unse­re Täte­rä­tä – wie Man­fred Krug sie nann­te – stolz zu sein, wäre mir nie im Traum ein­ge­fal­len. Das war bei FDJ-Funk­tio­nä­ren und bei Sach­sen viel­leicht anders.2

Nationalismus und Rassismus

Nationalismus

Zum Natio­na­lis­mus schrei­ben die Autoren:

In der ‘patrio­ti­schen Erzie­hung’ der DDR wur­den Begrif­fe wie ‘Hei­mat­lie­be’ oder ‘Stolz auf die Errun­gen­schaf­ten’ der DDR mit sozia­lis­ti­scher Ideo­lo­gie auf­ge­la­den. ‘Sozia­lis­ti­scher Patrio­tis­mus’, das hieß unver­brüch­li­che Freund­schaft zur Sowjet­uni­on, Lie­be zur SED und Ver­eh­rung für die Par­tei­füh­rung und Soli­da­ri­tät mit den ‘unter­drück­ten’ Völ­kern der Welt. Uns erscheint aber zwei­fel­haft, ob die Bevöl­ke­rungs­mehr­heit all die­se Impli­ka­tio­nen nach­voll­zog oder ob nicht eher nach der prä­gen­den Kraft dahin­ter­ste­hen­der tra­dier­ter Denk­struk­tu­ren, näm­lich der kri­tik­lo­sen Über­hö­hung des Eige­nen und der exklu­si­ven Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem eige­nen Kol­lek­tiv zu fra­gen ist. Beruh­te die­se ‘ima­gi­ned com­mu­ni­ty’ (Bene­dict Ander­son) also auf genau jenen Mecha­nis­men, die für das Gefühl und das Erleb­nis, einer eth­nisch defi­nier­ten ‘Nati­on’ anzu­ge­hö­ren, typisch sind? Eini­ge fach­spe­zi­fi­sche For­schungs­er­geb­nis­se wei­sen in die­se Rich­tung: Die bil­dungs­ge­schicht­li­che Stu­die von Hel­ga Mar­bur­ger und Chris­tia­ne Grie­se attes­tiert der DDR-Päd­ago­gik einen star­ken Homo­ge­ni­sie­rungs­druck nach innen. ‘Das Eige­ne war kol­lek­ti­ves Eige­nes und als sol­ches streng genormt.’

Hm. Ja. Viel­leicht. Wie die Autoren selbst schrei­ben, war es mit „Lie­be zur SED und Ver­eh­rung für die Par­tei­füh­rung“ nicht weit her. Den Erich haben wir nicht geliebt. Wir haben ja nicht mal die Katha­ri­na geliebt und die sah wirk­lich gut aus. Was die Staats­füh­rung woll­te und was real war, klaff­te nicht nur bei der Wirt­schaft auseinander.

Aber ist jetzt das DDR-Sys­tem schuld dar­an, dass es woll­te, dass die Bevöl­ke­rung die­ses Land lieb­te und da blieb, statt bei der nächst­bes­ten Gele­gen­heit in den Wes­ten zu ver­schwin­den? Die exklu­si­ve Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem eige­nen Kol­lek­tiv gehör­te sicher nicht zu den „dahin­ter­ste­hen­den tra­dier­ten Denk­struk­tu­ren“, denn uns wur­de immer der Wert der Völ­ker­freund­schaft bei­gebracht. Inter­na­tio­na­le Soli­da­ri­tät. Im Kampf für eine bes­se­re Welt, ohne Aus­beu­tung usw. Das schrei­ben die Autoren ja auch selbst. Der oben zitier­te Absatz scheint mir inkon­sis­tent zu sein.

Wei­ter:

Loh­nend ist in die­sem Zusam­men­hang ein Blick auf das Ver­hält­nis der Sta­si zu den auch in der DDR exis­ten­ten Skin­head­grup­pen. In den Sta­si-Akten zum Skin­head­über­fall auf die Zions­kir­che von 1987 wird deut­lich, wie stark die Denk­sche­ma­ta der Ermitt­ler durch­ein­an­der gerie­ten. Waren doch die Opfer – Ziel des Über­falls war ein Punk­kon­zert – durch ihren Non-Kon­for­mis­mus bis dahin selbst Objekt von Beob­ach­tung und Ver­fol­gung der Sicher­heits­or­ga­ne, weil ihre Ein­stel­lung als sys­tem­feind­lich galt. Was die rech­ten Schlä­ger betrifft, so rei­chen die Akten über rechts­extre­me Vor­fäl­le bis 1978 zurück. Gleich­wohl pass­te die ‘faschis­ti­sche’ Ori­en­tie­rung die­ser Täter­grup­pe nicht in das Ras­ter der klas­sen­kämp­fe­risch geschul­ten Geheim­dienst­ler, hat­ten die Skins doch wesent­li­che ’sozia­lis­ti­sche Wer­te’ wie Arbeits­lie­be, Ord­nung, Sau­ber­keit und Bereit­schaft zum Mili­tär­dienst für sich ange­nom­men. Die­ses Bei­spiel ver­deut­licht die ’sozi­al-hygie­ni­schen’ Gemein­sam­kei­ten staats­so­zia­lis­ti­scher und rechts­extre­mer Leit­bil­der. Die­se Über­ein­stim­mung war es, die eine cou­ra­gier­te und offe­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Rechts­extre­mis­mus unmög­lich mach­te, wären damit doch die genann­ten Grund­wer­te der DDR und letzt­lich der beschrie­be­ne Herr­schafts­mo­dus der SED in Mit­lei­den­schaft gezo­gen worden.

Sor­ry. Das geht nicht auf als Argu­ment. Grup­pe 1 hat Wer­te A, B, C, D. Grup­pe 2 hat Wer­te A, B und X. War­um soll Grup­pe 1 nicht Grup­pe 2 wegen X bekämp­fen kön­nen? Wenn es Nazi-Musik gibt, lie­gen Straf­ta­ten vor, gegen die man vor­ge­hen kann. Ich hat­te Kas­set­ten in der Hand, auf denen Songs wie „Töte Dei­nen Nach­barn!“ und „Mein gol­de­ner Schlag­ring“ waren.

Übri­gens kann man den Sta­si-Unter­la­gen zum Vor­fall in der Zions­kir­che auch ent­neh­men, dass das Skin­heads aus West-Ber­lin dabei waren. Just saying.

Reisen

Zum The­ma „Frem­de und Aus­län­der in der DDR“ schrei­ben die Autoren:

Spä­tes­tens seit dem Mau­er­bau waren Aus­lands­rei­sen und inter­na­tio­na­le Mobi­li­tät aus dem All­tag der DDR ver­bannt. Nur weni­ge konn­ten sich pri­va­te Urlaubs­rei­sen etwa nach Bul­ga­ri­en oder Ungarn leis­ten. Besu­che im Wes­ten waren Aus­nah­men im Fal­le wich­ti­ger Fami­li­en­an­ge­le­gen­hei­ten. Für die Mehr­heit der DDR-Bür­ger war Rei­sen ein staat­lich gewähr­tes Pri­vi­leg. Die­sen ein­ge­schränk­ten Erfah­rungs­ho­ri­zont gilt es zu berück­sich­ti­gen, wenn man den Auf­ent­halt von Frem­den und Aus­län­dern in der DDR betrach­tet. Die staats­so­zia­lis­ti­sche Dik­ta­tur mit ihrem all­um­fas­sen­den Rege­lungs­an­spruch ‘offi­zia­li­sier­te’ jede Form und Gele­gen­heit des Kon­takts zu Frem­den, so wie sie das mit allen sozia­len Bezie­hun­gen zu ver­wirk­li­chen such­te. ‘Gesell­schaft’ im Sin­ne eines rela­tiv auto­no­men Bereichs sozia­ler Bezie­hun­gen und Insti­tu­tio­nen, wie er für bür­ger­lich-libe­ra­le Staa­ten typisch ist, soll­te es in der DDR nicht geben, und das galt auch und gera­de auf die­sem Gebiet. Kon­tak­te und Umgang außer­halb der staat­lich fest­ge­leg­ten Regeln waren nicht vor­ge­se­hen, ent­we­der expli­zit ver­bo­ten, zumin­dest aber uner­wünscht. Ange­hö­ri­ge unter­schied­li­cher Staats­an­ge­hö­rig­kei­ten soll­ten sich der SED-Ideo­lo­gie zufol­ge gewis­ser­ma­ßen daher immer als ‘Reprä­sen­tan­ten’ ihrer jewei­li­gen Staats­völ­ker, qua­si in diplo­ma­ti­scher Funk­ti­on, begeg­nen, nicht jedoch auf einer ‘Von-Mensch-zu-Mensch-Basis’. Das ein­an­der Akzep­tie­ren als ‘Men­schen wie du und ich’, als indi­vi­du­el­le Gäs­te und Gast­ge­ber, Durch­rei­sen­de und Ein­hei­mi­sche, als Zufalls­be­kannt­schaf­ten etc. wur­de dadurch von vorn­her­ein erschwert bzw. erfor­der­te bewuss­tes, eigen­sin­ni­ges Gegen­hal­ten — wofür es durch­aus Bei­spie­le gab! Die Bot­schaft der offi­zi­el­len Rege­lungs­wut war aber: ‘Staats­zu­ge­hö­rig­keit’ (und die mach­te sich prak­tisch an der Nati­ons­zu­ge­hö­rig­keit fest) ist emi­nent ‘wich­tig’, der Inter­na­tio­na­lis­mus stell­te die Vor­rang­stel­lung der Nati­on nie infrage .

Das hat mich eini­ger­ma­ßen ver­wun­dert. Denn ich war in Mos­kau, Car­l­o­vy Vary (Karls­bad)
Prag, Buda­pest, Brașov, Buka­rest, Sofia, Soso­pol, Var­na, War­schau und Puła­wy. An vie­len Orten war ich mehr­fach. Das Ein­zi­ge, was man bezah­len muss­te, war eine Zug­fahr­kar­te. Die war nicht teu­er. Lebens­mit­tel kos­te­ten genau so viel wie zu hau­se. Geschla­fen haben wir auf dem Zelt­platz. Ich war im Buce­gi-Gebir­ge wan­dern. Wir hat­ten Sei­fe und Kaf­fee mit. Bes­te Zah­lungs­mit­tel in Rumä­ni­en damals. Die Tour Berlin–Sosopol war der Stan­dard damals. Ich weiß noch, dass die Son­nen­schir­me in Soso­pol 3 Mark gekos­tet haben. Das haben wir uns nicht geleis­tet. Ein­mal hat­te ich Fie­ber, da muss­ten wir. Man hat unter­wegs die­sel­ben Leu­te in Prag und Buda­pest getrof­fen. Die Rei­sen fan­den zwi­schen 1984 und 1989 statt. Ich war jung und hat­te kein Geld. Es ging dennoch.

In Buda­pest schlie­fen die Ossis immer ein­fach unter frei­em Him­mel auf der Maga­re­ten­in­sel. Das ging den Ungarn irgend­wann so auf die Ner­ven, dass sie eine Spe­zi­al­lö­sung für uns Ost­deut­sche ent­wi­ckel­ten: Es gab am Ende der U‑Bahn-Linie einen mit Sta­chel­draht umzäun­ten Platz, auf dem man umsonst schla­fen konn­te (steht auch im Wiki­pe­dia­ein­trag zur Maga­re­ten­in­sel). Man muss­te sei­nen Per­so­nal­aus­weis am Ein­gang abge­ben und am Mor­gen kam um 6:00 die ren­dőr­ség, stell­te sich neben die Schla­fen­den und dreh­te ein­mal voll die Sire­ne auf. Alle waren wach. Bis um 7:00 oder 8:00 hat­te man das Gelän­de wie­der zu ver­las­sen. Man­che haben gezel­tet, man­che unter frei­em Him­mel geschla­fen. Fin­di­ge Ungarn haben ein Geschäfts­mo­dell ent­wi­ckelt: Man konn­te sei­nen Ruck­sack bei ihnen im Gar­ten abstel­len, denn die Schließ­fä­cher an den Bahn­hö­fen waren alle belegt. Ich habe ein­mal da drau­ßen gezel­tet. Wo die­ser Zelt­platz war, konn­te man her­aus­fin­den, indem man ande­re Ossis frag­te. Wir haben uns an den Schu­hen (Römer­lat­schen oder Tram­per) erkannt. Bei mei­nen ande­ren Buda­pest-Besu­chen habe ich immer in einem pri­va­ten Gar­ten gezel­tet. Meh­re­re Ungarn hat­ten ihre Gär­ten zu Zelt­plät­zen umfunktioniert.

Von der Schu­le aus war ich in Mos­kau, Car­l­o­vy Vary und Polen (Puła­wy, War­schau, Ausch­witz). Das ent­spricht dem, was die Autoren geschrie­ben haben: Wir waren in diplo­ma­ti­scher Funk­ti­on dort. Ich bin auch Ehren­pio­nier der Sowjet­uni­on gewor­den, was mir spä­ter in mei­ner Zeit als Kanz­ler­kan­di­dat der Par­tei Die PARTEI sehr hel­fen soll­te (sie­he Kor­rek­tur Lebens­lauf).

Ste­fan Mül­ler, Pro­fes­sor für deut­sche Syn­tax an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin und Direkt­kan­di­dat der Par­tei Die PARTEI für den Wahl­kreis 242 Erlan­gen für die Bun­des­tags­wahl 2021, 09.08.2021, Bild: Arne Rein­hardt CC-BY.

Ich brauch­te kei­ne rote Kra­wat­te mehr zu kau­fen, son­dern habe ein­fach das rote Hals­tuch genom­men, das noch im Kel­ler lag. (Oh, gehö­re ich jetzt zu einer Grup­pe? Bin ich mit­schul­dig gewor­den? Im Sin­ne der Blut­schuld, die Anne Rabe ver­tritt?) Der Rest der Rei­sen waren Individualreisen.

Nun kann man ein­wen­den, dass ich und die ande­ren Men­schen, die ich kann­te, nicht reprä­sen­ta­tiv für die DDR war. Schließ­lich war ich Abitu­ri­ent und die Anzahl der Abiturient*innen war ins­ge­samt eher gering. Zwei Schüler*innen aus einer POS-Klas­se mit 30–31 Schüler*innen. Peer, ein Schul­freund, der auch mit in Mos­kau war, hat die­sen Ein­wand auch sofort gebracht. Da er aber auch die bes­te Such-Maschi­ne der Welt ist, hat er ihn dann auch gleich ent­kräf­tet. Und zwar so richtig.

Eine Mel­dung aus dem Jah­re 1989 kün­digt den neu­en inter­na­tio­na­len Jugend­her­bergs­aus­weis an. 

SED-Zen­tral­or­gan Neu­es Deutsch­land vom 13.01.1989

Da die­ser Aus­weis damals neu war, gab es das vor­her noch nicht. Aber immer­hin zeigt das schon mal, dass die Aus­sa­ge der Autoren nicht rich­tig sein kann. Es geht expli­zit um Indi­vi­du­al­rei­sen, güns­ti­ge Indi­vi­du­al­rei­sen ins Ausland.

Aber auch schon 1976 gab es Indi­vi­du­al­rei­sen nach Ungarn. Mit dem Bus.

Neue Zeit, 10.07.1976, S. 11

Im Arti­kel steht, dass Pri­vat­quar­tie­re am Bala­ton ver­mit­telt wer­den. Das passt nicht zu den Anga­ben der Autoren. Staat­lich orga­ni­sier­te Indi­vi­du­al­rei­sen. Unter­stüt­zen­der geht es nicht.

Es gibt einen Zeit­zeu­gen­be­richt über Mög­lich­kei­ten für Urlaubs­rei­sen der DDR-Bür­ger ins Aus­land.

Peer hat auch Anzei­gen für Fahr­ten ins Aus­land gefunden:

Neue Zeit, 16.12.1987, S. 6

Peer merkt an:

Dass man nicht alles glau­ben soll­te, was in Zei­tun­gen steht oder gar in DDR-Zei­tun­gen stand, gilt hier natür­lich auch. Aber es wäre kei­ne pro­pa­gan­dis­ti­sche Glanz­leis­tung, eine Nach­fra­ge bzw. ein Bedürf­nis nach Aus­lands­rei­sen zu wecken, das man eigent­lich ver­hin­dern wollte.

Peer auf Mast­o­don, 21.04.2024

Den Punkt „Ossis haben noch nie ande­re Men­schen gese­hen.“ kön­nen wir also getrost abhaken.

Jugend-Feldbettspiele

Die Autoren schreiben:

Tat­säch­li­cher Kon­takt der Bür­ger mit Aus­län­dern stell­te für die SED-Dik­ta­tur dage­gen ein Sicher­heits­ri­si­ko dar. So unter­la­gen auch die weni­gen inter­na­tio­na­len Ver­an­stal­tun­gen wie die ‘Welt­fest­spie­le der Jugend und Stu­den­ten’ im Som­mer 1973 oder die ‘Fes­ti­vals des poli­ti­schen Lie­des’ poli­ti­scher Kontrolle.

Hey, war­te mal. Auch das habe ich anders gehört. Es gab nach dem Fes­ti­val vie­le inter­na­tio­na­le Kin­der. Es war ein Fest der Völ­ker­freund­schaft. Soll­ten die Orga­ne des Inne­ren so ver­sagt haben und kom­plett die Kon­trol­le über die äuße­ren Orga­ne ver­lo­ren haben? Das Fes­ti­val der Jugend war unser sum­mer of love.

Das schreibt der Tages­spie­gel dazu:

Das eigent­li­che Fes­ti­val fin­det nicht in den Bars oder Klubs statt, son­dern unter frei­em Him­mel. Zehn­tau­sen­de von Jugend­li­chen kam­pie­ren in den Grün­an­la­gen der Ost-Ber­li­ner Innen­stadt. Das bleibt nicht ohne Fol­gen. Das Fes­ti­val zei­tigt Fes­ti­val-Ehen und Fes­ti­val-Kin­der, und im Volks­mund hei­ßen die Jugend-Welt­fest­spie­le bald Jugend-Feldbettspiele.

Gold­mann, Sven. 2013. Welt­fest­spie­le der Jugend 1973: Love & Peace in Ost-Ber­lin. Tages­spie­gel. Ber­lin.

Es waren 8 Mil­lio­nen Men­schen in der Stadt. Es war die Höl­le los. Der Tages­spie­gel beschreibt auch die Maß­nah­men der Sta­si, aber die Ver­brü­de­rung bzw. Ver­schwes­terung oder Ver­menschung der 8 Mil­lio­nen konn­te und soll­te nicht ver­hin­dert wer­den. Alle spra­chen offen. Sogar mit den Typen von der CDU.

Vertragsarbeiter

Was stimmt, ist, dass man die Ver­trags­ar­bei­ter eigent­lich nicht gese­hen hat und zu den Sowjet­sol­da­ten hat­te man im Prin­zip auch kei­nen Kon­takt. Ich hat­te mal „diplo­ma­ti­schen“ Kon­takt, weil wir bei unse­ren Freun­den in ihrer Kaser­ne waren und Schach gespielt haben. Ich habe gewon­nen. Gere­det haben wir nicht viel. Wohl eher, weil mein Rus­sisch zu schlecht war. Als Schü­ler habe ich bei Ber­nau Erd­bee­ren gepflückt. Da waren auch ein paar Sowjet­sol­da­ten. Ich habe geges­sen und gepflückt, sie haben nur gepflückt. Sie waren unglaub­lich schnell. Gere­det haben wir nicht. Über „Меня зовут Стефан.“ wäre ich auch nicht hin­aus­ge­kom­men und viel­leicht hät­ten sie auch Ärger bekom­men. Bei mei­ner Frau an der Burg Gie­bi­chen­stein in Hal­le haben Kuba­ner, Viet­na­me­sen, Tsche­chen und Bul­ga­ren stu­diert. Es gab Ver­trä­ge mit den jewei­li­gen Län­dern. An der Ger­ma­nis­tik der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin gab es Student*innen aus der Bul­ga­ri­en, Mon­go­lei, Nord­ko­rea, Chi­na, der UdSSR, Kuba. Für die­sen Aus­tausch gab es Ver­trä­ge. Das lief unter Ent­wick­lungs­hil­fe. Dass die Student*innen dann nicht hier geblie­ben sind, lag an ihren Ent­sen­der­län­dern. Bul­ga­ri­en woll­te eine hohe Sum­me für die Aus­bil­dung ihrer Staatsbürger*innen als Ablö­se, wenn die­se nicht zurück­ka­men. Ehen und ande­re Grün­de waren dabei egal. 

Dass es Kon­flik­te und ras­sis­ti­sche Vor­fäl­le mit den Vertragsarbeiter*innen in den Betrie­ben gab, kann ich mir vor­stel­len. Auch dass die­se ver­tuscht wur­den, weil nicht sein konn­te, was nicht sein darf. Aber dass die­se eben nicht sein durf­ten, war die offi­zi­el­le Staats­li­nie. Das war der Anspruch. Der Ras­sis­mus war nicht etwas, was den DDR-Bürger*innen bei­gebracht wur­de. Als Beleg möge die fol­gen­de Sei­te aus Bum­mi für Eltern 1/1981 gelten:

Bum­mi für Eltern 1/1981. Bericht über Lenin-Denk­mal und befreun­de­te Natio­nen, Län­der, in denen Urlaub gemacht wur­de, und ein Bild von einem befreun­de­ten Schwar­zen Mann mit dem Kind der Autorin auf dem Arm. 

Das Stück ist ein­deu­tig ein Pro­pa­gan­da­text. Es geht um den guten Men­schen Lenin. Dann geht es um Urlaub im Aus­land (erneut ein Wider­spruch zu den Behaup­tun­gen der Autoren) und um ihren Freund aus Afri­ka. Auch wenn die­se Tex­te viel­leicht nicht vie­le gele­sen habe, schon gar nicht bis zu der Stel­le nach Lenin, so ist die Aus­sa­ge des Bil­des doch klar. Die Men­schen aus Afri­ka sind lieb. Sie tra­gen unse­re Kin­der. Papi war ein Jahr dort und hat ihnen gehol­fen und jetzt stu­diert Ibrahi­ma hier. Geht so Ras­sis­mus? Ich bin nicht zum Ras­sis­mus erzo­gen wor­den, son­dern zu Völ­ker­freund­schaft und Ver­stän­di­gung. Und zwar vom Kin­der­gar­ten bis zum Unter­gang der DDR.

Mit der Zuspit­zung der Ver­sor­gungs­kri­se der DDR Ende der acht­zi­ger Jah­re hiel­ten die Schlag­wor­te ‘Schmug­gel’ und ‘Waren­ab­kauf’ durch Aus­län­der Ein­zug in die gesteu­er­ten DDR-Medi­en, ver­such­te die SED doch auf die­sem Wege von ihrer ver­fehl­ten Wirt­schafts­po­li­tik abzu­len­ken. Die im Band Aus­land DDR ver­öf­fent­lich­te Leser­brief­samm­lung der Ber­li­ner Zei­tung aus der Zeit des Mau­er­falls zeigt, wel­che Blü­ten die Frem­den­feind­lich­keit bereits weit vor der Ein­heit getrie­ben hat­te. Sie bie­tet ein Pan­ora­ma aus beson­ders anti­pol­ni­schen Vor­ur­tei­len (‘arbeits­scheu’, ‘faul’), Aus­ver­kaufs- und Über­frem­dungs­ängs­ten (‘wol­len wir etwa eine Misch­ras­se?’), aber auch weni­gen mah­nen­den Stimmen . 

Das kann sein. Und wenn die­se Bot­schaf­ten wirk­lich über die DDR-Medi­en ver­brei­tet wor­den sind, dann ist auch wirk­lich die DDR-Füh­rung dafür ver­ant­wort­lich zu machen. Ansons­ten ist die Tat­sa­che, dass eine bestimm­te Fra­ge in der Leser­brief­samm­lung vor­kam, noch nicht viel wert, denn es geht ja dar­um, den höhe­ren Grad an Ras­sis­mus und Frem­den­feind­lich­keit in der DDR zu erklä­ren. Und die­se Stim­men hät­te man wohl im Wes­ten mit sei­ner unge­bro­che­nen Nazi-Tra­di­ti­on3 auch fin­den kön­nen. Ich erin­ne­re nur an Horst See­ho­fer, der den Ver­fas­sungs­schutz­be­richt über die Ein­stu­fung der AfD als rechts­extre­me Par­tei hat ändern las­sen, weil die CSU zum Teil die­sel­ben Sprü­che klopft, wie die AfD (Süd­deut­sche, 21.01.2022).

Medizinische Versorgung

Ich bin in Ber­lin Buch auf­ge­wach­sen. Mei­ne Klassenkamerad*innen waren zum gro­ßen Teil Kin­der von Ärzt*innen und sons­ti­gem medi­zi­ni­schen Per­so­nal. In den 70ern und 80ern gab es eine spe­zi­el­le Kran­ken­sta­ti­on zur Pfle­ge und Ver­sor­gung Schwar­zer Men­schen, die in Nami­bia und Ango­la in der SWAPO im Wider­stands­kampf gegen das süd­afri­ka­ni­sche Apart­heids­re­gime gekämpft hat­ten. Über die­se Kran­ken­sta­ti­on und die Men­schen und ihre Ver­sor­gung wur­de in der Aktu­el­len Kame­ra und auf Titel­sei­ten von gern gele­se­nen Zeit­schrif­ten berichtet.

Titel­sei­te der DDR-Frau­en­zei­tung Für Dich von 1979. Die DDR hat Ver­wun­de­te aus Nami­bia in Ber­lin-Buch im Kli­ni­kum betreut. Bild in einer Aus­stel­lung im Muse­um Pan­kow, Ber­lin, 04.04.2024
Bericht in der NBI 13/79 „Dr. Erich Kwiat­kow­ski, Fach­arzt für Chir­ur­gie im Kli­ni­kum Buch, berich­tet. Sei­ne Pati­en­ten sind Opfer süd­afri­ka­ni­scher Über­fäl­le aus Flücht­lings­la­ger in Ango­la.“ Bild in einer Aus­stel­lung im Muse­um Pan­kow, Ber­lin, 04.04.2024

Ras­sis­mus war expli­zit ein Thema: 

Bericht in der NBI 13/79 über Ver­bre­chen des Ras­sis­mus. Bild in einer Aus­stel­lung im Muse­um Pan­kow, Ber­lin, 04.04.2024

Für mich sind Ras­sis­ten Men­schen, die sol­che Ver­bre­chen bege­hen oder gut­hei­ßen. Nicht aber die­je­ni­gen, die sie anpran­gern und den Opfern die­ser Ver­bre­chen hel­fen und sie über lan­ge Jah­re gesund pflegen. 

Titel­sei­te der Wochen­post vom 05.08.1988. Die DDR hat Ver­wun­de­te aus Ango­la in Ber­lin-Buch im Kli­ni­kum betreut. „Gera­de ist das Flug­zeug aus Luan­da gelan­det, der Haupt­stadt Ango­las. Unter den Flug­gäs­ten sind drei Nami­bi­er, Ange­hö­ri­ge der SWAPO. Sie kom­men in die DDR, um hier medi­zi­nisch betreut zu wer­den. In Ango­la, im Flücht­lings­la­ger Kwan­ze Sul, konn­te man ihnen nicht hel­fen. Jetzt sind sie vol­ler Unge­wiß­heit; Was erwar­tet sie im frem­den Land? Ärz­te, Schwes­tern und Pfle­ger emp­fan­gen die neu­en Pati­en­ten auf der Soli­da­ri­täts­sta­ti­on „Jakob Mor­en­ga“ im Kli­ni­kum Ber­lin-Buch. Dort wer­den Maria, Mar­tha und David mög­li­cher­wei­se für Mona­te blei­ben müs­sen. Sie brau­chen unse­re Soli­da­ri­tät.“ Bild in einer Aus­stel­lung im Muse­um Pan­kow, Ber­lin, 04.04.2024

Ich war mit einem Jun­gen befreun­det, des­sen Vater ein Dich­ter aus Syri­en war und des­sen Mut­ter Ärz­tin. Er war voll inte­griert, aner­kannt in der Schu­le. Null Pro­ble­mo. Die Bezie­hung wur­de nicht unter­bun­den. Es gab vie­le geflüch­te­te Kom­mu­nis­ten, die in der DDR Zuflucht gefun­den hat­te. Ein Jun­ge aus mei­ner Klas­se hat­te einen ita­lie­ni­schen Vater. Er war Chef­arzt in einem Kran­ken­haus. Es waren Men­schen aus Chi­le und aus Grie­chen­land in der DDR. Hon­ecker hat­te einen chi­le­ni­schen Schwie­ger­sohn, zu dem er dann nach der Wen­de auch aus­ge­wan­dert ist.

Der nationalistische Taumel der Wiedervereinigung

Ganz zum Schluss, im Fazit, wird das ange­spro­chen, was ich für den eigent­li­chen oder zumin­dest den wich­tigs­ten Grund hal­te.4 Im Fazit steht das wich­tigs­te Wort: Wie­der­ver­ei­ni­gungs­eu­pho­rie. Das ist der Punkt. Kohl kam nach Dres­den. Er schwamm in einem Meer aus Fah­nen. Ein natio­na­lis­ti­scher Tau­mel. Vom Wes­ten gewollt und geför­dert. Die tau­mel­ten drü­ben genau­so. Viel­leicht ist es zu ein­fach, aber wir haben das damals gesehen. 

Men­schen, die ihren Kopf in der Hand hal­ten. Ein Hit­ler­kopf liegt am Stra­ßen­rand. Der Him­mel ist schwarz. Jan Pautsch, 1989

Wir hat­ten Angst davor. 

Dank ich an angst in der nacht Herz­li­chen Glück­wunsch zur Wiedervereinigung

Deutsch­tü­me­lei! Natio­na­lis­mus! Das kam von der Bun­des­re­gie­rung. Nicht in Ber­lin. In Ber­lin wur­de Kohl ausgebuht. 

