In den letzten Jahren gibt es mit dem Erstarken der AfD wieder eine größere Debatte zu Nazis in der DDR. Es wird immer wieder die offizielle Geschichte des nazifreien Landes zitiert. Dass die DDR nazifrei war ist sicher nicht richtig, aber dass die Nazi-Dichte geringer war und dass sie eben nicht – im Unterschied zu Nazi-Größen wie Hans Globke und Hans Filbinger – in Führungspositionen waren ist und bleibt wahr. Im Wikipdeia-Artikel zu Rechtsextremismus in der DDR werden drei Personen exemplarisch genannt: Arno von Lenski, Franz Fühmann oder Erhard Mauersberger. Personen wie Arno von Lenski habe ich schon in einem früheren Post besprochen. Lenski war in Stalingrad in sowjetische Gefangenschaft geraten und hat dann die Seiten gewechselt:
Wikipedia-Eintrag von Lenski, abgerufen 22.06.2024
Franz Fühmann war ebenfalls auf einer Antifa-Schule und hat dann als Assistenzlehrer an Antifa-Schulen gelehrt. Wenn wir über Faschismus und Faschisten reden, dann nicht über solche, die zu Antifaschist*innen wurden, sondern solche, die unbehelligt ihr Leben führen konnten und es zum Teil noch führen. Solche wie Karl M.:
Interessant ist, dass das Institut seine Mitarbeiter veröffentlicht hat, so dass man jetzt untersuchen kann, was aus den Nazis und Antisemiten, die bis 1945 im Osten gelebt haben, geworden ist. Wikipedia hat eine lange Liste mit Namen, von denen viele verlinkt sind. Um zu zeigen, dass nach dem Krieg weniger Nazis im Osten waren, muss man nur die Ost-Nazis anschauen und untersuchen, wie viele von ihnen in den Westen gegangen sind, denn es wird wohl kaum ein West-Nazi sein Leben aufgegeben haben, um zu den Russen in den Osten zu ziehen. (Das setzt natürlich eine Gleichverteilung von Nazis in Ost und West direkt nach dem Krieg voraus.)
Die Wikipedia-Seite listet die Mitarbeiter in drei Rubriken:
Mitarbeiter in kirchenleitender Funktion
Geistliche bzw. Pfarrer
Hochschullehrer bzw. Akademiker
Im folgenden sortiere ich die Listen nach Sterbe- oder Wohnort nach 1945 in West, Ost, unbekannt/irrelevant. Irrelevant ist der Sterbeort zum Beispiel bei Personen, die in Kriegsgefangenschaft gestorben sind. Irrelevant sind auch diejenigen, die schon vor Kriegsende im Westen waren.
In kirchenleitender Funktion
In den Westen gegangen
Bischof Friedrich Peter, Berlin, gestorben 1960, Gronau, NRW „Obgleich Peter 1948 aus dem Pfarramt entlassen wurde, blieben ihm die geistlichen Rechte erhalten. So erhielt er Beschäftigungsaufträge in der Evangelischen Kirche von Westfalen, zunächst in Oeding und seit 1953 in Gronau (Westf.).“
Landesbischof Walther Schultz, Schwerin, gestorben 1957 in Schnackenburg, Niedersachsen „Nach Kriegsende wurde Schultz, zusammen mit Konsistorialpräsident Hermann Schmidt zur Nedden, am 25. Juni 1945 von der britischen Besatzungsmacht verhaftet und interniert. Zwei Tage später legte er sein Amt nieder. Im Jahre 1948 wurde er aus dem Dienst der Landeskirche Mecklenburgs entlassen. Im Jahre 1950 wurde Schultz mit der pfarramtlichen Hilfeleistung in der St.-Dionysius-Kirchengemeinde Fallingbostel in der Lüneburger Heide beauftragt. Als für diese Aufgabe dort eine neue Pfarrstelle errichtet wurde, musste Schultz die Gemeinde verlassen und übernahm in Schnackenburg an der Elbe ein Gemeindepfarramt, das er bis zu seinem Tode innehatte.“
Oberkonsistorialrat Theodor Ellwein, Berlin, gestorben 1962 München „Nach der Entlassung im Dezember 1949 wurde er 1950 von kirchlicher Seite in den Ruhestand versetzt. Im Jahre 1951 wurde er Religionslehrer am Gymnasium Pasing und Lehrbeauftragter an der Lehrerbildungsanstalt München-Pasing. Von 1954 bis 1961 war er Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle der Evangelischen Akademie Bad Boll bei Göppingen. 1955 war er Mitglied der Studienkommission für Lehrerbildung („Tutzinger Empfehlungen“) in der Evangelischen Akademie Tutzing. 1961 trat er in den Ruhestand.“
Oberkonsistorialrat Hans Hohlwein, Eisenach, gestorben 1996 in Solingen „Nach 1945 wirkte Hohlwein als theologischer Hilfsarbeiter in der Propstei Halberstadt, und von 1947 bis 1951 verwaltete er die Pfarrstelle Heudeber in der Kirchenprovinz Sachsen. Im Jahre 1951 erfolgte seine Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland.“
Kirchenrat Wilhelm Bauer, Eisenach, gestorben 1969 in Bayern „In dem von ihm 1935 herausgegebenen Buch „Feierstunden Deutscher Christen“ kamen neben Bibelzitaten auch Autoren wie Adolf Hitler zu Wort. Zugleich betätigte er sich als Schriftleiter der Zeitschrift „Deutsche Frömmigkeit“, in der die Positionen der Deutschen Christen vertreten wurden. In einer ihrer Ausgaben bekundete er: „Wir sind Nationalsozialisten. Der Nationalsozialismus bedeutet uns die Wiederaufrichtung einer wahrhaften Volksordnung auf dem Grunde der ewigen Gesetze unseres Blutes und unserer Heimaterde.“ Im Jahre 1939 erklärte er seine Mitarbeit am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. Zu Beginn der 1940er Jahre wurde er stellvertretender Studienleiter des Thüringer Predigerseminars. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus lebte Bauer in der Bundesrepublik Deutschland, publizierte dort weiter und starb in einem Ort des Freistaats Bayern.“
Landessuperintendent Friedrich Kentmann, Güstrow, gestorben 1953 in Hamburg „Nach dem Ende von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg 1945 wurde er seines Amtes als Landessuperintendent enthoben und vom pfarramtlichen Dienst suspendiert. Sein Nachfolger als Landessuperintendent wurde mit Wirkung vom 1. Oktober 1945 der Güstrower BK-Pastor Sibrand Siegert (1890–1954). 1950 erfolgte die Entlassung Kentmanns aus dem Dienst der mecklenburgischen Landeskirche.“
Superintendent Gerhard Spangenberg, Altenweddingen, gestorben 1975 in Dülmen, NRW „Bis zum Antritt der Pfarrstelle im westfälischen Dülmen, wo er bis zu seinem Tod lebte, arbeitete er als Verwalter einer Obstfirma und später als Krankenhausverwalter. Die Kirchenleitungen verlangten zur Wiederaufnahme in den Dienst zunächst die Wiederholung des Ordinationsgelübdes, ein Kolloquium und die zeitweilige Tätigkeit als Hilfsprediger, was er ablehnte. Dennoch stimmte 1955 die Kirchenleitung in Bielefeld seiner Wahl zum Pfarrer der Gemeinde in Dülmen zu, wo er nach seinem Ruhestand auch als Militärpfarrer wirkte.“
Im Osten geblieben
Reichsvikar Fritz Engelke, Schwerin, gestorben 1956 in Schwerin „Nach 1945 wirkte er als Pastor der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs in Schwerin. Ab 1950 vertrat er den im Gulag Workuta inhaftierten Aurel von Jüchen an der Kirche St. Nikolai (Schelfkirche) Schwerin.
Oberlandeskirchenrat Willy Kretzschmar, Dresden, gestorben 1962 in Dresden „Nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 erfolgte zunächst seine Entlassung aus dem aktiven Kirchendienst. 1946 stellte er den erfolgreichen Antrag auf Rehabilitierung, in dem er seine Mitarbeit im „Entjudungsinstitut“ in Eisenach extrem herunterspielte. In seinem Rehabiltierungsantrag an das sächsische Landeskirchenamt in Dresden stellte er sich selbst „als Verführten der NSDAP“ dar. Spätestens seit 1939 habe er sich „zu aktiven Gegner des NS-Regimes gewandelt“ und sich antinationalistisch und parteischädlich verhalten sowie Grundsätze der NSDAP bekämpft. 1959 ging Kretzschmar als kirchlicher Finanzverwalter der Landeskirche Sachsens in den Ruhestand.“
Oberlandeskirchenrat Heinrich Seck, Dresden, gestorben 1947 in Stadt Wehlen „In dieser Eigenschaft und als Mitglied der Deutschen Christen war er Mitarbeiter am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben und wurde deshalb nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 aus dem aktiven Kirchendienst entlassen. Er zog in die Sächsische Schweiz, wo er im Alter von 51 Jahren in Stadt Wehlen starb.“
Oberkirchenrat Friedrich Buschtöns, Berlin, gestorben 1962 in Berlin „1945 übernahm er die Aufsicht über die kirchlichen Vermögenswerte im Schloss Ilsenburg und wenig später über das kirchliche Flüchtlingslager in Stolberg. 1946 wurde Buschtöns in den Ruhestand versetzt. Er hat aber auch danach noch pfarramtliche Dienste geleistet, so etwa in Kleinmachnow. 1955 gehörte er zum Herausgeber- und Redaktionskreis der vom ZK der SED angeregten Zeitschrift Glaube und Gewissen: eine protestantische Monatsschrift.“
Kirchenrat Erhard Mauersberger, Eisenach, gestorben 1982 Leipzig, Chorleiter, Leiter Bach-Komitee, 1972 bei politischer Säuberung aus Chorleitung entfernt.
Unbekannt / irrelevant
Landesbischof Martin Sasse, Eisenach, gestorben 1942 an Schlaganfall
Kirchenregierungsrat Erwin Brauer, Eisenach, gestorben 1946 Buchenwald „Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus verlor er seine Ämter und wurde von den sowjetischen Militärbehörden im Speziallager Nr. 2 in Buchenwald interniert, wo er am 19. Dezember 1946 verstarb.“
Zwischenfazit: Von den Nazi-Christen mit kirchlicher Funktion im Osten sind 7 in den Westen gegangen und 5 im Osten geblieben. Das bedeutet erstens, dass die Mehrheit in den Westen gegangen ist und zweitens, dass es im Osten sieben Nazis weniger und im Westen sieben Nazis mehr gab als vor der Befreiung.
Geistliche bzw. Pfarrer
Die Liste der Geistlichen ist lang. Nur wenige sind in Wikipedia verlinkt. Ich liste hier nur die verlinkten auf.
In den Westen gegangen
Pfarrer Hermenau, Potsdam, gestorben 1981 Wiesbaden „Im Jahre 1939 erklärte er seine Mitarbeit am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. In zahlreichen Publikationen vertrat er seine Überzeugung von der Rolle der deutschen Frau im Reich Adolf Hitlers. […] 1972: Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland“ Zur Entnazifizierung und zum Grund für das Bundesverdienstkreuz steht nichts in Wikipedia.
Pfarrer Hosenthien, Magdeburg, gestorben 1972 in Braunschweig „1949 folgte Albert Hosenthien seinem Sohn und zog nach Fort Bliss in El Paso (Texas), kehrte jedoch, da er mit den dortigen Gegebenheiten nicht zurechtkam, 1954 wieder nach Deutschland zurück. Da die Region Magdeburg jetzt in der DDR lag, siedelte er sich in Braunschweig, im westlichen Teil Deutschlands an. Er arbeitete hier auch wieder als Pfarrer.“
Pfarrer Hunger, Eisenach, gestorben 1995 Münster, NRW „Nach 1945 orientierte er sich auf das Gebiet der Sexualerziehung, was ihm den Spitznamen „Sex-Hunger“ eintrug. Bis Ende der 1960er Jahre publizierte er seine christlich-konservative Sexualmoral im Gütersloher Verlagshaus. Er wurde auch Redaktionsleiter der Zeitschrift Der evangelische Religionslehrer an der Berufsschule, die vom Schriftenmissionsverlag Gladbeck herausgegeben wurde.“
Pfarrer Kersten-Thiele, Köthen, gestorben 1988 Göttingen, Niedersachsen „Nach 1945 wirkte Kersten-Thiele im Vorstand der Deutschen Ostasien-Mission und publizierte in deren Sinne mehrere Bücher. 1948 war er Pfarrer in Göttingen-Grone und 1954 in Düsseldorf. Von 1960 bis 1964 war er Religionslehrer am Rethel-Gymnasium (bzw. Jacobi-Gymnasium) Düsseldorf und zwischen 1968 und 1973 war er als Pastor in Sereetz tätig. Anschließend ging er in die Rheinische Landeskirche zurück.“
Pfarrer Kuhl, Berlin, gestorben 1959 Kassel „Spätere Wohnsitze waren Nordkirchen, wo er von 1949 bis 1956 Pfarrer war. Hier gründete er einen Kirchbauverein, um in Nordkirchen ein Gemeindezentrum schaffen zu können. Im Jahr 1956 wurde ihm von der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn die Ehrendoktorwürde verliehen. Nachdem Kuhl 1957 in den Ruhestand gegangen war, lebte er bis zu seinem Tod 1959 in Kassel und hinterließ eine Frau und zwei Kinder. In seinen letzten Lebensjahren hatte er einen Lehrauftrag an der Georg-August-Universität Göttingen. Gemeinsam mit Bo Reicke arbeitete er ab 1958 am Biblisch-historischen Handwörterbuch für den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Kuhl war von 1921 bis zu seinem Tod Mitglied der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft.“
Pfarrer Schmidt-Clausing, Potsdam-Babelsberg, gestorben 1984 in West-Berlin „Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete Schmidt-Clausing den Wiederaufbau der Gemeinde von 1947 bis 1962 als Pfarrer an der Berliner Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche. In der Kirchenruine wurde die einzige verbliebene Glocke wieder gangbar gemacht und bis in die 1950er Jahre zum Begrüßungsläuten für die Berliner Russlandheimkehrer benutzt. Im beginnenden Kalten Krieg setzte Schmidt-Clausing damit ein politisches Zeichen und machte seine Gemeinde bekannt – bis hin zur US-amerikanischen Wochenschau, die das Thema dankbar aufnahm. Fritz Schmidt-Clausing starb in einem West-Berliner Pflegeheim und wurde auf dem Friedhof Wilmersdorf beigesetzt.“
Hans-Joachim Thilo hat sich neuorientiert, so dass ich ihn hier extra aufzähle. Prinzipiell ist das bei den sechs oben genannten Personen natürlich auch denkbar, es steht aber ncihts dazuin Wikipedia.