In Sach­sen wur­de er mit offe­nen Armen emp­fan­gen. Er hat den Ossis blü­hen­de Land­schaf­ten ver­spro­chen. Von Oskar Lafon­taine, des­sen Herz links schlug, und der damals Kanz­ler­kan­di­dat der Par­tei war, in der auch Anne Rabe Mit­glied ist, woll­te nie­mand etwas Wis­sen. Er hat die Wahr­heit gesagt. Aber „die Wahr­heit ist häss­lich und hat stin­ken­den Atem“.

Sicher ist alles nicht mono­kau­sal. Die Sache mit den Vertragsarbeiter*innen spielt bestimmt eine Rol­le, aber den gesamt­deut­schen Natio­na­lis­mus nur in einem Satz zu erwäh­nen, ist nicht angemessen. 

Zusammenfassung

Ich habe zu Beginn bespro­chen, dass einer der Autoren des hier bespro­che­nen Auf­sat­zes, so wie Gei­pel, Kaha­ne und Rabe, stark mit der DDR ver­ban­delt war. Eine Erklä­rung für ein­sei­ti­ge und fal­sche Posi­tio­nen oder Sicht­wei­sen kann dann sein, dass man über­haupt nicht erst in den Ver­dacht von Sys­tem­nä­he kom­men will. 

Zu den „jugend­li­chen Rechts­extre­mis­ten in Jugend­treffs“ habe ich ange­merkt, dass die­se dort von höchs­ter Stel­le gedul­det waren. Von Jörg Schö­ne­bohm, Gene­ral­leut­nant der Bun­des­wehr a.D. und Vor­sit­zen­der der CDU, Bran­den­burg. Nazi-Akti­vi­tä­ten wur­den im Osten durch die Ver­ant­wort­li­chen, die fast aus­schließ­lich aus dem Wes­ten waren (sie­he Rabe-Post) nicht aus­rei­chend ver­folgt. Die Autoren spre­chen vom Natio­nal­stolz, der in der DDR geför­dert wur­de. Viel­leicht waren Men­schen stolz auf ver­schie­de­ne Sport­ler oder auf Gesamt­ergeb­nis­se bei Olym­pia­den, aber bei Katha­ri­na Witt war das nicht der Fall. Sie wur­de von Tau­sen­den aus­ge­buht. Nach der Wen­de hat sie das Land ver­las­sen, weil sie nicht ver­stan­den hat, woher die Abnei­gung kam. Die Wirt­schaft war maro­de, nichts wor­auf man stolz sein konn­te. Die Behaup­tung, man hät­te in der DDR nicht rei­sen kön­nen und Indi­vi­du­al­rei­sen sei­en uner­wünscht gewe­sen, ist schlicht falsch. Auch die Bemer­kun­gen zu den Jugend-Welt­fest­spie­len ent­spre­chen nicht den Tat­sa­chen, wie man auch noch genau­er im zitier­ten Tages­spie­gel-Arti­kel nach­le­sen kann. Dass es nicht viel Kon­takt zu Ver­trags­ar­bei­tern gege­ben hat, stimmt. Der natio­na­lis­ti­sche Tau­mel nach der Wen­de, der vom Wes­ten auch befeu­ert wur­de, ist sicher ein rele­van­ter Fak­tor, wur­de aber von den Autoren nicht ange­mes­sen diskutiert.

Für Anne Rabes Behaup­tung, im Osten hät­te es ideo­lo­gisch moti­vier­ten Natio­na­lis­mus gege­ben, lie­fern Pou­trus, Beh­rends & Kuck jeden­falls kei­ne Beweise.

Quellen

Bal­ser, Mar­kus & Stein­ke, Ronen. 2022. Ver­fas­sungs­schutz: See­ho­fer ließ Ver­fas­sungs­schutz­kri­tik an AfD abschwä­chen. Süd­deut­sche Zei­tung. (https://www.sueddeutsche.de/politik/afd-verfassungsschutz-seehofer-gutachtenvergleich‑1.5511775)

Geiß­ler, Cor­ne­lia. 2023. Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzäh­len“. Ber­li­ner Zei­tung. Ber­lin. (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/literatur/osten-interview-schriftstellerin-anne-rabe-es-reicht-nicht-die-ddr-immer-nur-vom-ende-her-zu-erzaehlen-debatte-dirk-oschmann-li.341318)

Gold­mann, Sven. 2013. Welt­fest­spie­le der Jugend 1973: Love & Peace in Ost-Ber­lin. Tages­spie­gel. Ber­lin. 22.07.2013 (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/love-peace-in-ost-berlin-8099431.html)

Hart­wich, Doreen & Mascher, Bernd-Hel­ge. 2007. Geschich­te der Spe­zi­al­kampf­füh­rung (Abtei­lung IV des MfS): Auf­ga­ben, Struk­tur, Per­so­nal, Über­lie­fe­rung. Ber­lin. (Sta­si-Unter­la­gen-Archiv.) (https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/archiv/fachbeitraege/geschichte-der-spezialkampffuehrung-abteilung-iv-des-mfs/#c2565)

Lit­sch­ko, Kon­rad. 2017. Neu­es Gut­ach­ten zu NSU-Mord. taz. 03.04.2017. Ber­lin. (https://taz.de/Archiv-Suche/!5397496/)

Mau, Stef­fen. 2020. Lüt­ten Klein: Leben in der ost­deut­schen Trans­for­ma­ti­ons­ge­sell­schaft (Schrif­ten­rei­he 10490). Bonn: Zen­tra­le für Poli­ti­sche Bil­dung. (https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/303713/luetten-klein)

mh. 2022. Ros­tock-Lich­ten­ha­gen 1992: Ein Poli­zei­de­ba­kel. (https://www.mdr.de/geschichte/zeitgeschichte-gegenwart/politik-gesellschaft/was-wurde-aus-der-volkspolizei-rostock-lichtenhagen-randale-100.html)

Pou­trus, Patri­ce G., Beh­rends, Jan C. & Kuck, Den­nis. 2002. His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern. Aus Poli­tik und Zeit­ge­schich­te (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25428/historische-ursachen-der-fremdenfeindlichkeit-in-den-neuen-bundeslaendern/).

Schulz, Dani­el. 2018. Pro­fes­so­rin über Iden­ti­tä­ten: „Ost­deut­sche sind auch Migran­ten“. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Professorin-ueber-Identitaeten/!5501987/)

Schwarz, Mari­et­ta. 2023. Anne Rabe: „In ver­wir­ren­den Zei­ten sind ein­fa­che Nar­ra­ti­ve ver­füh­re­risch“. 31.12.2023. Deutsch­land­ra­dio. (Zwi­schen­tö­ne.) (https://www.deutschlandfunk.de/anne-rabe-in-verwirrenden-zeiten-sind-einfache-narrative-verfuehrerisch-dlf-84b94bff-100.html)

Teuw­sen, Peer. 2023. Ver­heim­lich­te Nähe. Neue Züri­cher Zei­tung. 30.09.2023 (https://www.nzz.ch/feuilleton/anne-rabe-verheimlichte-naehe-ld.1782626)

Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück

Anne Rabe hat in ihrem Buch Eine Mög­lich­keit von Glück ihre trau­ma­ti­schen Gewalt­er­fah­run­gen in ihrer Kind­heit in Wis­mar auf­ge­ar­bei­tet. Ihre Eltern und Groß­el­tern waren DDR-Kader, ihr Groß­va­ter in Sta­lin­grad gewe­sen und sie führt alle Gewalt auf die DDR-Zeit und die Kriegs­er­leb­nis­se zurück. Ich habe in Kei­ne Gewalt: Zu Mög­lich­kei­ten und Glück und dem Buch von Anne Rabe bereits dazu geschrie­ben, wel­che inhalt­li­chen Feh­ler ihr dabei unter­lau­fen sind und dass ihre Schluss­fol­ge­run­gen nicht trag­fä­hig sind. Hier möch­te ich noch eini­ge wei­te­re Punk­te dis­ku­tie­ren, die inhalt­lich nicht in den ers­ten Blog-Post gepasst haben. Dabei geht es mir vor allem um eine kor­rek­te Dar­stel­lung der DDR-Zeit aber es ist auch noch ein gra­vie­ren­der Feh­ler bezüg­lich der Vor­fäl­le in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen zu besprechen.

Nazis, Verantwortung und Scham

In die­sem ers­ten Abschnitt möch­te ich Rabes Ansich­ten bzgl. Kol­lek­tiv­schuld und ihre Scham bezüg­lich ihrer Eltern besprechen.

Schuld und Blut

Rabe schreibt, dass alle Deut­schen „qua ihres deut­schen Blu­tes“ zur SS, zur Wehr­macht, zu den Ver­bre­chern gehören:

Die Nazis waren immer die ande­ren. Die SS, die Wehr­macht, die Ver­bre­cher. Schlimm, schlimm das. So schlimm, dafür über­neh­men wir sogar dann gern die Ver­ant­wor­tung, wenn wir ganz sicher sind, dass unse­re Fami­li­en damit nichts zu tun haben. Aber qua Her­kunft, qua Abstam­mung, qua unse­res deut­schen Blu­tes gehö­ren wir eben dazu, sind wir eben mitverantwortlich.

S. 67

Ist das so? Ist das mit dem Blut nicht Nazi-Ideo­lo­gie? Und nie­mand hat’s gemerkt? Die Lek­to­rin nicht, kein Rezen­sent. War­um soll­te irgend­wer wegen Blut bes­ser oder schlech­ter sein? Tür­ke, Paläs­ti­nen­ser, Jude, Rus­se, Deut­scher? Ich emp­feh­le allen den Wiki­pe­dia-Arti­kel zur Kol­lek­tiv­schuld. Das Fol­gen­de steht dort gleich zu Beginn:

Kol­lek­tiv­schuld bedeu­tet, dass die Schuld für eine Tat nicht dem ein­zel­nen Täter (oder Tätern) ange­las­tet wird, son­dern einem Kol­lek­tiv, allen Ange­hö­ri­gen sei­ner Grup­pe, z. B. sei­ner Fami­lie, sei­nes Vol­kes oder sei­ner Orga­ni­sa­ti­on. Das beinhal­tet folg­lich auch Men­schen, die selbst nicht an der Tat betei­ligt waren. Das Straf­recht moder­ner Demo­kra­tien geht grund­sätz­lich von einer indi­vi­du­el­len Ver­ant­wort­lich­keit aus, so dass Kol­lek­tiv­schuld juris­tisch nicht rele­vant ist. Arti­kel 33 Gen­fer Abkom­men IV bestimmt, dass kei­ne Per­son für ein Ver­bre­chen ver­ur­teilt wer­den darf, das sie nicht per­sön­lich began­gen hat. Eine Kol­lek­tiv­stra­fe setzt Kol­lek­tiv­schuld vor­aus. Nach Art. 87 Abs. 3 Gen­fer Abkom­men III und Arti­kel 33 Gen­fer Abkom­men IV zäh­len Kol­lek­tiv­stra­fen zu den Kriegsverbrechen.

Nun könn­te man – völ­lig zu Recht – dar­über nach­den­ken, ob die Sache mit den Deut­schen viel­leicht doch etwas spe­zi­el­ler ist. Die Alli­ier­ten ver­folg­ten direkt nach dem Krieg einen Kol­lek­tiv­schuld-Ansatz. Das äußer­te sich unter ande­rem dar­in, dass die Wei­ma­rer Bevöl­ke­rung durch das befrei­te KZ Buchen­wald geführt wur­de. Den Etters­berg kann man von Wei­mar aus sehen. Buchen­wald hat­ten die Wei­ma­rer direkt vor der Nase. Sie haben den Rauch nicht gese­hen, das ver­brann­te Men­schen­fleisch nicht gero­chen. Oder es eben all die Jah­re aus­ge­blen­det. Es war rich­tig, sie alle sehen zu las­sen, was ganz in ihrer Nähe gesche­hen war. Film­ma­te­ri­al der US-Army und den Bericht einer Zeit­zeu­gin, die den KZ-Besuch mit­ge­macht hat, hat der Spie­gel veröffentlicht.

Im Urteil der Alli­ier­ten in den Nürn­ber­ger Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­sen steht 1948 Fol­gen­des zur Kollektivschuld:

Es ist undenk­bar, dass die Mehr­heit aller Deut­schen ver­dammt wer­den soll mit der Begrün­dung, dass sie Ver­bre­chen gegen den Frie­den began­gen hät­ten. Das wür­de der Bil­li­gung des Begrif­fes der Kol­lek­tiv­schuld gleich­kom­men, und dar­aus wür­de logi­scher­wei­se Mas­sen­be­stra­fung fol­gen, für die es kei­nen Prä­ze­denz­fall im Völ­ker­recht und kei­ne Recht­fer­ti­gung in den Bezie­hun­gen zwi­schen den Men­schen gibt.“ (aus dem Urteil der Alli­ier­ten in den Nürn­ber­ger Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­sen gegen die I.G. Far­ben, 29. Juli 1948).

Richard von Weiz­äcker schlägt statt Kol­lek­tiv­schuld eine Kol­lek­tiv­haf­tung vor:

auch Richard von Weiz­sä­cker beton­te in sei­ner viel beach­te­ten Rede „Zum 40. Jah­res­tag der Been­di­gung des Krie­ges in Euro­pa und der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewalt­herr­schaft“, die er am 8. Mai 1985 vor dem Deut­schen Bun­des­tag hielt: „Schuld oder Unschuld eines gan­zen Vol­kes gibt es nicht“, rief aber gleich­zei­tig dazu auf, kol­lek­tiv die Ver­ant­wor­tung für das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Unrecht zu akzep­tie­ren. Weiz­sä­cker bezeich­net die­se Hal­tung als „Kol­lek­tiv­haf­tung“.

Wiki­pe­dia über eine Rede von Bun­des­prä­si­dent Richard von Weiz­sä­cker Zum 40. Jah­res­tag der Been­di­gung des Krie­ges in Euro­pa und der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewalt­herr­schaft vom 8. Mai 1985 vor dem Deut­schen Bundestag

Die­se Kol­lek­tiv­haf­tung gab es für die DDR. Wäh­rend die West-Alli­ier­ten den West-Deut­schen den Mar­shall-Plan geschenkt haben, hat die Sowjet­uni­on Fabri­ken und Infra­struk­tur abge­baut und nach Russ­land ver­schickt. Im Fal­le von Carl Zeiss Jena haben sie sogar Men­schen mit­ge­nom­men, die die Fabrik in Russ­land wie­der auf­ge­baut und über Jah­re hin­weg die Rus­sen ein­ge­ar­bei­tet haben. Die Rus­sen haben alles mit­ge­nom­men, was ihnen nütz­lich erschien. In Wiki­pe­dia gibt es ein Lis­te aller seit 1882 still­ge­leg­ten Bahn­ver­bin­dun­gen in Ber­lin und Bran­den­burg. In die­ser Lis­te ist auch ver­merkt, was die Rus­sen mit­ge­nom­men haben.

Ich habe dazu auch eine per­sön­li­che Geschich­te: Ab der fünf­ten Klas­se bin ich von Buch zur Hum­boldt-Uni zur Mathe­ma­ti­schen Schü­ler­ge­sell­schaft gefah­ren. Es gab damals noch eine direk­te Ver­bin­dung von Buch zum Alex­an­der­platz. Die fuhr abwech­selnd auf dem lin­ken und auf dem rech­ten Gleis. Alle 20 Minu­ten. Dazwi­schen fuhr der Zug in die ande­re Rich­tung nach Ber­nau. Ein­mal war ich zu früh dran und sprang gera­de noch in einen Zug auf dem lin­ken Gleis. Die Türen schlos­sen sich, der Zug fuhr los. Lei­der in die fal­sche Rich­tung. Ich war­te­te auf die nächs­te Sta­ti­on, stürz­te aus dem Zug und rann­te hin­über zur ande­ren Sei­te, weil ich da den Zug in Gegen­rich­tung erwi­schen woll­te. Aber, oh Schreck, da war gar kein Gleis! Die Rus­sen hat­ten es mit­ge­nom­men. Von Rönt­gen­tal bis Ber­nau ist die Stre­cke nur eingleisig.

Im Wiki­pe­dia­ar­ti­kel kann man auch lesen, dass die Sowjet­uni­on fast die Hälf­te des ost­deut­schen Schie­nen­net­zes mit­ge­nom­men hat und min­des­tens 2000 der bes­ten Betrie­be. Und dann haben wir bis 1953 noch fast ein Vier­tel des Brut­to­so­zi­al­pro­dukts in die Sowjet­uni­on abgeführt:

Die Repa­ra­ti­ons­leis­tun­gen der spä­te­ren DDR an die Sowjet­uni­on gescha­hen bis 1948 haupt­säch­lich durch Demon­ta­ge von Indus­trie­be­trie­ben. Davon betrof­fen waren 2000 bis 2400 der wich­tigs­ten und best­aus­ge­rüs­te­ten Betrie­be inner­halb der Sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne Deutsch­lands (SBZ). Bis März 1947 wur­den zudem 11.800 Kilo­me­ter Eisen­bahn­schie­nen demon­tiert und in die Sowjet­uni­on ver­bracht. Damit wur­de das Schie­nen­netz bezo­gen auf den Stand von 1938 um 48 Pro­zent redu­ziert. Der Sub­stanz­ver­lust an indus­tri­el­len und infra­struk­tu­rel­len Kapa­zi­tä­ten durch die Demon­ta­gen betrug ins­ge­samt rund 30 Pro­zent der 1944 auf die­sem Gebiet vor­han­de­nen Fonds. Ab Juni 1946 begann sich mit dem SMAD-Befehl Nr. 167 die Form der Repa­ra­tio­nen von Demon­ta­gen auf Ent­nah­men aus lau­fen­der Pro­duk­ti­on im Rah­men der Sowje­ti­schen Akti­en­ge­sell­schaf­ten zu ver­la­gern, die von 1946 bis 1953 jähr­lich zwi­schen 48 und 12,9 Pro­zent (durch­schnitt­lich 22 Pro­zent) des Brut­to­so­zi­al­pro­dukts betru­gen. Die Repa­ra­tio­nen ende­ten nach dem Volks­auf­stand vom 17. Juni 1953. Auf der Grund­la­ge erst­mals erschlos­se­ner Archiv­ma­te­ria­li­en, vor allem in Mos­kau, kamen Lothar Baar, Rai­ner Karlsch und Wer­ner Matsch­ke vom Insti­tut für Wirt­schafts­ge­schich­te der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin etwa 1993 auf eine Gesamt­sum­me von min­des­tens 54 Mil­li­ar­den Reichs­mark bzw. Deut­sche Mark (Ost) zu lau­fen­den Prei­sen bzw. auf min­des­tens 14 Mil­li­ar­den US-Dol­lar zu Prei­sen des Jah­res 1938. 

Als die Repa­ra­tio­nen 1953 für been­det erklärt wur­den, hat­te die SBZ/DDR die höchs­ten im 20. Jahr­hun­dert bekannt­ge­wor­de­nen Repa­ra­ti­ons­leis­tun­gen erbracht.

Wiki­pe­dia-Arti­kel zu den Repa­ra­ti­ons­leis­tun­gen nach dem zwei­ten Weltkrieg

Dem Plus der BRD aus dem Mar­shall-Plan von 1,41 Mil­li­ar­den US-Dol­lar steht also ein Minus von min­des­tens 14 Mil­li­ar­den US-Dol­lar für die DDR gegen­über. (Neben­be­mer­kung: Ej, lie­be Wes­sis, „wir“ haben die aus der Haf­tung ent­stan­de­nen Schul­den über­nom­men und bezahlt und dann alles von vorn neu auf­ge­baut: die durch den Krieg zer­stör­te Infra­struk­tur und die demon­tier­ten Betrie­be, wohin­ge­gen „Ihr“ schö­ne Geschen­ke bekom­men habt bzw. Betrie­be und Per­so­nal aus dem Osten mit­ge­nom­men habt. Unter ande­rem auch einen Teil von Carl Zeiss, Sie­mens, Schott usw. Außer­dem konn­tet „Ihr“ „Eure“ Roh­stof­fe auf dem Welt­markt kau­fen (den glo­ba­len Süden aus­beu­ten), wäh­rend „wir“ unse­re Roh­stof­fe von „uns­ren Freun­den“ kau­fen muss­ten. Und zwar für West-Geld. Es gibt also kei­nen Grund zur Über­heb­lich­keit und Arro­ganz.) (Neben­be­mer­kung 2: Ins­ge­samt betru­gen die Wie­der­gut­ma­chungs­zah­lun­gen 2022 81,967 Mil­li­ar­den Euro. Die DDR hat sich an die­sen Zah­lun­gen nicht betei­ligt, weil sie das The­ma nach den Zah­lun­gen an die Sowjet­uni­on für erle­digt gehal­ten hat. Ab 1989 war „die DDR“ natür­lich an die­sen Zah­lun­gen betei­ligt. Die Zah­lun­gen wur­den zu unter­schied­li­chen Zei­ten geleis­tet, so dass die abso­lu­ten Zah­len nicht direkt ver­gleich­bar sind.1

Wei­ter schreibt Wiki­pe­dia zum The­ma Kollektivschuld:

Ralph Giord­a­no woll­te 1947 nicht von „Kol­lek­tiv­schuld“ spre­chen. Es habe eine Min­der­heit von Deut­schen gege­ben, die ihrem Gewis­sen und nicht dem Füh­rer gefolgt sei. Die Mehr­heit habe jedoch kein Recht, sich dadurch ent­las­tet zu füh­len und von deren Anstän­dig­keit zu pro­fi­tie­ren, beson­ders weil sie sich auch heu­te noch von die­ser Min­der­heit distanziere.

Das ist wahr. Ein Ver­wand­ter mei­ner Frau, soll­te in Nor­we­gen Zivilist*innen töten und hat sich gewei­gert. Er wur­de selbst erschos­sen. Der West­teils der Fami­lie hat sich dafür geschämt. Sie haben nie dar­über gespro­chen. Und sie­he auch den Bericht von Mari­an­ne Mey­er-Krah­mer Mein lan­ger Weg zur Stun­de Null, den ich hier im Blog ver­öf­fent­licht habe. Mey­er-Krah­mer ist die Toch­ter des Leip­zi­ger Ober­bür­ger­meis­ters Goer­de­ler, der als einer der Hit­ler-Atten­tä­ter hin­ge­rich­tet wur­de. Sie saß im KZ. Übri­gens ohne jeg­li­chen Grund. Es war Sip­pen­haft. Sip­pen­haft ist die klei­ne Freun­din von Kol­lek­tiv­schuld. Sie berich­tet davon, wie ihr Men­schen nach ihrer Befrei­ung begeg­net sind, wie sie die Ableh­nung der BDM-Mäd­chen, mit denen sie als Leh­re­rin zu tun bekam, über­wand. Mit Goethe.

In Wiki­pe­dia fin­det man auch fol­gen­de Aus­sa­ge des Neu­ro­lo­gen und Psych­ia­ters Vik­tor Frankl zum The­ma Kollektivschuld:

es gibt nur zwei Ras­sen von Men­schen, die Anstän­di­gen und die Unanständigen.

Frankl war Jude und hat The­re­si­en­stadt und Ausch­witz über­lebt. Sei­ne rest­li­che Fami­lie wur­de ermor­det. Vater, Mut­ter, Bru­der, Frau.

Rabe wirft ihren Lehrer*innen vor, dass die­se kei­ne vor­wurfs­vol­len All­aus­sa­gen über die Vor­fah­ren ihrer Schüler*innen gemacht hätten:

Die­se omi­nö­sen deut­schen Sol­da­ten. Kein Leh­rer sag­te: Eure Groß­vä­ter und Urgroß­vä­ter waren die deut­schen Sol­da­ten, die in Ost­eu­ro­pa und der Sowjet­uni­on alles abge­schlach­tet haben, was sich beweg­te, die geraubt und ver­ge­wal­tigt und gan­ze Dör­fer ange­zün­det haben.

S. 87

Viel­leicht lag das dar­an, dass das zu platt und im Ein­zel­fall auch nicht rich­tig gewe­sen wäre? Wenn wäre die Aus­sa­ge ja wohl auch „Unse­re Groß­vä­ter und Urgroß­vä­ter“ gewe­sen. Und folgt es nicht auto­ma­tisch, wenn man über die Ver­bre­chen die­ser Gene­ra­ti­on auf­klärt, dass die Groß­el­tern und Urgroß­el­tern von vie­len, vie­len Deut­schen Täter*innen waren? Muss man die­sen Gedan­ken nicht selbst denken?

Mein einer Opa war übri­gens kriegs­wich­tig (Inge­nieur bei Kör­ting in Leip­zig) und des­halb nicht im Krieg und mein ande­rer war zwar bei der Wehr­macht aber als Koch.

Bei­de haben somit zwar irgend­et­was zum Krieg bei­getra­gen, aber der Vor­wurf, den Rabes Lehrer*innen ihnen hät­te machen sol­len, hät­te auf sie wohl nicht zugetroffen.

Mein Opa war in der SPD, nicht in der NSDAP. Die SPD war ab dem 22. Juni 1933 als „volks- und staats­feind­li­che Orga­ni­sa­ti­on“ ver­bo­ten. Der Bru­der mei­nes Groß­va­ters war bis zum Ver­bot am 28. Febru­ar 1933 in der SAJ (Sozia­lis­ti­sche Arbei­ter-Jun­gend). Er hat ein Jahr und neun Mona­te im KZ Lich­ten­burg geses­sen, weil er Flug­blät­ter für eine Ein­heits­front aus KPD und SPD ver­teilt hat. 

Ankla­ge­schrift „gegen List und Genos­sen wegen Vor­be­rei­tung eines hoch­ver­rä­te­ri­schen Unter­neh­mens“ 19.09.1935

Der Groß­va­ter mei­ner Frau hat einem Juden ein Bahn-Ticket nach Wla­di­wos­tok gekauft, als Juden das schon längst nicht mehr konn­ten. Er hat ihm zur Flucht ver­hol­fen. Mit Hil­fe eines israe­li­schen Kol­le­gen habe ich sei­nen Nef­fen in Isra­el aus­fin­dig gemacht und mein Schwa­ger hat ihn dann dort besucht. Der Groß­va­ter war Lei­ter des Arbeits­am­tes in Ins­ter­burg. Er saß in der Nazi­zeit mehr­fach im Gefäng­nis und stand mehr­fach vor Gericht. Ein­mal hat ein Kind eines Men­schen aus sei­ner Freun­des­grup­pe sie ver­ra­ten: Sie hat­ten Radio Lon­don gehört. Er konn­te sich vor Gericht dar­auf beru­fen, dass die Aus­sa­ge eines Kin­des nicht zäh­len wür­de. Ande­re aus dem Freun­des­kreis kann­ten sich nicht aus und wur­den ver­ur­teilt. Er wur­de oft von Men­schen gewarnt, denen er frü­her Arbeit ver­schafft hat­te. Beim drit­ten Mal Schutz­haft half ihm der Poli­zei­di­rek­tor: Die ande­ren Ange­klag­ten wur­den ins KZ Dach­au abtrans­por­tiert, der Poli­zei­prä­si­dent hielt den Groß­va­ter zurück mit der Behaup­tung, es habe kei­nen Platz mehr in den Trans­por­ten nach Dach­au gegeben.

Ein Ange­hö­ri­ger der Fami­lie mei­ner Frau hat sich im Krieg gewei­gert, nor­we­gi­sche Zivilist*innen (Par­ti­sa­nen) zu erschie­ßen und wur­de selbst erschos­sen. Ein Cou­sin mei­nes Vaters ist in Nor­we­gen mit einer Nor­we­ge­rin deser­tiert und wur­de erschossen.

Schrei­ben der Deut­schen Dienst­stel­le für die Benach­rich­ti­gung der nächs­ten Ange­hö­ri­gen der ehe­ma­li­gen deut­schen Wehr­macht, 07.04.2017

Der Cou­sin scheint sei­ne Waf­fe mit­ge­nom­men zu haben. Also: ein­mal Ver­wei­ge­rung des Schie­ßens aus Mensch­lich­keit, ein­mal Fah­nen­flucht aus Lie­be. „Todes­an­zei­gen oder Nach­ru­fe in Zei­tun­gen, Zeit­schrif­ten und der­glei­chen sind verboten.“

Sind wir schul­dig? Als Men­schen mit deut­schem Blut? Was ist das für ein ras­sis­ti­scher Unsinn! Soll­ten wir uns nicht alle dar­an mes­sen, was wir jetzt tun? Wie wir die Taten ande­rer ein­ord­nen? An unse­rer Mensch­lich­keit? Am 4.11.1989 gab es eine gro­ße Demons­tra­ti­on am Alex­an­der­platz. Die ers­te freie Demons­tra­ti­on in der DDR. Ich lief im Anti­fa-Block mit. Die Sta­si hat Bil­der von die­sem Block gemacht (sie­he Wag­ner, 2018, Ver­tusch­te Gefahr: Die Sta­si & Neo­na­zis).

© BStU, MfS HAXX, Fo 1021, Bild 57

Bin ich schul­dig? Muss ich mich schä­men? Ich habe nichts getan! Ich war sie­ben Mal in Buchen­wald (sie­he Weim­ar­ta­ge der FDJ) und auch in Sach­sen­hau­sen, in Ausch­witz. Ich habe mich inten­siv mit der deut­schen Ver­gan­gen­heit aus­ein­an­der­ge­setzt, aber ich konn­te die 1000 Jah­re zwi­schen 1933 und 1945 an kei­ner Stel­le beein­flus­sen. Denn ich war da noch nicht geboh­ren. Für mei­ne Eltern kann ich nichts, aber für mei­ne Kin­der. Ich wür­de mich schä­men, wenn sie in die AfD ein­tre­ten wür­den und/oder die Ver­nich­tung von Men­schen pla­nen würden.

Demoteilnehmer*innen mit Schil­dern „‘Remi­gra­ti­on’ ??? No way, AfD!“, „Dan­ke! Mama & Papa, dass ich kein Nazi gewor­den bin!!!“ und „Oh Schie­ße.“ und einem aus AfD-Pfei­len zusam­men­ge­setz­ten Haken­kreuz. Reichs­tag, Ber­lin, 21.01.2024

Scham

Anne Rabe wird zum Opfer ihrer Vor­stel­lun­gen von Kol­lek­tiv­schuld. Wie ich oben geschrie­ben habe: Sip­pen­haft ist die fie­se klei­ne Schwes­ter von Kol­lek­tiv­schuld. Das schreibt Rabe selbst:

Mei­ne Eltern hat­ten stu­die­ren kön­nen und hat­ten es des­halb auch nach dem Sys­tem­wech­sel leich­ter. Wir waren pri­vi­le­giert und ret­te­ten einen Teil die­ser Pri­vi­le­gi­en mit in die neue Zeit. Mut­ter und Vater wür­den sich auf dem Arbeits­markt eta­blie­ren kön­nen. Nicht ohne Pro­ble­me, nicht ohne Arbeits­lo­sig­keit, nicht ohne Umschu­lun­gen und die berühm­ten Brü­che in den Erwerbs­bio­gra­fien, aber sie hat­ten bes­se­re Start­chan­cen als die meis­ten der­je­ni­gen, die das Sys­tem zum Ein­sturz gebracht haben. Bes­se­re Chan­cen als die­je­ni­gen, denen auch ich mei­ne Frei­heit zu ver­dan­ken habe. Ich schä­me mich dafür. Immer noch.

S. 155

Jedes Mal, wenn ich von Hohen­schön­hau­sen, Tor­gau oder ande­ren Dun­kel­or­ten der DDR hör­te, wur­de ich von einer Scham­wel­le fort­ge­schwemmt, aus der ich mich nur lang­sam her­aus­kämp­fen konn­te, indem ich sorg­sam alles studierte.

S. 99

Aber wie­so schämt sich Rabe für ihre Eltern? Sie kann nichts für ihre Eltern. Sie hat sich sogar von ihnen los­ge­sagt. Damit ist doku­men­tiert, dass sie deren Hal­tung und ihre Gewalt­tä­tig­keit ablehnt. Rabe soll­te sich nicht für ihre Eltern schä­men. Aber sie könn­te sich zum Bei­spiel für die inhalt­li­chen Feh­ler in ihrem Buch schä­men. Für ihre Unin­for­miert­heit. Für ihre nicht erfolg­te Recher­che zu The­men, über die sie geschrie­ben hat. Für den Scha­den, den sie damit ange­rich­tet hat. All ihre Feh­ler sind in Kei­ne Gewalt! Zu Mög­lich­kei­ten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch in die­sem Blog-Bei­trag doku­men­tiert. Oder für ihre Nai­vi­tät bzw. Durch­trie­ben­heit, auf die ich wei­ter unten zu spre­chen komme.

Reden

Anne Rabe mahnt in ihrem Buch an, dass wir doch mit­ein­an­der reden soll­ten. Dass wir Ossis unse­re dunk­le Ver­gan­gen­heit auf­ar­bei­ten soll­ten. Aber sie selbst hat nicht gere­det. Das Ver­sa­gen liegt auch bei ihr. Hier eini­ge Pas­sa­gen aus dem Buch:

Ich bin ein­fach wütend. Auch auf Adas Eltern. 

Auch sie haben uns im Stich und mit der gan­zen Geschich­te allein­ge­las­sen. Adas Vater hat über die roten Socken gespro­chen, über sein Radar, das da anging bei mei­nen Eltern und ande­ren. Sein Hass, sei­ne Wut, sie sind berech­tigt gewe­sen. Aber statt sich mit denen aus­ein­an­der­zu­set­zen, die dafür die Ver­ant­wor­tung tru­gen, statt mit ihnen die Din­ge zu klä­ren, hat er am Küchen­tisch sei­ne Reden geschwun­gen und eben mich spü­ren las­sen, wie wenig er mich lei­den konnte.

S. 155–156

Adas Eltern waren Systemgegner*innen. Sie durf­ten nicht stu­die­ren und haben unter der DDR gelit­ten. Unter Men­schen wie Rabes Eltern. Und jetzt ver­langt sie, dass die, die all das erlit­ten haben, zu denen gehen, die sich schul­dig gemacht haben, und sich mal aussprechen?

Das zeigt ganz klar, dass sie das alles nicht ver­stan­den hat. Sie hat nicht ver­stan­den, was Bau­sol­dat-Sein bedeu­tet hat. Man hat­te sich kom­plett aus der rest­li­chen Gesell­schaft aus­ge­klinkt. Man konn­te höchs­tens noch Theo­lo­gie stu­die­ren. Ich war an einer Spe­zi­al­schu­le mathe­ma­ti­scher Rich­tung. Es gab dort einen Jun­gen, der nahm an inter­na­tio­na­len Mathe­olym­pia­den teil. Er war geni­al. Er hat sich schon in der Schu­le gewei­gert, an dem zwei­wö­chi­gen GST-Lager, in dem wir auch mit auto­ma­ti­schen Waf­fen geschos­sen haben, teil­zu­neh­men. Die para­mi­li­tä­ri­sche Aus­bil­dung in der Schu­le war Pflicht. Der Schü­ler ist dann Schä­fer geworden. 

Ada hat mir erzählt, dass er in der DDR den Wehr­dienst an der Waf­fe ver­wei­gert hat, was nur ging, wenn man sich den »Bau­sol­da­ten« zutei­len ließ. Das hat­te Kon­se­quen­zen. Mie­se Schi­ka­nen wäh­rend und nach der Dienst­zeit – ein sehr bewusst gewähl­tes Außen­sei­ter­tum, einer Gesell­schaft zum Trotz, die einem kei­ne Wahl las­sen woll­te. Der Preis, den Adas Vater für sei­ne mora­li­sche Inte­gri­tät hat­te zah­len müs­sen, war hoch. Sein gan­zes Leben wür­de davon bestimmt sein. Auf ein Stu­di­um brauch­te er nicht mehr zu hof­fen und über­all, wo es sich anzu­stel­len galt, hat­te er sich ganz hin­ten ein­zu­rei­hen. Das hat­te ihn den­noch nicht davon abge­hal­ten, für sei­ne Über­zeu­gun­gen einzustehen.

S. 154

Jeder Kon­takt mit dem Sys­tem und des­sen Kin­dern war poten­ti­ell gefähr­lich und in jedem Fall anstren­gend. Als Bau­sol­dat war man als Sys­tem­geg­ner akten­kun­dig gewor­den. Viel­leicht wur­de man bespit­zelt. Rund um die Uhr. Arbeits­kol­le­gen mel­de­ten Auf­fäl­lig­kei­ten. Und sie ver­langt jetzt von den Oppo­si­tio­nel­len, dass sie mit ihren Eltern spre­chen? Zwar nach der Wen­de, aber ???

Völ­lig unklar.

So wie Gei­pel und Kaha­ne es nicht ver­ste­hen kön­nen, dass sie als rote Socken abge­lehnt wur­den, hat Rabe nicht ver­stan­den, wie die DDR war und was man da nach der Wen­de gemacht hat und was nicht. Wir waren froh, dass wir Krenz & fri­ends los waren. Mit denen woll­te man nicht mehr reden. Ganz davon abge­se­hen, dass nach der Wen­de alle im Über­le­bens­kampf waren, was Rabe ja auch selbst schreibt.

Wie kann Rabe eine Blut­schuld für das gesam­te deut­sche Volk und alle Nach­fah­ren for­dern, für sich selbst aber ver­lan­gen, dass ihre Gegen­über ihr unvor­ein­ge­nom­men begeg­nen? Müss­te die­se Blut­schuld nicht auch für sie gel­ten? Und für Anet­ta Kaha­ne, deren Vater das Neue Deutsch­land, Zen­tral­or­gan der SED, gelei­tet hat? Und für Ines Gei­pel, deren Vater IM war und laut ihrem Wiki­pe­dia-Ein­trag für „das Aus­spä­hen von Objek­ten und die Vor­be­rei­tung von Sabo­ta­ge auf dem Gebiet der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land“ zustän­dig (Hart­wich & Mascher, 2007)? Ist Unfug, oder? Anet­ta Kaha­ne war übri­gens selbst IM, nicht ihre Eltern. Sie hat ihre jüdi­schen Kum­pels verpfiffen.

Ja, Adas Vater hät­te sie nicht ableh­nen sol­len, so wie es auch von ihrer Leh­re­rin unpro­fes­sio­nell war, sie auf­grund ihrer Her­kunft aus­zu­schlie­ßen. Gera­de in der Grund­schu­le, wo ein betrof­fe­nes Kind das wahr­schein­lich nicht ver­ste­hen kann. Aber als erwach­se­ne Frau, und das ist die Ich-Erzäh­le­rin ja, soll­te sie die Situa­ti­on damals so weit ein­schät­zen kön­nen, dass sie die Hand­lun­gen der Akteur*innen ver­steht. Aber das kann sie nicht, denn sie hat nicht mit ihnen gespro­chen (ja, ja, das ist nur ein Roman, aber sol­che Roma­ne wür­de man dann hal­te eben nicht schrei­ben, hät­te man mit Men­schen gesprochen):

Aber das ist nicht der ein­zi­ge Grund, war­um ich das Gespräch mit Adas Eltern plötz­lich scheue. Ich will kei­ne Abso­lu­ti­on von ihnen, kei­ne spä­te Ver­brü­de­rung mit den­je­ni­gen, die auf mei­ne Eltern und ihr gan­zes Sys­tem zu Recht wütend waren. Ich woll­te mich auch nicht als die­je­ni­ge pro­du­zie­ren, die nun ihre Haus­auf­ga­ben gemacht und im Gegen­satz zu den ewig Gest­ri­gen ver­stan­den hat­te, aus was für einem Land sie kam.

S. 155

Hät­te sie mit ihnen gespro­chen, wüss­te sie, dass Christ*innen in der DDR dazu genö­tigt wur­den, vor der gan­zen Klas­se auf­zu­ste­hen. „Wer von Euch glaubt an Gott? Du, Sabi­ne? Dann steh mal bit­te auf. Wer noch?“

Rabe schreibt:

Die Ange­hö­ri­gen der Opfer erfuh­ren nichts über den Ver­bleib ihrer Kin­der, Väter, Müt­ter, Tan­ten, Onkel, Nach­barn und Freun­de. Das Schwei­gen dar­über war so total, dass heu­te kaum noch jemand um die Ver­bre­chen der Anfangs­zeit der DDR weiß, obwohl es nahe­zu kei­ne Fami­lie geben kann, die davon unbe­rührt blieb.

S. 265

Ich habe es immer geahnt: Ich bin ein­zig­ar­tig! Ich bin der ein­zi­ge Ossi, der irgend­wie wuss­te, dass in den 50ern Men­schen abge­holt wur­den. Dass es Men­schen gab, die Angst hat­ten, wenn Auto­tü­ren klapp­ten, weil sie dach­ten, jetzt wür­den sie geholt.

Sor­ry, Frau Rabe. „Auf der Suche nach Gatt“ wur­de in der Schu­le behan­delt. Da wur­de uns natür­lich erklärt, dass das am 17. Juni die Kon­ter­re­vo­lu­ti­on war. Aber man konn­te sei­ne Eltern fra­gen, was da war, was sie gemacht haben.

Der ande­re Teil mei­ner Fami­lie kommt aus Frankfurt/Oder, einer Bezirks­haupt­stadt, der ach­zehnt­größ­ten Stadt in der DDR, von der Sie schrei­ben: „Irgend­was Klei­nes in Bran­den­burg“. Die Mut­ter hat in der Bahn­hofs­mis­si­on gear­bei­tet. Der Vater war in den letz­ten Kriegs­ta­gen gefal­len, als er sich vom Volks­sturm abge­setzt hat­te und von einer irr­lich­tern­den Gra­na­te erwischt wur­de. Allein­ste­hen­de Frau mit fünf Kin­dern. Sie wur­de ein­ge­sperrt. Das wis­sen wir, das weiß die gan­ze Fami­lie, das weiß deren Umfeld. Christ*innen in der DDR wis­sen das. Sie haben halt nicht mit Ihnen drü­ber gespro­chen und hät­ten das zu DDR-Zei­ten auch nicht getan. Weil sie aus einer Funk­tio­närs­fa­mi­lie kom­men. Mein Gott!

Sie for­dern eine Auf­ar­bei­tung der SED-Zeit und Rezen­sen­ten grei­fen das begeis­tert auf: Ja, die Ossis sol­len mal ihren Dreck im Kel­ler auf­ar­bei­ten, so wie wir es ja getan haben 1968.

War Ihre Fami­lie in das SED-Regime ver­wi­ckelt? Gab es in Ihrer Fami­lie Mit­ar­bei­ter der Staats­si­cher­heit? Wür­den Sie sagen, dass Ihre Fami­lie zu DDR-Zei­ten eher Täter oder Opfer waren? Gehör­ten Sie zu den Mit­läu­fern? Hat Ihre Fami­lie vom SED-Regime pro­fi­tiert? Gibt es in Ihrer Fami­lie Mit­glie­der, die auf Grund ihres Glau­bens oder ihrer poli­ti­schen Über­zeu­gung ver­folgt wur­den? Hat Ihre Fami­lie akti­ven Wider­stand gegen das SED-Regime geleis­tet? Ist es wich­tig, dass kom­men­de Gene­ra­tio­nen in der Schu­le über das Unrecht, das in der ehe­ma­li­gen DDR began­gen wur­de, auf­ge­klärt werden?

Die­se Fra­gen wer­den nicht gestellt. Man befragt uns nicht dazu und misst dar­an auch nicht den Grad unse­res poli­ti­schen Bewusst­seins oder den Zustand der Republik.

S. 73

Sor­ry, Frau Rabe, da haben Sie wohl einen Dit­sch von ihrem Eltern­haus mit­be­kom­men. Wer ist denn „man“? Wer soll denn was fra­gen? Der Staat uns? Soll­ten wir das nicht selbst tun? Und ja, 1) hat der Staat uns befragt bzw. unse­re Daten abge­fragt und 2) haben wir mit­ein­an­der gere­det. Das pas­sier­te in den 90ern ziem­lich inten­siv. Nur haben Sie davon nichts mit­be­kom­men, weil Sie da noch zu klein waren. Das kann man Ihnen nicht vor­wer­fen, was man Ihnen vor­wer­fen kann, ist, dass Sie selbst nicht reden woll­ten (sie­he oben) und dass Sie auch nicht recher­chiert haben. Über „Wir müs­sen alle mal reden und wir brau­chen ein 68 für den Osten“ habe ich auch in Gewalt­er­fah­run­gen und 1968 für den Osten noch aus­führ­li­cher besprochen.

Berlinerisch

Auf S. 210 schreibt Anne Rabe zum Berlinischen:

Zwar ist es in der intel­lek­tu­el­len Land­schaft Ost­ber­lins ganz schick gewe­sen, den Jar­gon der Arbei­ter zu imitieren

S. 210

Anne Rabe hat an der FU-Ber­lin ab 2005 Ger­ma­nis­tik und Thea­ter­wis­sen­schaf­ten stu­diert. Als ich dort 2007 anfing, war sie wahr­schein­lich schon weg. An der FU lehr­te damals noch Prof. Nor­bert Ditt­mar, der zum Ber­li­ni­schen geforscht hat. Aber eigent­lich braucht es kei­ne sprach­wis­sen­schaft­li­che Aus­bil­dung, um zu wis­sen, dass das Ber­li­nern in Ber­lin und Bran­den­burg in allen Bevöl­ke­rungs­schich­ten üblich war. Ich konn­te ber­li­nern, schon bevor ich mit Arbei­tern in Kon­takt gekom­men bin. Mei­ne Eltern sind aus Jena und Wit­ten­berg. Von denen habe ich es nicht gelernt. Das kam ganz nor­mal über den Kin­der­gar­ten und die Schu­le. So hat man gespro­chen. Ein Kol­le­ge, der in den 90ern an der HU stu­diert hat, hat Vor­le­sun­gen in der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft gehört, in denen der Dozent bes­tens ber­li­nert hat. Wir alle haben ber­li­nert. Vie­le sind zwei­spra­chig und kön­nen Stan­dard­spra­che und Dia­lekt spre­chen. Im Wes­ten hat man den Schüler*innen das Ber­li­nern aus­ge­trie­ben, so wie man in Bay­ern den Kin­dern das Bay­ri­sche abge­wöhnt hat. Ich habe genau einen Freund aus West­ber­lin, der ber­li­nert. Sonst spre­chen alle West-Ber­li­ner hochdeutsch.

Ein mög­li­cher Grund dafür, dass die Schu­len nicht ver­sucht haben, uns die Dia­lek­te abzu­er­zie­hen, könn­te natür­lich sein, dass auch Funk­tio­nä­re Dia­lekt spra­chen, aber das ist etwas Ande­res als das, was Anne Rabe geschrie­ben hat. 

Jugendweihe – unser erster subversiver Akt

Zur Jugend­wei­he schreibt Rabe:

Das zwei­te Bekennt­nis leg­te das Kind dann selbst ab. In der ach­ten Klas­se, also mit 14 Jah­ren, soll­te das sozia­lis­ti­sche Kind qua Jugend­wei­he in die Welt der Erwach­se­nen auf­ge­nom­men wer­den und muss­te dafür laut­hals gelo­ben, sich „mit gan­zer Kraft für die gro­ße und edle Sache des Sozia­lis­mus einzusetzen“.

S. 114–115

Ja, die Jugend­wei­he war lus­tig! Und es war ganz prak­tisch, dass wir alle ber­li­ner­ten (sie­he vori­gen Abschnitt). Wir soll­ten alle die­ses blö­de Gelöb­nis spre­chen bzw. dann immer jeweils nach einem Stück Text sagen: „Ja, das gelo­ben wir!“

Was wir statt­des­sen sag­ten, war: „Ja, das glo­ben wir.“, was über­setzt ins Stan­dard­deut­sche „Ja, das glau­ben wir.“ heißt. Wir hat­ten alle Spaß. Für vie­le war das ihr ers­ter sub­ver­si­ver Akt. Hat kei­ner gemerkt.

Funktionärssprache

Ich hat­te oben schon das Zitat zum Reden mit Oppo­si­tio­nel­len. Dar­in war fol­gen­der Satz enthalten:

Ich woll­te mich auch nicht als die­je­ni­ge pro­du­zie­ren, die nun ihre Haus­auf­ga­ben gemacht und im Gegen­satz zu den ewig Gest­ri­gen ver­stan­den hat­te, aus was für einem Land sie kam.

S. 155

Ewig Gest­ri­ge ist für mich Funk­tio­närs­spra­che. Die­se Flos­kel kam über­all vor: im Geschichts­un­ter­richt, im Staats­bür­ger­kun­de­un­ter­richt, im FDJ-Stu­di­en­jahr. Es ging um Revan­chis­ten und Reak­tio­nä­re. Nun also Ossis. Hm. Viel­leicht kommt die­se Phra­se auch im Wes­ten vor. Ich hät­te sie aber nicht in solch einem Roman verwendet.

Ein Scherz, oder?

Rabe schreibt als Ich-Erzählerin:

Hans ist das Licht des Lap­tops zu hell im Bett. Er stöhnt und will schla­fen. Um sechs klin­gelt sein Wecker. Als du den Com­pu­ter zuklappst, ist es nicht weni­ger hell. Der Mond scheint dich an. Du stehst auf und ziehst ins Wohn­zim­mer und schreibst: „Vol­ler Mond, du dum­me Sau/zieh dich zurück in dei­nen Ver­hau.“ Es geht doch. Geht doch noch.

Das ist ein Scherz, oder? Ich bin in der Lage Humor zu erken­nen. Ist das der ein­zi­ge fik­tio­na­le Teil im Roman? Oder doch mehr? Oder alles? Oder ist alles ernst?

Spinnen und Bananen

Anne Rabe bzw. ihre Ich-Erzäh­le­rin hat­te es schwer. Ihre Kind­heit war ent­beh­rungs­reich und hart. Sie muss­te auf ein Außen­klo gehen, auf dem es Spin­nen gab. Und grü­ne Bana­nen essen.

Lie­be Frau Rabe, ich hab da ein paar Tipps für Sie: Wenn man nicht möch­te, dass es an einem Ort Spin­nen gibt, kann man sich ein Glas und Papier neh­men. Das Glas stülpt man über die Spin­ne. Das Papier schiebt man unter das Glas und dann kann man die Spin­ne zurück in die Natur beför­dern. Ich weiß, Ihre Kind­heit war schwer, aber es gab hof­fent­lich Papier (zu mei­ner Zeit war das Papier knapp). Min­des­tens Klo­pa­pier wird es wohl gege­ben haben und das sogar an dem Ort, wo sie es hät­ten benut­zen kön­nen. Wenn es bei Ihnen kein Glas gab, gab es viel­leicht die­se Punkte-Becher: 

DDR-Design­klas­si­ker: Punk­te-Becher aus Plas­te, 23.02.2024

Man hat­te mit solch einem Becher lei­der kei­nen Sicht­kon­takt zur Spin­ne mehr, aber hey, Not macht erfin­de­risch. Wir Ossis haben eigent­lich immer noch alles hinbekommen. 

Und mit den grü­nen Bana­nen, das kann ich voll nach­voll­zie­hen. Die sind dann so kleb­rig. Aber auch da gibt es einen Trick: Man lässt die Bana­nen etwas lie­gen. Dann sind sie reif. Sie schrei­ben ja selbst, dass Sie schon ein­mal brau­ne Bana­nen gese­hen hätten. 

Die Bana­nen, die ich nicht moch­te, weil wir sie geges­sen haben, wenn sie noch grün waren. Ich dach­te lan­ge, sie wären schlecht, sobald sie ein paar brau­ne Stel­len hatten.

S. 18

Dann müss­ten Ihnen doch eigent­lich auch Bana­nen in mitt­le­rer Rei­fe unter­ge­kom­men sein. Hät­ten Sie sys­te­ma­tisch getes­tet, hät­ten Sie her­aus­fin­den kön­nen, dass man Bana­nen weder grün noch braun essen muss.

Übri­gens: Bei uns damals war es so, dass wir über­haupt kei­ne Bana­nen hat­ten. Auch kei­ne grü­nen. Also, wir schon, denn wir leb­ten in Ber­lin und Ber­lin wur­de immer bes­ser ver­sorgt als der Rest der DDR. Das hing damit zusam­men, dass die Wes­sis nicht mer­ken soll­ten, dass es bestimm­te Din­ge in der DDR nicht gab, wenn sie mal kurz ihr Mäd­chen aus Ost­ber­lin besuch­ten. Also wir hat­ten wel­che, aber Ihre Eltern in Wis­mar nicht. 

Kari­ka­tur von Bernd A. Chmu­ra. Bana­nen-Repu­blik, 1986. Aus dem Kata­log der X. Kunst­aus­stel­lung der DDR, Dres­den. 1987/1988. S. 429. Ber­lin bekommt die Bana­nen, die rest­li­che DDR die Schalen.

Bzw. sie hat­ten sehr sel­ten wel­che. Ich erin­ne­re mich an Bana­nen bei einer Kur in Ahl­beck. Die waren noch grün!!! In Ber­lin gab es aber auch nicht immer Bana­nen. Eigent­lich gab es Süd­früch­te immer so um die Weih­nachts­zeit, wes­halb Obst­sa­lat noch heu­te für mich mit Weih­nach­ten ver­bun­den ist. 

Obst­sa­lat in einer Schüs­sel von Kahla Thü­rin­gen Por­zel­lan, Ber­lin, 18.12.2021. Kahla Thü­rin­gen Por­zel­lan wur­de nach der Wen­de für eine DM an einen Rechtstan­walt ver­kauft, des­sen einiz­ge Qua­li­fi­ka­ti­on dar­in bestand, einen Bru­der bei der Treu­hand zu haben. Na, ich schwei­fe ab. Und man soll auch nicht so viel Infor­ma­ti­on in Bild­un­ter­schrif­ten packen.

Dass es die Süd­früch­te nur zu Weih­nach­ten gab, lag dar­an, dass Erich Hon­ecker erst zum Jah­res­en­de genü­gend DDR-Oppo­si­tio­nel­le in den Wes­ten ver­kauft hat­te, so dass dann die Bana­nen und Apfel­si­nen gekauft wer­den konn­ten. (Das war Sarkasmus.)

Übri­gens: Die Sze­ne mit der Bade­wan­ne. Ist das nicht genau­so wie das mit den grü­nen Bana­nen? Sti­nes Mut­ter, die Mut­ter der Ich-Erzäh­le­rin, war in der Küche, ihr Vater im Wohn­zim­mer. Sie stand in dem sehr hei­ßen Was­ser. War­um hat sie nicht ein­fach kal­tes Was­ser nach­ge­füllt? War­um hat sie sich und ihren klei­nen Bru­der in das hei­ße Was­ser gestellt? Ich weiß, sie war noch klein und es war eine Stress­si­tua­ti­on. Aber wenn das immer wie­der pas­siert ist, hät­te sie ja mal drü­ber nach­den­ken kön­nen. Oder war es viel­leicht doch nicht so? Oder kann man das in die­sem Alter noch nicht? Sie muss ja min­des­tens vier gewe­sen sein.

Mangelnde Eigenverantwortung und die Fahrt in den Abgrund

Ein ähn­li­cher Fall liegt bei der Schlit­ten­sze­ne vor, auf die mich mein Klas­sen­ka­me­rad Peer in sei­ner Dis­kus­si­on von Anne Rabes Buch auf Mast­o­don hin­ge­wie­sen hat:

Wenn ich mich an Tim erin­ne­re, spü­re ich ihn hin­ter mir auf dem Schlit­ten sit­zen. Damals in Tsche­chi­en, im Rie­sen­ge­bir­ge. Er klam­mert sich an mich, und wir fah­ren im Affen­zahn einen Berg hin­un­ter. Er ver­traut mir, ver­traut dar­auf, dass ich die Kur­ve noch krie­ge vor dem Abhang. Ich brül­le: „Len­ken, Tim­mi, du musst den Fuß raus­hal­ten!“ Aber Tim, der jün­ger ist als ich, viel­leicht sechs oder sie­ben, weiß nicht, was ich mei­ne, und so grei­fe ich mit mei­nem rech­ten Arm hin­ter mich und rufe: „Spring!“ Der Schlit­ten saust ohne uns den Abhang hinunter.

S. 11

Die Fra­ge ist: Wie­so hat die Ich-Erzäh­le­rin nicht selbst die Füße raus­ge­stellt? Ist Sti­ne so? Ist Anne Rabe so? War­um greift sie nicht ein? Wenn so viel Zeit ist, dem zwei Jah­re jün­ge­ren Bru­der Anwei­sun­gen zu geben, war­um bremst SIE dann nicht? Ist das der bei Ossis immer wie­der kli­schee­haft beschwo­re­ne Man­gel an Eigen­ver­ant­wor­tung (sie­he auch Leser­brief zum mei­nem Arti­kel in der Ber­li­ner Zei­tung)? Oder nur ein schie­fes Bild im Roman? Schlech­te Literatur?

Schlagersüßtafel

Zum The­ma Schla­ger­süß­ta­fel schreibt Anne Rabe:

Dar­über, wie die Revo­lu­ti­on 89/90 auch durch die klei­ne Stadt gefegt war, schwieg sich mei­ne Fami­lie aus. Die DDR war den­noch oder gera­de des­halb selt­sam prä­sent. Ein ver­lo­re­ner Sehn­suchts­ort. Ein Ort, an dem alles gut war und »wisst ihr noch, die Schla­ger­süß­ta­fel?«. Die­se Scho­ko­la­de kam in fast allen Erzäh­lun­gen der Eltern vor. Auch wenn sie sich ganz gut ein­ge­lebt hat­ten im schlech­te­ren Deutsch­land, schien die Tat­sa­che, dass es die Schla­ger­süß­ta­fel nicht mehr zu kau­fen gab, von grö­ße­rer Bedeu­tung zu sein als das Haus, das sie nun bau­ten, die Urlau­be, in die wir fuh­ren, und der Ten­nis­kurs, den sie absol­vier­ten. Irgend­wann kamen sie zurück – die Ost­pro­duk­te. Sie füll­ten gan­ze Mes­se­hal­len und auch die Rega­le in unse­rem Super­markt. Plötz­lich gab es wie­der Bam­bi­na, Nudo­s­si, Puffreis und Fil­in­chen. Das ers­te Stück Schla­ger­süß­ta­fel aber war eine Ent­täu­schung. So hat­te sie also geschmeckt, die­se DDR? Nach nichts, noch nicht ein­mal nach Kakao­pul­ver. Ver­mut­lich war das gar kei­ne Schokolade.

S. 256

Schla­ger­süß­ta­fel wird in Wiki­pe­dia als Genuss­mit­tel gelis­tet. Aber ich muss Anne Rabe Recht geben: Schla­ger­süß­ta­fel war unge­nieß­bar. Ich habe in Schla­ger­süß­ta­fel und Klas­sen­kei­le bereits dar­über geschrie­ben: Wir hat­ten sie gekauft, weil wir dach­ten, es wären Bil­der von Schlagersänger*innen drin. Da sie zum Essen nicht taug­te, benutz­ten wir sie, um Bau­ar­bei­ter zu bewer­fen. Wie es dann wei­ter­ging, müsst Ihr in dem ande­ren Blog-Post lesen.

Wiki­pe­dia kann man auch die Zuta­ten ent­neh­men. Ein biss­chen Kakao war drin, aber nur 7%. Übri­gens lus­tig: Beim Lesen der Zuta­ten muss­te ich an die Mut­ter des Ich-Erzäh­lers von Stern 111 den­ken. Sie war Lebens­mit­tel­tech­ni­ke­rin und ihre Auf­ga­be war es, Ersatz­le­bens­mit­tel aus in der DDR ver­füg­ba­ren Roh­stof­fen zu kre­ieren. Viel­leicht war sie ja an der Krea­ti­on der Schla­ger­süß­ta­fel betei­ligt. Stern 111 ist übri­gens ein sehr gelun­ge­ner Nach­wen­de­ro­man. Wer wis­sen will, wie es vor der Wen­de war, soll­te Der Turm und Kro­ko­dil im Nacken lesen.