Pastor Thilo, Pirna, gestorben 2003 in Lübeck „Thilos Erfahrungen im Kriegsdienst, seine Verwundung bei Kiew und seine Kriegsgefangenschaft, zunächst in Kanada, dann in England, führten ihn zu einem Umdenken und Neuanfang. Im Dezember 1947 kehrte er nach Deutschland zurück und erhielt eine Pfarrstelle der Kirchengemeinde am Lietzensee in Berlin-Witzleben. Gleichzeitig baute er hier die kirchliche Beratungsarbeit auf. Von 1956 bis 1961 wirkte er an der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Genf. Anschließend war er Referent an der Evangelischen Akademie Bad Boll, bis er 1966 zum Pastor der Marienkirche in Lübeck berufen wurde, wo er bis zu seiner Pensionierung wirkte. 1973 habilitierte er sich an der Universität Hamburg für das Fach Praktische Theologie. Er blieb Gemeindepastor, hielt jedoch regelmäßig Lehrveranstaltungen in Hamburg. 1979 wurde ihm der Titel Professor verliehen.“
Im Osten geblieben
Oberpfarrer Ungern von Sternberg, Ronneburg, gestorben 1949 in Gera „Noch im Januar 1945 gehörte er zu den Thüringer Pröpsten, die den DC-Kirchenpräsidenten Hugo Rönck dazu drängten, den Bischofstitel anzunehmen.[2] Aufgrund des Gesetzes zur Überprüfung der Pfarrerschaft und der Verwaltung der Thüringer evangelischen Kirche (Reinigungsgesetz) vom 12. Dezember 1945 wurde Ungern-Sternberg aus dem Pfarrdienst entlassen und die Dienstbezeichnung „Superintendent im Wartestand“ wurde ihm aberkannt. Er wurde aber zunächst kommissarisch als Pfarrer in Ronneburg weiterbeschäftigt, ab dem 1. Dezember 1947 wurde er dann wieder offiziell als Pfarrer in Niederpöllnitz eingesetzt.“
Pfarrer Delling, Leipzig, gestorben 1986 in Halle „Im Jahre 1945 geriet Delling in Dänemark in Kriegsgefangenschaft und wirkte bis 1947 als Seelsorger im Internierungslager Aarhus. Nach seiner Entlassung ging er nach Pommern und erhielt 1947 einen Lehrauftrag an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. 1948 habilitierte er sich hier mit der Schrift Gottesdienst im Neuen Testament (gedruckt 1952) für das Fach Neues Testament. Im Jahre 1950 wurde Delling als Professor mit Lehrauftrag an die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg berufen, 1952 bekam er den vollen Lehrauftrag, die Beförderung zum Professor mit Lehrstuhl für spätantike Religionsgeschichte erfolgte 1953. 1955 erhielt er durch Kurt Aland, dem Leiter der Kommission für spätantike Religionsgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, eine Stelle zur Reorganisation des Corpus Hellenisticum. 1955/56 übernahm Delling eine Gastprofessur an der Universität Leipzig, eine Berufung kam jedoch ebenso wenig zustande wie die von Teilen der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität in den 1960er Jahren gewünschte Versetzung nach Berlin. An der Universität Halle baute Delling das Institut für spätantike Religionsgeschichte auf, dem er seit 1963 als Direktor vorstand. Nach der IV. Hochschulreform wurde Delling 1969 zum ordentlichen Professor ernannt und 1970 emeritiert. Delling forschte vor allem zur Überlieferungsgeschichte des Neuen Testaments und zum antiken Judentum (Das Zeitverständnis des Neuen Testaments, 1940; Jüdische Lehre und Frömmigkeit in den paralipomena Jeremiae, 1967; gesammelte Aufsätze: Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum, 1950–1968, 1970; Studien zum Frühjudentum, 1971–1987, 2000). Außerdem gab er Bibliographien zur jüdisch-hellenistischen Forschung heraus und arbeitete am Corpus Hellenisticum Novi Testamenti mit. Die Universität Greifswald verlieh ihm 1964 die Ehrendoktorwürde. Delling verstarb am 18. Juni 1986, im Alter von 81 Jahren, in Halle.“
Pfarrer Ohland, Unkeroda (Thüringen), gestorben 1953 in Friedelshausen, Thüringen „Im Jahre 1946 verlor Ohland sein Amt, durfte aber seit 1948 in Behrungen als Pfarrvikar wieder amtieren, seit 1952 als Pfarrer in Friedelshausen.“
Pfarrer Joseph Roth, Diersheim, gestorben 1941 Tirol
Pastor Dungs, Weimar, gestorben 1947 durch Hinrichtung oder 1949 in Haft
Zwischenfazit: Von den Nazi-Pfarrern im Osten sind 7 in den Westen gegangen und 4 im Osten geblieben. Zählt man Hans-Joachim Thilo zu den irrelevanten Fällen, weil es bei ihm ein Umdenken und Neuanfang gab, bleiben 6 in den Westen gegangene, die zu den Nazis, die ohnehin aus dem Westen waren, dazugekommen sind und den Osten verlassen haben.
Hochschullehrer bzw. Akademiker
In den Westen gegangen
Johannes Hempel, Berlin, gestorben 1964 in Göttingen „Er übernahm die Herausgeberschaft der Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft. Im Jahre 1937 wurde er nach Berlin berufen und leitete das Institutum Judaicum zur Erforschung des Judentums „vom Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung aus“. Im Jahre 1939 erklärte Hempel seine Mitarbeit am Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben als Leiter der Arbeitsgruppe Altes Testament. Auf der Arbeitstagung im März 1941 referierte er über Die Aufgabe von Theologie und Kirche von der Front her gesehen. Während des Zweiten Weltkrieges fungierte er als Militärpfarrer. Das Kriegsende erlebte er 1945 in einem Lazarett an der Nordsee. Im Jahre 1947 wurde Hempel Pfarrverweser in Salzgitter-Lebenstedt, einem Ort im Gebiet der Braunschweigischen Landeskirche. Im Jahre 1955 wurde er Honorarprofessor in Göttingen und betrieb ab 1958 als Emeritus seine wissenschaftliche Arbeit weiter, besonders für die von ihm betreute Zeitschrift.“
Wolf Meyer-Erlach, Jena, gestorben 1982 in Idstein, Hessen „Im Jahre 1945 ging er aller Ämter verlustig, auch eine Wiedereinstellung in der bayerischen Landeskirche blieb ihm versagt. 1950 flüchtete Meyer-Erlach aus der DDR. Von 1951 bis 1963 wurde er Pfarrverwalter in Wallrabenstein und Wörsdorf bei Idstein im Taunus (Evangelische Kirche in Hessen und Nassau). Von ihm wurden historische Sujets wie das Stück „Anno 1634“ aufgeführt.“
Max Adolf Wagenführer, Jena, gestorben 2010 irgendwo im Westen „Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam er an die Lutherkirche nach Köln-Nippes und wurde zunächst in den Pfarrdienst der Rheinischen Kirche übernommen. 1949 wurde er wegen seiner fehlenden Ordination vorübergehend suspendiert und wechselte in den Schuldienst. 1953 kam er zurück in den Pfarrdienst, wurde ordiniert und erhielt eine Berufung an die neuerbaute Erlöserkirche in Weidenpesch. Von 1970 bis 1982 war er Pfarrer in Prien am Chiemsee.“
Im Osten geblieben
Richard Barth, Jena, gestorben nach 1946 „Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus verlor er sein Amt. Ab 1946 arbeitete er als Grundschullehrer in Jena.“
Paul Fiebig, Leipzig, gestorben 1949 in Kalbe Sachsen Anhalt
Reinhard Liebe, Freiberg (Sachsen), gestorben 1956 in Freiberg. Der Wikipedia-Eintrag lässt zu wünschen übrig.
Heinz Erich Eisenhuth, Jena, gestorben 1983 Pferdsdorf/Werra, Thüringen „Nachdem er 1945 aus dem Universitätsdienst entlassen worden war, wurde er 1946 zunächst kommissarisch, später im Hauptamt Pfarrer in Jena-Zwätzen. 1952 wurde er Superintendent in Eisenach. Anders als in der Forschungsliteratur bisweilen behauptet wird, übernahm er jedoch nie die Leitung der Evangelischen Akademie Thüringen. Er gehörte aber zeitweise der Synode an und erhielt mehrere Lehraufträge am Theologischen Seminar Leipzig. Nachdem er 1967 in den Wartestand getreten war, ging er 1969 in den Ruhestand.“
Wilhelm Knevels, Rostock, gestorben 1978 in West-Berlin „Im Jahre 1950 erhielt er einen Lehrauftrag an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Nach seiner Emeritierung lebte er in West-Berlin und wirkte dort weiter an der Freien Universität Berlin. Er ist auf dem Waldfriedhof Dahlem bestattet. Auf dem Grabstein steht unter den Lebensdaten: „Theologe des dritten Weges / = Selbstbesinnung des Glaubens / zwischen Fundamentalismus / und Existenzialtheologie / Unser Glaube ist der Sieg / der die Welt überwindet“.“ Knevels ist 1897 gebohren, die Emeritierung muss also gegen 1962 gewesen sein. Ich liste ihn hier unter Im Osten geblieben, weil er sein gesamtes Berufsleben im Osten verbracht hat.
Wilhelm Koepp, Greifswald, gestorben 1965 Kleinmachnow „1952 erhielt er den Lehrstuhl an der Universität Rostock. 1954 emeritiert, lehrte er noch bis zu seinem Tode an der Universität Rostock weiter.“
Johannes Leipoldt, Leipzig, gestorben 1965 in Leipzig „Nach 1945 war er Domherr des Hochstifts Meißen und erhielt eine Professur mit Lehrstuhl für Neutestamentliche Wissenschaft in Leipzig. Er wurde als ordentliches Mitglied in die Sächsische Akademie der Wissenschaften aufgenommen und 1954 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Silber und 1960 in Gold ausgezeichnet. […] Leipoldt war von 1953 bis 1963 als Vertreter der CDU Abgeordneter der Volkskammer.“
Herbert von Hintzenstern, Eisenach, gestorben 1996 in Weimar „Seit August 1945 war er in Lauscha, ab 1948 als Pfarrer. Dort trat er der DDR-CDU bei, sein Parteiaustritt erfolgte zum 1. Mai 1947. Im Jahre 1952 wurde er zum Landesjugendpfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen berufen. Seit 1956 leitete er die Evangelische Akademie Thüringen und die Pressestelle der Kirche. Gleichzeitig wurde er zum Chefredakteur der Kirchenzeitung Glaube und Heimat berufen. 1962 wurde er zum Kirchenrat ernannt. Von 1968 bis 1986 war er nebenamtlicher Leiter des Pfarrhausarchivs im Lutherhauses in Eisenach. 1981 ging er in den Ruhestand.“
Rudolf Meyer, Leipzig, gestorben 1991 in Jena, Thüringen „Im Jahre 1947 wurde er außerplanmäßiger Professor und 1948 […] Ordinarius für Altes Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Hier unterrichtete er Generationen von Theologiestudenten in Hebräisch, der Geschichte des Volkes Israel und der Theologie des Alten Testaments. Zusammen mit […] wurde ihm 1952 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin die Ehrendoktorwürde verliehen. Meyer war seit 1959 ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und seit 1978 korrespondierendes Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.“
Siegfried Morenz, Leipzig, gestorben 1970 Leipzig „Morenz wurde 1946 Dozent an der Universität Leipzig und habilitierte sich im selben Jahr bei Wilhelm Schubart mit einer Schrift zu Ägyptens Beitrag zur werdenden Kirche. Ab 1948 leitete Morenz, zunächst kommissarisch, das Ägyptologische Institut der Universität Leipzig. Im Februar 1952 wurde er Professor mit Lehrauftrag, im September des Jahres mit vollem Lehrauftrag und zwischen 1954 und 1961 schließlich als Lehrstuhlinhaber für Ägyptologie und hellenistische Religionsgeschichte. Zwischen 1952 und 1958 nahm Morenz zudem nebenamtlich die Leitung der Ägyptischen Abteilung der Staatlichen Museen zu Berlin in Ost-Berlin wahr. Zwischen 1961 und 1966 lehrte Morenz als Lehrstuhlinhaber an der Universität Basel, leitete jedoch im Nebenamt weiterhin das Leipziger Ägyptologische Institut. Danach kehrte er nach Leipzig zurück, wo er bis zu seinem Tod 1970 wieder den Lehrstuhl für Ägyptologie innehatte.“
Konrad Weiß, Berlin, gestorben 1979 in Rostock „1946 wurde Weiß außerordentlicher Professor für neutestamentliche Theologie an der Universität Rostock, 1948 wurde er dort auf eine ordentliche Professur berufen und 1972 emeritiert. Die Universität Kiel zeichnete Weiß 1961 mit der Ehrendoktorwürde aus.“
Unbekannt / irrelevant
Adolf Bartels, Weimar, gestorben März 1945 in Weimar
Die Auswertung der Lebensdaten der Hochschullehrer ist verblüffend. Nur drei sind in den Westen gegangen. 11 sind im Osten geblieben. Man müsste die Einzelfälle näher ansehen und erforschen, wie intensiv ihre Mitarbeit im Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben war und was davon zu Lebzeiten bekannt war. Teilweise hatten die Wissenschaftler Ehrendoktortitle von Universitäten in Ost und West.
Weitere Nazis aus dem Umfeld der Deutschen Christen / dem Institut
In den Westen gegangen
Hugo Rönck deutscher evangelischer Pfarrer und Bischof, gestorben 1990, bis 1976 Pastor in Eutin, Schleswig-Holstein. „Im Jahre 1945 nahm er „kurz vor dem Einmarsch der amerikan[ischen] Truppen“ den Titel Landesbischof an. Im April 1945 wurde er von den Vertretern der innerkirchlichen Opposition um Moritz Mitzenheim, Erich Hertzsch und Gerhard Kühn zum Amtsverzicht gedrängt und wenige Tage später von US-amerikanischen Truppen verhaftet. Im August 1945 entließ ihn die Thüringer Kirche aus dem kirchlichen Dienst. Später war er von 1947 bis 1976 Pastor in Eutin.“
Im Osten geblieben
Johannes Klotsche gestorben 1963, Stadt Wehlen, Pirna, Sachsen, „Der „fanatische Antisemit“ Klotsche unterzeichnete im April 1939 gemeinsam mit zehn anderen Landeskirchenleitern die Bekanntmachung über Gemeinschaftsarbeit von Landeskirchenleitern, deren erste Maßnahme in der Gründung des Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben bestand. Im Dezember 1941 wurden Christen jüdischer Herkunft aus der Landeskirche ausgeschlossen, womit das Sakrament der Taufe in Sachsen partiell außer Kraft gesetzt war. Bis 1942 gehörte er dem Verwaltungsrat des sog. Entjudungsinstituts an. Nach Kriegsende absolvierte er 1951/52 eine Ausbildung zum volksmissionarischen Dienst an der Predigerschule Paulinum in Ost-Berlin.“
Walter Grundmann gestorben 1976 in Eisenach „1930 wurde er Mitglied der NSDAP und 1933 aktives Mitglied der Deutschen Christen, deren im ganzen Deutschen Reich gültige Richtlinien er verfasste. 1939 wurde er zum akademischen Direktor des neu gegründeten Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben in Eisenach ernannt, das im Dienst des staatlichen Antisemitismus die „Entjudung“ der Bibel und der theologischen Ausbildung betrieb. Ungeachtet seiner NS-Vergangenheit erlangte Grundmann in der DDR als Theologe erhebliches Ansehen: 1954 erteilten ihm das Katechetische Oberseminar Naumburg (Saale) und das Theologische Seminar Leipzig Lehraufträge und er wurde Rektor des Eisenacher Katechetenseminars; seine ab 1959 erschienenen Evangelienkommentare waren Standardliteratur und werden bis heute (2022) zitiert. Er arbeitete für das Ministerium für Staatssicherheit, unter dem Decknamen GI Berg. […] In der DDR galt Grundmann bis zu seiner Emeritierung 1975 trotz seiner NS-Vergangenheit als angesehener theologischer Lehrer. 1974 verlieh die Kirchenleitung ihm nochmals den Titel eines „Kirchenrats“, um seine Arbeit anzuerkennen und um seine Pension zu erhöhen.“ Seine Wikipedia-Seite enthält eine ausführlichere Schilderung der Stasi-Tätigkeit.
Irrelevant
Friedrich Coch gestorben September 1945 in amerikanischer Gefangenschaft „Führer der Glaubensgemeinschaft Deutsche Christen in Sachsen und Herausgeber der Monatszeitschrift Christenkreuz und Hakenkreuz.“
Schlussfolgerung
7 + 6 + 3 der Personen, die in der NSDAP waren und sich öffentlich zum Antisemitismus bekannt hatten, sind vom Osten in den Westen gegangen. Dazu noch mindestens ein leitendes Mitglied der Deutschen Christen. Damit hat sich die Anzahl der Antisemiten und Nazis im Osten verringert und im Westen erhöht. Von einigen dieser Personen ist klar, dass sie wirklich harte Nazis und Rassisten waren. Andere waren eventuell weniger involviert, einige haben sich vielleicht gewandelt. Das geht aus Wikipedia nicht hervor.