Plagiat? Nee! Oder doch?

In einem Bei­trag in der Neu­en Züri­cher Zei­tung schreibt Peer Teuw­sen, dass Anne Rabes Roman auf den Schul­tern von Ines Gei­pel ste­hen wür­de. Es wer­den drei Stel­len ange­führt. In einer fah­ren Kin­der Schlit­ten, in der zwei­ten trägt ein Vater sei­nen Sohn auf den Schul­tern und in der drit­ten spre­chen Kin­der über das Stern­bild gro­ßer Wagen. Pla­gi­at ist mein drit­tes Hob­by. Ich bin selbst pla­giert wor­den und habe ein ent­spre­chen­des Ver­fah­ren ein­ge­lei­tet. Ich war in einer Pla­gi­ats­kom­mis­si­on, die sich mit einer pla­gier­ten Dis­ser­ta­ti­on aus­ein­der­ge­setzt hat. Ich habe die­ses Jahr ein Pla­gi­at in einer BA-Arbeit gefun­den und ein 80seitiges Gut­ach­ten über ein Buch und das rest­li­che Werk eines sys­te­ma­tisch pla­gie­ren­den Autors ver­fasst. Der Vor­wurf des Pla­gi­ats gegen Rabe ist lächer­lich. (Nach­trag 29.06.2024: Aber sie­he unten.) Die Text­stel­len, die Teuw­sen anführt, sind kom­plett ver­schie­den, ja, sie haben inhalt­lich außer den oben genann­ten The­men selbst nichts mit­ein­an­der zu tun.

Die Ant­wort des Ver­lags ist interessant:

„Die Ähn­lich­kei­ten sind aus unse­rer Sicht zufäl­lig und allen­falls dadurch bedingt, dass die Bücher der bei­den Autorin­nen the­ma­tisch so nahe bei­ein­an­der lie­gen. Die Autorin­nen haben einen ähn­li­chen Blick auf die DDR und es gibt bio­gra­fi­sche Par­al­le­len (so haben bei­de Autorin­nen jün­ge­re Brü­der und kom­men aus einem sys­tem­na­hen Milieu)“, schreibt Rabes Verlag.

Peer Teuw­sen. 2023. Ver­heim­lich­te Nähe. NZZ.

Die Brü­der sind viel­leicht rele­vant, DDR ist kom­plett irrele­vant und Sys­tem­nä­he auch. Schlit­ten, Brü­der und den Gro­ßen Wagen gibt es auch im Wes­ten. Jeden­falls kann man Teuw­sens Arti­kel ent­neh­men, dass Gei­pel und Rabe befreun­det waren: „Die Älte­re fand es wun­der­bar, dass eine jün­ge­re Autorin sich ihrer The­men annimmt und ihnen eine neue Stim­me verleiht.“

Also kein Pla­gi­at, aber der Ein­fluss von Ines Gei­pel ist wahr­schein­lich für das gesam­te Ideen­ge­flecht rele­vant: Funk­tio­närs­kin­der kri­ti­sie­ren den Osten. Wie ich in mei­nem Blog­post Der Ossi und der Holo­caust gezeigt habe, lügt Ines Gei­pel. Es geht Ihr und Anet­ta Kaha­ne, eben­falls Funk­tio­närs­kind, nicht um eine Auf­ar­bei­tung von Unrecht. Sie stel­len Din­ge wahr­schein­lich bewusst falsch dar. Wie ich damals schon sag­te: Ent­we­der sie lügen bewusst oder sie sind unwis­send. Bei­des wäre schlecht, wenn man sich so weit aus dem Fens­ter lehnt. Und das ist auch für Anne Rabe so, wie ich in Kei­ne Gewalt! Zu Mög­lich­kei­ten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch hier gezeigt habe: Ent­we­der sie lügt bewusst oder sie ist unwis­send. Wahr­schein­lich das Letz­te­re. Scha­de nur, dass sie damit solch einen Scha­den anrichtet.

Nach­trag vom 29.06.2024: In „Ines Gei­pel lügt“ habe ich eine Doku­men­ta­ti­on des MDRs zu Ines Gei­pels Behaup­tun­gen zu ihrer Ver­gan­gen­heit als Leis­tungs­sport­le­rin bespro­chen und auch wie sie gegen Gegner*innen vor­geht. Es sieht also so aus, als hät­te sie all­ge­mein Pro­ble­me mit der Wahr­heit und ihre Behaup­tun­gen in Bezug auf den Umgang mit dem Holo­caust gehen nicht auf Unwis­sen­heit zurück. Ich habe jetzt ihr Buch Umkämpf­te Zone. Mein Bru­der, der Osten und der Hass gele­sen und habe dort erfah­ren, dass sie das Buch Nackt unter Wöl­fen kann­te und auch in Buchen­wald war. 

Zum The­ma Pla­gi­at kann man fol­gen­des fest­hal­ten: Das Buch von Anne Rabe ist von der Struk­tur genau par­al­lel zu Ines Gei­pels Buch auf­ge­baut. Es gibt kur­ze Kapi­tel mit Impres­sio­nen aus dem Pri­vat­le­ben und dann län­ge­re essay­is­ti­sche Abschnit­te mit poli­ti­scher Ana­ly­se. Die The­men sind sehr ähn­lich. Ins­ge­samt gibt es einen ent­schei­den­den Unter­schied: Bei Ines Gei­pel gibt es ein rela­tiv lan­ges Quel­len­ver­zeich­nis mit 79 Ein­trä­gen, über­wie­gend Fach­auf­sät­zen zur DDR; das Quel­len­ver­zeich­nis von Anne Rabe ent­hält 14 Ein­trä­ge, von denen die meis­ten Gedicht­samm­lun­gen, Roma­ne oder Fil­me sind, aus denen sie ihren Kapi­teln Aus­zü­ge vor­an­ge­stellt hat: Bach­mann, Brasch, Brecht, Inge Mül­ler, Einar Schle­ef, Wera Küchen­meis­ter. Dazu ein Gesetz und ein all­ge­mei­ner Ver­weis auf das Sta­si-Unter­la­gen-Archiv. Die Qua­li­tät der Bücher ins­ge­samt spie­gelt sich an den Quel­len­ver­zeich­nis­sen: Pro­fes­so­rin mit Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik auf der einen Sei­te und Per­son mit abge­bro­che­nen Ger­ma­nis­tik­stu­di­um auf der ande­ren Sei­te. Rabes Aus­re­de, sie habe ja kein Sach­buch geschrie­ben, ist lahm. Sie hat bzw. woll­te genau so ein Buch schrei­ben wie Gei­pel. Sie hät­te ein Quel­len­ver­zeich­nis gebraucht und in die­sem hät­te Gei­pel zitiert wer­den müs­sen. Und Teuw­sen ist zuzu­stim­men: Ines Gei­pel hät­te in den Dank­sa­gun­gen als Ideen­ge­be­rin genannt wer­den müs­sen. Inter­es­san­ter­wei­se gibt es bei Gei­pel eine Behaup­tung, die Rabe von dort über­nom­men zu haben scheint. Sol­che Über­nah­men fal­len auf, wenn das Über­nom­me­ne falsch ist. Gei­pel schreibt:

26. April 2002. Der ers­te Schul­a­mok­lauf in Deutsch­land, die öffent­li­chen Mor­de eines Gym­na­si­as­ten, das Unvor­stell­ba­re schlechthin.

Ines Gei­pel, 2019: Umkämpf­te Zone. Mein Bru­der, der Osten und der Hass, Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S.110 des E‑Books.

Die­sel­be Behaup­tung fin­det sich bei Anne Rabe und wie ich im Bei­trag zu den Amok­läu­fen gezeigt habe, ist die Behaup­tung falsch: Der ers­te Amok­lauf war 1871 in Saar­brü­cken und dann gab es noch vie­le wei­te­re. Mit Schuss­waf­fen und Flam­men­wer­fern usw. Zum Bei­spiel 1964 in Köln, 1983 in Eppstein, Hessen. 

Also: Ja, es gibt auch hier ein Pro­blem bei Anne Rabe. 

Antisemitismus und Nationalismus

Auf S. 271 kommt mal eben so eine Aus­sa­ge zu Anti­se­mi­tis­mus und Nationalismus: 

Auch waren Anti­se­mi­tis­mus und Natio­na­lis­mus wich­ti­ge Bestand­tei­le der sowje­ti­schen und real­so­zia­lis­ti­schen Ideologie.

S. 271

Wo hat sie das nur her? Quel­len? Na, viel­leicht von Gei­pel. Dass Anet­ta Kaha­ne und Ines Gei­pel gelo­gen haben (oder extrem unwis­send sind), wenn sie behaup­ten, der Holo­caust sei im Osten nicht vor­ge­kom­men, habe ich schon in Der Ossi und der Holo­caust bespro­chen. Zum (fast) nicht vor­han­de­nen Anti­se­mi­tis­mus in der DDR hat die Jüdin Danie­la Dahn viel geschrie­ben. Man­ches ist auch im Holo­caust-Post erwähnt. Ande­re Sachen bespre­che ich im Post über die Aus­stel­lung über jüdi­sches Leben in der DDR, die vom jüdi­schen Muse­um orga­ni­siert wurde.

Ich habe diver­se Inter­views mit Anne Rabe gele­sen und in einem Inter­view von Cor­ne­lia Geiß­ler von der Ber­li­ner Zei­tung steht:

Auch der His­to­ri­ker Patri­ce G. Pou­trus, der eher Osch­manns Gene­ra­ti­on ange­hört, hat beob­ach­tet, dass Rech­te und Rechts­extre­me im Osten auf ein fes­tes natio­na­lis­ti­sches Welt­bild trafen.

Geiß­ler, Cor­ne­lia. 2023. Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzäh­len“. Ber­li­ner Zei­tung.

Ich bin ja immer bereit, Neu­es zu ler­nen und dach­te mir: „Gut, mal gucken, was der His­to­ri­ker Pou­trus her­aus­ge­fun­den hat.“ Als ers­tes: Kur­zer Chek: Er ist aus dem Osten. Also gut, mal gucken. Bei der Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung habe ich einen Auf­satz von ihm gefun­den, den er gemein­sam mit Jan C. Beh­rends und Den­nis Kuck ver­fasst hat: His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern. Ich hat­te erst vie­le Punk­te, die in die­sem Arti­kel dis­ku­tiert wer­den, hier bespro­chen, aber dadurch wur­de der Post hier zu lang und zu unüber­sicht­lich. Des­halb habe ich die Dis­kus­si­on in den Post „His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern“: Kom­men­ta­re zu einem Auf­satz von Patri­ce G. Pou­trus, Jan C. Beh­rends und Den­nis Kuck ausgelagert.

Einen mei­ner Mei­nung nach ent­schei­den­den Bestand­teil des Natio­na­lis­mus erwäh­nen die Autoren nur im Vor­über­ge­hen im Nach­wort: den natio­na­len Tau­mel in der Wie­der­ver­ei­ni­gung. Die­ser war vom Wes­ten gewollt und geför­dert. Die Ost-Lin­ken haben das damals gese­hen und sich davor gefürch­tet. Mein Freund Jan Pautsch hat mir die bei­den fol­gen­den Gra­fi­ken geschenkt.

Men­schen, die ihren Kopf in der Hand hal­ten. Ein Hit­ler­kopf liegt am Stra­ßen­rand. Der Him­mel ist schwarz. Jan Pautsch, 1989

Dank ich an angst in der nacht Herz­li­chen Glück­wunsch zur Wiedervereinigung

Deutsch­tü­me­lei! Natio­na­lis­mus! Das kam von der Bun­des­re­gie­rung. Nicht in Ber­lin. In Ber­lin wur­de Kohl ausgebuht. 

In Sach­sen wur­de er mit offe­nen Armen emp­fan­gen. Er hat den Ossis blü­hen­de Land­schaf­ten ver­spro­chen. Von Oskar Lafon­taine, des­sen Herz links schlug, und der damals Kanz­ler­kan­di­dat der Par­tei war, in der auch Anne Rabe Mit­glied ist, woll­te nie­mand etwas Wis­sen. Er hat die Wahr­heit gesagt. Aber „die Wahr­heit ist häss­lich und hat stin­ken­den Atem“.

Sicher ist alles nicht mono­kau­sal. Ande­re mög­li­che Ursa­chen wer­den im genann­ten Blog-Post diskutiert.

Nazis aus dem Westen

Im Post „His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern“: Kom­men­ta­re zu einem Auf­satz von Patri­ce G. Pou­trus, Jan C. Beh­rends und Den­nis Kuck ver­lin­ke ich einen Fern­seh­bei­trag, der zeigt wie der CDU-Innen­mi­nis­ter Jörg Schön­bohm einen Jugend­club mit Nazi-Skins besucht und die Jugend­li­chen dort pri­ma fin­det. Schön­bohm war Gene­ral­leut­nant in der Bun­des­wehr und Lan­des­vor­sit­zen­der der CDU Bran­den­burg. Auch sieht man im Video, dass die Nazi-Par­tei Deut­sche Alter­na­ti­ve, die in Bran­den­burg aktiv war, von Men­schen aus dem Wes­ten auf­ge­baut wur­de (11:25). Rabe schreibt dazu auch an eini­gen Stel­len etwas und stellt das in Fra­ge. Die ras­sis­ti­schen Aus­schrei­tun­gen in Lich­ten­ha­gen erwähnt sie expli­zit. Auch Lich­ten­ha­gen ist ein schlim­mes Bei­spiel von Poli­zei­ver­sa­gen (sie­he Ros­tock-Lich­ten­ha­gen 1992: Ein Poli­zei­de­ba­kel). Poli­zei, Jus­tiz, Ver­fas­sungs­schutz, alle Insti­tu­tio­nen wur­den vom Wes­ten auf­ge­baut und waren von West­lern gelei­tet.2 Der Bru­der mei­ner Schwie­ger­mut­ter noch heu­te AfD-Wäh­ler hat zum Bei­spiel das Lan­des­ar­beits­ge­richt in Dres­den auf­ge­baut. Der für Lich­ten­ha­gen zustän­di­ge Poli­zist ist ins Wochen­en­de gefah­ren. Nach Bre­men. Er hat die bepiss­ten Nazis pöbeln und zün­deln las­sen. Im Wiki­pe­dia­ein­trag zu den Aus­schrei­tun­gen steht es noch kras­ser. Nach einer lan­gen, lan­gen Vor­ge­schich­te mit Ankün­di­gun­gen und Dro­hun­gen ist die gesam­te poli­ti­sche und poli­zei­li­che Füh­rung ins Wochen­en­de ver­schwun­den. In den Westen:

Trotz der ange­kün­dig­ten Kra­wal­le und der auf­ge­heiz­ten Stim­mung rund um die ZAst fuhr fast das gesam­te poli­tisch und poli­zei­lich lei­ten­de Per­so­nal, das nach der Wen­de nahe­zu voll­stän­dig mit west­deut­schen Beam­ten aus den Part­ner­län­dern Schles­wig-Hol­stein, Ham­burg und Bre­men besetzt wor­den war, wie üblich am Frei­tag zu ihren Fami­li­en nach West­deutsch­land. So waren am Wochen­en­de der Aus­schrei­tun­gen der Staats­se­kre­tär im Innen­mi­nis­te­ri­um, Klaus Balt­zer, der Abtei­lungs­lei­ter Öffent­li­che Sicher­heit, Olaf von Bre­vern, der Abtei­lungs­lei­ter für Aus­län­der­fra­gen im Innen­mi­nis­te­ri­um und zum dama­li­gen Zeit­punkt zugleich Aus­län­der­be­auf­trag­ter der Lan­des­re­gie­rung, Win­fried Rusch, der Lei­ter des Lan­des­po­li­zei­am­tes, Hans-Hein­rich Hein­sen, der Chef der Poli­zei­di­rek­ti­on Ros­tock, Sieg­fried Kor­dus, sowie der Ein­satz­lei­ter Jür­gen Deckert nicht in Schwe­rin bzw. Ros­tock zuge­gen. Deckert hat­te die Füh­rung an den noch in der Aus­bil­dung befind­li­chen Sieg­fried Trott­now übergeben.

Wiki­pe­dia­ein­trag Aus­schrei­tun­gen in Rostock-Lichtenhagen

Rabe lässt ihre Mut­ter bzw. Sti­nes Mut­ter sagen, dass man Nazis aus dem Wes­ten ange­karrt habe:

Mut­ter hat gesagt, dass man nichts gegen Aus­län­der haben darf. Die machen hier die Arbeit, auf die die Deut­schen kei­ne Lust mehr haben. Und die Viet­na­me­sen, wo sie in Ros­tock das Haus ange­zün­det haben, die sind sogar schon zu Ost­zei­ten in Ros­tock gewe­sen, die kön­nen gar nichts dafür. Außer­dem waren da auch vie­le Nazis aus dem Wes­ten dabei. Die hat man extra da hin­ge­fah­ren, damit sie Ran­da­le machen. Das waren Row­dys. Aber im Fern­se­hen sagen sie immer, dass die alle Ros­to­cker sind.

S. 88

Im Inter­view mit Cor­ne­lia Geiß­ler sagt Rabe: 

Als die Zen­tra­le Auf­nah­me­stel­le für Asyl­be­wer­ber in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen in Brand gesetzt wur­de, 1992, hieß es, die Neo­na­zis sei­en nur aus dem Wes­ten ange­fah­ren wor­den. Die Eltern, die Leh­rer, die woll­ten das immer von sich weg­hal­ten. Aber wir Jugend­li­chen kann­ten die Nazis ganz gut, die saßen neben uns am Strand, in den Klas­sen, im Sportverein.

Geiß­ler, Cor­ne­lia. 2023. Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzäh­len“. Ber­li­ner Zei­tung. Ber­lin.

In den bei­den Text­pas­sa­gen gibt es ver­schie­de­ne Aus­sa­gen. 1) Es waren vie­le Nazis aus dem Wes­ten dabei. 2) Die Neo­na­zis sei­en nur aus dem Wes­ten ange­fah­ren worden.

Das sind die Fakten:

Gegen 12 Uhr am Sonn­tag hat­ten sich bereits wie­der etwa 100 Per­so­nen vor der ZAst ver­sam­melt. Nun tra­fen Rechts­extre­mis­ten aus der gan­zen Bun­des­re­pu­blik in Ros­tock ein, dar­un­ter Bela Ewald Alt­hans, Ingo Has­sel­bach, Ste­fan Nie­mann, Micha­el Bütt­ner, Ger­hard End­ress, Ger­hard Frey, Chris­ti­an Mal­co­ci, Arnulf Priem, Erik Rund­quist, Nor­bert Weid­ner und Chris­ti­an Worch. Von die­sen wur­de nur End­ress wäh­rend der Aus­schrei­tun­gen festgenommen.

Wiki­pe­dia­ein­trag Aus­schrei­tun­gen in Rostock-Lichtenhagen

Also: Fakt ist, dass Neo­na­zis aus dem Wes­ten dabei waren. Ob die ange­fah­ren wor­den sind und wenn ja von wem, weiß ich nicht, aber ansons­ten hat­te Rabes (Roman-)Mutter Recht. Ja, auch ehe­ma­li­ge Funk­tio­nä­re kön­nen Recht haben.

Bei den NSU-Mor­den war der Ver­fas­sungs­schutz selbst dabei (taz, 03.04.2017). Maa­ßen, ein Neo-Nazi erst CDU, jetzt Wer­te­uni­on, war der, der den­je­ni­gen abge­löst hat, der wegen des Ver­sa­gens beim NSU gehen muss­te. In Leip­zig Con­ne­witz ist eine Hor­de von über 200 Nazis ein­ge­fal­len und haben den Stadt­teil ver­wüs­tet. Die Ver­fah­ren wur­den ver­schleppt, vie­le sind straf­frei davon­ge­kom­men. Einer war Jura-Stu­dent. Er hat danach wei­ter­stu­diert und trat 2018 sein Refe­ren­da­ri­at an. Ein JVA-Mit­ar­bei­ter und Täter arbei­te­te fröh­lich wei­ter in der JVA (taz: 11.01.2021, Schlep­pen­de Auf­klä­rung). Die AfD wur­de von Neo­li­be­ra­len Wirtschaftsprofessor*innen aus dem Wes­ten auf­ge­baut und nach und nach von West-Nazis über­nom­men. Das habe ich Osch­mann nach sei­nem ers­ten Arti­kel geschrie­ben und ihn auf mei­nen Blog-Bei­trag Der Ossi ist nicht demo­kra­tie­fä­hig. Merkt Ihr’s noch? mit den Quel­len ver­wie­sen. Er hat sich herz­lich bedankt und wird jetzt dafür zitiert. Die Quel­len­an­ga­be hat er wohl vergessen. 

Bei Ent­hül­lun­gen von Cor­rec­tiv zu den Depor­ta­ti­ons­plä­nen, die AfD-Mit­glie­der, CDU-Mit­glie­der und sons­ti­ge Neo­na­zis dis­ku­tiert haben, habe ich mir auch mal den Spaß gemacht, zu schau­en, wo die betei­lig­ten Per­so­nen her­ka­men. Über­ra­schung: Das Ver­hält­nis West zu Ost ist 19:1. Bit­te­schön: Cor­rec­tiv und die Nazi-Vor­stel­lun­gen bzgl. Remi­gra­ti­on.

In die­ser Auf­zäh­lung darf Karl-Heinz Hoff­mann nicht feh­len. Hoff­mann ist ein extre­mer Rechts­extre­mist. Er hat die Wehr­sport­grup­pe Hoff­mann gegrün­det und hat mit 400–600 Kum­pels bewaff­net für den End­sieg trai­niert. (Ej, lie­be Wes­sis, das gab es in der DDR wirk­lich nicht. Hört auf, vom „ver­ord­ne­ten Anti­fa­schis­mus“ zu faseln.) Hoff­mann ging dann irgend­wann doch in den Knast und kam schließ­lich 1989 wegen guter Füh­rung und posi­ti­ver Sozi­al­pro­gno­se pas­send zur Mau­er­öff­nung wie­der raus. Dan­ke­schön! Hoff­mann ist aus Kahla (Thü­rin­gen), ging sofort wie­der rüber, kauf­te die hal­be Stadt auf und begann Neo-Nazi-Struk­tu­ren aufzubauen.

So war es. Wir wis­sen das. Nur Anne Rabe tut so, als wäre es anders. Weil sie es nicht weiß? Weil sie nie mit jeman­dem gere­det hat? Außer mit Gei­pel? Weil sich das Gegen­teil bes­ser ver­kauft? Sie­he unten.

Verbot des Themas

Anne Rabe nimmt die Kri­tik an ihrem Buch vor­weg: Was wisst Ihr schon, Ihr Nachgeborenen!

„Ihr, die ihr auf­tau­chen wer­det aus der Flut
In der wir unter­ge­gan­gen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unse­ren Schwä­chen sprecht
Auch der fins­te­ren Zeit
Der ihr ent­ron­nen seid.“

Der blö­de Brecht macht mich noch wahn­sin­nig. Er mar­schiert mir gera­de rein in die Gedan­ken und mahnt und mahnt. Bil­de dir kein Urteil! Bil­de dir ja kein Urteil, du Nach­ge­bo­re­ne! Ja, wie­so eigent­lich nicht? Das ist doch ein bil­li­ger Trick. Hin­ter der wort­schö­nen Mah­ne­rei drei Kel­ler tief Schwei­gen. Dort habt ihr eure Schuld ver­bud­delt und ver­bie­tet uns, sie aus­zu­he­ben. Sprecht uns ab, dass wir zu unse­rem eige­nen Urteil kom­men. Was kümmert’s euch? Was geht’s euch an, was wir über euch denken?

Tja, Frau Rabe. Hätten’se mal mit Adas Eltern gespro­chen. Die hät­ten Ihnen erzählt, wie die DDR sich für Oppo­si­tio­nel­le ange­fühlt hat. Das woll­ten Sie aber nicht. Sie haben sich geschämt. Wenn Sie ein Sach­buch über den Osten schrei­ben wol­len oder einen sach­lich rich­ti­gen Roman, dann müs­sen Sie recher­chie­ren. Sie kön­nen sich nicht ein­fach etwas aus den Fin­gern sau­gen, von dem Sie anneh­men, dass es sich gut ver­kauft. Die „drei Kel­ler tief Schwei­gen“ fan­ta­sie­ren Sie her­bei. Oder sie sind da. Im Haus Ihrer Eltern. Aber da hät­ten Sie viel­leicht nicht suchen dür­fen. Es ist alles bespro­chen und Sie haben es avai­li­ble at your fin­ger­tips: einen Klick ent­fernt. Alles, was hier steht, kommt aus Wiki­pei­dia bzw. den dort ver­link­ten Quel­len. Sie habe es nicht für nötig gehal­ten, den Arti­kel über Lich­ten­ha­gen, den über Kinds­tö­tun­gen zu lesen. Sie dach­ten, dass Sie genug wüss­ten. So wie fast alle, die in Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten über Ihr Buch geschrie­ben haben, sich in ihren Vor­ur­tei­len bestä­tigt sahen. Ich wür­de Ihre Arbeit nicht als Pla­gi­at ein­ord­nen, aber als ein glat­tes „Durch­ge­fal­len“.

Unredlich oder naiv?

Eine Erklä­rung für den Erfolg die­ses Buches lie­fert wohl das Inter­view auf Deutsch­land­funk Kul­tur, das Mari­et­ta Schwarz geführt hat.

Schwarz: Das ist natür­lich ein Buch auch, was, und das sage ich jetzt mal ganz bewusst als West­deut­sche, die Bun­des­re­pu­blik total entlastet.

Rabe: Das ist aber inter­es­sant, weil das ist schön, dass man das immer, weil ich habe gar nicht an die Bun­des­re­pu­blik gedacht dabei und ich sage das auch immer wie­der, weil ja manch­mal auch so Leu­te kom­men ja aber in West­deutsch­land gab es das auch und so. Da sag ich immer ja wun­der­bar, bit­te schreibt die Bücher, weil ich fin­de, ich lese die auch ger­ne. Ich kann nur nichts dar­über schreiben.

Schwarz: Aber Sie wis­sen was mei­ne, ne?

Rabe: Ich weiß total, was Sie meinen.

Schwarz: Ich habe mir auch so gedacht, okay, war­um lade ich denn jetzt Anne Rabe ein, um mit ihr über die die­ses Buch zu reden. War­um spricht mich dann die­ses Buch an? Hat das damit zu tun, dass es sozusagen …

Rabe: Ich könn­te jetzt was ganz böses sagen.

Schwarz: Bit­te. Nur zu.

Rabe: Das ist wirk­lich inter­es­sant, weil des­we­gen mein­te ich, ich habe gar nicht an West­deutsch­land gedacht bei dem Schrei­ben. Und ich fin­de auch nicht, dass man immer, wenn man über den Osten schreibt, damit auto­ma­tisch was über den Wes­ten sagt. Aber, dass sie als West­deut­sche anschei­nend sofort den­ken, naja, das bedeu­tet was für mich als West­deut­sche, oder das bedeu­tet etwas Ent­las­ten­des für mich als West­deut­sche, wo der Wes­ten eigent­lich gar kei­ne Rol­le spielt in die­sem Buch.

Schwarz, Mari­et­ta. 2023. Anne Rabe: „In ver­wir­ren­den Zei­ten sind ein­fa­che Nar­ra­ti­ve ver­füh­re­risch“. 31.12.2023. Deutsch­land­ra­dio. (Zwi­schen­tö­ne.)

Das kann nicht sein. Rabe hat Ger­ma­nis­tik und Thea­ter­wis­sen­schaft stu­diert. Sie hat den PEN Ber­lin mit­ge­grün­det. Sie ist poli­tisch aktiv, Mit­glied der SPD. Sie ist ent­we­der abso­lut naiv oder durch­trie­ben. Das Buch schlägt genau in die Ker­be, in die von 60% der taz-Autor*innen und von weiß nicht wie vie­len Autor*innen in Zeit, FAZ, Spie­gel usw. geschla­gen wird. Die Wun­de ist tief und schmerzt. Und wenn kei­ne neu­en Schlä­ge kom­men, wird mal eben ein biss­chen Salz rein­ge­schüt­tet. Die­ser Blog ist voll von Bei­spie­len. Nur Frau Rabe hat von die­sem Ost-West-Dis­kurs noch nichts gemerkt, obwohl sie ja einen Ter­min mit Osch­mann auf der Leip­zi­ger Buch­mes­se hat­te (zu dem Osch­mann nicht gekom­men ist).

Und wei­ter:

Schwarz: Ja, das bedeu­tet halt etwas …

Genau! Das lernt man in Prag­ma­tik. Im Ger­ma­nis­tik-Stu­di­um. Als Autorin und poli­ti­scher Mensch soll­te man das aller­dings auch ohne Stu­di­um sehen können.

Rabe: Aber es ist ihr Zen­trum anschei­nend sofort wie­der und viel­leicht auch das Zen­trum die­ser Bun­des­re­pu­blik immer noch zum Teil.

Schwarz: Ja, glau­be ich jetzt nicht, dass es mein Zen­trum ist, aber es bedeu­tet etwas für den Dis­kurs über Ost­deutsch­land, das es mir nicht so gefällt …
[…]
Rabe: Das stimmt schon mit der Ent­las­tung, aber das wür­de ich mir nicht anziehen.