Im Folgenden zeige ich zwei Tabellen. Sie basieren auf einem Forschungsprojekt, das neben vielen anderen Daten den religiösen Hintergrund aller Mitarbeiter*innen in der Staatsführung und Administration im Kaiserreich, der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus, in der BRD und der DDR erhoben hat. Dabei wurden immer, soweit zugänglich, die obersten drei Hierarchieebenen erfasst.
Strobel et. al. 2021. Datenbericht zur Politisch-Administrative Elite der DDR unter Willi Stoph I (1964–1973)
BRD
Tabelle 1 zeigt den Anteil der Juden in den Eliten von 1949 bis 1998, Tabelle 2 den der Juden in der DDR von 1949 bis 1989. Wie man sehen kann, ist der Anteil der Juden in der BRD 0. Kein einziger war dort an Regierungen beteiligt. In der ersten Spalte sind die Minister zu sehen, in der zweiten die Verwaltung.
Politiker*innen
Beamt*innen
Konrad Adenauer 1949–1963
0/51
0/283
Ludwig Erhard (1963–1966)
0/28
0/186
Georg Kiesinger (1966–1969)
0/32
0/208
Willy Brandt (1969–1974)
0/52
0/251
Helmut Schmidt (1974–1982)
0/64
0/279
Helmut Kohl (1982 – 1998)
0/133
0/480
DDR
In der DDR gab es neun, dann acht, dann einen. Eventuell hat es noch weitere gegeben, aber die Daten, die in Kassel ausgewertet werden konnten, waren im Gegensatz zu denen, die für die BRD vorlagen, nicht vollständig.
In der ersten drei Spalten findet man Politiker*innen, in den zweiten drei Spalten das Verwaltungspersonal. In der ersten Spalte findet man jeweils die absoluten Zahlen. Danach kommt eine Angabe in Prozent bezogen auf die gesamte Gruppe. Die jeweils dritte Spalte gibt den Prozentwert in Bezug auf den Rücklauf. D.h. wenn die Religion nicht bekannt war, wurde die betreffende Person nicht mitgezählt.
Prozent
Gültige
Prozent
Gültige
Otto Grotewohl (1949–1964)
9/334
2,7%
11,1%
1/9
11,1%
100%
Willi Stoph I (1964–1973)
8/379
2,1%
16,3%
1/20
5,0%
33,3%
Horst Sindermann (1973–1976)
1/291
0,3%
3,4%
0/6
Willi Stoph II (1976–1989)
0/395
0/11
Die Kassler Untersuchung listet die jeweiligen Mitglieder der Administration namentlich auf. Man kann die Listen also durchgehen und nach Personen in Wikipedia suchen. Bisher habe ich folgende Juden gefunden:
Bei den Juden, die ich in den Kassler Listen finden konnte, habe ich nachgesehen, warum sie nach 1976 nicht mehr in den Regierungen geführt werden. Wie man den folgenden Zitaten aus Wikipedia entnehmen kann, lag das nicht daran, dass sie irgendwie in Ungnade gefallen wären. Auch ist zu berücksichtigen, dass Verfolgte des Naziregimes bereits mit 60 Jahren in Rente gehen konnten (Goschler, 1993: 107). (Frauen mit 55)
Über Herbert Grünstein steht folgendes in Wikipedia:
Im Januar 1951 wurde er als Nachfolger des abgesetzten Generalinspekteurs Hans Klein Leiter dieser Abteilung, die 1952 in Politische Verwaltung umbenannt wurde. Von September 1955 bis 1957 war er Stellvertreter und vom Februar 1957 bis Oktober 1973. Stellvertreter des Ministers des Innern und gleichzeitig Staatssekretär im MdI. Im Juli 1957 wurde er vom Chefinspekteur zum Generalmajor umattestiert und am 29. Juni 1962 auf Beschluss des Ministerrates der DDR zum Generalleutnant befördert. Von 1974 bis 1984 war er stellvertretender Generalsekretär bzw. Sekretär für internationale Beziehungen der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF), von 1976 bis 1989 Vorsitzender des Bezirkskomitees Berlin der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR und gleichzeitig Mitglied der SED-Bezirksleitung Berlin. Er war 20 Jahre lang von 1953 bis 1973 neben Erich Mielke zweiter Vorsitzender der Zentralen Leitung der Sportvereinigung Dynamo. Grünstein war Mitglied des Vorstandes der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. Seine jüdische Identität hielt er – auch vor seiner Tochter Eva Grünstein-Neumann – lange verborgen.
Leider weiß man nicht wie lange „lange“ war. Sicher kann man Grünstein dann aber nicht als Beweis für Antisemitismus oder das Gegenteil in der DDR heranziehen.
Über Hertzfeldt steht folgendes in Wikipedia:
Hertzfeldt gehörte zu den wenigen Juden, die in Berlin die NS-Herrschaft in der Illegalität überlebten. Nach Kriegsende 1945 war er im Jugendnoteinsatz als Zimmermann tätig. Hertzfeld war Gründungsmitglied der Antifa-Jugend und der Freien Deutschen Jugend. 1945 trat er der KPD bei und Hertzfeldt war der jüngste Delegierte auf dem Vereinigungsparteitag von KPD und SPD zur SED. Von 1947 bis 1949 war er Journalist beim Berliner Rundfunk und anschließend bis 1962 als Mitarbeiter in der Redaktion der theoretischen Zeitschrift des ZK der SED „Einheit“ und spezialisierte sich auf Außenpolitik. Zwischenzeitlich absolvierte er von 1954 bis 1957 ein Studium an der Parteihochschule beim ZK der KPdSU in Moskau mit Abschluss als Diplom-Gesellschaftswissenschaftler. 1962 trat er in den diplomatischen Dienst der DDR. Von 1962 bis 1965 war Hertzfeldt Generalkonsul der DDR in Jakarta. Von 1966 bis 1969 war er als einer der Stellvertreter des Außenministers tätig und vertrat die DDR anschließend von März 1969 bis 1973 als Botschafter in Peking. Der Antritt Herzfeldts fiel in die Zeit der militärischen Auseinandersetzungen der VR China mit der UdSSR am Ussuri. Von 1973 bis 1983 war er Chefredakteur der Zeitschrift „Deutsche Außenpolitik“, des Organs des DDR-Außenministeriums.
Über Hans Rodenberg kann man lesen:
Als er 1948 in die Sowjetische Besatzungszone zurückkehrte, konnte Rodenberg seine künstlerische Entwicklung fortsetzen. Er gründete das Theater der Freundschaft in Berlin-Lichtenberg und wurde dessen erster Intendant. Er wurde 1952 auch Ordentliches Mitglied der Akademie der Künste, Berlin (Ost), Sektion Darstellende Kunst und blieb es bis zu seinem Tod.
1949 nahm er als Sonderkorrespondent des Neuen Deutschland am Prozess gegen Trajtscho Kostow und seine Gruppe in Sofia teil.
Rodenberg war 1952 bis 1956 Hauptdirektor des DEFA-Studios für Spielfilme. Zwischen 1956 und 1960 war Rodenberg Dekan an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg; 1958 erhielt er seine Ernennung zum Professor.
Außerdem betätigte er sich kulturpolitisch als stellvertretender Kulturminister (1960–1963), Mitglied des Staatsrats, der Volkskammer und des Zentralkomitees der SED.
Von 1969 bis 1974 war Rodenberg Vizepräsident der Akademie der Künste, Berlin (Ost).
Quellen
Goschler, Constantin. 1993. Paternalismus und Verweigerung — Die DDR und die Wiedergutmachung für jüdische Verfolgte des Nationalsozialismus. In Benz, Wolfgang (ed.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Band 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021. Die Politisch-Administrative Elite der BRD unter Helmut Kohl (1982–1998). Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102193307)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021a. Datenbericht zur Politisch-Administrativen Elite der DDR unter Horst Sindermann (1973–1976). Zwischenbericht der Datenerhebung zur DDR im Rahmen des Forschungsprojektes „Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen“. Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://www.uni-kassel.de/fb07/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3021&token=2c6fae1adfcbb1c4762fd67174cd664979d7f4f8)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021b. Datenbericht zur Politisch-Administrativen Elite der DDR unter Otto Grotewohl (1949–1964). Zwischenbericht der Datenerhebung zur DDR im Rahmen des Forschungsprojektes „Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen“. Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://www.uni-kassel.de/fb07/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3023&token=8eb0f51761c4749523f5803ed4e6c6c62bd5de04)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021c. Datenbericht zur Politisch-Administrativen Elite der DDR unter Willi Stoph I (1964–1973). Zwischenbericht der Datenerhebung zur DDR im Rahmen des Forschungsprojektes „Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen“. Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://www.uni-kassel.de/fb07/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3022&token=f349d9887a6c7d9185e7fb9c0a54456aff6f27f6)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021d. Datenbericht zur Politisch-Administrativen Elite der DDR unter Willi Stoph II (1976–1989). Zwischenbericht der Datenerhebung zur DDR im Rahmen des Forschungsprojektes „Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen“. Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://www.uni-kassel.de/fb07/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3377&token=69d43af16bfd665bb2c0b29358fc169623c83639)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021e. Die Politisch-Administrative Elite der BRD unter Helmut Schmidt (1974–1982). Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102193306)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021f. Die Politisch-Administrative Elite der BRD unter Konrad Adenauer (1949–1963). Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102183292)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021g. Die Politisch-Administrative Elite der BRD unter Kurt Georg Kiesinger (1966–1969). Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102193304)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021h. Die Politisch-Administrative Elite der BRD unter Ludwig Erhard (1963–1966). Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102183293)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021i. Die Politisch-Administrative Elite der BRD unter Willy Brandt (1969–1974). Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102193305)
Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 271
Die Besprechung dieses einen Satzes ist viel zu lang geraten, so dass ich beschlossen habe, sie in einen extra Blog-Post auszulagern. Das ist dieser hier.
Ad hominem: Wer spricht?
Ich habe mich gefragt, wo hat Anne Rabe das nur herhat. Quellen hat sie keine angegeben. Da steht nur dieser eine Satz. Na, vielleicht von Ines Geipel. Dass sie mit Ines Geipel befreundet war/ist habe ich aus einem Artikel in der NZZ über ein angebliches Plagiat von Rabe erfahren (siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Dass Anetta Kahane und Ines Geipel gelogen haben (oder extrem unwissend sind), wenn sie behaupten, der Holocaust sei im Osten nicht vorgekommen, habe ich schon in Der Ossi und der Holocaust besprochen. Zum (fast) nicht vorhandenen Antisemitismus in der DDR hat die Jüdin Daniela Dahn viel geschrieben. Manches ist auch im Holocaust-Post erwähnt. Andere Sachen bespreche ich im Post über die Ausstellung über jüdisches Leben in der DDR, die vom jüdischen Museum organisiert wurde.
Ich habe diverse Interviews mit Anne Rabe gelesen und in einem Interview von Cornelia Geißler von der Berliner Zeitung steht:
Auch der Historiker Patrice G. Poutrus, der eher Oschmanns Generation angehört, hat beobachtet, dass Rechte und Rechtsextreme im Osten auf ein festes nationalistisches Weltbild trafen.
Ich bin ja immer bereit, Neues zu lernen und dachte mir: „Gut, mal gucken, was der Historiker Poutrus herausgefunden hat.“ Als erstes: Kurzer Chek: Er ist aus dem Osten. Also gut, mal gucken. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung habe ich einen Aufsatz von ihm gefunden, den er gemeinsam mit Jan C. Behrends und Dennis Kuck verfasst hat: Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern.
Anschließend arbeitete er als hauptamtlicher FDJ-Funktionär erst im VEB Werk für Fernsehelektronik und dann in der FDJ-Bezirksleitung Berlin. 1988 legte er sein Abitur an der Abendschule der Volkshochschule Berlin-Treptow ab. 1989 wurde er zum Fernstudium der Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin zugelassen.
Nun ja, nun ja. Ein FDJ-Sekretär, der sich für ein Geschichtsstudium beworben hat. In der DDR. Fächer wie Geschichte und Philosophie studierten in der DDR nur die rötesten Socken. Für mich fällt Poutrus damit in eine Gruppe mit Geipel (Vater IM für terroristische Anschläge auf BRD-Gebiet), Kahane (Vater ND-Chefredakteur, sie selbst IM, die aktiv jüdische Freunde verraten hat, siehe Wikipediaeintrag) und Rabe (Funktionärskind): ehemalige rote Socken bzw. Funktionärskinder, die auf die andere Seite vom Pferd gefallen sind. Der Punkt ist: Als belasteter Mensch darf man auf keinen Fall irgendetwas Gutes an dem finden, was man hinter sich gelassen hat, denn andere könnten ja dann denken, man sei immer noch „so einer“.
Rote Vergangenheit allein bedeutet nichts. Menschen können sich ändern. Ad hominem-Argumente sind in der normalen Wissenschaft unzulässig. Aber irgendwie scheint mir hier doch ein Muster vorzuliegen und es geht bei gesellschaftlich relevanten Aussagen eben doch darum, wer spricht. Die echten Argumente zu Poutrus kommen in den nun folgenden Abschnitten. Die gegen Kahane und Geipel habe ich bereits in Holocaust-Post vorgebracht. Die gegen Rabe in den beiden zu Beginn zitierten Blog-Posts und auch vermischt mit dem, was jetzt kommt.
Jugendliche Rechtsextremisten in Jugendtreffs
Ich gehe den Text von Poutrus, Behrends & Kuck einfach mal der Reihe nach durch. Die Autoren schreiben:
Trotz Vereinheitlichungstendenzen und internationaler Vernetzung in der rechten und Skinhead-Szene sind deutliche Unterschiede zwischen der Situation in Ost- und Westdeutschland zu beobachten. Kennzeichnend ist nicht nur die ’starke Dominanz jugendlicher Rechtsextremisten’ in den Jugendtreffs verschiedener ostdeutscher Brennpunkte, sondern die inzwischen erreichte voraussetzungslose Gewaltbereitschaft.
Hierzu möchte ich der geneigten Leser*in folgendes Video ans Herz legen:
Der Beitrag zeigt einen Jugendclub in Cottbus, in dem sich Rechtsradikale treffen. Sie werden dort vom CDU-Innenminister Jörg Schönbohm besucht, der die Jugendlichen prima findet (12:30). Die Familie Schönbohm floh 1945 in den Westen. Schönbohm war Generalleutnant in der Bundeswehr und Landesvorsitzender der CDU Brandenburg. Auch sieht man im Video, dass die Nazi-Partei Deutsche Alternative, die in Brandenburg aktiv war, von Menschen aus dem Westen aufgebaut wurde (11:25). Rabe schreibt dazu auch an einigen Stellen etwas und stellt den Einfluss von West-Nazis und Westpolitikern in Frage. Ihre Aussagen im Buch zum Beispiel bzgl. Lichtenhagen sind einfach falsch. Zu dieser Diskussion siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück.
Nationalstolz
Die Autoren argumentieren, dass die DDR einen Nationalstolz zu etablieren versucht habe, der dann später in den jetzt zu beobachten Nationalismus umgeschlagen sei. Im Folgenden möchte ich einige Bereiche untersuchen, auf die man hätte stolz sein können oder sollen.
Sport
Die Staatsführung wollte, dass wir stolz auf unser Land sind. Verständlich. Sie wollte, dass wir gern dort leben und nicht bei der erstbesten Gelegenheit abhauen. Aber hat das irgendwie geklappt? Ich bin ja fast noch nachträglich stolz auf die DDR geworden, als ich gestern gesehen habe, wie gigantisch die Last war, die die Generation meiner Eltern und Großeltern gestemmt hat: Reparationsleistungen und Wiederaufbau (siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Aber zu DDR-Zeiten war ich nicht stolz auf die DDR und kannte außer anderthalb Stasi-Kindern wahrscheinlich auch niemanden, der stolz war. Die DDR hat es versucht. Mit Sport. Katarina Witt war super. Ich habe sie als Kind beim Schaulaufen gesehen. Im Sport- und Erholungszentrum im Friedrichshain. Beim Kinderschaulaufen. Sie war ein Schlumpf. Wahrscheinlich so 14 Jahre alt. Später hing in jedem Klassenraum ein Bild von ihr. Im FDJ-Hemd. Sie war Mitglied der Volkskammer. Sie kannte Bryan Adams und hatte dafür gesorgt, dass er zu einem Konzert nach Berlin kam.