Das Buch ist ein Erfolg und wird gefei­ert, weil es den Wes­ten ent­las­tet. Die Ossis sind schei­ße, alles Psy­chos, die in Schu­len Amok lau­fen, ihre Kin­der mas­sen­wei­se töten, Natio­na­lis­ten und Anti­se­mi­ten. Wir haben es immer gewusst und Anne Rabe hat es in ihrem Nicht-Sach­buch noch ein­mal gut zusam­men­ge­fasst. Anschau­lich bebil­dert mit Mate­ri­al aus ihrer eige­nen Kind­heit. Ich habe in der ver­gan­ge­nen Woche einem Pro­fes­sor für Poli­tik­wis­sen­schaf­ten einen kri­ti­schen Brief geschrie­ben. Er hat mir eine lan­ge Ant­wort-Mail geschickt und mich dazu auf­ge­for­dert, doch ein­mal das Buch von Anne Rabe zu lesen. So gehen Fake News in unser All­ge­mein­wis­sen ein. Es wird in der Poli­tik­wis­sen­schaft und in der Geschichts­for­schung zitiert wer­den, obwohl es eben kein Sach­buch ist, obwohl es nicht von Fachwissenschaftler*innen begut­ach­tet wurde. 

Hier ein paar Aus­schnit­te aus den Rezensionen:

Die Zumu­tung die­ses Buches besteht dar­in, erschüt­tern­de Lieb­lo­sig­keit und rohe Gewalt als Regel­fall, nicht als Aus­nah­me dazu­stel­len. Zu die­sem Zweck durch­zie­hen Archiv­re­cher­chen, Geset­zes­tex­te und Umfra­ge­er­geb­nis­se die 50 kur­zen Kapi­tel. Sie ver­mi­schen sich mit Erin­ne­run­gen, Traum­se­quen­zen und lite­ra­ri­schen Zita­ten zu einem kalei­do­skop­ar­ti­gen Text.

Dirk Hohn­strä­ter, „Die Mög­lich­keit von Glück“ von Anne Rabe. WDR, 11.10.2023.

Archiv­re­cher­chen hat es zu Anne Rabes Ver­wand­ten gege­ben, aber wenn es Recher­chen zu Rechts­extre­men oder irgend­wel­chen DDR-The­men gege­ben haben soll­te, so sind sie nicht drei Kel­ler tief gegan­gen, son­dern waren ober­fläch­lich. Umfra­ge­er­geb­nis­se zum Osten gab es nicht. Rabe bezieht sich auf Umfra­gen wie den Erin­ne­rungs­mo­ni­tor der Uni Bie­le­feld und die von der Uni Han­no­ver gelei­te­te Mehr­ge­ne­ra­tio­nen­stu­die. Auf Ergeb­nis­se von 2018 aus Bie­le­feld und es geht dabei um Erin­ne­run­gen an die Nazi­zeit. Die­se sind „zu die­sem Zweck“ ungeeignet.

Mit den fol­gen­den Zita­ten wirbt Anne Rabe selbst auf ihrer Web-Sei­te:

Liest man die­ses Buch, sieht man Deutsch­land anders.

Dirk Hohn­strä­ter, WDR 3

Ich hof­fe, dass das Buch schnell in der Ver­sen­kung ver­schwin­det. Und dass Dirk Hohn­strä­ters Behaup­tung für die­sen Blog­bei­trag gilt.

Anne Rabe ver­bin­det Archiv­ar­beit mit poli­ti­schem Essay­is­mus und epi­so­discher Autofiktion.

Katha­ri­na Teutsch, DLF Büchermarkt

Das Buch, das man jetzt lesen muss, wenn man nicht nach schlich­ten Ant­wor­ten auf die schlich­ten Fra­gen sucht, was das Erbe des ers­ten sozia­lis­ti­schen Staats auf deut­schem Boden sein könn­te und war­um ›im Osten‹ heu­te ›die Leu­te‹ wäh­len, wie sie wählen.

Tobi­as Rüt­her, Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Sonntagszeitung

Ich wür­de ja die Ant­wort von Anne Rabe als schlicht bezeich­nen. Sie nimmt die Gewalt, die sie in ihrer Fami­lie erfah­ren hat, als mono­kau­sa­le Erklä­rung für alles.

Die Mög­lich­keit von Glück‹ (ist) ein Buch, das weit über sei­nen indi­vi­du­el­len Gegen­stand hin­aus­reicht. Es erklärt, war­um Ost­deutsch­land eine ande­re Gewalt­ge­schich­te nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung auf­weist als West­deutsch­land. (…) Und die auch den der­zeit boo­men­den Büchern, die einer Nor­ma­li­sie­rung der DDR-Erfah­run­gen (und damit ihrer Rela­ti­vie­rung) das Wort reden wol­len, den Boden ent­zie­hen. Gegen den pau­scha­li­sie­ren­den Blick hilft der aufs indi­vi­du­el­le Schick­sal. Dass es eines im Roman ist, nimmt ihm nichts an Wahr­haf­tig­keit. Oder an Erschütterungskraft.

Andre­as Platt­haus, FAZ

Ja. Ich bin erschüttert.

Wer sind eigentlich die Anderen?

Hier ist oft von „den Wes­sis“ und „den Ossis“, von „wir“ und „ihr“ die Rede. Das ist schlecht, denn die­se Grup­pen­ein­tei­lung ist Teil des Pro­blems, das auch in die­sem Bei­trag bespro­chen wur­de. Ange­fan­gen bei der Kol­lek­tiv­schuld, über die Scham Rabes, die angeb­li­che Gewalt­tä­tig­keit des gan­zen Ostens. Ich woll­te nie ein Teil von „wir“ sein. Die DDR war mir zuwi­der. Zumin­dest der obe­re Teil. Also nicht Ros­tock son­dern die Staats­füh­rung. In einem Gym­na­si­um in Gel­sen­kir­chen habe ich mal gesagt, dass das Pro­blem mit der DDR gewe­sen sei, dass die Herr­schen­den so doof gewe­sen sei­en. Das war sicher etwas ver­ein­fa­chend, aber es war mein Pro­blem. „Ihr“ habt mich zum Ossi gemacht. Prof. Dr. Nai­ka Forou­tan beschreibt das in ihrer Arbeit: „Ost­deut­sche sind auch Migran­ten“. Mit „ihr“ sind in ihren Kli­schees gefan­ge­ne Journalist*inne, Historiker*innen und sons­ti­ge Per­so­nen gemeint und ich hät­te gehofft, dass „wir“ uns irgend­wann auf­lö­sen, aber das ist nicht pas­siert. Wie ich an mei­nem eige­nen Bei­spiel erfah­ren habe, wer­den „wir“ mehr, weil „ihr“ dafür sorgt. „Ihr“ kon­stru­iert „Euch“ den Osten, so wie es der Osch­mann gesagt hat. Jetzt hel­fen „Euch“ „unse­re“ Kin­der. Ich wünsch­te, das alles wäre nicht so. Ich wünsch­te, alle wür­den mit­ein­an­der reden. Viel­leicht hilft die­ser Text.

Ich bin die Andern, Du bist die Ande­ren. Die Andern haben ange­fan­gen! COR: Leit­kul­tur. 2017.

„So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen.“

Ich bit­te um Ent­schul­di­gung für die­sen lan­gen Blog­post. Und das war ja nur der zwei­te Teil zu den Mög­lich­kei­ten für Glück.

Danie­la Dahn erklärt in ihrem 1997er Buch über meh­re­re Sei­ten, war­um ein ein­zi­ger Satz im West-Ost-Dis­kurs falsch gewe­sen ist, und schreibt danach:

So viel Rich­tig­stel­lung ist also nötig, um einen ein­zi­gen Zei­tungs­satz zu wider­le­gen. Viel­leicht ver­steht man, daß die Ost­ler zu sol­chem Kraft­akt auf die Dau­er kei­ne Lust haben und oft nur abwin­ken: Ihr wer­det es nie verstehen!

Dahn, Danie­la. 1997. West­wärts und nicht ver­ges­sen: Vom Unbe­ha­gen in der Ein­heit S. 68

Ich muss­te vie­le Sät­ze in Anne Rabes Buch kom­men­tie­ren. Ent­spre­chend lang sind die Blog-Posts gewor­den. Ich wür­de mich freu­en, wenn sie von genau­so vie­len Men­schen gele­sen wer­den wie Anne Rabes Buch. Das wird wahr­schein­lich nicht pas­sie­ren, denn ich habe kei­ne Buch­preis-Jury und kei­ne Mar­ke­ting­ma­schi­ne auf mei­ner Sei­te. Nur Euch. Aber viel­leicht schaf­fen wir es ja. Emp­fehlt die Posts wei­ter. Dan­ke. Bitte.

Schlussfolgerung

Anne Rabe hat Recht mit ihrer Aus­sa­ge bezüg­lich Schlagersüßtafeln!

Danksagungen

Ich dan­ke mei­ner Such-Maschi­ne Peer für vie­le Bele­ge und auch für die immer kri­ti­sche Dis­kus­si­on. Ich dan­ke mei­nem klei­nen Bru­der dafür, dass er mir die Bum­mi-Hef­te gekauft hat, weil die alten, an die ich mich erin­nert hat­te, irgend­wann mal weg­ge­wor­fen wor­den waren. Ich dan­ke mei­ner Frau für die fort­wäh­ren­de Dis­kus­si­on von Ost­the­men. Wenn wir nicht über die Kli­ma­ka­ta­stro­phe reden, reden wir eigent­lich nur über den Osten. (Hat eigent­lich schon mal jemand ver­sucht, dem Osten die Kli­ma­ka­ta­stro­phe anzu­hän­gen? Ach ne, geht ja gar nicht, denn Deutsch­land steht ja nur des­halb halb­wegs gut in der Kli­ma­bi­lanz da, weil die Ost-Indus­trie in den 90ern abge­wi­ckelt wurde.) 

Und ich dan­ke mei­nem Vater und mei­ner Mut­ter für die Erlaub­nis, allein als Sechs­zehn­jäh­ri­ger bis ans Schwar­ze Meer zu fah­ren, und dafür, dass sie mich nicht zum Nazi erzo­gen haben.

Und Ihnen/Euch dan­ke ich dafür, dass Ihr bis hier­her gele­sen und alle Vide­os ange­se­hen und alle ver­link­ten Wiki­pe­dia­ar­ti­kel gele­sen habt.

Quellen

Bal­ser, Mar­kus & Stein­ke, Ronen. 2022. Ver­fas­sungs­schutz: See­ho­fer ließ Ver­fas­sungs­schutz­kri­tik an AfD abschwä­chen. Süd­deut­sche Zei­tung. (https://www.sueddeutsche.de/politik/afd-verfassungsschutz-seehofer-gutachtenvergleich‑1.5511775)

Geiß­ler, Cor­ne­lia. 2023. Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzäh­len“. Ber­li­ner Zei­tung. Ber­lin. (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/literatur/osten-interview-schriftstellerin-anne-rabe-es-reicht-nicht-die-ddr-immer-nur-vom-ende-her-zu-erzaehlen-debatte-dirk-oschmann-li.341318)

Gold­mann, Sven. 2013. Welt­fest­spie­le der Jugend 1973: Love & Peace in Ost-Ber­lin. Tages­spie­gel. Ber­lin. 22.07.2013 (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/love-peace-in-ost-berlin-8099431.html)

Gosch­ler, Con­stan­tin. 1993. Pater­na­lis­mus und Ver­wei­ge­rung: Die DDR und die Wie­der­gut­ma­chung für jüdi­sche Ver­folg­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus. In Benz, Wolf­gang (ed.), Jahr­buch für Anti­se­mi­tis­mus­for­schung, vol. 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.

Hart­wich, Doreen & Mascher, Bernd-Hel­ge. 2007. Geschich­te der Spe­zi­al­kampf­füh­rung (Abtei­lung IV des MfS): Auf­ga­ben, Struk­tur, Per­so­nal, Über­lie­fe­rung. Ber­lin. (Sta­si-Unter­la­gen-Archiv.) (https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/archiv/fachbeitraege/geschichte-der-spezialkampffuehrung-abteilung-iv-des-mfs/#c2565)

Lit­sch­ko, Kon­rad. 2017. Neu­es Gut­ach­ten zu NSU-Mord. taz. 03.04.2017. Ber­lin. (https://taz.de/Archiv-Suche/!5397496/)

Mau, Stef­fen. 2020. Lüt­ten Klein: Leben in der ost­deut­schen Trans­for­ma­ti­ons­ge­sell­schaft (Schrif­ten­rei­he 10490). Bonn: Zen­tra­le für Poli­ti­sche Bil­dung. (https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/303713/luetten-klein)

mh. 2022. Ros­tock-Lich­ten­ha­gen 1992: Ein Poli­zei­de­ba­kel. (https://www.mdr.de/geschichte/zeitgeschichte-gegenwart/politik-gesellschaft/was-wurde-aus-der-volkspolizei-rostock-lichtenhagen-randale-100.html)

Pou­trus, Patri­ce G., Beh­rends, Jan C. & Kuck, Den­nis. 2002. His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern. Aus Poli­tik und Zeit­ge­schich­te (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25428/historische-ursachen-der-fremdenfeindlichkeit-in-den-neuen-bundeslaendern/).

Schulz, Dani­el. 2018. Pro­fes­so­rin über Iden­ti­tä­ten: „Ost­deut­sche sind auch Migran­ten“. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Professorin-ueber-Identitaeten/!5501987/)

Schwarz, Mari­et­ta. 2023. Anne Rabe: „In ver­wir­ren­den Zei­ten sind ein­fa­che Nar­ra­ti­ve ver­füh­re­risch“. 31.12.2023. Deutsch­land­ra­dio. (Zwi­schen­tö­ne.) (https://www.deutschlandfunk.de/anne-rabe-in-verwirrenden-zeiten-sind-einfache-narrative-verfuehrerisch-dlf-84b94bff-100.html)

Teuw­sen, Peer. 2023. Ver­heim­lich­te Nähe. Neue Züri­cher Zei­tung. 30.09.2023 (https://www.nzz.ch/feuilleton/anne-rabe-verheimlichte-naehe-ld.1782626)

Wag­ner, Bernd. 2018. Ver­tusch­te Gefahr: Die Sta­si & Neo­na­zis. (https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/stasi/218421/vertuschte-gefahr-die-stasi-neonazis/)

Wo ist Ihre Evidenz, Herr Professor?

(Die­ser Blog-Bei­trag ist aus einem Mast­o­don-Post vom 30.01.2024 mit anschlie­ßen­der Dis­kus­si­on ent­stan­den. Ich dan­ke allen, die sich an der Dis­kus­si­on betei­ligt haben.)

In sei­nem Mei­nungs­bei­trag Kri­tik an Isra­el: Sprach­lo­se Wei­ter­ga­be in der taz vom 30.01.2024 schreibt der eme­ri­tier­te Pro­fes­sor für Poli­tik­wis­sen­schaft Lothar Probst folgendes:

das ver­leug­ne­te Wis­sen um den Holo­caust und die Ver­bre­chen des NS-Regimes konn­te sich gleich­wohl durch das Beschwei­gen auf ver­que­re Art und Wei­se auf die nächs­ten Gene­ra­tio­nen übertragen.

Die Nachfolge­generationen sind auch heu­te noch mit der sprach­lo­sen Wei­ter­ga­be eines schuld­be­las­te­ten Erbes konfrontiert.

Dies gilt für den Wes­ten, aber noch stär­ker für den Osten Deutsch­lands: Unter dem dün­nen Fir­nis des staat­lich ver­ord­ne­ten Anti­fa­schis­mus wur­den in den Fami­li­en noch stär­ker als im Wes­ten Ein­stel­lungs­mus­ter tra­diert und kon­ser­viert, die naht­los an die Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus anknüpften.

So, so. Alles was bei Ihnen (den Autor*innen, sol­cher Arti­kel) schei­ße ist, ist im Osten noch schei­ßer. In jedem Arti­kel. Immer. Seit über drei­ßig Jah­ren. Neu­lich ja auch in dem Bei­trag von Garet Jos­wig.

Sehr geehr­ter Herr Pro­fes­sor, lie­ber Kol­le­ge, wo ist Ihre Evi­denz? Ich bin auch Wis­sen­schaft­ler. Wenn ich so arbei­ten wür­de, wür­den mich alle Wissenschaftler*innen in mei­nem Fach­ge­biet aus­la­chen! Könn­te ich da bit­te mal irgend­wel­che empi­ri­sche For­schung sehen? Woher wis­sen Sie das denn? Und dann noch ver­glei­chend Ost-West? Waren Sie jemals in der DDR? Wie groß war die Stich­pro­be? Nach der Wen­de? Befragungen?

Aber hey, wie wäre es denn, wenn Sie (Plu­ral für all die­je­ni­gen, die völ­lig evi­denz­frei Kli­schees ver­brei­ten) mal die Juden frag­tet, die in der DDR gelebt haben? Jan Fed­der­sen war in der Aus­stel­lung zu Juden in der DDR im jüdi­schen Muse­um und bedau­er­te, dort nichts dar­über gefun­den zu haben, wie es wirk­lich war. Näm­lich total anti­se­mi­tisch (sie­he Blog-Post Aus­stel­lung: „Ein ande­res Land. Jüdisch in der DDR.“). Wenn er rich­tig gele­sen hät­te, hät­te er gemerkt, dass es die­sen Anti­se­mi­tis­mus, so wie er ihn sich vor­stellt, in der DDR nicht gege­ben hat. Aber er weiß ja, dass es ihn gege­ben hat. Evi­denz ist dann auch irgend­wie egal.

Lesen Sie doch mal das Buch Der Schnee von ges­tern ist die Sint­flut von heu­te: Die Ein­heit – eine Abrech­nung von Danie­la Dahn, einer Jüdin. Dar­in geht es auch um Anti­se­mi­tis­mus, u.a. über Fried­hö­fe und was da wie pas­siert ist und den Ver­gleich mit dem Wes­ten, wo Neo­na­zis jüdi­sche Grä­ber in die Luft gesprengt haben. Und gehen Sie in die Aus­stel­lung im jüdi­schen Muse­um, falls die noch läuft.

Bei einer Dis­kus­si­on Ihres Bei­trags auf Mast­o­don hat sich dann auch erge­ben, dass es nicht nur so ist, dass Sie kei­ne Evi­denz für Ihre Anwür­fe haben, son­dern dass es sogar so ist, dass es Evi­denz für das Gegen­teil Ihrer Behaup­tung gibt. Inter­es­san­ter­wei­se wird die­se eben­falls von Danie­la Dahn vorgebracht.

Wie SepiaFan, von dem auch das Bild sei­nes Bücher­re­gals mit­ge­schickt wur­de, ange­merkt hat, zitiert Danie­la Dahn in West­wärts und nicht ver­ges­sen eine Emnid-Umfra­ge von 1991 zum The­ma Anti­se­mi­tis­mus und die­se kommt zu dem Ergeb­nis, dass es in den alten Bun­des­län­dern bei 16% der Befrag­ten aus­ge­präg­te anti­se­mi­ti­sche Hal­tun­gen gab, in den neu­en Bun­des­län­dern bei 4% (S. 58). Wenn man rechts­extre­me und anti­se­mi­ti­sche Ein­stel­lun­gen auf die DDR-Ver­gan­gen­heit zurück­füh­ren will, braucht man wohl Daten aus die­ser Zeit, da man bei spä­te­ren Umfra­gen immer auch Ein­flüs­se der trau­ma­ti­schen Nach-Wen­de-Zeit bekommt.

Danie­la Dahn hat übri­gens auch ein gan­zes Kapi­tel zum „ver­ord­ne­ten Anti­fa­schis­mus“. Sehr inter­es­san­te Über­le­gun­gen. Ich möch­te das Kapi­tel jedem, der über den Osten und Faschis­mus schreibt, sehr ans Herz legen. Oder an den Kopf.

Bei der Lek­tü­re die­ses Kapi­tels ist mir klar gewor­den, dass Danie­la Dahn mei­nen Kampf schon in den 90ern geführt hat (sie­he auch Zitat am Ende des Blog-Posts). Sie konn­te damals bei Rowohlt Bücher ver­öf­fent­li­chen. Mir war der Osten damals noch halb­wegs egal. Jeden­falls soweit egal, dass ich mein Wis­sen nicht sys­te­ma­ti­siert und auf­ge­schrie­ben habe. Das habe ich dann erst mit die­sem Blog begon­nen. Und dann wird einem klar, wie schlimm es in West­deutsch­land war, wie lan­ge die Men­schen nichts wuss­ten oder Din­ge, die sie wuss­ten ver­drängt haben. Ich erin­ne­re nur ein­mal mehr an die Skan­da­le um die Wehr­machts­aus­stel­lung: Nein, Opi war OK. Der war zwar in der Wehr­macht, aber die haben nur lieb ande­re Sol­da­ten erschos­sen. So wie Rom­mel halt, nach dem noch heu­te Bun­des­wehr­ka­ser­nen benannt sind. Im Osten wuss­ten wir dage­gen von Babyn Jar und der­glei­chen. Hier, damit die Anwür­fe nicht immer nur von mir kom­men, ein paar Punk­te von Wolf­gang Pomrehn aus der Mast­o­don-Dis­kus­si­on:

Als Wes­si über­fällt mich bei der­lei Lek­tü­re immer Fremd­schä­men.
Als lin­ker Wes­si älte­ren Jahr­gangs möch­te ich mal ein paar aus der Hüf­te geschos­se­ne Fak­ten erwähnen:

  • Bun­des­wehr, Geheim­diens­te und Poli­zei wur­den von alten Nazis aufgebaut.
  • Auf eini­gen Lehr­stüh­len saßen an den Unis bis an den 1980ern alte Nazis, die sich kon­kret an Ver­bre­chen betei­ligt hatten.
  • Deser­teu­re gal­ten noch vie­le Jahr­zehn­te als nach Recht und Gesetz ermordet.
  • Sin­ti wur­den nach 45 wei­ter dis­kri­mi­niert, alte Nazi­ak­ten über sie weitergeführt.
  • Nach 1990 wur­den Ren­ten an alte Faschis­ten v.a. im Bal­ti­kum gezahlt, die in der SS waren und sich höchst­wahr­schein­lich an aller­lei Ver­bre­chen betei­ligt hatten.

Wer über „ver­ord­ne­ten Anti­fa­schis­mus“ in der DDR schwa­dro­niert, will von all dem ablen­ken, oder ist zu blöd zu sehen, dass er eben dies tut.
Das sage ich im Übri­gen als jemand, der nie ein Freund der DDR-Regie­rung gewe­sen ist.

Ein paar Anmer­kun­gen zu den Punk­ten: Es gibt in mei­ner Ver­wandt­schaft einen Ange­hö­ri­gen der Wehr­macht, der in Nor­we­gen Zivi­lis­ten erschie­ßen soll­te. Er hat sich gewei­gert und wur­de selbst erschos­sen. Der west­li­che Teil der Fami­lie hat dar­über nie gespro­chen, weil sie sich geschämt haben.

Ich habe die Goer­de­ler-Toch­ter Mari­an­ne Mey­er-Krah­mer ken­nen gelernt. Sie hat dar­über berich­tet, wie ihr Anfang im Wes­ten nach der Ent­las­sung aus dem KZ war. Wie sie als Leh­re­rin gear­bei­tet hat und wie die nor­ma­le Bevöl­ke­rung auf sie reagiert hat. Die­sen Text hat sie uns gege­ben: Mein lan­ger Weg zur Stun­de Null.

Irgend­wann in den 90ern waren wir in Mann­heim. Wir durf­ten bei der Nach­ba­rin der­je­ni­gen woh­nen, die wir besucht hat­ten, weil die Nach­ba­rin ver­reist war. Eine Leh­re­rin. An der Wand hing ein Bild ihres Vaters. In SS-Uni­form. Mit Toten­kopf an der Müt­ze. Die Woh­nung war ansons­ten piko-bel­lo auf­ge­räumt. Wenn man irgend­wie der Mei­nung wäre, dass ein SS-Vater etwas Schlim­mes ist, dann hät­te man den doch wenigs­tens vor­über­ge­hend in die Schub­la­de gepackt. Aber es wahr wohl normal.

In einem Fern­seh­bei­trag von 1959 vom Hes­si­schen Rund­funk, immer­hin 14 Jah­re nach dem Krieg, kann man sehen, was west-deut­sche Schü­ler auf Volks­schu­len von Hit­ler denken. 

Aus­schnitt aus der Sen­dung „Blick auf unse­re Jugend“, Teil 1: „Hit­ler und Ulb­richt? Fehl­an­zei­ge“ (1959)

Das ist wohl der direk­te Reflex der jewei­li­gen Eltern­häu­ser, unver­dor­ben von irgend­ei­ner Art Geschichts­un­ter­richt: „Hit­ler hat für das deut­sche Volk viel getan, war nur dann schlecht, dass er wahn­sin­nig gewor­den ist.“

Die­se klei­nen Geschich­ten zei­gen Bei­spie­le dafür, wie es im Wes­ten war. Mei­ne beschränk­te Wahr­neh­mung, aber es ist schön, dass die­se mit den Wahr­neh­mun­gen von Men­schen aus dem Wes­ten übereinstimmt.

Also, Herr Pro­fes­sor, lesen Sie die Bücher von Danie­la Dahn und arbei­ten Sie sorgfältiger. 

Und lie­be taz, behan­delt die Ossis so, wie Ihr ande­re Min­der­hei­ten oder benach­tei­lig­te Grup­pen behan­delt: que­e­re Men­schen, Frau­en, Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Schreibt nicht ein­fach irgend­wel­chen Mist über sie und lasst das auch bei Gastautor*innen nicht zu. Danke! 

Ich ende hier mit einem wei­te­ren Zitat aus Danie­la Dahns Buch von 1997 (vor 28 Jah­ren geschrieben):

So viel Rich­tig­stel­lung ist also nötig, um einen ein­zi­gen Zei­tungs­satz zu wider­le­gen. Viel­leicht ver­steht man, daß die Ost­ler zu sol­chem Kraft­akt auf die Dau­er kei­ne Lust haben und oft nur abwin­ken: Ihr wer­det es nie verstehen!

Dahn, Danie­la. 1997. West­wärts und nicht ver­ges­sen: Vom Unbe­ha­gen in der Ein­heit S. 68

Seit 2013 gibt es West­ler, die zuhö­ren und die so tun, als wür­den sie etwas ver­ste­hen, als wären sie eine Alter­na­ti­ve, und das ist ein ernst­haf­tes Problem.

Quellen

Dahn, Danie­la. 1997. West­wärts und nicht ver­ges­sen: Vom Unbe­ha­gen in der Ein­heit (Rororo Sach­buch 60341). Ham­burg: Rowohlt Verlag.

Dahn, Danie­la. 2019. Der Schnee von ges­tern ist die Sint­flut von heu­te: Die Ein­heit – eine Abrech­nung. Ham­burg: Rowohlt Ver­lag. (https://www.rosalux.de/publikation/id/41078/holocaust-in-der-ddr-angeblich-verschwiegen)

Ren­ten­skan­dal: Jüdi­sche Opfer kämp­fen um Aner­ken­nung, SS-Leu­te kas­sie­ren ab. 2014. Kon­tras­te. ARD. (https://www.rbb-online.de/kontraste/ueber_den_tag_hinaus/diktaturen/rentenskandal–juedische-opfer-kaempfen-um-anerkennung–ss-leute.html)

Das wis­sen Schü­ler aus dem Jah­re 1959 über Hit­ler und den Natio­nal­so­zia­lis­mus. (https://www.youtube.com/watch?v=7znbxsRjt5k)

Ausstellung: „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR.“

Ein Arti­kel in der taz über eine Aus­stel­lung im jüdi­schen Muse­um beginnt mit der Unter­über­schrift: „Jüdi­sche Lin­ke waren in der DDR will­kom­men. Obwohl sie ab 1933 vor den Nazis geflüch­tet waren, wur­den sie in der DDR bald anti­se­mi­tisch dis­kri­mi­niert.“ Die­se Kurz­zu­sam­men­fas­sung ist das, was vie­le Leser*innen als ein­zi­ges lesen. Sie ist falsch.

Hier eini­ge Passagen:

Die Geschich­te der Zadeks war kein Ein­zel­fall. Gemes­sen an der gerin­gen Zahl der in Sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne und in der DDR leben­den Jüdin­nen und Juden waren die­se über­pro­por­tio­nal oft in Füh­rungs­po­si­tio­nen ver­tre­ten. Das änder­te sich, als man 1948 damit begann, mas­si­ve Kon­trol­len aller Par­tei­mit­glie­der und Funk­ti­ons­trä­ger durchzuführen.

Hier wird zuerst fest­ge­hal­ten, dass Jüd*innen will­kom­men waren und dass sie, da es sich ja auch um ver­trau­ens­wür­di­ge Remigrant*innen han­del­te, in füh­ren­de Posi­tio­nen ein­ge­setzt wurden.

Dann schreibt Jens Win­ter von sta­li­nis­ti­schen Säuberungen:

Vor allem die „West­emi­gran­ten“ gerie­ten so ins Visier der Par­tei. Als West­emi­gran­ten bezeich­ne­te man die­je­ni­gen, die vor dem Natio­nal­so­zia­lis­mus zunächst in den Wes­ten geflo­hen oder in west­li­che Kriegs­ge­fan­gen­schaft gera­ten waren. Allein der Umstand der West­emi­gra­ti­on genüg­te, um in Ver­dacht zu gera­ten, ein „impe­ria­lis­ti­scher“ oder „ame­ri­ka­ni­scher Agent“ zu sein. Reich­te das zur Stüt­zung einer Ankla­ge nicht aus, warf man den Per­so­nen auch noch „Trotz­kis­mus“ oder „Zio­nis­mus“ vor.

Ohne Jüdin­nen und Juden expli­zit als Fein­de zu benen­nen, wur­den die­se de fac­to oft­mals zu den Opfern der bizar­ren Rei­ni­gungs­ri­tua­le, die wegen ihrer Eigen­lo­gik im Grun­de unab­schließ­bar waren.

Hier wird es inter­es­sant. Die Jüd*innen wur­den nicht als Fein­de benannt, was dar­an lie­gen könn­te, dass sie nicht als sol­che wahr­ge­nom­men wur­den. Und da es bei den Säu­be­run­gen auch um den Unter­schied zwi­schen Ost- und Westemigrant*innen ging (Osten = Mos­kau = gut und ver­trau­ens­wür­dig, Wes­ten = kapi­ta­lis­tisch und dubi­os), waren eben Jüd*innen, die aus dem Wes­ten zurück­ka­men in der Zeit der Säu­be­run­gen einem Gene­ral­ver­dacht aus­ge­setzt, so wie Nicht-Jüd*innen auch. 