Sie ließ es sich nicht nehmen, ihn anzukündigen. Vor 65.000 Menschen. Sie haben sie ausgebuht.1 Die Gold-Käthe hat es nicht verstanden. Wo kam nur diese Abneigung her? Sie hatte doch alles gewonnen, was man gewinnen konnte? Für die FDJ, für Erich Honecker, für ihr Land. Wir mochten sie nicht.
Nach der Wende hat sie das Land verlassen. Wie man dem folgenden Video entnehmen kann, hat sie heute noch nicht verstanden, warum wir sie nicht mochten.
https://www.youtube.com/watch?v=wThl0N5fybk
Sandow hat sogar ein Lied über die Konzerte damals (mit Bruce Springsteen) und über unseren Stolz auf Katharina Witt geschrieben:
Wir bauen auf und tapeziern nicht mit Wir sind sehr stolz auf Katharina Witt Katharina was born Born in the GDR.
Sandow: Born in the GDR. 1989
Betriebe
Meine Mutter hat Betriebsbesichtigungen organisiert. (Für die, die es nicht erlebt haben: Ein Großteil des kulturellen Lebens fand in der DDR auch über die Betriebe statt. Musik, Ausflüge usw. Freigeister fanden das doof. Diese klebrige Enge. Aber das war alles weg, als nach der Wende die Arbeitslosigkeit kam. Persönliche Bindungen weg, Arbeit weg, Kultur weg. Es blieb nur ein Trümmerhaufen.) Jedenfalls habe ich eine Lichtleiterfabrik, eine Fabrik von Sternradio und ein Kugellagerwerk besichtigt. Ich dachte, dass eine Lichtleiterfabrik etwas Hochmodernes sein müsste. Es war eine kleine Klitsche mit Maschinen aus den 70er Jahren. Die Kugellagerfabrik funktionierte. Ich fand es lustig, dass die fertigen Kugellagerrollen auf Schienen durch die Halle rollten. Die Fertigungsanlage für Sternradio wurde aus Schweden importiert. Cooles Zeug. Nestbauweise. Wir konnten sehen, wie die Schaltkreise auf die Platinen kamen usw. Die Taktstraße stand in einem alten Fabrikgebäude. Die Sternrecorder – muss wohl der SKR 700 gewesen sein – wurden ganz oben produziert. Wenn sie fertig waren schwebten sie am Förderband ins Treppenhaus, wo sie dann ins Erdgeschoss hinabgelassen werden sollten. Das Abbremsen der Recorder im Treppenhaus funktionierte nicht, so dass eine große Anzahl der Recorder sechs Stockwerke in die Tiefe stürzte. 1540 Mark einfach futsch. Pfusch. Sollte ich darauf stolz sein?
Ich bin in Buch aufgewachsen. In den Neubauten. Es gab die alten Neubauten, die Neubauten und die neuen Neubauten. Ich konnte dabei zusehen, wie Teile der Neubauten und der neuen Neubauten entstanden. Die Baustellen standen oft Monate lang still, weil Material fehlte. Die Bauarbeiter saßen in den Bauwagen davor. Sollte ich darauf stolz sein? Es gab Wohnungsnot. Später im Westen habe ich mich darüber gewundert, wie schnell man Häuser bauen konnte.
1987 war ich für drei Wochen im Braunkohlewerk Espenhain. Die Schwelerei war zugefroren und das Werk hatte die Armee um Hilfe gebeten. Die Kompanie vor uns hatte die Schwelerei vom Eis befreit, so dass die Förderbänder wieder liefen. Wir waren nur noch zur Sicherheit dort im Einsatz. Ich erinnere mich genau daran, wie wir hingefahren sind. Wir saßen auf einem Laster, ich war eingeschlafen. Irgendwann bin ich aufgewacht, hab einen kurzen Blick nach draußen geworfen und wusste: Wir sind da. Der Schnee war schwarz. Ich habe in der Nachtschicht gearbeitet und meine Aufgabe war es, ab und zu an ein Rohr einer Filteranlage zu klopfen, damit die Asche in einen mit Wasser gespülten Kanal fiel, denn die Klappe dafür verklemmte sich ab und zu. Es gab Förderbänder über die Kohlebriketts aus den Kohlepressen in Bahnwaggons transportiert wurde. Die Briketts kamen aus der Presse über Doppel-T-Träger aus Stahl. Die Träger waren so abgenutzt, dass in der Mitte das Metall weg war. Deshalb verklemmte sich ab und zu ein Brikett, die umliegenden Brieketts ploppten raus und fielen neben die Träger. Unsere Aufgabe war es, die Kohle auf die Bänder zu schippen. Ein Angestellter erzählte uns, dass das normalerweise „die Russen“ machen. Die T‑Träger befanden sich in der Höhe von 2 bis 3 Metern. Wenn dann so viele Briketts runtergefallen waren, dass sie in die Höhe der T‑Träger kamen, wurden die „Freunde“ gerufen und schippten das alles in einem Rutsch weg. Aber da wir nun schon mal da waren, konnten wir das auch erledigen.
Wenn es regnete, sah man die Pfützen nicht. Der Staub lagerte sich auf ihnen ab.
Das Werk Espenhain wurde 1937 von den Nazis gebaut. Schon kriegssicher in redundanter Doppeltausführung: zwei gleiche Kraftwerke nebeneinander.
Nach dem Kohleeinsatz bekamen wir drei Tage verlängerten Kurzurlaub (VKU). Ich habe jeden Tag gebadet. Die Kohle war noch lange in den Poren. (Nicht, dass wir in Espenhain nicht geduscht hätten. Das hat nur nicht viel geholfen.)
Sollte ich auf Espenhain stolz sein? Das war ein komplett runtergerocktes Kraftwerk!
Das steht hierzu in Wikipedia:
In den 1960er Jahren waren die Anlagen im Zusammenhang mit der Wirtschaftsorientierung auf die Erdölchemie massiv auf Verschleiß gefahren worden. Als Anfang der 1970er Jahre die Kohlechemie wieder an Bedeutung gewann, wurde die Produktion in den verschlissenen Anlagen auf maximale Leistung gesteigert. Dadurch und durch nicht vorhandene Investitionen im Bereich des Umweltschutzes stiegen die Schadstoffemissionen in Luft und Wasser sehr stark an. Über dem Ort und seiner Umgebung lag immer eine Wolke von Phenolen, Schwefel, Ruß und Asche. Der hohe Schadstoffausstoß machte es erforderlich, jeden Morgen Straßen und Gehwege zu kehren, da sich eine dicke Ascheschicht niedergelassen hatte. Einige Einwohner berichten, dass gelegentlich die Sonne hinter Aschewolken verschwand und dass Autos tagsüber mit Licht fahren mussten. Die gesundheitlichen Auswirkungen auf die Einwohner der Stadt waren verheerend. Die Lebenserwartung lag infolgedessen einige Jahre unter dem landesweiten Durchschnitt. Vor allem Kinder litten stark unter den auftretenden Haut- und Atemwegserkrankungen, wie z. B. Ekzemen und chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung (COPD). Auch heute noch sind viele Einwohner von Spätfolgen betroffen
Im Konsum des Werkes gab es Schnaps für 60 Pfennig (Wikipedia sagt 1,12 M) die Flasche (Brauseflasche). Der wurde Kumpeltod genannt. Bergleute und Leute in den Kraftwerken wurden exklusiv damit versorgt. Ich hab das nicht getrunken. Vielleicht bin ich darauf stolz …
In den Nachrichten wurde der 1‑Megabit-Chip gefeiert. Sollte ich darauf stolz sein? Freunde hatten West-Computer, ich arbeitete an Ost-Computern. Ich wusste, wo wir standen.
Alle wussten es. Es gab Witze: „Ein Japaner kommt in die DDR und reist durchs Land. Kurz vor seiner Abreise wird er gefragt, was er am besten fand. Die Antwort: ‚Die ganzen Museen: Pergamon, Robotron, Pentacon.’“ (Nebenbemerkung: Das bedeutet nicht, dass alles Schrott war. Es gab neu errichtete Werke, gut funktionierende Werke, es gab Bodenschatzvorkommen, die ergiebiger waren als die im Westen (Kali). Das alles konnte man in einem Film über die Treuhand sehen, der aber leider privatisiert wurde … (auf youtube auf privat gestellt wurde.))
Ich war nicht stolz auf die DDR. Ich war auch nicht stolz Deutscher zu sein. Wir hatten gelernt, dass Nationalismus das Wurzel allen Übels war. Ich bin nach der Wende noch jahrelang zusammengezuckt, wenn jemand „Deutschland“ gesagt hat, und würde dieses Wort auch heute noch gerne nicht verwenden.
Die Autoren schreiben:
Hilflos gegenüber der Allgegenwart des Westfernsehens und der wirtschaftlichen Überlegenheit der Bundesrepublik, versuchte die Partei eher durch den Vergleich mit den sozialistischen Bruderländern, den Verweis auf die eigene Spitzenstellung (hinter der Sowjetunion), Punkte zu sammeln. Insbesondere in Krisensituationen war die Parteiführung auch bereit, ungeniert antipolnische Stereotype (‘polnische Wirtschaft’) zu bedienen
Es stimmt, dass wir wussten, dass wir die Besten der Abgehängten waren. Noch vor der Sowjetunion. Ich war 1984 in Polen und 1988 in Rumänien und die Versorgung dort war unglaublich schlecht. Aber ich dachte: Puh, da haben wir aber Glück. Und muss ja, weil wir das Schaufenster waren (siehe Bananen im Post Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Stolz war ich darauf nicht. Die Sache mit den Polen stimmt. Das ging gegen Solidarność.
Worauf war ich stolz, worauf konnte ich stolz sein? Auf meine eigenen Erfolge im Sport? Im Schach? In Mathematikolympiaden? Ja.
Auf unsere Täterätä – wie Manfred Krug sie nannte – stolz zu sein, wäre mir nie im Traum eingefallen. Das war bei FDJ-Funktionären und bei Sachsen vielleicht anders.2
Nationalismus und Rassismus
Nationalismus
Zum Nationalismus schreiben die Autoren:
In der ‘patriotischen Erziehung’ der DDR wurden Begriffe wie ‘Heimatliebe’ oder ‘Stolz auf die Errungenschaften’ der DDR mit sozialistischer Ideologie aufgeladen. ‘Sozialistischer Patriotismus’, das hieß unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion, Liebe zur SED und Verehrung für die Parteiführung und Solidarität mit den ‘unterdrückten’ Völkern der Welt. Uns erscheint aber zweifelhaft, ob die Bevölkerungsmehrheit all diese Implikationen nachvollzog oder ob nicht eher nach der prägenden Kraft dahinterstehender tradierter Denkstrukturen, nämlich der kritiklosen Überhöhung des Eigenen und der exklusiven Identifikation mit dem eigenen Kollektiv zu fragen ist. Beruhte diese ‘imagined community’ (Benedict Anderson) also auf genau jenen Mechanismen, die für das Gefühl und das Erlebnis, einer ethnisch definierten ‘Nation’ anzugehören, typisch sind? Einige fachspezifische Forschungsergebnisse weisen in diese Richtung: Die bildungsgeschichtliche Studie von Helga Marburger und Christiane Griese attestiert der DDR-Pädagogik einen starken Homogenisierungsdruck nach innen. ‘Das Eigene war kollektives Eigenes und als solches streng genormt.’
Hm. Ja. Vielleicht. Wie die Autoren selbst schreiben, war es mit „Liebe zur SED und Verehrung für die Parteiführung“ nicht weit her. Den Erich haben wir nicht geliebt. Wir haben ja nicht mal die Katharina geliebt und die sah wirklich gut aus. Was die Staatsführung wollte und was real war, klaffte nicht nur bei der Wirtschaft auseinander.
Aber ist jetzt das DDR-System schuld daran, dass es wollte, dass die Bevölkerung dieses Land liebte und da blieb, statt bei der nächstbesten Gelegenheit in den Westen zu verschwinden? Die exklusive Identifikation mit dem eigenen Kollektiv gehörte sicher nicht zu den „dahinterstehenden tradierten Denkstrukturen“, denn uns wurde immer der Wert der Völkerfreundschaft beigebracht. Internationale Solidarität. Im Kampf für eine bessere Welt, ohne Ausbeutung usw. Das schreiben die Autoren ja auch selbst. Der oben zitierte Absatz scheint mir inkonsistent zu sein.
Weiter:
Lohnend ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf das Verhältnis der Stasi zu den auch in der DDR existenten Skinheadgruppen. In den Stasi-Akten zum Skinheadüberfall auf die Zionskirche von 1987 wird deutlich, wie stark die Denkschemata der Ermittler durcheinander gerieten. Waren doch die Opfer – Ziel des Überfalls war ein Punkkonzert – durch ihren Non-Konformismus bis dahin selbst Objekt von Beobachtung und Verfolgung der Sicherheitsorgane, weil ihre Einstellung als systemfeindlich galt. Was die rechten Schläger betrifft, so reichen die Akten über rechtsextreme Vorfälle bis 1978 zurück. Gleichwohl passte die ‘faschistische’ Orientierung dieser Tätergruppe nicht in das Raster der klassenkämpferisch geschulten Geheimdienstler, hatten die Skins doch wesentliche ’sozialistische Werte’ wie Arbeitsliebe, Ordnung, Sauberkeit und Bereitschaft zum Militärdienst für sich angenommen. Dieses Beispiel verdeutlicht die ’sozial-hygienischen’ Gemeinsamkeiten staatssozialistischer und rechtsextremer Leitbilder. Diese Übereinstimmung war es, die eine couragierte und offene Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus unmöglich machte, wären damit doch die genannten Grundwerte der DDR und letztlich der beschriebene Herrschaftsmodus der SED in Mitleidenschaft gezogen worden.
Sorry. Das geht nicht auf als Argument. Gruppe 1 hat Werte A, B, C, D. Gruppe 2 hat Werte A, B und X. Warum soll Gruppe 1 nicht Gruppe 2 wegen X bekämpfen können? Wenn es Nazi-Musik gibt, liegen Straftaten vor, gegen die man vorgehen kann. Ich hatte Kassetten in der Hand, auf denen Songs wie „Töte Deinen Nachbarn!“ und „Mein goldener Schlagring“ waren.
Übrigens kann man den Stasi-Unterlagen zum Vorfall in der Zionskirche auch entnehmen, dass da Skinheads aus West-Berlin dabei waren. Just saying.
Reisen
Zum Thema „Fremde und Ausländer in der DDR“ schreiben die Autoren:
Spätestens seit dem Mauerbau waren Auslandsreisen und internationale Mobilität aus dem Alltag der DDR verbannt. Nur wenige konnten sich private Urlaubsreisen etwa nach Bulgarien oder Ungarn leisten. Besuche im Westen waren Ausnahmen im Falle wichtiger Familienangelegenheiten. Für die Mehrheit der DDR-Bürger war Reisen ein staatlich gewährtes Privileg. Diesen eingeschränkten Erfahrungshorizont gilt es zu berücksichtigen, wenn man den Aufenthalt von Fremden und Ausländern in der DDR betrachtet. Die staatssozialistische Diktatur mit ihrem allumfassenden Regelungsanspruch ‘offizialisierte’ jede Form und Gelegenheit des Kontakts zu Fremden, so wie sie das mit allen sozialen Beziehungen zu verwirklichen suchte. ‘Gesellschaft’ im Sinne eines relativ autonomen Bereichs sozialer Beziehungen und Institutionen, wie er für bürgerlich-liberale Staaten typisch ist, sollte es in der DDR nicht geben, und das galt auch und gerade auf diesem Gebiet. Kontakte und Umgang außerhalb der staatlich festgelegten Regeln waren nicht vorgesehen, entweder explizit verboten, zumindest aber unerwünscht. Angehörige unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten sollten sich der SED-Ideologie zufolge gewissermaßen daher immer als ‘Repräsentanten’ ihrer jeweiligen Staatsvölker, quasi in diplomatischer Funktion, begegnen, nicht jedoch auf einer ‘Von-Mensch-zu-Mensch-Basis’. Das einander Akzeptieren als ‘Menschen wie du und ich’, als individuelle Gäste und Gastgeber, Durchreisende und Einheimische, als Zufallsbekanntschaften etc. wurde dadurch von vornherein erschwert bzw. erforderte bewusstes, eigensinniges Gegenhalten — wofür es durchaus Beispiele gab! Die Botschaft der offiziellen Regelungswut war aber: ‘Staatszugehörigkeit’ (und die machte sich praktisch an der Nationszugehörigkeit fest) ist eminent ‘wichtig’, der Internationalismus stellte die Vorrangstellung der Nation nie infrage .
Das hat mich einigermaßen verwundert. Denn ich war in Moskau, Carlovy Vary (Karlsbad) Prag, Budapest, Brașov, Bukarest, Sofia, Sosopol, Varna, Warschau und Puławy. An vielen Orten war ich mehrfach. Das Einzige, was man bezahlen musste, war eine Zugfahrkarte. Die war nicht teuer. Lebensmittel kosteten genau so viel wie zu hause. Geschlafen haben wir auf dem Zeltplatz. Ich war im Bucegi-Gebirge wandern. Wir hatten Seife und Kaffee mit. Beste Zahlungsmittel in Rumänien damals. Die Tour Berlin–Sosopol war der Standard damals. Ich weiß noch, dass die Sonnenschirme in Sosopol 3 Mark gekostet haben. Das haben wir uns nicht geleistet. Einmal hatte ich Fieber, da mussten wir. Man hat unterwegs dieselben Leute in Prag und Budapest getroffen. Die Reisen fanden zwischen 1984 und 1989 statt. Ich war jung und hatte kein Geld. Es ging dennoch.
In Budapest schliefen die Ossis immer einfach unter freiem Himmel auf der Magareteninsel. Das ging den Ungarn irgendwann so auf die Nerven, dass sie eine Speziallösung für uns Ostdeutsche entwickelten: Es gab am Ende der U‑Bahn-Linie einen mit Stacheldraht umzäunten Platz, auf dem man umsonst schlafen konnte (steht auch im Wikipediaeintrag zur Magareteninsel). Man musste seinen Personalausweis am Eingang abgeben und am Morgen kam um 6:00 die rendőrség, stellte sich neben die Schlafenden und drehte einmal voll die Sirene auf. Alle waren wach. Bis um 7:00 oder 8:00 hatte man das Gelände wieder zu verlassen. Manche haben gezeltet, manche unter freiem Himmel geschlafen. Findige Ungarn haben ein Geschäftsmodell entwickelt: Man konnte seinen Rucksack bei ihnen im Garten abstellen, denn die Schließfächer an den Bahnhöfen waren alle belegt. Ich habe einmal da draußen gezeltet. Wo dieser Zeltplatz war, konnte man herausfinden, indem man andere Ossis fragte. Wir haben uns an den Schuhen (Römerlatschen oder Tramper) erkannt. Bei meinen anderen Budapest-Besuchen habe ich immer in einem privaten Garten gezeltet. Mehrere Ungarn hatten ihre Gärten zu Zeltplätzen umfunktioniert.
Von der Schule aus war ich in Moskau, Carlovy Vary und Polen (Puławy, Warschau, Auschwitz). Das entspricht dem, was die Autoren geschrieben haben: Wir waren in diplomatischer Funktion dort. Ich bin auch Ehrenpionier der Sowjetunion geworden, was mir später in meiner Zeit als Kanzlerkandidat der Partei Die PARTEI sehr helfen sollte (siehe Korrektur Lebenslauf).
Stefan Müller, Professor für deutsche Syntax an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktkandidat der Partei Die PARTEI für den Wahlkreis 242 Erlangen für die Bundestagswahl 2021, 09.08.2021, Bild: Arne Reinhardt CC-BY.
Ich brauchte keine rote Krawatte mehr zu kaufen, sondern habe einfach das rote Halstuch genommen, das noch im Keller lag. (Oh, gehöre ich jetzt zu einer Gruppe? Bin ich mitschuldig geworden? Im Sinne der Blutschuld, die Anne Rabe vertritt?) Der Rest der Reisen waren Individualreisen.
Nun kann man einwenden, dass ich und die anderen Menschen, die ich kannte, nicht repräsentativ für die DDR war. Schließlich war ich Abiturient und die Anzahl der Abiturient*innen war insgesamt eher gering. Zwei Schüler*innen aus einer POS-Klasse mit 30–31 Schüler*innen. Peer, ein Schulfreund, der auch mit in Moskau war, hat diesen Einwand auch sofort gebracht. Da er aber auch die beste Such-Maschine der Welt ist, hat er ihn dann auch gleich entkräftet. Und zwar so richtig.
Eine Meldung aus dem Jahre 1989 kündigt den neuen internationalen Jugendherbergsausweis an.
SED-Zentralorgan Neues Deutschland vom 13.01.1989
Da dieser Ausweis damals neu war, gab es das vorher noch nicht. Aber immerhin zeigt das schon mal, dass die Aussage der Autoren nicht richtig sein kann. Es geht explizit um Individualreisen, günstige Individualreisen ins Ausland.
Aber auch schon 1976 gab es Individualreisen nach Ungarn. Mit dem Bus.
Im Artikel steht, dass Privatquartiere am Balaton vermittelt werden. Das passt nicht zu den Angaben der Autoren. Staatlich organisierte Individualreisen. Unterstützender geht es nicht.
Dass man nicht alles glauben sollte, was in Zeitungen steht oder gar in DDR-Zeitungen stand, gilt hier natürlich auch. Aber es wäre keine propagandistische Glanzleistung, eine Nachfrage bzw. ein Bedürfnis nach Auslandsreisen zu wecken, das man eigentlich verhindern wollte.
Den Punkt „Ossis haben noch nie andere Menschen gesehen.“ können wir also getrost abhaken.
Jugend-Feldbettspiele
Die Autoren schreiben:
Tatsächlicher Kontakt der Bürger mit Ausländern stellte für die SED-Diktatur dagegen ein Sicherheitsrisiko dar. So unterlagen auch die wenigen internationalen Veranstaltungen wie die ‘Weltfestspiele der Jugend und Studenten’ im Sommer 1973 oder die ‘Festivals des politischen Liedes’ politischer Kontrolle.
Hey, warte mal. Auch das habe ich anders gehört. Es gab nach dem Festival viele internationale Kinder. Es war ein Fest der Völkerfreundschaft. Sollten die Organe des Inneren so versagt haben und komplett die Kontrolle über die äußeren Organe verloren haben? Das Festival der Jugend war unser summer of love.
Das schreibt der Tagesspiegel dazu:
Das eigentliche Festival findet nicht in den Bars oder Klubs statt, sondern unter freiem Himmel. Zehntausende von Jugendlichen kampieren in den Grünanlagen der Ost-Berliner Innenstadt. Das bleibt nicht ohne Folgen. Das Festival zeitigt Festival-Ehen und Festival-Kinder, und im Volksmund heißen die Jugend-Weltfestspiele bald Jugend-Feldbettspiele.
Es waren 8 Millionen Menschen in der Stadt. Es war die Hölle los. Der Tagesspiegel beschreibt auch die Maßnahmen der Stasi, aber die Verbrüderung bzw. Verschwesterung oder Vermenschung der 8 Millionen konnte und sollte nicht verhindert werden. Alle sprachen offen. Sogar mit den Typen von der CDU.
Vertragsarbeiter
Was stimmt, ist, dass man die Vertragsarbeiter eigentlich nicht gesehen hat und zu den Sowjetsoldaten hatte man im Prinzip auch keinen Kontakt. Ich hatte mal „diplomatischen“ Kontakt, weil wir bei unseren Freunden in ihrer Kaserne waren und Schach gespielt haben. Ich habe gewonnen. Geredet haben wir nicht viel. Wohl eher, weil mein Russisch zu schlecht war. Als Schüler habe ich bei Bernau Erdbeeren gepflückt. Da waren auch ein paar Sowjetsoldaten. Ich habe gegessen und gepflückt, sie haben nur gepflückt. Sie waren unglaublich schnell. Geredet haben wir nicht. Über „Меня зовут Стефан.“ wäre ich auch nicht hinausgekommen und vielleicht hätten sie auch Ärger bekommen. Bei meiner Frau an der Burg Giebichenstein in Halle haben Kubaner, Vietnamesen, Tschechen und Bulgaren studiert. Es gab Verträge mit den jeweiligen Ländern. An der Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin gab es Student*innen aus der Bulgarien, Mongolei, Nordkorea, China, der UdSSR, Kuba. Für diesen Austausch gab es Verträge. Das lief unter Entwicklungshilfe. Dass die Student*innen dann nicht hier geblieben sind, lag an ihren Entsenderländern. Bulgarien wollte eine hohe Summe für die Ausbildung ihrer Staatsbürger*innen als Ablöse, wenn diese nicht zurückkamen. Ehen und andere Gründe waren dabei egal.
Dass es Konflikte und rassistische Vorfälle mit den Vertragsarbeiter*innen in den Betrieben gab, kann ich mir vorstellen. Auch dass diese vertuscht wurden, weil nicht sein konnte, was nicht sein darf. Aber dass diese eben nicht sein durften, war die offizielle Staatslinie. Das war der Anspruch. Der Rassismus war nicht etwas, was den DDR-Bürger*innen beigebracht wurde. Als Beleg möge die folgenden Seiten aus Bummi für Eltern 1/198, aus der Wochenzeitung für Thälmannpioniere Trommel und aus dem Neuen Leben, einer von der FDJ herausgegebenen monatlichen Zeitschrift für Teenager, gelten. In der DDR gab es für die Zielgruppen meist nur jeweils eine Zeitung/Zeitschrift, weil die Zeitschriften ohnehin staatlich kontrolliert waren. Diese hatten dann eine entsprechen hohe Auflage. Bummi startete mit einer Auflage von 736.300, die der Trommel betrug 1,2 Mio Exemplare. Das Neue Leben hatte eine Auflage von 540.000 bei einer viel höheren Nachfrage. Die Zeitschrift wurde also meist von mehreren Leser*innen gelesen.
Bummi für Eltern 1/1981. Bericht über Lenin-Denkmal und befreundete Nationen, Länder, in denen Urlaub gemacht wurde, und ein Bild von einem befreundeten Schwarzen Mann mit dem Kind der Autorin auf dem Arm.
Das Stück ist eindeutig ein Propagandatext. Es geht um den guten Menschen Lenin. Dann geht es um Urlaub im Ausland (erneut ein Widerspruch zu den Behauptungen der Autoren) und um ihren Freund aus Afrika. Auch wenn diese Texte vielleicht nicht viele gelesen habe, schon gar nicht bis zu der Stelle nach Lenin, so ist die Aussage des Bildes doch klar. Die Menschen aus Afrika sind lieb. Sie tragen unsere Kinder. Papi war ein Jahr dort und hat ihnen geholfen und jetzt studiert Ibrahima hier. Geht so Rassismus? Ich bin nicht zum Rassismus erzogen worden, sondern zu Völkerfreundschaft und Verständigung. Und zwar vom Kindergarten bis zum Untergang der DDR.
Der folgende Ausschnitt ist aus der Trommel, der Zeitung für Thälmannpioniere, d.h. für Jugendliche in der vierten bis zur siebten Klasse.
Ausschnitt aus der Zeitschrift für Thälmmannpioniere Trommel 30/1979 zum internationalen Sommerlager der Pionierrepublik mit Kindern aus Guinea, Turkmenien, Vietnam, Peru, Bulgarien.
Auch hier Völkerverständigung, Bilder von Kindern aus Guinea, Turkmenien, Vietnam, Peru und Bulgarien, die in die DDR zum Sommerferienlager in die Pionierrepublik eingeladen wurden. Sie wanderten und spielten dort gemeinsam, trieben Sport und es gab kulturellen Austausch.
Im Jugendmagazin Neues Leben 05/1985 gab es einen Bericht über eine Schule für 900 Kinder aus Mosambik in Staßfurt.
Zwei Doppelseiten über Kinder aus Mosambik, die in der DDR zur Schule gingen und dann auch eine Berufsausbildung gemacht haben.
Die Schule gab es ab 1982 und ab 1985 gab es dort zusätzlich zu den 900 Schüler*innen aus Mosambik auch noch 400 aus Namibia (mdr, 2021). Zur Schule und der vereinbarten Ausbildung in der DDR siehe auch deutsche welle (2021).
Wikipedia schreibt über das Neue Leben:
Inhaltlich versuchte das Blatt, einerseits die politische Bildung der Jugend im Sinne des DDR-Systems zu fördern. Andererseits sprach es Themen an, die die Jugendlichen direkt interessieren, dazu gehörten Fragen des täglichen Lebens, Mode, Film, Musik (auch mit Interpreten aus dem westlichen Ausland), Rätsel und Ratgeberseiten. Bekannt war die Kolumne Professor Borrmann antwortet zu Fragen der Sexualität. Regelmäßig gab es Umfragen nach den beliebtesten Filmen oder Musikinterpreten. Darüber hinaus enthielt die Zeitschrift Kurzgeschichten, naturwissenschaftliche und technische Beiträge. Diese Mischung führte zu einer hohen Popularität des Blattes.
Solche Berichte über diese Schule und die internationale Solidarität mit den antikolonialen Befreiungsbewegungen gehörte natürlich zur „politischen Bildung der Jugend im Sinne des DDR-Systems“, aber die Botschaft war eben antikolonialistisch und antirassistisch.
Mit der Zuspitzung der Versorgungskrise der DDR Ende der achtziger Jahre hielten die Schlagworte ‘Schmuggel’ und ‘Warenabkauf’ durch Ausländer Einzug in die gesteuerten DDR-Medien, versuchte die SED doch auf diesem Wege von ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik abzulenken. Die im Band Ausland DDR veröffentlichte Leserbriefsammlung der Berliner Zeitung aus der Zeit des Mauerfalls zeigt, welche Blüten die Fremdenfeindlichkeit bereits weit vor der Einheit getrieben hatte. Sie bietet ein Panorama aus besonders antipolnischen Vorurteilen (‘arbeitsscheu’, ‘faul’), Ausverkaufs- und Überfremdungsängsten (‘wollen wir etwa eine Mischrasse?’), aber auch wenigen mahnenden Stimmen.
Das kann sein. Und wenn diese Botschaften wirklich über die DDR-Medien verbreitet worden sind, dann ist auch wirklich die DDR-Führung dafür verantwortlich zu machen. Ansonsten ist die Tatsache, dass eine bestimmte Frage in der Leserbriefsammlung vorkam, noch nicht viel wert, denn es geht ja darum, den höheren Grad an Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der DDR zu erklären. Und diese Stimmen hätte man wohl im Westen mit seiner ungebrochenen Nazi-Tradition3 auch finden können. Ich erinnere nur an Horst Seehofer, der den Verfassungsschutzbericht über die Einstufung der AfD als rechtsextreme Partei hat ändern lassen, weil die CSU zum Teil dieselben Sprüche klopft, wie die AfD (Süddeutsche, 21.01.2022).
Medizinische Versorgung
Ich bin in Berlin Buch aufgewachsen. Meine Klassenkamerad*innen waren zum großen Teil Kinder von Ärzt*innen und sonstigem medizinischen Personal. In den 70ern und 80ern gab es eine spezielle Krankenstation zur Pflege und Versorgung Schwarzer Menschen, die in Namibia und Angola in der SWAPO im Widerstandskampf gegen das südafrikanische Apartheidsregime gekämpft hatten. Über diese Krankenstation und die Menschen und ihre Versorgung wurde in der Aktuellen Kamera und auf Titelseiten von gern gelesenen Zeitschriften berichtet.