Auch Ger­hard Zadek wur­de 1952 nach der Auf­lö­sung des Amts für Infor­ma­ti­on nach Meck­len­burg ver­setzt. Zu die­sem Zeit­punkt leb­te er gera­de erst fünf Jah­re wie­der in Deutsch­land. In Meck­len­burg soll­te er von nun an stell­ver­tre­tend das SED-Bezirks­or­gan Freie Erde lei­ten – eine Degra­die­rung. Als er 1953 trotz sei­nes Stu­di­ums auch noch Gie­ße­rei­ar­bei­ter wer­den soll­te, ver­wei­ger­te er sich. Er sat­tel­te um, stu­dier­te Patent­in­ge­nieur­we­sen und wur­de anschlie­ßend Direk­tor des VEB Schwer­ma­schi­nen­baus. Ali­ce Zadek wur­de zur Schu­lungs­lei­te­rin für die Natio­na­le Front herabgesetzt.

Die­se Pas­sa­ge zeugt von einer Unkennt­nis der DDR. In Ungna­de Gefal­le­ne wur­den nicht Direk­tor des VEB Schwer­ma­schie­nen­baus. Das war eine ver­ant­wor­tungs­vol­le Posi­ti­on und letzt­end­lich eine Reha­bi­li­ta­ti­on. Wenn es einen irgend­wie gear­te­ten struk­tu­rel­len Anti­se­mi­tis­mus gege­ben hät­te, wäre Ger­hard Zadek raus gewe­sen und nicht Direk­tor. Genau­so wenig wird man zur Schu­lungs­lei­te­rin für die Natio­na­le Front. Das wur­den nur voll­stän­dig ins Sys­tem inte­grier­te Personen.

Auch waren nicht aus­schließ­lich Jüdin­nen und Juden von den Säu­be­run­gen betrof­fen, jedoch häu­fig. Oste­mi­gran­ten blie­ben dage­gen in der Regel ver­schont, auch wenn sie jüdisch waren.

Hier schreibt Jens Win­ter es selbst. Ger­hard und Ali­ce Zadek waren nach Lon­don emi­griert und als West­emi­gran­ten ver­däch­tig. Der Arti­kel ist, wie vie­le, ten­den­zi­ös mit einer irre­füh­ren­den Über­schrift. Die wil­li­ge Leser*in kann die Details aber immer­hin im Text fin­den und sich dann über die Wider­sprüch­lich­keit wundern. 

In der Aus­stel­lung im Jüdi­schen Muse­um kom­men Par­tei­kon­troll­ver­fah­ren und ihre Eigen­lo­gik lei­der zu kurz. Dabei wäre es sinn­voll gewe­sen, gera­de hier genau­er hin­zu­se­hen, um ein Bild von der Viel­ge­stal­tig­keit des Anti­se­mi­tis­mus zu ver­mit­teln. Auch hät­te das The­ma die Mög­lich­keit gebo­ten, die­se in die­ser Form spe­zi­fi­sche his­to­ri­sche Ver­bin­dung von Kom­mu­nis­mus und Anti­se­mi­tis­mus aufzuzeigen.

Wie schon in einer ers­ten Bespre­chung durch einen ande­ren Autor wirft der Autor die­ses Arti­kels dem Jüdi­schen (!!) Muse­um vor, nicht noch mehr Anti­se­mi­tis­mus gefun­den zu haben. Viel­leicht liegt es ein­fach dar­an, dass es ihn abge­se­hen von den sta­li­nis­ti­schen Pro­zes­sen in den 50er Jah­ren nicht gab.

Max Kaha­ne wird ange­spro­chen, aber es wird glatt unter­schla­gen, wie Max Kaha­nes Leben nach der Ablö­sung 1952 im Zusam­men­hang mit den Pro­zes­sen in der CSSR wei­ter ver­lief. Max Kaha­ne war ganz oben mit dabei. Er hat­te 1949 ADN gegrün­det. Nach 1952 hat er im Aus­land Pro­zes­se beglei­tet (Eich­mann), war Lei­ter des NDs und somit die rötes­te Socke im gan­zen Land. Wiki­pe­dia lis­tet die fol­gen­den Aus­zeich­nun­gen auf:

  • 1956: Hans-Beim­ler-Medail­le der DDR – als ehe­ma­li­ger Kämp­fer der Inter­na­tio­na­len Brigaden
  • 1959: Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den der DDR (Sil­ber)
  • 1961: Franz-Meh­ring-Ehren­na­del des Ver­ban­des der Jour­na­lis­ten der DDR
  • 1970: Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den der DDR (Gold)
  • 1974: Ehren­span­ge zum Vater­län­di­schen Verdienstorden

In mei­nem Bei­trag „Der Ossi und der Holo­caust“ gebe ich eine Lis­te von jüdi­schen Per­so­nen an, die in der DDR höchst ange­se­hen waren und in Kul­tur, Wis­sen­schaft oder Poli­tik wich­ti­ge Posi­tio­nen innehatten.

Die Sache mit dem Anti­se­mi­tis­mus in der DDR ist Quatsch. Die DDR all­ge­mein war anti­re­li­gi­ös. Christ*innen konn­ten in der SED kei­ne Kar­rie­re machen, weil Reli­gi­on als Opi­um für’s Volk galt. Das galt nicht für Jüd*innen, wobei die meis­ten ohne­hin nicht reli­gi­ös waren. Die Hal­tung zu Isra­el war kri­tisch, weil Isra­el im ande­ren Block war. Ich weiß, dass es man­chen schwer fällt, das aus­ein­an­der­zu­hal­ten, aber aus einer kri­ti­schen Hal­tung gegen­über Isra­el von einem Ost­block­staat folgt nicht unbe­dingt Antisemitismus.

Im Arti­kel wird eine Sen­dung im Deutsch­land­funk zitiert. Zwei Braschs (Mari­on, Lena) unter­hal­ten sich mit Peter Kaha­ne. Mari­on Brasch berich­tet, wie sie als Jung­pio­nier 1974 den PLO-Chef Yas­sir Ara­fat am Wer­bel­lin­see begrüßt hat. Ihre Mut­ter mein­te: „Wenn der wüss­te, dass Du Jüdin bist.“. Für mich ist das ein wei­te­res Zei­chen dafür, dass das Jüdisch­sein in der DDR über­haupt kei­ne Rol­le gespielt hat. Es war für den Staats­ap­pa­rat kein Pro­blem ein Kind aus einer jüdi­schen Fami­lie den Chef der Paläs­ti­nen­si­schen Befrei­ungs­or­ga­ni­sa­ti­on begrü­ßen zu las­sen. Die Fami­lie Brasch war sehr bekannt (der Vater Horst Brasch war Kul­tur­mi­nis­ter) und jeder wuss­te, dass es sich um eine jüdi­sche Fami­lie han­del­te, also war es auch den zustän­di­gen Orga­nen bekannt, wer da wen begrüßte.

Quellen

Hol­ler­sen, Wieb­ke. 2023. Jüdisch in der DDR: Eine Rei­se zu den „kaputt­ge­gan­ge­nen Träu­men“ der Eltern. Ber­li­ner Zei­tung. Ber­lin. (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/juedisch-in-der-ddr-eine-reise-zu-den-kaputt-gegangenen-traeumen-der-eltern-im-juedischen-museum-berlin-li.386242) 06.09.2023

Der Ossi und der Holocaust

Die­ser Text wur­de am 01.09.2019 begon­nen und ist lei­der immer noch nicht ganz fer­tig, aber er soll jetzt mal sicht­bar werden. 

Einleitung

Die Wes­sis ver­su­chen jetzt, den Osten zu ver­ste­hen. Ein biss­chen spät, denn das Kind ist in den Brun­nen gefal­len. Dazu gibt es ver­schie­de­ne Ana­ly­sen in Zei­tun­gen, die für die Mei­nungs­bil­dung rele­vant sind. Einen wich­ti­gen Punkt aus zwei die­ser Ana­ly­sen möch­te ich in die­sem Bei­trag bespre­chen: DDR und Holo­caust. Die AutorIn­nen der bespro­che­nen Bei­trä­ge sind jeweils aus dem Osten: Ines Gei­pel und Anet­ta Kaha­ne. Das macht ihre Aus­sa­gen um so ver­wun­der­li­cher. Sehen wir uns die Aus­sa­gen von Ines Gei­pel und Anet­ta Kaha­ne im Detail an:

Die West-Gesell­schaft des direk­ten Nach­kriegs, die sich manisch schön­putz­te, die schier mär­chen­gleich Koh­le mach­te und sich in ihrer Unfä­hig­keit zu trau­ern ver­pupp­te. Die post­fa­schis­ti­sche DDR der fünf­zi­ger Jah­re dage­gen wur­de zur Syn­the­se zwi­schen ein­ge­kap­sel­tem Hit­ler und neu­er Sta­lin-Dik­ta­tur, pla­niert durch einen roten Anti­fa­schis­mus, der ein­zig eine Hel­den­sor­te zuließ: den deut­schen Kom­mu­nis­ten als Über­win­der Hit­lers. Mit die­ser instru­men­tel­len Ver­ges­sens­po­li­tik wur­de im sel­ben Atem­zug der Holo­caust für 40 Jah­re in den Ost-Eis­schrank gescho­ben. Er kam öffent­lich nicht vor. 

Ines Gei­pel, Das Ding mit dem Osten, Frank­fur­ter All­ge­mei­ne, 14.08.2019

Im Osten war eine sys­te­mi­sche und indi­vi­du­el­le Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus und der Sho­ah nicht gewollt. Dies hät­te zu Fra­gen nach Men­schen­rech­ten oder Min­der­hei­ten­schutz geführt, die nur bei Stra­fe des Unter­gangs der DDR zu beant­wor­ten gewe­sen wären. 

Anet­ta Kaha­ne, Debat­te Ost­deut­sche und Migran­ten: Nicht in die Fal­len tap­pen, taz, 12.06.2018

Die kras­ses­te Behaup­tung ist die von Gei­pel, der Holo­caust sei öffent­lich nicht vor­ge­kom­men.1 Die­se Behaup­tung ist leicht zu wider­le­gen und Mat­thi­as Krauß hat das bereits 2007 getan.2 Für die Behaup­tung von Kaha­ne muss man etwas wei­ter ausholen.

Schulbildung: Geschichts- und Literaturunterricht 

Die Beschäf­ti­gung mit dem Holo­caust zog sich durch die gesam­te Schul­bil­dung. Die Schul­bil­dung war in der DDR zen­tral gere­gelt, d.h. alle Schü­le­rin­nen und Schü­ler wur­den nach dem­sel­ben Lehr­plan und mit den­sel­ben Lehr­ma­te­ria­li­en unterrichtet. 

Geschichtsunterricht

Die Nazi­zeit wur­de in der 9. Klas­se behan­delt. Im Geschichts­buch der 9. Klas­se fin­det man meh­re­re Sei­ten, auf denen Ver­bre­chen an Juden the­ma­ti­siert wer­den: Anti­se­mi­ti­sche Het­ze, Ras­sen­ge­set­ze, Boy­kott­auf­ru­fe, Berufs­ver­bo­te, zer­stör­te Syn­ago­gen, Ent­eig­nun­gen. Es fol­gen Sei­ten aus dem Geschichts­buch von 1977 (8. Auf­la­ge der Aus­ga­be von 1970):

Nimtz, Wal­ter. 1977. Geschich­te Lehr­buch für Klas­se 9. Ber­lin: Volk und Wis­sen Volks­ei­ge­ner Ver­lag. 8. Auf­la­ge, S. 157. 
Nimtz, Wal­ter. 1977. Geschich­te Lehr­buch für Klas­se 9. Ber­lin: Volk und Wis­sen Volks­ei­ge­ner Ver­lag. 8. Auf­la­ge, S. 158. 

Das War­schau­er Ghet­to wird the­ma­ti­siert, die Depor­ta­ti­on von Juden in die Todes­la­ger von Ausch­witz und Majdanek.

Nimtz, Wal­ter. 1977. Geschich­te Lehr­buch für Klas­se 9. Ber­lin: Volk und Wis­sen Volks­ei­ge­ner Ver­lag. 8. Auf­la­ge, S. 221. 

Zusam­men mit einem Bild von Ausch­witz-Bir­ken­au wird auf die acht Mil­lio­nen Men­schen hin­ge­wie­sen, die in Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern ermor­det wur­den: „in ers­ter Linie Arbei­ter, Kom­mu­nis­ten, Sowjet­bür­ger, pro­gres­si­ve Ange­hö­ri­ge der Intel­li­genz und Juden“.

Nimtz, Wal­ter. 1977. Geschich­te Lehr­buch für Klas­se 9. Ber­lin: Volk und Wis­sen Volks­ei­ge­ner Ver­lag. 8. Auf­la­ge, S. 206. 

Der Nut­zer ste­ve hat auf Mast­o­don Sei­ten aus dem Geschichts­buch von 1988 zugäng­lich gemacht. Hier eini­ge Seiten:

Bericht über den Gene­ral­plan Ost im Geschichts­lehr­buch 9. Klas­se von 1988.

Bericht über die Pla­nung und Umset­zung der Ermor­dung von sla­wi­schen Völ­kern und Juden im Geschichts­lehr­buch 9. Klas­se von 1988.

Juden­ver­fol­gung und Wann­see­kon­fe­renz wer­den expli­zit the­ma­ti­siert. Die ras­sisch begrün­de­ten Mor­de wer­den klar angesprochen:

Errich­tung wei­te­rer Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger. Die Faschis­ten pferch­ten wei­te­re Mil­lio­nen Häft­lin­ge — Kom­mu­nis­ten, Sozi­al­de­mo­kra­ten, Gewerk­schaf­ter, Anti­fa­schis­ten ver­schie­dens­ter Klas­sen­zu­ge­hö­rig­keit, ras­sisch ver­folg­te, vor allem Juden, Kriegs­ge­fan­ge­ne, Zwangs­ar­bei­ter und ande­re Häft­lin­ge — in unzäh­li­gen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern zusam­men (vgl. Kar­te). Auf pol­ni­schem Boden ent­stan­den die KZ Ausch­witz, Bełżec, Kulm­hof, Maj­da­nek, Sobi­bor und Treb­linka. In die­sen größ­ten Ver­nich­tungs­la­gern wur­den mehr als sie­ben Mil­lio­nen Men­schen unter ent­setz­li­chen Qua­len umgebracht.

Geschichts­lehr­buch 9. Klas­se von 1988. S. 168–169

Bericht über den Mas­sen­mord in Ver­nich­tungs­la­gern im Geschichts­lehr­buch 9. Klas­se von 1988.
Bericht über die Ermor­dung von 56.000 Juden im War­schau­er Ghet­to im Geschichts­lehr­buch 9. Klas­se von 1988.
Bericht über den Mas­sen­mord in Ver­nich­tungs­la­gern in der Zusam­men­fas­sung des Abschnitts im Geschichts­lehr­buch 9. Klas­se von 1988.

In der Zusam­men­fas­sung fin­det sich auch noch mal expli­zit folgendes:

durch soge­nann­te ‘Straf- und Ver­gel­tungs­ak­tio­nen’ began­nen die Faschis­ten den Mas­sen­mord an Mil­lio­nen Hit­ler­geg­nern und Ange­hö­ri­gen ver­schie­de­ner Völ­ker, ins­be­son­de­re von Bür­gern der Sowjet­uni­on und Polens sowie von Juden vie­ler euro­päi­scher Staa­ten. […] 20. Janu­ar 1942 ‘Wann­see-Kon­fe­renz’ beschließt Mas­sen­mord an Juden

Geschichts­lehr­buch 9. Klas­se von 1988. S. 173

In den Emp­feh­lun­gen für die außer­un­ter­richt­li­che Lek­tü­re kamen Roma­ne vor, die auch im Lite­ra­tur­un­ter­richt behan­delt wurden: 

Literaturunterricht

Wir haben in der 9. Klas­se Kin­der­schu­he aus Lub­lin von Johan­nes R. Becher gelernt. Vie­le haben das auf­ge­sagt (33 Stro­phen). Die, die es nicht selbst gelernt haben, haben es zumin­dest vie­le Male gehört. Bechers Bala­de von den Drei­en war eben­falls im Lese­buch der DDR 9. Klas­se (Aus­ga­be 1980) ent­hal­ten. Die­ses Gedicht hat­te nur neun Zei­len. Das haben die auf­ge­sagt, denen die Kin­der­schu­he zu lang waren. Ich habe es oft gehört.

Wir haben Nackt unter Wöl­fen von Bru­no Apitz gele­sen. Im Buch geht es um ein jüdi­sches Kind, das im KZ Buchen­wald ver­steckt wird. Der Mord an den Juden wird ganz klar thematisiert:

Unter den 6000 jüdi­schen Häft­lin­gen des Lagers ver­ur­sach­te der Befehl einen Auf­ruhr der Angst und Ver­zweif­lung. Zuerst war ein Schrei des Ent­set­zens in ihnen auf­ge­bro­chen. Sie woll­ten die schüt­zen­den Blocks nicht ver­las­sen. Sie schrien und wein­ten, wuss­ten nicht, was sie tun soll­ten. Wie ein wüten­der Wolf hat­te der furcht­ba­re Befehl sie ange­sprun­gen, hat­te sich in sie ver­bis­sen, und sie konn­ten ihn nicht mehr abschüt­teln. Unge­ach­tet von Weis­angks Befehl, die Blocks nicht zu ver­las­sen, stürz­ten vie­le der jüdi­schen Häft­lin­ge fort, kopf­los und in höchs­ter Not. Sie rann­ten in ande­re Blocks hin­ein, in die Seu­chen­ba­ra­cke des Klei­nen Lagers, ins Häft­lings­re­vier. »Helft uns! Ver­steckt uns!« »Wie euch ver­ste­cken? Wir kom­men doch sel­ber dran.« Trotz­dem, die Blocks nah­men sie auf. Man riss ihnen die jüdi­schen Mar­kie­run­gen von den Klei­dern, gab ihnen ande­re dafür. Köhn {und der Kapo vom Revier} steck­ten die Hil­fe­su­chen­den als »Kran­ke« in die Bet­ten, gab ihnen eben­falls ande­re Mar­kie­run­gen und Num­mern. Man­che der Gehetz­ten ver­steck­ten sich auf eige­ne Faust und kro­chen in den Lei­chen­kel­ler des Reviers. Ande­re wie­der stürz­ten in die Pfer­de­stäl­le des Klei­nen Lagers, in der Mas­se unter­tau­chend. Und doch war die­se Flucht die sinn­lo­ses­te, denn gera­de hier steck­ten vie­le jüdi­sche Ange­hö­ri­ge frem­der Natio­nen. Aber wer über­leg­te, wer dach­te klar, wenn er vom Wolf gehetzt wur­de … Was in den Blocks der jüdi­schen Häft­lin­ge zurück­blieb, unter­lag schließ­lich der Läh­mung des mör­de­ri­schen Befehls. Ver­stört sahen sie dem Kom­men­den ent­ge­gen. Die Block­äl­tes­ten, selbst jüdi­sche Häft­lin­ge, hat­ten nicht den Mut, zum Marsch nach dem Tor antre­ten zu las­sen. Dort war­te­te der Tod! Konn­te man ihn nicht auch hier erwarten? 

Bru­no Apitz. 1958. Nackt unter Wöl­fen, Mit­tel­deut­scher Ver­lag, Hal­le (Saa­le). Zitiert nach Aus­ga­be vom Auf­bau­ver­lag, 2012, S. 274–275

Zum Buch gab es 1963 eine Ver­fil­mung von Frank Bey­er für die DEFA (sie­he Fil­me). Nackt unter Wöl­fen erschien in 30 Spra­chen und erreich­te eine Gesamt­auf­la­ge von mehr als zwei Mil­lio­nen. (Nach­trag 19.06.2024: Ines Gei­pel spricht in ihrem 2019 erschie­ne­nen Buch Umkämpf­te Zone auf S. 36 des Ebooks selbst von Nackt unter Wöl­fen.)

Pro­fes­sor Mam­lock (ein Thea­ter­stück von 1934) wur­de 1961 ver­filmt und in Schu­len gezeigt. Der Film han­delt von einem jüdi­schen Kli­nik­lei­ter und des­sen Fami­lie. Arbeits­ver­bot, Inhaf­tie­rung. Ein Sohn flieht. Pro­fes­sor Mam­lock begeht Selbstmord.

Edu und Unku wur­de eben­falls im Lite­ra­tur­un­ter­richt behan­delt. Unku ist ein Sin­ti-Mäd­chen, das in Ausch­witz ermor­det wurde.

Die erst­mals 1958 ver­öf­fent­lich­te Erzäh­lung Früh­lings­so­na­te von Wil­li Bre­del befand sich im Lese­buch der 9./10. Klas­se.3 Es ging um einen jüdi­schen Polit­of­fi­zier, der mit der Roten Armee nach Deutsch­land gekom­men war. Er hört die Musik, die eine Fami­lie mit Kla­vier und Fagott spielt, kommt in deren Woh­nung, immer wie­der, bringt Essen mit. Sie wer­den ver­traut. Eines Tages fragt die Fami­lie ihn nach sei­nem Lieb­lings­stück und er nennt Beet­ho­vens Früh­lings­so­na­te. Die Fami­lie stu­diert das Stück ein, spielt es vor dem Offi­zier und die­ser bricht zusam­men und ver­wüs­tet die Woh­nung. Dar­auf­hin wird er ver­haf­tet und ein­ge­sperrt und von sei­nen Vor­ge­setz­ten ver­prü­gelt. Der Fami­li­en­va­ter – ein deut­scher Pro­fes­sor – ent­schul­digt ihn. Hier Aus­zü­ge aus dem Text, der aus sei­ner Per­spek­ti­ve geschrie­ben ist:

Der Fami­li­en­va­ter:

Ich beob­ach­te­te Rut­hil­de, sie spiel­te vor­treff­lich. Plötz­lich aber sah ich sie erschre­cken: Haupt­mann Pritz­ker wank­te an den Tisch und goss den Inhalt der Wod­ka-Karaf­fe in ein Bier­glas. Der Haupt­mann goss in einem ein­zi­gen Zug den Wod­ka in sich hin­ein. Auf­hö­ren! Um Got­tes Wil­len auf­hö­ren, dach­te ich. Rut­hil­de aber spiel­te wei­ter – und wie sie spiel­te. Mei­ne Frau muss­te ein­set­zen. Der Haupt­mann hat­te bei­de Hän­de vors Gesicht gepresst, als lit­te er Qua­len. Was bedeu­te­te das alles nur? „War­um spiel­ten sie noch? 

Plötz­lich geschah es. Ein Schrei dem unver­ständ­li­che Wor­te folg­ten – und plötz­lich riss der Haupt­mann mit einem Ruck die Tisch­de­cke samt allem, was dar­auf stand her­un­ter. Mei­ne Frau schlug mit dem Kopf auf die Tas­ten des Flügels – wie ohn­mäch­tig. Irm­gart und Häns­chen, zu Tode erschro­cken, rann­ten aus dem Zim­mer. Der Haupt­mann zog mit sei­nem gan­zen Gewicht an dem Schrank, in dem unse­re Glä­ser und etwas Geschirr stan­den, so dass er über den Tisch fiel. Er zerr­te mit einem Griff Vor­hän­ge und Gar­di­nen vom Fens­ter. Einem Stuhl gab er einen Tritt. Und unun­ter­bro­chen schrie er Flüche oder Dro­hun­gen in sei­ner Mut­ter­spra­che her­aus. Rut­hil­de, Gei­ge und Bogen noch in der Hand, stand da und rühr­te sich nicht. Gleich wird er über sie her­fal­len, dach­te ich, bereit, mich ihm ent­ge­gen­zu­wer­fen. Statt des­sen aber hock­te er sich plötz­lich in den Ses­sel, leg­te den Kopf auf die Leh­ne und wein­te, schluchz­te herz­zer­rei­ßend. Ich hat­te mei­ne Frau auf das Sofa gebet­tet, jetzt trat ich zu mei­ner Toch­ter und leg­te den Arm um ihre Schul­ter. So blick­ten wir auf den Unglücklichen, der den Kopf hin und her warf und wie ein Kind wim­mer­te. End­lich kamen Sol­da­ten der Mili­tär­po­li­zei und führ­ten ihn ab.

Wil­li Bre­del. 1971. Früh­lings­so­na­te, Ber­lin und Wei­mar: Auf­bau-Ver­lag. S. 164–165. (Zitat mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Wil­li-Bre­del-Gesell­schaft-Geschichts­werk­statt e. V., Hamburg)

Die Erklä­rung für das Ver­hal­ten wird am nächs­ten Tag von einem ande­ren Offi­zier geliefert:

Heu­te mit­tag näm­lich hat mich ein jun­ger Offi­zier von der Kom­man­dan­tur auf­ge­sucht. Er bat für sei­nen Lands­mann um Ent­schul­di­gung und erbot sich, den Scha­den zu erset­zen. Dann erzähl­te er mir das Schick­sal des Haupt­manns. Es ist noch tra­gi­scher, als wir ver­mu­ten konn­ten. Hören Sie nur: 

Haupt­mann Pritz­ker war vor sei­ner Ein­be­ru­fung zur Sowjet­ar­mee Musik­päd­ago­ge am Kon­ser­va­to­ri­um in Kiew. Er war ver­hei­ra­tet, hat­te eine Toch­ter und einen Sohn, bei­de noch schul­pflich­tig. Im Jah­re 1942 haben deut­sche Sol­da­ten der Hit­ler-Wehr­macht in Kiew Zehn­tau­sen­de Juden, Män­ner, Frau­en und Kin­der, zusam­men­ge­trie­ben wie Vieh und unweit der Stadt vor ihren Grä­bern erschos­sen. Unter den Opfern befan­den sich des Haupt­manns Frau und Kin­der. Die Fami­lie hat­te am Abend, bevor Pritz­ker ein­be­ru­fen wur­de, die Frühlingssonate von Beet­ho­ven gespielt.

Wil­li Bre­del. 1971. Früh­lings­so­na­te, Ber­lin und Wei­mar: Auf­bau-Ver­lag. S. 165.

An einer ande­ren, aus der Sicht des Oberst der sowje­ti­schen Mili­tär­kom­man­dan­turer, der den Haupt­mann ver­hört und geschal­gen hat, erzähl­ten Stel­le heißt es: 

Der Oberst über­leg­te … Da liest man in den Zei­tun­gen, hört in Rund­funk­sen­dun­gen, auch in Gesprä­chen: Bei Worow­schil­wo­grad zwölf­tau­send Juden mas­sa­kriert. In Kertsch Tau­sen­de Ein­woh­ner vor der Stadt füsi­liert. In Kiew zehn­tau­sen­de Juden und Kom­mu­nis­ten gemeu­chelt und in Mas­sen­grä­ber ver­scharrt. Man liest es, ist ent­setzt, aber es dringt nicht mehr rich­tig ins Bewusst­sein; der Ver­stand wehrt sich die­se Häu­fung von Ver­bre­chen aufzunehmen.

Wil­li Bre­del. 1971. Früh­lings­so­na­te, Ber­lin und Wei­mar: Auf­bau-Ver­lag. S. 168.

Der Bericht des Pro­fes­sors endet damit, dass er den Haupt­mann entschuldigt:


„Die Schul­di­gen sind doch eigent­lich wir“: sag­te der Pro­fes­sor, „ich mei­ne, wir Deut­schen. ” Er blick­te auf und fuhr fort: „Man stel­le sich vor: Ein Offi­zier befin­det sich als Sie­ger in dem Land, aus dem die Men­schen kamen, die in sei­ner Hei­mat sei­ne Frau und sei­ne bei­den Kin­der umge­bracht haben. Die Mör­der sind besiegt, aber die Men­schen die­ses Lan­des sind den Mör­dern nicht in den Arm gefal­len, sie haben sie gewäh­ren, das heißt mor­den las­sen. Und ein­sam geht er durch die Stadt der Besieg­ten. Da sitzt in ihrem Haus eine Fami­lie – nicht einer fehlt: Mann, Frau, Töch­ter, Sohn – sie musi­zie­ren, spie­len Schu­mann, Brahms und Mozart. Er steht auf der Stra­ße und lauscht. Jeden Akkord kennt er,
er ist ja Musik­leh­rer, ein Freund der Haus­mu­sik. Musik ist stär­ker als Hass. Gleich einem Bitt­stel­ler klopft er an die Tür der Besieg­ten und — ja, der Mit­schul­di­gen an sei­nem und sei­nes Lan­des Unglück. Er darf zuhö­ren und ist glücklich. Bei Deut­schen, den Lands­leu­ten derer, die sei­ne Frau und Kin­der und unge­zähl­te Tau­sen­de ande­rer Frau­en und Kin­der in sei­ner Hei­mat ermor­det haben. Er denkt dar­an, er muss immer wie­der dar­an den­ken, und ihn packt, ihn überwältigt das ihm zuge­füg­te Leid. Er will es betäu­ben, er will nicht, dass sei­ne deut­schen Bekann­ten etwas davon mer­ken. Er trinkt, um zu ver­ges­sen. Und gera­de das Stück, das sie nichts­ah­nend ihm zur Freu­de spie­len, wird ihm zur größ­ten Qual … ja, wir sind die Schul­di­gen. Die Schul­di­gen sind wir.”

Wil­li Bre­del. 1971. Früh­lings­so­na­te, Ber­lin und Wei­mar: Auf­bau-Ver­lag. S. 166.