Titelseite der DDR-Frauenzeitung Für Dich von 1979. Die DDR hat Verwundete aus Namibia in Berlin-Buch im Klinikum betreut. Bild in einer Ausstellung im Museum Pankow, Berlin, 04.04.2024Bericht in der NBI 13/79 „Dr. Erich Kwiatkowski, Facharzt für Chirurgie im Klinikum Buch, berichtet. Seine Patienten sind Opfer südafrikanischer Überfälle aus Flüchtlingslager in Angola.“ Bild in einer Ausstellung im Museum Pankow, Berlin, 04.04.2024
Rassismus war explizit ein Thema:
Bericht in der NBI 13/79 über Verbrechen des Rassismus. Bild in einer Ausstellung im Museum Pankow, Berlin, 04.04.2024
Für mich sind Rassisten Menschen, die solche Verbrechen begehen oder gutheißen. Nicht aber diejenigen, die sie anprangern und den Opfern dieser Verbrechen helfen und sie über lange Jahre gesund pflegen.
Titelseite der Wochenpost vom 05.08.1988. Die DDR hat Verwundete aus Angola in Berlin-Buch im Klinikum betreut. „Gerade ist das Flugzeug aus Luanda gelandet, der Hauptstadt Angolas. Unter den Fluggästen sind drei Namibier, Angehörige der SWAPO. Sie kommen in die DDR, um hier medizinisch betreut zu werden. In Angola, im Flüchtlingslager Kwanze Sul, konnte man ihnen nicht helfen. Jetzt sind sie voller Ungewißheit; Was erwartet sie im fremden Land? Ärzte, Schwestern und Pfleger empfangen die neuen Patienten auf der Solidaritätsstation „Jakob Morenga“ im Klinikum Berlin-Buch. Dort werden Maria, Martha und David möglicherweise für Monate bleiben müssen. Sie brauchen unsere Solidarität.“ Bild in einer Ausstellung im Museum Pankow, Berlin, 04.04.2024
Ich war mit einem Jungen befreundet, dessen Vater ein Dichter aus Syrien war und dessen Mutter Ärztin. Er war voll integriert, anerkannt in der Schule. Null Problemo. Die Beziehung wurde nicht unterbunden. Es gab viele geflüchtete Kommunisten, die in der DDR Zuflucht gefunden hatte. Ein Junge aus meiner Klasse hatte einen italienischen Vater. Er war Chefarzt in einem Krankenhaus. Es waren Menschen aus Chile und aus Griechenland in der DDR. Honecker hatte einen chilenischen Schwiegersohn, zu dem er dann nach der Wende auch ausgewandert ist.
Der nationalistische Taumel der Wiedervereinigung
Ganz zum Schluss, im Fazit, wird das angesprochen, was ich für den eigentlichen oder zumindest den wichtigsten Grund halte.4 Im Fazit steht das wichtigste Wort: Wiedervereinigungseuphorie. Das ist der Punkt. Kohl kam nach Dresden. Er schwamm in einem Meer aus Fahnen. Ein nationalistischer Taumel. Vom Westen gewollt und gefördert. Die taumelten drüben genauso. Vielleicht ist es zu einfach, aber wir haben das damals gesehen.
Menschen, die ihren Kopf in der Hand halten. Ein Hitlerkopf liegt am Straßenrand. Der Himmel ist schwarz. Urheber bekannt, 1989
Wir hatten Angst davor.
Dank ich an angst in der Nacht Herzlichen Glückwunsch zur Wiedervereinigung
Deutschtümelei! Nationalismus! Das kam von der Bundesregierung. Nicht in Berlin. In Berlin wurde Kohl ausgebuht.
In Sachsen wurde er mit offenen Armen empfangen. Er hat den Ossis blühende Landschaften versprochen. Von Oskar Lafontaine, dessen Herz links schlug, und der damals Kanzlerkandidat der Partei war, in der auch Anne Rabe Mitglied ist, wollte niemand etwas Wissen. Er hat die Wahrheit gesagt. Aber „die Wahrheit ist hässlich und hat stinkenden Atem“.
Sicher ist alles nicht monokausal. Die Sache mit den Vertragsarbeiter*innen spielt bestimmt eine Rolle, aber den gesamtdeutschen Nationalismus nur in einem Satz zu erwähnen, ist nicht angemessen.
Zusammenfassung
Ich habe zu Beginn besprochen, dass einer der Autoren des hier besprochenen Aufsatzes, so wie Geipel, Kahane und Rabe, stark mit der DDR verbandelt war. Eine Erklärung für einseitige und falsche Positionen oder Sichtweisen kann dann sein, dass man überhaupt nicht erst in den Verdacht von Systemnähe kommen will.
Zu den „jugendlichen Rechtsextremisten in Jugendtreffs“ habe ich angemerkt, dass diese dort von höchster Stelle geduldet waren. Von Jörg Schönebohm, Generalleutnant der Bundeswehr a.D. und Vorsitzender der CDU, Brandenburg. Nazi-Aktivitäten wurden im Osten durch die Verantwortlichen, die fast ausschließlich aus dem Westen waren (siehe Rabe-Post) nicht ausreichend verfolgt. Die Autoren sprechen vom Nationalstolz, der in der DDR gefördert wurde. Vielleicht waren Menschen stolz auf verschiedene Sportler oder auf Gesamtergebnisse bei Olympiaden, aber bei Katharina Witt war das nicht der Fall. Sie wurde von Tausenden ausgebuht. Nach der Wende hat sie das Land verlassen, weil sie nicht verstanden hat, woher die Abneigung kam. Die Wirtschaft war marode, nichts worauf man stolz sein konnte. Die Behauptung, man hätte in der DDR nicht reisen können und Individualreisen seien unerwünscht gewesen, ist schlicht falsch. Auch die Bemerkungen zu den Jugend-Weltfestspielen entsprechen nicht den Tatsachen, wie man auch noch genauer im zitierten Tagesspiegel-Artikel nachlesen kann. Dass es nicht viel Kontakt zu Vertragsarbeitern gegeben hat, stimmt. Der nationalistische Taumel nach der Wende, der vom Westen auch befeuert wurde, ist sicher ein relevanter Faktor, wurde aber von den Autoren nicht angemessen diskutiert.
Für Anne Rabes Behauptung, im Osten hätte es ideologisch motivierten Nationalismus gegeben, liefern Poutrus, Behrends & Kuck jedenfalls keine Beweise.
Anne Rabe hat in ihrem Buch Eine Möglichkeit von Glück ihre traumatischen Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit in Wismar aufgearbeitet. Ihre Eltern und Großeltern waren DDR-Kader, ihr Großvater in Stalingrad gewesen und sie führt alle Gewalt auf die DDR-Zeit und die Kriegserlebnisse zurück. Ich habe in Keine Gewalt: Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe bereits dazu geschrieben, welche inhaltlichen Fehler ihr dabei unterlaufen sind und dass ihre Schlussfolgerungen nicht tragfähig sind. Hier möchte ich noch einige weitere Punkte diskutieren, die inhaltlich nicht in den ersten Blog-Post gepasst haben. Dabei geht es mir vor allem um eine korrekte Darstellung der DDR-Zeit aber es ist auch noch ein gravierender Fehler bezüglich der Vorfälle in Rostock-Lichtenhagen zu besprechen.
Nazis, Verantwortung und Scham
In diesem ersten Abschnitt möchte ich Rabes Ansichten bzgl. Kollektivschuld und ihre Scham bezüglich ihrer Eltern besprechen.
Schuld und Blut
Rabe schreibt, dass alle Deutschen „qua ihres deutschen Blutes“ zur SS, zur Wehrmacht, zu den Verbrechern gehören:
Die Nazis waren immer die anderen. Die SS, die Wehrmacht, die Verbrecher. Schlimm, schlimm das. So schlimm, dafür übernehmen wir sogar dann gern die Verantwortung, wenn wir ganz sicher sind, dass unsere Familien damit nichts zu tun haben. Aber qua Herkunft, qua Abstammung, qua unseres deutschen Blutes gehören wir eben dazu, sind wir eben mitverantwortlich.
S. 67
Ist das so? Ist das mit dem Blut nicht Nazi-Ideologie? Und niemand hat’s gemerkt? Die Lektorin nicht, kein Rezensent. Warum sollte irgendwer wegen Blut besser oder schlechter sein? Türke, Palästinenser, Jude, Russe, Deutscher? Ich empfehle allen den Wikipedia-Artikel zur Kollektivschuld. Das Folgende steht dort gleich zu Beginn:
Kollektivschuld bedeutet, dass die Schuld für eine Tat nicht dem einzelnen Täter (oder Tätern) angelastet wird, sondern einem Kollektiv, allen Angehörigen seiner Gruppe, z. B. seiner Familie, seines Volkes oder seiner Organisation. Das beinhaltet folglich auch Menschen, die selbst nicht an der Tat beteiligt waren. Das Strafrecht moderner Demokratien geht grundsätzlich von einer individuellen Verantwortlichkeit aus, so dass Kollektivschuld juristisch nicht relevant ist. Artikel 33 Genfer Abkommen IV bestimmt, dass keine Person für ein Verbrechen verurteilt werden darf, das sie nicht persönlich begangen hat. Eine Kollektivstrafe setzt Kollektivschuld voraus. Nach Art. 87 Abs. 3 Genfer Abkommen III und Artikel 33 Genfer Abkommen IV zählen Kollektivstrafen zu den Kriegsverbrechen.
Nun könnte man – völlig zu Recht – darüber nachdenken, ob die Sache mit den Deutschen vielleicht doch etwas spezieller ist. Die Alliierten verfolgten direkt nach dem Krieg einen Kollektivschuld-Ansatz. Das äußerte sich unter anderem darin, dass die Weimarer Bevölkerung durch das befreite KZ Buchenwald geführt wurde. Den Ettersberg kann man von Weimar aus sehen. Buchenwald hatten die Weimarer direkt vor der Nase. Sie haben den Rauch nicht gesehen, das verbrannte Menschenfleisch nicht gerochen. Oder es eben all die Jahre ausgeblendet. Es war richtig, sie alle sehen zu lassen, was ganz in ihrer Nähe geschehen war. Filmmaterial der US-Army und den Bericht einer Zeitzeugin, die den KZ-Besuch mitgemacht hat, hat der Spiegel veröffentlicht.
Im Urteil der Alliierten in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen steht 1948 Folgendes zur Kollektivschuld:
Es ist undenkbar, dass die Mehrheit aller Deutschen verdammt werden soll mit der Begründung, dass sie Verbrechen gegen den Frieden begangen hätten. Das würde der Billigung des Begriffes der Kollektivschuld gleichkommen, und daraus würde logischerweise Massenbestrafung folgen, für die es keinen Präzedenzfall im Völkerrecht und keine Rechtfertigung in den Beziehungen zwischen den Menschen gibt.“ (aus dem Urteil der Alliierten in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen gegen die I.G. Farben, 29. Juli 1948).
Richard von Weizäcker schlägt statt Kollektivschuld eine Kollektivhaftung vor:
auch Richard von Weizsäcker betonte in seiner viel beachteten Rede „Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“, die er am 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag hielt: „Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht“, rief aber gleichzeitig dazu auf, kollektiv die Verantwortung für das nationalsozialistische Unrecht zu akzeptieren. Weizsäcker bezeichnet diese Haltung als „Kollektivhaftung“.
Wikipedia über eine Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag
Diese Kollektivhaftung gab es für die DDR. Während die West-Alliierten den West-Deutschen den Marshall-Plan geschenkt haben, hat die Sowjetunion Fabriken und Infrastruktur abgebaut und nach Russland verschickt. Im Falle von Carl Zeiss Jena haben sie sogar Menschen mitgenommen, die die Fabrik in Russland wieder aufgebaut und über Jahre hinweg die Russen eingearbeitet haben. Die Russen haben alles mitgenommen, was ihnen nützlich erschien. In Wikipedia gibt es ein Liste aller seit 1882 stillgelegten Bahnverbindungen in Berlin und Brandenburg. In dieser Liste ist auch vermerkt, was die Russen mitgenommen haben.
Ich habe dazu auch eine persönliche Geschichte: Ab der fünften Klasse bin ich von Buch zur Humboldt-Uni zur Mathematischen Schülergesellschaft gefahren. Es gab damals noch eine direkte Verbindung von Buch zum Alexanderplatz. Die fuhr abwechselnd auf dem linken und auf dem rechten Gleis. Alle 20 Minuten. Dazwischen fuhr der Zug in die andere Richtung nach Bernau. Einmal war ich zu früh dran und sprang gerade noch in einen Zug auf dem linken Gleis. Die Türen schlossen sich, der Zug fuhr los. Leider in die falsche Richtung. Ich wartete auf die nächste Station, stürzte aus dem Zug und rannte hinüber zur anderen Seite, weil ich da den Zug in Gegenrichtung erwischen wollte. Aber, oh Schreck, da war gar kein Gleis! Die Russen hatten es mitgenommen. Von Röntgental bis Bernau ist die Strecke nur eingleisig.
Im Wikipediaartikel kann man auch lesen, dass die Sowjetunion fast die Hälfte des ostdeutschen Schienennetzes mitgenommen hat und mindestens 2000 der besten Betriebe. Und dann haben wir bis 1953 noch fast ein Viertel des Bruttosozialprodukts in die Sowjetunion abgeführt:
Die Reparationsleistungen der späteren DDR an die Sowjetunion geschahen bis 1948 hauptsächlich durch Demontage von Industriebetrieben. Davon betroffen waren 2000 bis 2400 der wichtigsten und bestausgerüsteten Betriebe innerhalb der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ). Bis März 1947 wurden zudem 11.800 Kilometer Eisenbahnschienen demontiert und in die Sowjetunion verbracht. Damit wurde das Schienennetz bezogen auf den Stand von 1938 um 48 Prozent reduziert. Der Substanzverlust an industriellen und infrastrukturellen Kapazitäten durch die Demontagen betrug insgesamt rund 30 Prozent der 1944 auf diesem Gebiet vorhandenen Fonds. Ab Juni 1946 begann sich mit dem SMAD-Befehl Nr. 167 die Form der Reparationen von Demontagen auf Entnahmen aus laufender Produktion im Rahmen der Sowjetischen Aktiengesellschaften zu verlagern, die von 1946 bis 1953 jährlich zwischen 48 und 12,9 Prozent (durchschnittlich 22 Prozent) des Bruttosozialprodukts betrugen. Die Reparationen endeten nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Auf der Grundlage erstmals erschlossener Archivmaterialien, vor allem in Moskau, kamen Lothar Baar, Rainer Karlsch und Werner Matschke vom Institut für Wirtschaftsgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin etwa 1993 auf eine Gesamtsumme von mindestens 54 Milliarden Reichsmark bzw. Deutsche Mark (Ost) zu laufenden Preisen bzw. auf mindestens 14 Milliarden US-Dollar zu Preisen des Jahres 1938.
Als die Reparationen 1953 für beendet erklärt wurden, hatte die SBZ/DDR die höchsten im 20. Jahrhundert bekanntgewordenen Reparationsleistungen erbracht.