Man beach­te, dass bei Bre­del 1958 auch schon ganz klar auf die Rol­le der Wehr­macht bei der Mas­sen­ver­nich­tung der Juden hin­ge­wie­sen wird. Die gan­ze Unge­heu­er­lich­keit ist im Arti­kel über Babyn Jar in Wiki­pe­dia aus­führ­lich doku­men­tiert. SS und Wehr­macht haben gemein­sam 33.771 Juden in einer Schlucht bei Kiew ermor­det und dann vor Kriegs­en­de noch ver­sucht, die Spu­ren zu besei­ti­gen. Men­schen aus dem Osten waren sehr erstaunt, was die Wehr­machts­aus­stel­lung noch 1995–1999 für einen Auf­ruhr erzeu­gen konn­te. Wir wuss­ten Bescheid. Wir hat­ten es spä­tes­tens in der 10. Klas­se gelernt. 

Wiki­pe­dia schreibt zur Wehrmachtsausstellung:

Die brei­te Öffent­lich­keit nahm so erst­mals his­to­risch gut erforsch­te, aber damals all­ge­mein noch wenig bekann­te Sach­ver­hal­te zur Kenntnis: 

  • den Beginn des Holo­caust in den besetz­ten Gebie­ten der Sowjet­uni­on, den die Wehr­machts­füh­rung mit plan­te und dann arbeits­tei­lig mit durchführte, 
  • die Betei­li­gung gan­zer Trup­pen­tei­le an die­sen Ver­bre­chen, wobei Wider­stand bis auf weni­ge Aus­nah­men ausblieb, 
  • den in Wehr­machts­füh­rung wie ein­fa­chen Trup­pen weit ver­brei­te­ten Anti­se­mi­tis­mus und Rassismus, 
  • die ver­bre­che­ri­schen Befeh­le (zum Bei­spiel den Kom­mis­sar­be­fehl) und ihre weit­hin wider­spruchs­lo­se Aus­füh­rung und 
  • die als Kriegs­ziel beab­sich­tig­te mil­lio­nen­fa­che Ver­nich­tung der ost­eu­ro­päi­schen Zivilbevölkerung.

In aktu­el­len poli­ti­schen Dis­kus­sio­nen wird immer wie­der behaup­tet, dass es in der DDR kei­ne sys­te­ma­ti­sche Auf­ar­bei­tung des Faschis­mus gege­ben habe, wohin­ge­gen das in der BRD nach 1968 gesche­hen sei. Wie das Wiki­pe­dia-Zitat nahe­legt, waren die Fak­ten Exper­ten bekannt, jedoch kein All­ge­mein­wis­sen. In der DDR kam nie­mand an die­sen Fak­ten vor­bei. Die Groß­nich­te von Her­mann Göring begann sich 1968 für ihren Groß­on­kel zu inter­es­sie­ren und such­te nach Lite­ra­tur. Sie hat in einem Inter­view im Jah­re 2024 gesagt, dass die bes­ten Geschichts­bü­cher zum The­ma aus der DDR kamen (Reich, 2024).

Über­le­ben­de wur­den in die Schu­len ein­ge­la­den. Schu­len wur­den nach Wider­stands­kämp­fern benannt z.B. nach Her­bert Baum (jüdi­scher Wider­stands­kämp­fer). Nach der Wen­de zog das Hein­rich-Hertz Gym­na­si­um in die Gebäu­de der POS Her­bert Baum. Es gibt jetzt kei­ne Schu­le mehr, die nach ihm benannt ist.

Neulehrer

Bei der gan­zen Sache mit der Schul­bil­dung soll­te man auch beden­ken, dass Nazis nach dem Krieg im Bil­dungs­sys­tem der DDR sys­te­ma­tisch durch soge­nann­te Neu­leh­rer ersetzt wur­den. 40.000 Neu­leh­rer. Laut Wiki­pe­dia waren 1949 67,8 Pro­zent aller Leh­rer­stel­len mit Neu­leh­rern besetzt. Es war somit sicher­ge­stellt, dass die Per­so­nen auch das in den Lehr­plä­nen Vor­ge­ge­be­ne unter­rich­ten wür­den, ins­be­son­de­re dann, wenn es sich um anti­fa­schis­ti­schen Lehr­stoff han­del­te. Leh­re­rIn­nen hät­ten den ent­spre­chen­den Stoff schon allein des­halb nicht weg­las­sen kön­nen, weil in jeder Klas­se Kin­der mit Genos­sen­el­tern waren und es sicher Pro­ble­me mit der Schul­lei­tung gege­ben hät­te. Das kann man fin­den, wie man will, aber dar­aus folgt, dass alle Kin­der in der DDR die Mate­ria­li­en, die sich mit dem Faschis­mus beschäf­tigt haben, auch behan­delt haben. Im Gegen­satz dazu hat­te Bet­ti­na Göring in den 60ern einen Nazi als Geschichts­leh­rer (Reich, 2024) und es gibt auch heu­te noch Geschichts­leh­rer, wie Björn Höcke (aus NRW, stu­diert in Bonn, Gie­ßen und Mar­burg, von 2001–2014 hat er Geschich­te unter­rich­tet), den man laut Gerichts­be­schluss Nazi nen­nen darf.

Bücher

LTI – Notiz­buch eines Phi­lo­lo­gen von Vic­tor Klem­pe­rer erschien 1947 im Auf­bau Ver­lag und wur­de dann 1966 in Reclams Uni­ver­sal-Biblio­thek in Leip­zig wie­der­ver­öf­fent­licht. 1990 wur­de die 10. Auf­la­ge gedruckt. Papier war in der DDR knapp. Popu­lä­re Zeit­schrif­ten wie das Maga­zin waren des­halb Bück­wa­re. Es muss also ers­tens einen Bedarf für LTI gege­ben haben und zwei­tens auch den poli­ti­schen Wil­len der Staats­macht, die­ses Buch in gro­ßen Stück­zah­len unters Volk zu brin­gen. Klem­pe­rer selbst war jüdi­scher Abstam­mung und hat sich dafür ent­schie­den, in der DDR zu bleiben.

Scan des Titel­blat­tes von LTI, Aus­ga­be 1975.

Außer­dem gab es Jakob der Lüg­ner von Jurek Becker Auf­bau-Ver­lag, Berlin/DDR 1969. und auch Das Tage­buch der Anne Frank erschien bereits 1957.4

Wei­te­re Bücher:

  • Mar­tin Rie­sen­bur­ger. 1960. Das Licht ver­lösch­te nicht. Ein Zeug­nis aus der Nacht des Faschis­mus, Ber­lin: Uni­on Ver­lag. wei­ter Auf­la­gen in den 1980ern.
  • Arnold Zweig. 1960. „Beginn und ‚End­lö­sung‘“. In: Pro­gramm­heft zu „Affä­re Blum“, Volks­büh­ne Ber­lin, Spiel­zeit 1960/61, S. 4–7., wei­te­re Arti­kel im Neu­en Deutsch­land etc.
  • Kurt Pät­zold. 1983. Ver­fol­gung, Ver­trei­bung, Ver­nich­tung. Doku­men­te des faschis­ti­schen Anti­se­mi­tis­mus 1933 bis 1942. Ber­lin: Reclam.
Reclam-Buch von 1983 über die Juden­ver­fol­gung. Kurt Pät­zold hat an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu die­sem The­ma geforscht. Sein Wiki­pe­dia­ein­trag ent­hält wei­te­re Quellen.

Die­se Auf­zäh­lung aus dem Hut wirkt gera­de­zu lächer­lich gegen­über der Lis­te von 1086 Titeln, die die eins­ti­ge Lei­te­rin der Biblio­thek der Jüdi­schen Gemein­de in Ost-Ber­lin, Rena­te Kirch­ner, zusam­men­ge­stellt hat (Kirch­ner, 2010).

Danie­la Dahn schreibt in ihrem Buch von 2019 (sie­he unten) zu die­ser Liste:

Die Biblio­gra­phie umfasst alle The­men – jüdi­sche Geschich­te, Reli­gi­on, Phi­lo­so­phie, Kul­tus und Brauch­tum, Lebens- und Werk­be­trach­tun­gen bekann­ter Juden, Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus, jüdi­sches Leben in ande­ren Län­dern, ins­be­son­de­re die Welt der Ost­ju­den, auch Paläs­ti­na und Isra­el. Fast genau die Hälf­te aller Bücher aber wid­met sich dem The­ma: Natio­nal­so­zia­lis­mus und Juden­ver­fol­gung. Die meis­ten davon, näm­lich 302, waren Sach­bü­cher, Bio­gra­phien, Tage­bü­cher, Brief­bän­de, auch ein­zel­ne Diplom­ar­bei­ten und Dis­ser­ta­tio­nen, die der Jüdi­schen Biblio­thek zum Dank für Unter­stüt­zung über­ge­ben wur­den. Vie­le davon waren sach­li­che Fak­ten­samm­lun­gen, ande­re unver­kenn­bar der Sys­tem­aus­ein­an­der­set­zung und dem Legi­ti­ma­ti­ons­be­dürf­nis der DDR unter­ge­ord­net. So unter­schied­lich sie waren, kann man ihnen eine ver­in­ner­lich­te, huma­nis­ti­sche Grund­hal­tung und einen tief­emp­fun­de­nen Anti­fa­schis­mus schwer­lich absprechen. 

Ohne den im Raum ste­hen­den, mons­trö­sen Vor­wurf der Unter­drü­ckung jüdi­scher The­men in der DDR könn­te ich mir den nun viel­leicht schon pedan­tisch wir­ken­den Hin­weis spa­ren, dass zu dem auch ästhe­tisch heik­len The­ma Holo­caust, für das erst eine Spra­che gefun­den wer­den muss­te, außer­dem 238 DDR-Autoren wie Anna Seg­hers, Bru­no Apitz, Jurek Becker, Johan­nes Bobrow­ski, Franz Füh­mann, Ste­phan Herm­lin, Ste­fan Heym, Wal­ter Kauf­mann, Gün­ter Kun­ert, Fred Wan­der, Arnold Zweig. West­deut­sche Autoren wie Ilse Aichin­ger, Alfred Andersch, Paul Celan, Peter Härt­ling, Heinar Kipp­hardt, Wolf­gang Koep­pen, Lui­se Rin­ser und Peter Weiss wur­den in DDR-Ver­la­gen genau­so ver­legt wie die Gene­ra­ti­on davor: Lion Feucht­wan­ger, Frank Leon­hard, Klaus Mann, Erich Müh­sam, Erich Maria Remar­que, Nel­ly Sachs, Franz Wer­fel. Schließ­lich wur­de auch viel über­setzt, beson­ders aus Ost­eu­ro­pa: Josef Bor, Tibor Déry, Ladis­lav Gros­man, Imre Ker­té­sz, Ana­to­li Kus­ne­zow, Sta­nis­law Lem, Iccho­kas Meras, aber auch Nata­lia Ginz­burg, Pri­mo Levi, Elie Wie­sel oder Jor­ge Semprún.)

Dahn, Danie­la (2019) Der Schnee von ges­tern ist die Sint­flut von morgen.

Mei­ne Schwie­ger­el­tern hat­ten in ihrer Mann­hei­mer Woh­nung am Ess­tisch extra ein Regal mit Judai­ka plat­ziert, damit die West-Kol­le­gen die­ses bei Ein­la­dun­gen sehen konn­ten, denn auch ihre Kolleg*innen hat­ten merk­wür­di­ge Vor­stel­lun­gen über den Umgang mit Juden und dem Völ­ker­mord in der DDR.

Filme

Es gab diver­se Fil­me, die die Juden­ver­fol­gung the­ma­ti­sier­ten oder in denen sie vor­kam. Es gab in der DDR in vie­len klei­nen Orten Kinos und die Fil­me sind oft jah­re­lang durch die DDR getourt. Fol­gen­de Fil­me sind mir bekannt:

Zur Pre­mie­re des Anne-Frank-Films gibt es einen inter­es­san­ten Bei­trag in der ZEIT von 1959:

Vor der Urauf­füh­rung des Films „Ein Tage­buch für Anne Frank“ im Ost­sek­tor Ber­lins betrat der grei­se Arnold Zweig die Büh­ne im „Haus der Pres­se“ am Bahn­hof Fried­rich­stra­ße. Er sprach davon, daß mit die­sem Film ein Bei­trag zur mora­li­schen Wie­der­gut­ma­chung geleis­tet wer­den solle. 

Anne Frank in West und Ost, Zeit 14/1959

Zu Ich bin klein aber wich­tig gibt es einen Text von Kon­rad Weiß, der 1988 in Film und Fern­se­hen ver­öf­fent­licht wurde.

Fernsehserien

Nach der ers­ten Ver­öf­fent­li­chung die­ses Tex­tes erschien am 17.09.2019 ein Buch von Danie­la Dahn (aus einer jüdi­schen Fami­lie) zum The­ma Wie­der­ver­ei­ni­gung. Die­ses Buch ent­hält auch eine erhel­len­de Dis­kus­si­on der Behaup­tung, der Holo­caust sei in der DDR nicht vor­ge­kom­men. Ich habe das Buch lei­der erst 2023 gele­sen. Dahn weist dar­auf hin, dass es meh­re­re Jah­re vor der Holo­caust-Serie in der DDR eine vier­tei­li­ge Serie zum Völ­ker­mord an den Juden gab: Die Bil­der des Zeu­gen Schatt­mann.

Cover der DVD, auf der die Serie Die Bil­der des Zeu­gen Schatt­mann ver­trie­ben wird

Die Serie war nach dem auto­bio­gra­fi­schen Roman von Peter Edel kon­zi­pert und es spiel­ten meh­re­re Jüd*innen in den Hauptrollen:

Was gab es doch unlängst für einen Hype um den 40. Jah­res­tag der Sen­dung der US-Serie Holo­caust, durch die 1979 das deut­sche Publi­kum, und zwar das gesamt­deut­sche, angeb­lich erst­ma­lig eine Ahnung vom Aus­maß des den Juden zuge­füg­ten Leids bekom­men habe. Was für ein Armuts­zeug­nis! Nir­gends war ein Hin­weis dar­auf zu hören, dass im DDR-Fern­se­hen bereits sie­ben Jah­re [fünf Jah­re, St. Mü.] vor der Hol­ly­wood-Serie eine vier­tei­li­ge Fol­ge über eine jüdi­sche Fami­lie gesen­det wur­de, die nach Ausch­witz depor­tiert wird. Erst­ma­lig durf­te dafür ein deut­scher Film­stab im Lager Ausch­witz dre­hen. Die Authen­ti­zi­tät des Films rühr­te aber nicht nur vom schwer zu ver­kraf­ten­den Ori­gi­nal­schau­platz, son­dern von dem Wis­sen, dass es sich hier um die Ver­fil­mung des auto­bio­gra­phi­schen Romans des Juden Peter Edel han­delt, der all die­se Schre­cken in Ausch­witz selbst erlebt hat. Und nicht nur er, auch eini­ge der Haupt­dar­stel­ler hat­ten die fürch­ter­li­che Hür­de zu neh­men, an die Stät­te ihres grau­en­vol­len Trau­mas zurück­zu­keh­ren. In der Rol­le des Stu­ben­äl­tes­ten Tade­usz spiel­te August Kowal­c­zyk ein Stück sei­nes eige­nen Lebens. Er war zwei Jah­re Häft­ling in Ausch­witz gewe­sen und hat­te sich eigent­lich geschwo­ren, nie wie­der an die­sen Ort zurück­zu­keh­ren. Peter Sturm, im Film der Eli­as, stamm­te aus einer sehr from­men, armen jüdi­schen Fami­lie aus Wien. Er hat­te das Mar­ty­ri­um der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Dach­au, Buchen­wald und eben­falls Ausch­witz hin­ter sich. Und die Schau­spie­le­rin Mar­ga Legal, im Film Frau Mül­ler, bekam 1933 wegen ihrer jüdi­schen Vor­fah­ren ein Arbeits­ver­bot und konn­te sich nur durch eine soge­nann­te «pri­vi­le­gier­te Ehe» vor Ver­fol­gung retten.

Dahn, Danie­la (2019) Der Schnee von ges­tern ist die Sint­flut von morgen.

Der Film wur­de im West­ber­li­ner Tages­spie­gel posi­tiv bespro­chen (25.05.1972).

Zu die­ser Serie und dem Roman, der die Grund­la­ge bil­det, soll­te man noch fol­gen­des ins­be­son­de­re über die Ver­brei­tung wissen:

Die­ser Peter Edel, aus einer bür­ger­li­chen Ber­li­ner Fami­lie stam­mend, konn­te wegen der Ras­sen­ge­set­ze das Gym­na­si­um nicht been­den und nahm ille­gal Zei­chen­un­ter­richt bei Käthe Koll­witz. Ver­su­che, ins Exil zu gehen, miss­lan­gen, ein Groß­teil sei­ner Ver­wand­ten und sei­ne ers­te Frau wur­den in Ausch­witz umge­bracht. Er selbst über­lebt die­ses Ver­nich­tungs­la­ger nur, weil er als bil­den­der Künst­ler nach Sach­sen­hau­sen zum Geld­fäl­schen ver­legt wird. Noch im Lager beschließt er, Kom­mu­nist zu wer­den, als Kon­se­quenz des Erlit­te­nen. Nach der Befrei­ung ver­sucht er es in Öster­reich als Jour­na­list und Gra­phi­ker, spä­ter in West­ber­lin, ab 1947 in Ost­ber­lin. Häu­fig suchen ihn Fie­ber­an­fäl­le heim, die eini­ge Tage andau­ern. Im Fie­ber­wahn durch­lei­det er immer wie­der Ausch­witz. Danach kann er sich an nichts erin­nern.
Davon befreit hat er sich mit sei­nem auto­bio­gra­phi­schen Roman, der 1969 erschien. Bis 1989 erleb­te der Schatt­mann 12 Auf­la­gen, danach kei­ne mehr. Die vier­tei­li­ge Ver­fil­mung lief im Fern­se­hen alle drei, vier Jah­re erneut, auch nach­mit­tags im Schul­pro­gramm, sonst zur bes­ten Sen­de­zeit, mit Wie­der­ho­lung am nächs­ten Mor­gen, zuletzt 1988. Man kam an die­sem Film eigent­lich nicht vor­bei, wer ihn nicht gese­hen hat, woll­te ihn nicht sehen.

Dahn, Danie­la (2019) Der Schnee von ges­tern ist die Sint­flut von morgen.

Ich kann­te die­se Serie nicht, weil wir kei­nen Fern­se­her hatten.

Durch Dahn bin ich auch auf die Arbeit Elke Schie­ber auf­merk­sam gewor­den. Sie hat alle Fil­me auf­ge­lis­tet, die in der SBZ/DDR zwi­schen 1946 und 1990 zu den The­men Anti­se­mi­tis­mus vor 1933, jüdi­sches Leben, Juden­ver­fol­gung im Natio­nal­so­zia­lis­mus, jüdi­sche Ver­gan­gen­heit in der Gegen­wart, Paläs­ti­na-Isra­el-Naher Osten pro­du­ziert wur­den. 700 Sei­ten. 1000 Fil­me. Wie Dahn rich­tig fest­stellt, sagt das allein noch nichts über die Qua­li­tät der Fil­me aus, aber die schie­re Mas­se die­ser Doku­men­te reicht wohl dazu aus, die Falsch­dar­stel­lung, in der DDR sei Jüdi­sches nicht vor­ge­kom­men oder der Holo­caust sei igno­riert wor­den, zu widerlegen.

Theaterstücke

Der DEFA-Film Affä­re Blum, 1948, Erich Engel, hat­te zu DDR-Zei­ten über 4 Mio Zuschau­er. Es geht um einen anti­se­mi­ti­schen Jus­tiz­sa­kndal im Jah­re 1925. Zum Film gab es auch ein Thea­ter­stück und im Pro­gramm­heft von 1960/1961 gab es einen Bei­trag von Arnold Zweig: Beginn und ‚End­lö­sung‘. In: Pro­gramm­heft zu „Affä­re Blum“, Volks­büh­ne Ber­lin, Spiel­zeit 1960/61, S. 4–7.

Skulpturen und Denkmäler

Inge­borg Hun­zin­ger. 1970. Stür­zen­de, Sand­stein; für die Opfer des Todes­mar­sches des KZ Sach­sen­hau­sen vom April 1945 in Par­chim in einer Park­an­la­ge zwi­schen Goe­the­schu­le und Krankenhaus.

Der Bild­hau­er Will Lam­bert war mit einer jüdi­schen Frau ver­hei­ra­tet und floh 1933 aus Deutsch­land. Nach sei­ner Rück­kehr aus dem Exil und der Ver­ban­nung arbei­te­te er haupt­säch­lich an der Gestal­tung der Mahn- und Gedenk­stät­te Ravens­brück. Die Jüdin Olga Bena­rio war das Vor­bild für die Skulp­tur Tra­gen­de (1957). Die­se Skulp­tur wur­de 1959 in Ravens­brück aufgestellt.

Ori­gi­nal­bild­un­ter­schrift: Zen­tral­bild Jun­ge 15.4.65 DDR: Zum 20. Jah­res­tag der Befrei­ung des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Ravens­brück. An der Natio­na­len Mahn- und Gedenk­stät­te Ravens­brück geden­ken die Bür­ger der DDR und vie­le aus­län­di­sche Gäs­te am 30. April die­ses Jah­res der 92.000 Frau­en, Müt­ter und Kin­der, die an die­ser Stät­te einen qual­vol­len Tod fan­den. Hier ver­nei­gen wir uns vor den unsterb­li­chen Hel­den des anti­fa­schis­ti­schen Kamp­fes aus mehr als 20 Natio­nen, die für eine glück­li­che Zukunft aller Völ­ker ihr Leben gaben. 132.000 Frau­en und Kin­der ver­schlepp­ten die Hit­ler­fa­schis­ten nach Ravens­brück, 92.000 erleb­ten den Tag der Befrei­ung nicht mehr. CC-BY-SA Von Bun­des­ar­chiv, Bild 183-D0415-0016–006

13 Figu­ren, die eigent­lich mit der Tra­gen­den kom­bi­niert wer­den soll­ten (sie­he auch Brief­mar­ken), ste­hen seit 1985 zum Geden­ken an die jüdi­schen Opfer des Faschis­mus am Alten Jüdi­schen Fried­hof in Berlin-Mitte.

Denk­mal „Jüdi­sche Opfer des Faschis­mus“ von Will Lam­mert am Alten Jüdi­schen Fried­hof, Ber­lin-Mit­te, 1956/85 Wiki­me­dia, CC-BY-SA Jochen Teufel.

Briefmarken

Es gab eine Rei­he von Son­der­mar­ken, die in der Zeit von 1955–1964 her­aus­ge­ge­ben wur­den. Mit einem Auf­schlag konn­ten sich die Käu­fe­rIn­nen am Auf­bau und der Erhal­tung der Natio­na­len Mahn- und Gedenk­stät­ten Buchen­wald, Sach­sen­hau­sen und Ravens­brück betei­li­gen. Die gesam­ten Mar­ken inklu­si­ve Auf­la­gen­hö­he sind aus­führ­lich in Wiki­pe­dia doku­men­tiert: Auf­bau und Erhal­tung der Natio­na­len Mahn- und Gedenk­stät­ten. Laut dem Wiki­pe­di­ar­ti­kel zur Gedenk­stät­te Sach­sen­hau­sen sind allein 1955 2 Mil­lio­nen Mark auf die­se Wei­se gespen­det wor­den. Zum Ver­gleich: Das Durch­schnitts­ein­kom­men (brut­to) betrug damals 432 Mark (Sta­tis­ti­sches Jahr­buch der DDR, 1990, S. 52).

Brief­mar­ken­se­rie zu KZs
Die­se Brief­mar­ke (Auf­la­ge 1.500.000) zeigt die Plas­tik Tra­gen­de von Will Lam­mert. Die Tra­gen­de ist nach der Jüdin Olga Bena­rio model­liert. Die Figu­ren am Fuße der Säu­le wur­den spä­ter zum Geden­ken an die jüdi­schen Opfer des Faschis­mus am Alten Jüdi­schen Fried­hof in Ber­lin Mit­te aufgestellt.
Her­bert Baum-Brief­mar­ke, 1961, Auf­la­ge 2.000.000, 5 Pfen­nig wur­den für den Auf­bau von Gedenk­stät­ten gespendet

1963 wur­de eine Brief­mar­ke „Nie­mals wie­der Kris­tall­nacht“ in einer Auf­la­ge von 5 Mil­lio­nen Stück herausgegeben. 

Brief­mar­ke von 1963 zum 25 Jah­res­tag der Reichs­po­grom­nacht, Auf­la­ge 5 Mio
Brief­mar­ke 1988 zum 50 Jah­res­tag der Reichs­po­grom­nacht, Auf­la­ge 3,5 Mio

Straßen, Schulen, Plätze

Im Abschnitt über Schu­len wur­de schon erwähnt, dass es Schu­len gab, die nach Juden benannt waren, die in KZs ermor­det wur­den. Nach Her­bert Baum wur­de auch eine Stra­ße benannt: Eine Gedenk­ta­fel für die Getö­te­ten der Her­bert-Baum-Grup­pe und das Grab Baums befin­den sich auf dem Jüdi­schen Fried­hof Wei­ßen­see. Das Grab ist als Ehren­grab der Stadt Ber­lin gewid­met. Die auf das Haupt­por­tal des Fried­hofs füh­ren­de Stra­ße heißt seit 1951 Herbert-Baum-Straße.

Rudi Arndt (in Buchen­wald ermor­det) ist ein wei­te­rer Jude, nach dem vie­le Stra­ßen, Plät­ze, Thea­ter und Jugend­her­ber­gen benannt wur­den. Zu den Details sie­he Ehrun­gen in sei­nem Wiki­pe­dia­ein­trag. Wie auch Her­bert Baum war Rudi Arndt im kom­mu­nis­ti­schen Wider­stand, aber bei einer Aus­ein­an­der­set­zung mit sei­ner Per­son stieß man auch auf sei­ne Religionszugehörigkeit:

1938 wur­de er als „poli­ti­scher Jude“ ins KZ Buchen­wald depor­tiert. Nach sei­ner Ankunft war Arndt zunächst kur­ze Zeit in einem Bau­kom­man­do tätig. 1938/1939 arbei­te­te er als Kran­ken­pfle­ger für jüdi­sche Häft­lin­ge und war Block­äl­tes­ter im Block 22. Er setz­te sich sehr für die jüdi­schen Pati­en­ten ein, was der SS außer­or­dent­lich miss­fiel. Nach einer Denun­zia­ti­on durch kri­mi­nel­le Häft­lin­ge im Stein­bruch wur­de er von der SS vor­geb­lich „auf der Flucht“ erschossen. 

Wiki­pe­dia­ein­trag von Rudi Arndt, 03.03.2020

Nach Olga Bena­rio waren Schu­len, Kin­der­gär­ten und Stra­ßen benannt.

Ich selbst bin in der Georg-Ben­ja­min-Stra­ße auf­ge­wach­sen, einer Stra­ße, die 1974 in einem Neu­bau­ge­biet nach dem jüdi­schen Arzt und Wider­stands­kämp­fer Georg Ben­ja­min benannt wur­de. Zu wei­te­ren Ehrun­gen sie­he Wiki­pe­dia. In Wiki­pe­dia steht übri­gens auch, dass eine im Som­mer 1951 am Wed­din­ger Net­tel­beck­platz auf­ge­stell­te Gedenk­ta­fel für „Hin­ge­rich­te­te und ermor­de­te Wed­din­ger Anti­fa­schis­ten“, die Georg Ben­ja­mins Namen ent­hielt, von Unbe­kann­ten recht schnell ent­fernt wurde.

Weimartage der FDJ und Besuche im KZ Buchenwald

Die FDJ hat jedes Jahr in Wei­mar ein gro­ßes drei­tä­gi­ges Fes­ti­val ver­an­stal­tet. Thea­ter, Musik, Muse­en. Man konn­te für 21 Mark alles besu­chen, bekam Essen und konn­te in Wei­ma­rer Schu­len schla­fen. Auf Pro­be­büh­nen und den Haupt­büh­nen fan­den gleich­zei­tig meh­re­re Vor­stel­lun­gen pro Tag statt. (Merk­wür­dig, dass man dazu im Netz bis auf eine Sei­te des Natio­nal­thea­ters in Wei­mar und das Archiv des Neu­en Deutsch­lands nichts, aber auch gar nichts, fin­den kann.)

Arti­kel im ND Weim­ar­ta­ge der FDJ laden ein, 04.07.1988

Obli­ga­to­risch mit im Pro­gramm war immer ein Besuch im KZ Buchen­wald inklu­si­ve Film in der Gedenk­stät­te. Gezeigt wur­de Film­ma­te­ri­al, das die Ame­ri­ka­ner nach der Befrei­ung ange­fer­tigt haben. Lei­chen­ber­ge, fast ver­hun­ger­te KZ-Insas­sen und die Wei­ma­rer Bevöl­ke­rung, die auf Anord­nung der Ame­ri­ka­ner durch das Lager geführt wur­de, um zu sehen, was dort pas­siert war. Der Spie­gel hat ein Inter­view mit einer Frau, die als 17jährige Teil die­ses KZ-Besu­ches war. Ich war sie­ben Mal bei den Weim­ar­ta­gen. Ich sage immer, dass die Weim­ar­ta­ge das ein­zi­ge Gute sind, was die FDJ zustan­de gebracht hat. Sechs Mal war ich mit im KZ. Ein­mal habe ich geschwänzt. Man möge es mir ver­zei­hen. Ich kann­te da schon jedes Detail. Ich habe die Öfen gese­hen, die Schrumpf­köp­fe, die Lam­pen­schir­me aus Men­schen­haut.5

Schrumpf­köp­fe und Men­schen­haut mit Täto­wie­run­gen im KZ Buchenwald

Obligatorische Besuche in KZs

Mei­ne Mut­ter hat einen gro­ßen Teil ihrer Jugend in Jena ver­bracht. Im Rah­men ihrer Jugend­wei­he war sie Ende der 50er Jah­re auch im KZ Buchen­wald. Der Besuch eines Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers war für alle Schü­le­rin­nen und Schü­ler in der DDR obli­ga­to­risch. (Sie­he Wiki­pe­dia-Arti­kel zu Jugend­stun­den, die in Vor­be­rei­tung auf die Jugend­wei­he stattfanden.)