Dem Plus der BRD aus dem Marshall-Plan von 1,41 Milliarden US-Dollar steht also ein Minus von mindestens 14 Milliarden US-Dollar für die DDR gegenüber. (Nebenbemerkung: Ej, liebe Wessis, „wir“ haben die aus der Haftung entstandenen Schulden übernommen und bezahlt und dann alles von vorn neu aufgebaut: die durch den Krieg zerstörte Infrastruktur und die demontierten Betriebe, wohingegen „Ihr“ schöne Geschenke bekommen habt bzw. Betriebe und Personal aus dem Osten mitgenommen habt. Unter anderem auch einen Teil von Carl Zeiss, Siemens, Schott usw. Außerdem konntet „Ihr“ „Eure“ Rohstoffe auf dem Weltmarkt kaufen (den globalen Süden ausbeuten), während „wir“ unsere Rohstoffe von „unsren Freunden“ kaufen mussten. Und zwar für West-Geld. Es gibt also keinen Grund zur Überheblichkeit und Arroganz.) (Nebenbemerkung 2: Insgesamt betrugen die Wiedergutmachungszahlungen 2022 81,967 Milliarden Euro. Die DDR hat sich an diesen Zahlungen nicht beteiligt, weil sie das Thema nach den Zahlungen an die Sowjetunion für erledigt gehalten hat. Ab 1989 war „die DDR“ natürlich an diesen Zahlungen beteiligt. Die Zahlungen wurden zu unterschiedlichen Zeiten geleistet, so dass die absoluten Zahlen nicht direkt vergleichbar sind.5
Weiter schreibt Wikipedia zum Thema Kollektivschuld:
Ralph Giordano wollte 1947 nicht von „Kollektivschuld“ sprechen. Es habe eine Minderheit von Deutschen gegeben, die ihrem Gewissen und nicht dem Führer gefolgt sei. Die Mehrheit habe jedoch kein Recht, sich dadurch entlastet zu fühlen und von deren Anständigkeit zu profitieren, besonders weil sie sich auch heute noch von dieser Minderheit distanziere.
Das ist wahr. Ein Verwandter meiner Frau, sollte in Norwegen Zivilist*innen töten und hat sich geweigert. Er wurde selbst erschossen. Der Westteils der Familie hat sich dafür geschämt. Sie haben nie darüber gesprochen. Und siehe auch den Bericht von Marianne Meyer-Krahmer Mein langer Weg zur Stunde Null, den ich hier im Blog veröffentlicht habe. Meyer-Krahmer ist die Tochter des Leipziger Oberbürgermeisters Goerdeler, der als einer der Hitler-Attentäter hingerichtet wurde. Sie saß im KZ. Übrigens ohne jeglichen Grund. Es war Sippenhaft. Sippenhaft ist die kleine Freundin von Kollektivschuld. Sie berichtet davon, wie ihr Menschen nach ihrer Befreiung begegnet sind, wie sie die Ablehnung der BDM-Mädchen, mit denen sie als Lehrerin zu tun bekam, überwand. Mit Goethe.
In Wikipedia findet man auch folgende Aussage des Neurologen und Psychiaters Viktor Frankl zum Thema Kollektivschuld:
es gibt nur zwei Rassen von Menschen, die Anständigen und die Unanständigen.
Frankl war Jude und hat Theresienstadt und Auschwitz überlebt. Seine restliche Familie wurde ermordet. Vater, Mutter, Bruder, Frau.
Rabe wirft ihren Lehrer*innen vor, dass diese keine vorwurfsvollen Allaussagen über die Vorfahren ihrer Schüler*innen gemacht hätten:
Diese ominösen deutschen Soldaten. Kein Lehrer sagte: Eure Großväter und Urgroßväter waren die deutschen Soldaten, die in Osteuropa und der Sowjetunion alles abgeschlachtet haben, was sich bewegte, die geraubt und vergewaltigt und ganze Dörfer angezündet haben.
S. 87
Vielleicht lag das daran, dass das zu platt und im Einzelfall auch nicht richtig gewesen wäre? Wenn wäre die Aussage ja wohl auch „Unsere Großväter und Urgroßväter“ gewesen. Und folgt es nicht automatisch, wenn man über die Verbrechen dieser Generation aufklärt, dass die Großeltern und Urgroßeltern von vielen, vielen Deutschen Täter*innen waren? Muss man diesen Gedanken nicht selbst denken?
Mein einer Opa war übrigens kriegswichtig (Ingenieur bei Körting in Leipzig) und deshalb nicht im Krieg und mein anderer war zwar bei der Wehrmacht aber als Koch.
Beide haben somit zwar irgendetwas zum Krieg beigetragen, aber der Vorwurf, den Rabes Lehrer*innen ihnen hätte machen sollen, hätte auf sie wohl nicht zugetroffen.
Anklageschrift „gegen List und Genossen wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ 19.09.1935
Der Großvater meiner Frau hat einem Juden ein Bahn-Ticket nach Wladiwostok gekauft, als Juden das schon längst nicht mehr konnten. Er hat ihm zur Flucht verholfen. Mit Hilfe eines israelischen Kollegen habe ich seinen Neffen in Israel ausfindig gemacht und mein Schwager hat ihn dann dort besucht. Der Großvater war Leiter des Arbeitsamtes in Insterburg. Er saß in der Nazizeit mehrfach im Gefängnis und stand mehrfach vor Gericht. Einmal hat ein Kind eines Menschen aus seiner Freundesgruppe sie verraten: Sie hatten Radio London gehört. Er konnte sich vor Gericht darauf berufen, dass die Aussage eines Kindes nicht zählen würde. Andere aus dem Freundeskreis kannten sich nicht aus und wurden verurteilt. Er wurde oft von Menschen gewarnt, denen er früher Arbeit verschafft hatte. Beim dritten Mal Schutzhaft half ihm der Polizeidirektor: Die anderen Angeklagten wurden ins KZ Dachau abtransportiert, der Polizeipräsident hielt den Großvater zurück mit der Behauptung, es habe keinen Platz mehr in den Transporten nach Dachau gegeben.
Ein Angehöriger der Familie meiner Frau hat sich im Krieg geweigert, norwegische Zivilist*innen (Partisanen) zu erschießen und wurde selbst erschossen. Ein Cousin meines Vaters ist in Norwegen mit einer Norwegerin desertiert und wurde erschossen.
Schreiben der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, 07.04.2017
Der Cousin scheint seine Waffe mitgenommen zu haben. Also: einmal Verweigerung des Schießens aus Menschlichkeit, einmal Fahnenflucht aus Liebe. „Todesanzeigen oder Nachrufe in Zeitungen, Zeitschriften und dergleichen sind verboten.“
Sind wir schuldig? Als Menschen mit deutschem Blut? Was ist das für ein rassistischer Unsinn! Sollten wir uns nicht alle daran messen, was wir jetzt tun? Wie wir die Taten anderer einordnen? An unserer Menschlichkeit? Am 4.11.1989 gab es eine große Demonstration am Alexanderplatz. Die erste freie Demonstration in der DDR. Ich lief im Antifa-Block mit. Die Stasi hat Bilder von diesem Block gemacht (siehe Wagner, 2018, Vertuschte Gefahr: Die Stasi & Neonazis).
Bin ich schuldig? Muss ich mich schämen? Ich habe nichts getan! Ich war sieben Mal in Buchenwald (siehe Weimartage der FDJ) und auch in Sachsenhausen, in Auschwitz. Ich habe mich intensiv mit der deutschen Vergangenheit auseinandergesetzt, aber ich konnte die 1000 Jahre zwischen 1933 und 1945 an keiner Stelle beeinflussen. Denn ich war da noch nicht gebohren. Für meine Eltern kann ich nichts, aber für meine Kinder. Ich würde mich schämen, wenn sie in die AfD eintreten würden und/oder die Vernichtung von Menschen planen würden.
Demoteilnehmer*innen mit Schildern „‘Remigration’ ??? No way, AfD!“, „Danke! Mama & Papa, dass ich kein Nazi geworden bin!!!“ und „Oh Schieße.“ und einem aus AfD-Pfeilen zusammengesetzten Hakenkreuz. Reichstag, Berlin, 21.01.2024
Scham
Anne Rabe wird zum Opfer ihrer Vorstellungen von Kollektivschuld. Wie ich oben geschrieben habe: Sippenhaft ist die fiese kleine Schwester von Kollektivschuld. Das schreibt Rabe selbst:
Meine Eltern hatten studieren können und hatten es deshalb auch nach dem Systemwechsel leichter. Wir waren privilegiert und retteten einen Teil dieser Privilegien mit in die neue Zeit. Mutter und Vater würden sich auf dem Arbeitsmarkt etablieren können. Nicht ohne Probleme, nicht ohne Arbeitslosigkeit, nicht ohne Umschulungen und die berühmten Brüche in den Erwerbsbiografien, aber sie hatten bessere Startchancen als die meisten derjenigen, die das System zum Einsturz gebracht haben. Bessere Chancen als diejenigen, denen auch ich meine Freiheit zu verdanken habe. Ich schäme mich dafür. Immer noch.
S. 155
Jedes Mal, wenn ich von Hohenschönhausen, Torgau oder anderen Dunkelorten der DDR hörte, wurde ich von einer Schamwelle fortgeschwemmt, aus der ich mich nur langsam herauskämpfen konnte, indem ich sorgsam alles studierte.
S. 99
Aber wieso schämt sich Rabe für ihre Eltern? Sie kann nichts für ihre Eltern. Sie hat sich sogar von ihnen losgesagt. Damit ist dokumentiert, dass sie deren Haltung und ihre Gewalttätigkeit ablehnt. Rabe sollte sich nicht für ihre Eltern schämen. Aber sie könnte sich zum Beispiel für die inhaltlichen Fehler in ihrem Buch schämen. Für ihre Uninformiertheit. Für ihre nicht erfolgte Recherche zu Themen, über die sie geschrieben hat. Für den Schaden, den sie damit angerichtet hat. All ihre Fehler sind in Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch in diesem Blog-Beitrag dokumentiert. Oder für ihre Naivität bzw. Durchtriebenheit, auf die ich weiter unten zu sprechen komme.
Reden
Anne Rabe mahnt in ihrem Buch an, dass wir doch miteinander reden sollten. Dass wir Ossis unsere dunkle Vergangenheit aufarbeiten sollten. Aber sie selbst hat nicht geredet. Das Versagen liegt auch bei ihr. Hier einige Passagen aus dem Buch:
Ich bin einfach wütend. Auch auf Adas Eltern.
Auch sie haben uns im Stich und mit der ganzen Geschichte alleingelassen. Adas Vater hat über die roten Socken gesprochen, über sein Radar, das da anging bei meinen Eltern und anderen. Sein Hass, seine Wut, sie sind berechtigt gewesen. Aber statt sich mit denen auseinanderzusetzen, die dafür die Verantwortung trugen, statt mit ihnen die Dinge zu klären, hat er am Küchentisch seine Reden geschwungen und eben mich spüren lassen, wie wenig er mich leiden konnte.
S. 155–156
Adas Eltern waren Systemgegner*innen. Sie durften nicht studieren und haben unter der DDR gelitten. Unter Menschen wie Rabes Eltern. Und jetzt verlangt sie, dass die, die all das erlitten haben, zu denen gehen, die sich schuldig gemacht haben, und sich mal aussprechen?
Das zeigt ganz klar, dass sie das alles nicht verstanden hat. Sie hat nicht verstanden, was Bausoldat-Sein bedeutet hat. Man hatte sich komplett aus der restlichen Gesellschaft ausgeklinkt. Man konnte höchstens noch Theologie studieren. Ich war an einer Spezialschule mathematischer Richtung. Es gab dort einen Jungen, der nahm an internationalen Matheolympiaden teil. Er war genial. Er hat sich schon in der Schule geweigert, an dem zweiwöchigen GST-Lager, in dem wir auch mit automatischen Waffen geschossen haben, teilzunehmen. Die paramilitärische Ausbildung in der Schule war Pflicht. Der Schüler ist dann Schäfer geworden.
Ada hat mir erzählt, dass er in der DDR den Wehrdienst an der Waffe verweigert hat, was nur ging, wenn man sich den »Bausoldaten« zuteilen ließ. Das hatte Konsequenzen. Miese Schikanen während und nach der Dienstzeit – ein sehr bewusst gewähltes Außenseitertum, einer Gesellschaft zum Trotz, die einem keine Wahl lassen wollte. Der Preis, den Adas Vater für seine moralische Integrität hatte zahlen müssen, war hoch. Sein ganzes Leben würde davon bestimmt sein. Auf ein Studium brauchte er nicht mehr zu hoffen und überall, wo es sich anzustellen galt, hatte er sich ganz hinten einzureihen. Das hatte ihn dennoch nicht davon abgehalten, für seine Überzeugungen einzustehen.
S. 154
Jeder Kontakt mit dem System und dessen Kindern war potentiell gefährlich und in jedem Fall anstrengend. Als Bausoldat war man als Systemgegner aktenkundig geworden. Vielleicht wurde man bespitzelt. Rund um die Uhr. Arbeitskollegen meldeten Auffälligkeiten. Und sie verlangt jetzt von den Oppositionellen, dass sie mit ihren Eltern sprechen? Zwar nach der Wende, aber ???
Völlig unklar.
So wie Geipel und Kahane es nicht verstehen können, dass sie als rote Socken abgelehnt wurden, hat Rabe nicht verstanden, wie die DDR war und was man da nach der Wende gemacht hat und was nicht. Wir waren froh, dass wir Krenz & friends los waren. Mit denen wollte man nicht mehr reden. Ganz davon abgesehen, dass nach der Wende alle im Überlebenskampf waren, was Rabe ja auch selbst schreibt.
Wie kann Rabe eine Blutschuld für das gesamte deutsche Volk und alle Nachfahren fordern, für sich selbst aber verlangen, dass ihre Gegenüber ihr unvoreingenommen begegnen? Müsste diese Blutschuld nicht auch für sie gelten? Und für Anetta Kahane, deren Vater das Neue Deutschland, Zentralorgan der SED, geleitet hat? Und für Ines Geipel, deren Vater IM war und laut ihrem Wikipedia-Eintrag für „das Ausspähen von Objekten und die Vorbereitung von Sabotage auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland“ zuständig (Hartwich & Mascher, 2007)? Ist Unfug, oder? Anetta Kahane war übrigens selbst IM, nicht ihre Eltern. Sie hat ihre jüdischen Kumpels verpfiffen.
Ja, Adas Vater hätte sie nicht ablehnen sollen, so wie es auch von ihrer Lehrerin unprofessionell war, sie aufgrund ihrer Herkunft auszuschließen. Gerade in der Grundschule, wo ein betroffenes Kind das wahrscheinlich nicht verstehen kann. Aber als erwachsene Frau, und das ist die Ich-Erzählerin ja, sollte sie die Situation damals so weit einschätzen können, dass sie die Handlungen der Akteur*innen versteht. Aber das kann sie nicht, denn sie hat nicht mit ihnen gesprochen (ja, ja, das ist nur ein Roman, aber solche Romane würde man dann halte eben nicht schreiben, hätte man mit Menschen gesprochen):
Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich das Gespräch mit Adas Eltern plötzlich scheue. Ich will keine Absolution von ihnen, keine späte Verbrüderung mit denjenigen, die auf meine Eltern und ihr ganzes System zu Recht wütend waren. Ich wollte mich auch nicht als diejenige produzieren, die nun ihre Hausaufgaben gemacht und im Gegensatz zu den ewig Gestrigen verstanden hatte, aus was für einem Land sie kam.
S. 155
Hätte sie mit ihnen gesprochen, wüsste sie, dass Christ*innen in der DDR dazu genötigt wurden, vor der ganzen Klasse aufzustehen. „Wer von Euch glaubt an Gott? Du, Sabine? Dann steh mal bitte auf. Wer noch?“
Rabe schreibt:
Die Angehörigen der Opfer erfuhren nichts über den Verbleib ihrer Kinder, Väter, Mütter, Tanten, Onkel, Nachbarn und Freunde. Das Schweigen darüber war so total, dass heute kaum noch jemand um die Verbrechen der Anfangszeit der DDR weiß, obwohl es nahezu keine Familie geben kann, die davon unberührt blieb.
S. 265
Ich habe es immer geahnt: Ich bin einzigartig! Ich bin der einzige Ossi, der irgendwie wusste, dass in den 50ern Menschen abgeholt wurden. Dass es Menschen gab, die Angst hatten, wenn Autotüren klappten, weil sie dachten, jetzt würden sie geholt.
Sorry, Frau Rabe. „Auf der Suche nach Gatt“ wurde in der Schule behandelt. Da wurde uns natürlich erklärt, dass das am 17. Juni die Konterrevolution war. Aber man konnte seine Eltern fragen, was da war, was sie gemacht haben.