Die Ber­li­ner und Bran­den­bur­ger Schü­ler waren alle im KZ Sach­sen­hau­sen. Ich war dort wahr­schein­lich in der 8ten Klas­se. Es gab (und gibt) in Sach­sen­hau­sen Aus­stel­lungs­tei­le, die auf das Leid der jüdi­schen Bür­ger hin­ge­wie­sen haben: Die Bara­cke 38 war das „Muse­um des Wider­stands­kamp­fes und der Lei­den jüdi­scher Bür­ger“.

Ich war außer­dem noch in Lub­lin-Mai­danek (1984 bei einer Rei­se im Rah­men einer Schul­part­ner­schaft in Polen). Ich habe die Bara­cken mit den deut­schen Auf­schrif­ten gese­hen. Ich habe die Haa­re und die Schu­he gese­hen. Bara­cken voll damit.

Schu­he von Ermor­de­ten, Maj­da­nek, Polen, August 1944 (Quel­le)

Es gab übri­gens eine inter­es­san­te Umfra­ge des chris­mons, einer Bei­la­ge der ZEIT, die von der Evan­ge­li­schen Kir­che her­aus­ge­ge­ben wird. Nach die­ser Umfra­ge sagen 89 % der Ost­deut­schen, man sol­le unbe­dingt ein­mal im Leben eine KZ-Gedenk­stät­te ­besu­chen. Im Wes­ten sind das nur 77 %.

(Nach­trag vom 19.06.2024: Ines Gei­pel war selbst auch in Buchen­wald. 1974 zur Jugend­wei­he. So steht es in ihrem 2019 erschie­ne­nen Buch Umkämpf­te Zone.)

Zeitzeugen

Auch Zeit­zeu­gen spiel­ten im Osten eine Rol­le. Wie schon gesagt, wur­den sie z.B. in Schu­len ein­ge­la­den. Mei­ne Mut­ter berich­te­te mir von einem Kon­zert­abend 1959 im Volks­haus Jena, bei dem die Pia­nis­tin ihre ein­tä­to­wier­te KZ-Num­mer gezeigt hat. Sie hat nur über­lebt, weil sie für die Nazis gespielt hat.

Holocaust im West-Fernsehen

Die ame­ri­ka­ni­sche Mini-Serie Holo­caust wur­de im Jahr 1979 im West-Fern­se­hen gezeigt (da sich eini­ge Sen­de­an­stal­ten der ARD wei­ger­ten, die Serie im Haupt­pro­gramm zu zei­gen, kam sie dann in den drit­ten Pro­gram­men). Da bis auf die Sach­sen im Tal der Ahnungs­lo­sen alle DDR-Bür­ger West-Pro­gram­me emp­fan­gen konn­ten, dürf­ten eini­ge die Serie gese­hen haben. Nein, jetzt bit­te kei­nen Zusam­men­hang zwi­schen schlech­tem Fern­seh­emp­fang und Wahl von Nazi-Par­tei­en herstellen.

Der Begriff Holo­caust wur­de durch die­sen Film sowohl im Osten als auch im Wes­ten bekannt. Im Osten wur­de sonst von Völ­ker­mord gesprochen.

Wiederaufbau der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin

Am 10.11.1988 leg­te Erich Hon­ecker den Grund­stein für den Wie­der­auf­bau der Syn­ago­ge in der Ora­ni­en­bur­ger Stra­ße, die im Krieg zer­stört wor­den war.

In Wiki­pe­dia steht dazu:

Eine voll­stän­di­ge Wie­der­her­stel­lung in den Ori­gi­nal­zu­stand wur­de ver­wor­fen – sie hät­te als Ver­such miss­ver­stan­den wer­den kön­nen, die Lei­den der Ver­gan­gen­heit zu ver­drän­gen und womög­lich zu ver­ges­sen. Die Absicht war aber, mit dem Gebäu­de gleich­zei­tig ein Mahn­mal zur stän­di­gen Erin­ne­rung zu erhalten.

Jüdische Personen in einflussreichen/sichtbaren Positionen

Es gab in der DDR vie­le ein­fluss­rei­che und bekann­te jüdi­sche Fami­li­en. Es gab Minis­ter oder ansons­ten hoch­ste­hen­de Funktionäre. 

Stra­ßen­schild der Albert-Nor­den-Stra­ße 1984–1992 im Jüdi­schen Muse­um in Ber­lin in der Aus­stel­lung „Ein ande­res Land – Jüdisch in der DDR“. Der Aus­stel­lungs­text: „Die heu­ti­ge Ceci­li­en­stra­ße im Nord­os­ten Ber­lins war zwi­schen 1984–1992 nach Albert Nor­den (1904–1982) benannt. In der Nach­wen­de­zeit wur­de das Stra­ßen­schild mit rotem Kle­be­strei­fen als ungül­tig mar­kiert und spä­ter abmon­tiert. Nor­den stamm­te aus einer Rab­bi­ner­fa­mi­lie. Er war hoch­ran­gi­ges Mit­glied im Polit­bü­ro des Zen­tral­ko­mi­tees der SED.“, Ber­lin, 19.11.2023

Eini­ge Funk­tio­nä­re sind hier aufgezählt:

  • Alex­an­der Abusch (Par­tei­vor­stan­des der SED, Vize­prä­si­dent des Kul­tur­bun­des und haupt­amt­li­cher Mit­ar­bei­ter des Zen­tral­ko­mi­tees der SED, Kul­tur­mi­nis­ter, IM)
  • Hel­mut Aris (Prä­si­dent des Ver­ban­des der Jüdi­schen Gemein­den in der DDR, Mit­glied des Prä­si­di­ums des Natio­nal­ra­tes der Natio­na­len Front, Ver­dienst­me­dail­le der DDR, Ernst-Moritz-Arndt-Medail­le der Natio­na­len Front, Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den, Ehren­span­ge zum Vater­län­di­schen Ver­dienst­or­den, Deut­sche Frie­dens­me­dail­le, IM)
  • Ellen Brom­ba­cher (Sekre­tär für Kul­tur in der SED-Bezirks­lei­tung Ber­lin, sie hat­te damit wesent­li­chen Ein­fluss auf alle Kul­tur­ein­rich­tun­gen von Ost-Ber­lin, Ban­ner der Arbeit, Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den in Bron­ze, Dr.-Theodor-Neubauer-Medaille)
  • Her­mann Axen (Sekre­tär des ZK der SED, Mit­glied des Politbüros)
  • Albert Nor­den (Pro­fes­sor für neue­re Geschich­te, Sekre­tär des ZK der SED, Mit­glied des Polit­bü­ros, Autor Braun­buch)
  • Horst Brasch (stell­ver­tre­ten­der Minis­ter für Kultur)
  • Klaus Gysi (Minis­ter für Kul­tur, Staats­se­kre­tär für Kirchenfragen)
  • Mar­kus Wolf (Gene­ral­oberst, Lei­ter des Aus­lands­nach­rich­ten­diens­tes HVA bei der Stasi)
  • Fried­rich Karl Kaul (Anwalt in Ost und West, Pro­fes­sor und Natio­nal­preis­trä­ger, orga­ni­sier­te Zusam­men­ar­beit der RAF-Anwäl­te mit Stasi)
  • Hans Roden­berg (Roden­berg war 1952 bis 1956 Haupt­di­rek­tor des DEFA-Stu­di­os für Spiel­fil­me, 1956–1960 Dekan an der Deut­schen Hoch­schu­le für Film­kunst in Pots­dam-Babels­berg; ab 1958 Pro­fes­sor, stell­ver­tre­ten­der Kul­tur­mi­nis­ter (1960–1963), Mit­glied des Staats­rats, der Volks­kam­mer und des Zen­tral­ko­mi­tees der SED. 1969–1974 Vize­prä­si­dent der Aka­de­mie der Küns­te, Ber­lin (Ost))

Ich habe hier auch die Zusam­men­ar­beit mit der Sta­si als Inof­fi­zi­el­ler Mit­ar­bei­ter immer mit ange­ge­ben, weil das ja auch ein spe­zi­el­les Ver­trau­ens­ver­hält­nis impli­ziert. Mit­un­ter war die IM-Tätig­keit nur zeit­wei­se. Die Details fin­den sich in den Wikipedia-Einträgen. 

Journalisten:

  • Max Kaha­ne (Mit­grün­der des All­ge­mei­nen Deut­schen Nach­rich­ten­diens­tes (ADN), spä­ter Stell­ver­tre­ten­der Direk­tor, stell­ver­tre­ten­der Chef­re­dak­teur der Ber­li­ner Zei­tung, Chef­kom­men­ta­tor des Neu­en Deutschlands)

Ande­re bekann­te und ein­fluss­rei­che Intel­lek­tu­el­le waren:

Schriftsteller

Bücher jüdi­scher Autor*innen im Jüdi­schen Muse­um in Ber­lin in der Aus­stel­lung „Ein ande­res Land – Jüdisch in der DDR“. Das Buch „Die Jagd nach dem Stie­fel“ von Max Zim­me­ring war ein Kin­der­buch, das ich auch gele­sen habe. Die Troi­ka von Mar­kus Wolf kurz vor dem Ende der DDR auch. Ber­lin, 19.11.2023
  • Peter Edel (Schrift­stel­ler und Gra­fi­ker, Mit­glied des P.E.N.-Zentrums der DDR und 1978 Vor­stands­mit­glied des Deut­schen Schrift­stel­ler­ver­ban­des, Hein­rich-Hei­ne-Preis des Minis­te­ri­ums für Kul­tur der DDR, Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den in Gold, Natio­nal­preis der DDR, vom MfS beob­ach­tet, dann selbst IM)
  • 1979: Karl-Marx-Orden
  • Ste­phan Herm­lin (Schrift­stel­ler, Über­set­zer, Redak­teur Ulen­spie­gel, Auf­bau sowie Sinn und Form, enger Freund von Hon­ecker, Pro­test gegen Biermann-Ausbürgerung), 
  • Wie­land Herz­fel­de (Pro­fes­sor für Sozio­lo­gie der moder­nen Welt­li­te­ra­tur in Leip­zig, Prä­si­dent des P.E.N.-Zentrums der DDR)
  • Ste­fan Heym (Schrift­stel­ler, Nationalpreisträger), 
  • Anna Seg­hers (Schrift­stel­le­rin, Prä­si­den­tin des Schrift­stel­ler­ver­bands der DDR, Nationalpreisträgerin), 
  • Maxi Wan­der (Ihr Por­trät­band „Guten Mor­gen, du Schö­ne“ war eines der erfolg­reichs­ten Bücher in der DDR.)
  • Max Zim­me­ring (Von 1949 bis 1953 Lan­des­vor­sit­zen­der der Ver­ei­ni­gung der Ver­folg­ten des Nazi­re­gimes (VVN) Sach­sen, von 1950 bis zu des­sen Auf­lö­sung 1952 Abge­ord­ne­ter im Säch­si­schen Land­tag, anschlie­ßend bis 1958 Abge­ord­ne­ter im Bezirks­tag des Bezirks Dres­den. Von 1952 bis 1956 1. Vor­sit­zen­der des Deut­schen Schrift­stel­ler­ver­bands im Bezirk Dres­den, 1956 bis 1958 1. Sekre­tär des Deut­schen Schrift­stel­ler­ver­bands in Ber­lin. Von 1958 bis 1964 Direk­tor des Insti­tuts für Lite­ra­tur „Johan­nes R. Becher“ in Leip­zig. 1963 Kan­di­dat des ZK der SED. 1968 Kunst­preis der DDR, 1969 den Natio­nal­preis der DDR)
  • Arnold Zweig (Schrift­stel­ler, Natio­nal­preis­trä­ger, Prä­si­dent der Deut­schen Aka­de­mie der Küns­te der DDR, Prä­si­dent des Deut­schen P.E.N.-Zentrums Ost und West) 

Musiker

Plat­ten­co­ver von Stern-Mei­ßen, Pan­kow, City mit jeweils einem jüdi­schen Sän­ger im Jüdi­schen Muse­um in Ber­lin in der Aus­stel­lung „Ein ande­res Land – Jüdisch in der DDR“. Der Aus­stel­lungs­text: „Die Lead­sän­ger der drei erfolg­rei­chen Rock­bands teil­ten eine gemein­sa­me Erfah­rung: Sie wuch­sen als Kin­der jüdi­scher Remi­gran­ten in der DDR auf. Die Eltern von Mar­tin Schrei­er (gebo­ren 1948) gehör­ten in Bel­gi­en dem Wider­stand an, die Fami­li­en von André Herz­berg (gebo­ren 1955) und Toni Krahl (gebo­ren 1949) kehr­ten aus dem bri­ti­schen Exil zurück.“, Ber­lin, 19.11.2023
  • Wolf Bier­mann (Lie­der­ma­cher, leb­te ab 1953 in der DDR, soll­te für die Sta­si ange­wor­ben wer­den, war SED-Kan­di­dat, hat sich dann aber in den 60ern sys­tem­kri­tisch geäu­ßert und wur­de nicht in die SED auf­ge­nom­men und Ziel von Zer­set­zungs­maß­nah­men der Sta­si und letzt­end­lich aus­ge­bür­gert, Mar­got Hon­ecker hat­te als Kind meh­re­re Jah­re in Bier­manns Fami­lie gelebt.)
  • Paul Des­sau (Musi­ker, Pro­fes­sor in Des­sau, arbei­te­te mit Brecht am Ber­li­ner Ensem­ble, Vize­prä­si­dent Deut­schen Aka­de­mie der Küns­te in Ber­lin (Ost))
  • Hanns Eis­ler (Pro­fes­sur für Kom­po­si­ti­on in Berlin)
  • Lou­is Fürn­berg (Kom­po­nist, Text und Melo­die des Lieds der Par­tei, Ers­ter Bot­schafts­rat (Kul­tur­at­ta­ché) der tsche­cho­slo­wa­ki­schen Bot­schaft in Ost-Ber­lin, spä­ter Weimar)
  • Andrej Herm­lin (Musi­ker, am 7.10.1989 zum Kon­zert bei Fei­er mit Honecker)
  • André Herz­berg (Sän­ger und Tex­ter für die Rock­band Pankow), 
  • Lin Jal­da­ti (Sän­ge­rin, die jid­di­sche Volks­lie­der sang, Kunst­preis der DDR, Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den in Bron­ze, Sil­ber und Gold, Ehren­span­ge zum Vater­län­di­schen Ver­dienst­or­den in Gold)
  • Toni Krahl (Sän­ger von City, einer der erfolg­reichs­ten Band im Osten und auch inter­na­tio­nal erfolg­reich, saß nach 1968 im Gefäng­nis wegen Pro­tes­ten gegen den Ein­marsch der Rus­sen in Prag, seit 1975 bei City, ab 1988 Vor­sit­zen­der der Sek­ti­on Rock­mu­sik beim Komi­tee für Unterhaltungskunst)
  • Mar­tin Schrei­er (Sän­ger bei Stern Mei­ßen, spä­ter Stern-Com­bo Mei­ßen war der Sohn jüdi­scher Remi­gran­ten, die in Bel­gi­en im Wider­stand gewe­sen waren)

Maler/Fotografen/Grafiker

Gra­fik von Lea Grun­dig im Jüdi­schen Muse­um in Ber­lin in der Aus­stel­lung „Ein ande­res Land – Jüdisch in der DDR“. Der Aus­stel­lungs­text: „Die Künst­le­rin Lea Grun­dig (1906–1977) gelang­te 1941 auf der Flucht vor den Nazis in das bri­ti­sche Man­dats­ge­biet Paläs­ti­na. Dort arbei­te­te sie als Male­rin, Gra­fi­ke­rin und Kin­der­buch­il­lus­tra­to­rin. Auch poli­tisch war sie in der Emi­gra­ti­on aktiv und wid­me­te sich in ihren Arbei­ten dem Leid und der Ver­fol­gung der Juden in Euro­pa. 1949 kehr­te Lea Grun­dig in die DDR zurück, wo sie Pro­fes­so­rin für Gra­fik und spä­ter Prä­si­den­tin des Ver­ban­des Bil­den­der Künst­ler der DDR wur­de.“, Ber­lin, 19.11.2023
  • Sibyl­le Boden-Gerst­ner (Kos­tüm­bild­ne­rin, Male­rin und Mode­jour­na­lis­tin, Grün­de­rin der Mode­zeit­schrift Sibyl­le, Mut­ter von Danie­la Dahn)
  • Lea Grun­dig (Male­rin und Gra­fi­ke­rin, Pro­fes­sur für Gra­fik an der Hoch­schu­le für Bil­den­de Küns­te Dres­den, Pro­fes­sur für Gra­fik an der Hoch­schu­le für Bil­den­de Küns­te Dres­den, Mit­glied der Aka­de­mie der Küns­te der DDR, von 1964 bis 1970 Prä­si­den­tin des Ver­ban­des Bil­den­der Künst­ler., ab 1967 Mit­glied des Zen­tral­ko­mi­tees der SED)
  • John Heart­field (Hel­mut Herz­feld, Natio­nal­preis für Kunst und Lite­ra­tur, Professor)

Filmschaffende

  • Kon­rad Wolf (Regis­seur u.a. „Solo Suny“, Prä­si­dent der Aka­de­mie der Küns­te der DDR)

Wissenschaftler

  • Ernst Bloch (Phi­lo­soph Uni Leip­zig, Natio­nal­preis der DDR)
  • Vic­tor Klem­pe­rer (Pro­fes­sor Dres­den, Greifs­wald, Wit­ten­berg, HU Ber­lin: Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und Roma­nist, Ehren­dok­tor Dres­den, Natio­nal­preis­trä­ger, Abge­ord­ne­ter der Volks­kam­mer, zu LTI sie­he oben)
  • Jür­gen Kuc­zyn­ski (Öko­nom),
  • Inge­borg Rapo­port (Pro­fes­so­rin für Päd­ia­trie und Inha­be­rin des ers­ten euro­päi­schen Lehr­stuhls für Neo­na­to­lo­gie, Ver­dien­ter Arzt des Vol­kes, Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den in Bron­ze und Sil­ber, zusam­men mit ande­ren Ärz­ten den Natio­nal­preis der DDR III. Klas­se für Wis­sen­schaft und Tech­nik für ihren Bei­trag zur Sen­kung der Säug­lings­sterb­lich­keit in der DDR. Sie zähl­te über die Wis­sen­schafts­ge­mein­de in der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik hin­aus zu den renom­mier­tes­ten Kin­der­ärz­ten ihrer Zeit.)
  • Samu­el Mit­ja Rapo­port (Arzt und Bio­che­mi­ker, Direk­tor des Insti­tuts für Bio­lo­gi­sche und Phy­sio­lo­gi­sche Che­mie an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät in Ost-Ber­lin, Mit­glied der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR gewählt. Er erhielt meh­re­re Ehren­dok­to­ra­te. Zahl­rei­che staat­li­che Auszeichnungen)
  • Tom Rapo­port (Prof. am Zen­tral­in­sti­tut für Mole­ku­lar­bio­lo­gie der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR in Ber­lin-Buch bezie­hungs­wei­se an des­sen Nach­fol­ge­ein­rich­tung, dem Max-Del­brück-Cen­trum für Mole­ku­la­re Medi­zin. Seit Janu­ar 1995 ist er Pro­fes­sor für Zell­bio­lo­gie an der Medi­zi­ni­schen Fakul­tät der Har­vard Uni­ver­si­ty in Boston.)
  • die Rapo­ports (Medi­zi­ner, Naturwissenschaftler*innen),
  • Sus­an Rich­ter (Kin­der­ärz­tin im Prenz­lau­er Berg, Fami­lie Rapo­port, Ärz­tin mei­ner Kinder)
  • Alfred Kan­to­ro­wicz (Jurist, Schrift­stel­ler, Pro­fes­sor für neue deut­sche Lite­ra­tur an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Berlin), 
  • Hans May­er (Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler),
  • Wolf­gang Stei­nitz (Lin­gu­ist, Mit­glied des ZK der SED, Vize­prä­si­dent der Deut­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR)

Diskussion

Das war der Osten. Im Osten kam man als Schü­ler nicht am Holo­caust vor­bei. Ich war übri­gens auch bei Füh­run­gen in einer jüdi­schen Syn­ago­ge in Ber­lin. Ich wuss­te, dass es in Ost-Ber­lin noch zwei­hun­dert in der jüdi­schen Gemein­de orga­ni­sier­te Juden gab. Und ich wuss­te auch, war­um das so weni­ge waren.

Zum Ver­gleich möch­te ich von einem per­sön­li­chen Erleb­nis in einer süd­deut­schen Stadt Ende der 90er Jah­re berich­ten. Wir durf­ten bei Nach­barn von Bekann­ten über­nach­ten. Dort hing an der Wand ein Bild des Vaters in Uni­form. Waf­fen-SS. Mit Toten­kopf­sym­bol. Eine ganz nor­ma­le net­te Nach­ba­rin (Leh­re­rin), die ande­re in ihrer Woh­nung woh­nen lässt. Kein nor­ma­ler Mensch hät­te sich im Osten sei­nen Vater in SS-Uni­form ins Wohn­zim­mer gehängt. So etwas hät­te es im Osten nie gege­ben. Nie. [Inzwi­schen ist mir noch ein wei­te­rer sol­cher Fall bekannt.]

Kaha­ne schreibt wei­ter: „Dies [die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Holo­caust] hät­te zu Fra­gen nach Men­schen­rech­ten oder Min­der­hei­ten­schutz geführt, die nur bei Stra­fe des Unter­gangs der DDR zu beant­wor­ten gewe­sen wären.“ Das ist eini­ger­ma­ßen bizarr, denn damit rela­ti­viert sie den Holo­caust. In der DDR wäre nie­mand im Traum dar­auf gekom­men, so ein biss­chen Rede­frei­heit und Publi­ka­ti­ons­frei­heit, Rei­se­frei­heit mit der sys­te­ma­ti­schen Ermor­dung von Mil­lio­nen Men­schen zu ver­glei­chen. Sol­che Ein­schrän­kun­gen zu erklä­ren, war für die Staats­macht kein Pro­blem. Sie wur­den ja sogar auch damit erklärt, dass ver­hin­dert wer­den soll­te, dass sich so etwas wie­der­holt. Damit das ganz klar ist: Ich war 1989 auf der Stra­ße für Rede­frei­heit, Rei­se­frei­heit und nicht als Sta­si-Mit­ar­bei­ter. Ich ver­ste­he nicht, war­um Kaha­ne schreibt, was sie schreibt. Es ent­spricht jeden­falls nicht der Wahrheit.

Auch legt ihr Satz nahe, dass es in der DDR kei­ne Dis­kus­sio­nen über Men­schen­rech­te gege­ben hät­te. Es gab sehr wohl Men­schen, die sich mit Fra­gen der Men­schen­rech­te beschäf­tigt haben. Die Initia­ti­ve für Frie­den und Men­schen­rech­te wur­de 1986 offi­zi­ell gegrün­det. Vor­her gab es Grup­pen, meist unter dem Dach der Kir­che orga­ni­siert aber nicht not­wen­di­ger­wei­se reli­gi­ös, die den Ein­satz für Men­schen­rech­te als ihr Haupt­an­lie­gen sahen. Dafür brauch­te es kei­ne Holocaust-Diskussion.

„Lügenpresse“ bzw. Pfuschpresse

Der Wes­ten wun­dert sich, war­um der Osten sich anders benimmt, als man das viel­leicht erwar­ten wür­de. Ein Grund dafür sind sol­che Arti­kel in der Pres­se. Sieht man vom Neu­en Deutsch­land ab, gibt es kei­ne Ost-Pres­se mehr. Die West-Medi­en haben immer nur über den Osten geschrie­ben. Die Wes­sis haben über die Ossis gere­det, nicht mit ihnen. Das beginnt sich nun gera­de zu ändern. Es gibt tol­le Arti­kel von Anja Mai­er, Simo­ne Schmol­lack und Sabi­ne am Orde in der taz6, gute Arti­kel im Spie­gel, von Sabi­ne Renne­fanz in der Ber­li­ner Zei­tung und auch die Zeit ist aktiv um Ände­run­gen bemüht. Aber die oben zitier­ten Bei­trä­ge ent­hal­ten gro­be Unwahr­hei­ten und das macht die, über die gere­det wird, wütend. Es ver­letzt sie, sie wen­den sich ab und sind nicht mehr erreich­bar. Ein Vier­tel der Men­schen, die in die­sem Land leben. Unglaub­lich, oder?

Es ist ein Armuts­zeug­nis, dass die FAZ einen Arti­kel wie den von Gei­pel ein­fach so ver­öf­fent­licht. Wenn sie irgend­was über den Osten wüss­ten, wüss­ten sie eben auch, wie die Schul­bil­dung aus­sah, was die Men­schen gemacht und gedacht haben. Ich habe für das Schrei­ben die­ses Arti­kels einen Sonn­tag gebraucht. Die Quel­len sind im Netz ver­füg­bar. Es gibt sogar ein Buch, das sich mit dem Holo­caust im DDR-Unter­richt aus­ein­an­der­setzt. Wenn es der FAZ wich­tig wäre, wür­den sie Men­schen ein­stel­len, die das nöti­ge Wis­sen für ent­spre­chen­de Dis­kus­sio­nen haben. So ist es ein­fach nur unterirdisch.

Wenn Ost­deut­sche behaup­ten, der Holo­caust wäre in der DDR nicht the­ma­ti­siert wor­den, dann gibt es dafür zwei mög­li­che Grün­de: Sie ver­fol­gen politische/persönliche Zie­le und lügen bewusst oder sie haben die Behand­lung des Holo­caust ver­ges­sen. Ich weiß nicht, was schlim­mer ist.

Nachtrag

Auch Jan Fed­der­sen von der taz ver­sucht in sei­nem Inter­view mit Dani­el Rapo­port immer wie­der aus die­sem State­ments zum angeb­li­chen Anti­se­mi­tis­mus in der DDR her­aus­zu­kit­zeln, bekommt aber Ant­wor­ten, die dem hier Gesag­ten ent­spre­chen (aber bes­ser for­mu­liert sind). Jakob der Lüg­ner und der Bau der Syn­ago­ge wer­den erwähnt.

Literatur

Bodo von Borries

Dahn, Danie­la. 2019. Der Schnee von ges­tern ist die Sint­flut von heu­te: Die Ein­heit – eine Abrech­nung. Ham­burg: Rowohlt Verlag.

dpa. 2024. Buchen­wald: Klei­ner Lam­pen­schirm doch aus Men­schen­haut. Ber­li­ner Zei­tung. Ber­lin. 21.03.2024 (https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/buchenwald-kleiner-lampenschirm-doch-aus-menschenhaut-li.2198817)

Fed­der­sen, Jan. 2023. „Jude sein ist kein Beruf“ Inter­view mit Dani­el Rapo­port. taz 16.09.2023.

Gei­pel, Ines. 2019. Umkämpf­te Zone: Mein Bru­der, der Osten und der Hass. Stutt­gart: Klett-Cotta.

Krauß, Mat­thi­as. 2007. Völ­ker­mord statt Holo­caust. Jude und Juden­bild im Lite­ra­tur­un­ter­richt der DDR. Leip­zig: Ander­beck Verlag.

Krauß, Mat­thi­as. 2012. Völ­ker­mord statt Holo­caust. Jude und Juden­bild im Lite­ra­tur­un­ter­richt der DDR. Schkeu­ditz: Schkeu­dit­zer Buch­ver­lag. Über­ar­bei­te­te Ver­si­on von Krauß (2007).

Nimtz, Wal­ter. 1977. Geschich­te Lehr­buch für Klas­se 9. 8. Auf­la­ge. Ber­lin: Volk und Wis­sen Volks­ei­ge­ner Ver­lag. (https://okv-ev.de/wp-content/documents/DDR-Literatur/Lehrmaterial/Geschichte/Geschichte%20Klasse%209%20-%201977.pdf)

Reich, Anja. 2024. Bet­ti­na Göring: „Über die Nazi-Zeit habe ich erst aus DDR-Geschichts­bü­chern gelernt“. Ber­li­ner Zei­tung. Ber­lin. (https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/bettina-goering-ueber-die-nazi-zeit-habe-ich-erst-aus-ddr-geschichtsbuechern-gelernt-li.2206296)

Schie­ber, Elke. 2016. Tan­gen­ten. Holo­caust und jüdi­sches Leben im Spie­gel audio­vi­su­el­ler Medi­en der SBZ und der DDR 1946 bis 1990 – Eine Doku­men­ta­ti­on. Ber­lin. (https://www.defa-stiftung.de/defa/publikationen/buecher/tangenten/)

Danksagung

Ich habe nach der Erstel­lung einer Ent­wurfs­fas­sung die­ses Tex­tes mit vie­len Men­schen gespro­chen bzw. Mail aus­ge­tauscht und den Text dann ent­spre­chend ange­passt. Dafür dan­ke ich ihnen. Beson­de­rer Dank geht an XY für den Hin­weis, mal nach Plas­ti­ken und Brief­mar­ken zu suchen. Über die Wiki­pe­dia­sei­te zu den Brief­mar­ken bin ich dann auch auf die Plas­ti­ken von Will Lam­bert gesto­ßen. Ich dan­ke der Wil­li-Bre­del-Gesell­schaft für promp­te Aus­kunft zu Erschei­nungs­da­ten der Früh­lings­so­na­te.

Links

  • Jüdi­sche Gemein­den in Meck­len­burg-Vor­pom­mern: Vom Über­le­ben einer Min­der­heit, Deutsch­land­funk, 17.10.2015.
  • Johann Nie­mann, der Lager­kom­man­dant des Ver­nich­tungs­la­gers Sobi­bor, in dem 180.000 Juden ermor­det wur­den steht auf dem Krie­ger­denk­mal im ost­frie­si­schen Völ­len mit der Inschrift „Unse­ren gefal­le­nen Hel­den“. taz, 26.02.2020