Der andere Teil meiner Familie kommt aus Frankfurt/Oder, einer Bezirkshauptstadt, der achzehntgrößten Stadt in der DDR, von der Sie schreiben: „Irgendwas Kleines in Brandenburg“. Die Mutter hat in der Bahnhofsmission gearbeitet. Der Vater war in den letzten Kriegstagen gefallen, als er sich vom Volkssturm abgesetzt hatte und von einer irrlichternden Granate erwischt wurde. Alleinstehende Frau mit fünf Kindern. Sie wurde eingesperrt. Das wissen wir, das weiß die ganze Familie, das weiß deren Umfeld. Christ*innen in der DDR wissen das. Sie haben halt nicht mit Ihnen drüber gesprochen und hätten das zu DDR-Zeiten auch nicht getan. Weil sie aus einer Funktionärsfamilie kommen. Mein Gott!
Sie fordern eine Aufarbeitung der SED-Zeit und Rezensenten greifen das begeistert auf: Ja, die Ossis sollen mal ihren Dreck im Keller aufarbeiten, so wie wir es ja getan haben 1968.
War Ihre Familie in das SED-Regime verwickelt? Gab es in Ihrer Familie Mitarbeiter der Staatssicherheit? Würden Sie sagen, dass Ihre Familie zu DDR-Zeiten eher Täter oder Opfer waren? Gehörten Sie zu den Mitläufern? Hat Ihre Familie vom SED-Regime profitiert? Gibt es in Ihrer Familie Mitglieder, die auf Grund ihres Glaubens oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt wurden? Hat Ihre Familie aktiven Widerstand gegen das SED-Regime geleistet? Ist es wichtig, dass kommende Generationen in der Schule über das Unrecht, das in der ehemaligen DDR begangen wurde, aufgeklärt werden?
Diese Fragen werden nicht gestellt. Man befragt uns nicht dazu und misst daran auch nicht den Grad unseres politischen Bewusstseins oder den Zustand der Republik.
S. 73
Sorry, Frau Rabe, da haben Sie wohl einen Ditsch von ihrem Elternhaus mitbekommen. Wer ist denn „man“? Wer soll denn was fragen? Der Staat uns? Sollten wir das nicht selbst tun? Und ja, 1) hat der Staat uns befragt bzw. unsere Daten abgefragt und 2) haben wir miteinander geredet. Das passierte in den 90ern ziemlich intensiv. Nur haben Sie davon nichts mitbekommen, weil Sie da noch zu klein waren. Das kann man Ihnen nicht vorwerfen, was man Ihnen vorwerfen kann, ist, dass Sie selbst nicht reden wollten (siehe oben) und dass Sie auch nicht recherchiert haben. Über „Wir müssen alle mal reden und wir brauchen ein 68 für den Osten“ habe ich auch in Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten noch ausführlicher besprochen.
Berlinerisch
Auf S. 210 schreibt Anne Rabe zum Berlinischen:
Zwar ist es in der intellektuellen Landschaft Ostberlins ganz schick gewesen, den Jargon der Arbeiter zu imitieren
S. 210
Anne Rabe hat an der FU-Berlin ab 2005 Germanistik und Theaterwissenschaften studiert. Als ich dort 2007 anfing, war sie wahrscheinlich schon weg. An der FU lehrte damals noch Prof. Norbert Dittmar, der zum Berlinischen geforscht hat. Aber eigentlich braucht es keine sprachwissenschaftliche Ausbildung, um zu wissen, dass das Berlinern in Berlin und Brandenburg in allen Bevölkerungsschichten üblich war. Ich konnte berlinern, schon bevor ich mit Arbeitern in Kontakt gekommen bin. Meine Eltern sind aus Jena und Wittenberg. Von denen habe ich es nicht gelernt. Das kam ganz normal über den Kindergarten und die Schule. So hat man gesprochen. Ein Kollege, der in den 90ern an der HU studiert hat, hat Vorlesungen in der Literaturwissenschaft gehört, in denen der Dozent bestens berlinert hat. Wir alle haben berlinert. Viele sind zweisprachig und können Standardsprache und Dialekt sprechen. Im Westen hat man den Schüler*innen das Berlinern ausgetrieben, so wie man in Bayern den Kindern das Bayrische abgewöhnt hat. Ich habe genau einen Freund aus Westberlin, der berlinert. Sonst sprechen alle West-Berliner hochdeutsch.
Ein möglicher Grund dafür, dass die Schulen nicht versucht haben, uns die Dialekte abzuerziehen, könnte natürlich sein, dass auch Funktionäre Dialekt sprachen, aber das ist etwas Anderes als das, was Anne Rabe geschrieben hat.
Jugendweihe – unser erster subversiver Akt
Zur Jugendweihe schreibt Rabe:
Das zweite Bekenntnis legte das Kind dann selbst ab. In der achten Klasse, also mit 14 Jahren, sollte das sozialistische Kind qua Jugendweihe in die Welt der Erwachsenen aufgenommen werden und musste dafür lauthals geloben, sich „mit ganzer Kraft für die große und edle Sache des Sozialismus einzusetzen“.
S. 114–115
Ja, die Jugendweihe war lustig! Und es war ganz praktisch, dass wir alle berlinerten (siehe vorigen Abschnitt). Wir sollten alle dieses blöde Gelöbnis sprechen bzw. dann immer jeweils nach einem Stück Text sagen: „Ja, das geloben wir!“
Was wir stattdessen sagten, war: „Ja, das globen wir.“, was übersetzt ins Standarddeutsche „Ja, das glauben wir.“ heißt. Wir hatten alle Spaß. Für viele war das ihr erster subversiver Akt. Hat keiner gemerkt.
Funktionärssprache
Ich hatte oben schon das Zitat zum Reden mit Oppositionellen. Darin war folgender Satz enthalten:
Ich wollte mich auch nicht als diejenige produzieren, die nun ihre Hausaufgaben gemacht und im Gegensatz zu den ewig Gestrigen verstanden hatte, aus was für einem Land sie kam.
S. 155
Ewig Gestrige ist für mich Funktionärssprache. Diese Floskel kam überall vor: im Geschichtsunterricht, im Staatsbürgerkundeunterricht, im FDJ-Studienjahr. Es ging um Revanchisten und Reaktionäre. Nun also Ossis. Hm. Vielleicht kommt diese Phrase auch im Westen vor. Ich hätte sie aber nicht in solch einem Roman verwendet.
Ein Scherz, oder?
Rabe schreibt als Ich-Erzählerin:
Hans ist das Licht des Laptops zu hell im Bett. Er stöhnt und will schlafen. Um sechs klingelt sein Wecker. Als du den Computer zuklappst, ist es nicht weniger hell. Der Mond scheint dich an. Du stehst auf und ziehst ins Wohnzimmer und schreibst: „Voller Mond, du dumme Sau/zieh dich zurück in deinen Verhau.“ Es geht doch. Geht doch noch.
Das ist ein Scherz, oder? Ich bin in der Lage Humor zu erkennen. Ist das der einzige fiktionale Teil im Roman? Oder doch mehr? Oder alles? Oder ist alles ernst?
Spinnen und Bananen
Anne Rabe bzw. ihre Ich-Erzählerin hatte es schwer. Ihre Kindheit war entbehrungsreich und hart. Sie musste auf ein Außenklo gehen, auf dem es Spinnen gab. Und grüne Bananen essen.
Liebe Frau Rabe, ich hab da ein paar Tipps für Sie: Wenn man nicht möchte, dass es an einem Ort Spinnen gibt, kann man sich ein Glas und Papier nehmen. Das Glas stülpt man über die Spinne. Das Papier schiebt man unter das Glas und dann kann man die Spinne zurück in die Natur befördern. Ich weiß, Ihre Kindheit war schwer, aber es gab hoffentlich Papier (zu meiner Zeit war das Papier knapp). Mindestens Klopapier wird es wohl gegeben haben und das sogar an dem Ort, wo sie es hätten benutzen können. Wenn es bei Ihnen kein Glas gab, gab es vielleicht diese Punkte-Becher:
DDR-Designklassiker: Punkte-Becher aus Plaste, 23.02.2024
Man hatte mit solch einem Becher leider keinen Sichtkontakt zur Spinne mehr, aber hey, Not macht erfinderisch. Wir Ossis haben eigentlich immer noch alles hinbekommen.
Und mit den grünen Bananen, das kann ich voll nachvollziehen. Die sind dann so klebrig. Aber auch da gibt es einen Trick: Man lässt die Bananen etwas liegen. Dann sind sie reif. Sie schreiben ja selbst, dass Sie schon einmal braune Bananen gesehen hätten.
Die Bananen, die ich nicht mochte, weil wir sie gegessen haben, wenn sie noch grün waren. Ich dachte lange, sie wären schlecht, sobald sie ein paar braune Stellen hatten.
S. 18
Dann müssten Ihnen doch eigentlich auch Bananen in mittlerer Reife untergekommen sein. Hätten Sie systematisch getestet, hätten Sie herausfinden können, dass man Bananen weder grün noch braun essen muss.
Übrigens: Bei uns damals war es so, dass wir überhaupt keine Bananen hatten. Auch keine grünen. Also, wir schon, denn wir lebten in Berlin und Berlin wurde immer besser versorgt als der Rest der DDR. Das hing damit zusammen, dass die Wessis nicht merken sollten, dass es bestimmte Dinge in der DDR nicht gab, wenn sie mal kurz ihr Mädchen aus Ostberlin besuchten. Also wir hatten welche, aber Ihre Eltern in Wismar nicht.
Karikatur von Bernd A. Chmura. Bananen-Republik, 1986. Aus dem Katalog der X. Kunstausstellung der DDR, Dresden. 1987/1988. S. 429. Berlin bekommt die Bananen, die restliche DDR die Schalen.
Bzw. sie hatten sehr selten welche. Ich erinnere mich an Bananen bei einer Kur in Ahlbeck. Die waren noch grün!!! In Berlin gab es aber auch nicht immer Bananen. Eigentlich gab es Südfrüchte immer so um die Weihnachtszeit, weshalb Obstsalat noch heute für mich mit Weihnachten verbunden ist.
Obstsalat in einer Schüssel von Kahla Thüringen Porzellan, Berlin, 18.12.2021. Kahla Thüringen Porzellan wurde nach der Wende für eine DM an einen Rechtstanwalt verkauft, dessen einizge Qualifikation darin bestand, einen Bruder bei der Treuhand zu haben. Na, ich schweife ab. Und man soll auch nicht so viel Information in Bildunterschriften packen.
Dass es die Südfrüchte nur zu Weihnachten gab, lag daran, dass Erich Honecker erst zum Jahresende genügend DDR-Oppositionelle in den Westen verkauft hatte, so dass dann die Bananen und Apfelsinen gekauft werden konnten. (Das war Sarkasmus.)
Übrigens: Die Szene mit der Badewanne. Ist das nicht genauso wie das mit den grünen Bananen? Stines Mutter, die Mutter der Ich-Erzählerin, war in der Küche, ihr Vater im Wohnzimmer. Sie stand in dem sehr heißen Wasser. Warum hat sie nicht einfach kaltes Wasser nachgefüllt? Warum hat sie sich und ihren kleinen Bruder in das heiße Wasser gestellt? Ich weiß, sie war noch klein und es war eine Stresssituation. Aber wenn das immer wieder passiert ist, hätte sie ja mal drüber nachdenken können. Oder war es vielleicht doch nicht so? Oder kann man das in diesem Alter noch nicht? Sie muss ja mindestens vier gewesen sein.
Mangelnde Eigenverantwortung und die Fahrt in den Abgrund
Wenn ich mich an Tim erinnere, spüre ich ihn hinter mir auf dem Schlitten sitzen. Damals in Tschechien, im Riesengebirge. Er klammert sich an mich, und wir fahren im Affenzahn einen Berg hinunter. Er vertraut mir, vertraut darauf, dass ich die Kurve noch kriege vor dem Abhang. Ich brülle: „Lenken, Timmi, du musst den Fuß raushalten!“ Aber Tim, der jünger ist als ich, vielleicht sechs oder sieben, weiß nicht, was ich meine, und so greife ich mit meinem rechten Arm hinter mich und rufe: „Spring!“ Der Schlitten saust ohne uns den Abhang hinunter.
S. 11
Die Frage ist: Wieso hat die Ich-Erzählerin nicht selbst die Füße rausgestellt? Ist Stine so? Ist Anne Rabe so? Warum greift sie nicht ein? Wenn so viel Zeit ist, dem zwei Jahre jüngeren Bruder Anweisungen zu geben, warum bremst SIE dann nicht? Ist das der bei Ossis immer wieder klischeehaft beschworene Mangel an Eigenverantwortung (siehe auch Leserbrief zum meinem Artikel in der Berliner Zeitung)? Oder nur ein schiefes Bild im Roman? Schlechte Literatur?
Schlagersüßtafel
Zum Thema Schlagersüßtafel schreibt Anne Rabe:
Darüber, wie die Revolution 89/90 auch durch die kleine Stadt gefegt war, schwieg sich meine Familie aus. Die DDR war dennoch oder gerade deshalb seltsam präsent. Ein verlorener Sehnsuchtsort. Ein Ort, an dem alles gut war und »wisst ihr noch, die Schlagersüßtafel?«. Diese Schokolade kam in fast allen Erzählungen der Eltern vor. Auch wenn sie sich ganz gut eingelebt hatten im schlechteren Deutschland, schien die Tatsache, dass es die Schlagersüßtafel nicht mehr zu kaufen gab, von größerer Bedeutung zu sein als das Haus, das sie nun bauten, die Urlaube, in die wir fuhren, und der Tenniskurs, den sie absolvierten. Irgendwann kamen sie zurück – die Ostprodukte. Sie füllten ganze Messehallen und auch die Regale in unserem Supermarkt. Plötzlich gab es wieder Bambina, Nudossi, Puffreis und Filinchen. Das erste Stück Schlagersüßtafel aber war eine Enttäuschung. So hatte sie also geschmeckt, diese DDR? Nach nichts, noch nicht einmal nach Kakaopulver. Vermutlich war das gar keine Schokolade.
S. 256
Schlagersüßtafel wird in Wikipedia als Genussmittel gelistet. Aber ich muss Anne Rabe Recht geben: Schlagersüßtafel war ungenießbar. Ich habe in Schlagersüßtafel und Klassenkeile bereits darüber geschrieben: Wir hatten sie gekauft, weil wir dachten, es wären Bilder von Schlagersänger*innen drin. Da sie zum Essen nicht taugte, benutzten wir sie, um Bauarbeiter zu bewerfen. Wie es dann weiterging, müsst Ihr in dem anderen Blog-Post lesen.
Wikipedia kann man auch die Zutaten entnehmen. Ein bisschen Kakao war drin, aber nur 7%. Übrigens lustig: Beim Lesen der Zutaten musste ich an die Mutter des Ich-Erzählers von Stern 111 denken. Sie war Lebensmitteltechnikerin und ihre Aufgabe war es, Ersatzlebensmittel aus in der DDR verfügbaren Rohstoffen zu kreieren. Vielleicht war sie ja an der Kreation der Schlagersüßtafel beteiligt. Stern 111 ist übrigens ein sehr gelungener Nachwenderoman. Wer wissen will, wie es vor der Wende war, sollte Der Turm und Krokodil im Nacken lesen.
Plagiat? Nee! Oder doch?
In einem Beitrag in der Neuen Züricher Zeitung schreibt Peer Teuwsen, dass Anne Rabes Roman auf den Schultern von Ines Geipel stehen würde. Es werden drei Stellen angeführt. In einer fahren Kinder Schlitten, in der zweiten trägt ein Vater seinen Sohn auf den Schultern und in der dritten sprechen Kinder über das Sternbild großer Wagen. Plagiat ist mein drittes Hobby. Ich bin selbst plagiert worden und habe ein entsprechendes Verfahren eingeleitet. Ich war in einer Plagiatskommission, die sich mit einer plagierten Dissertation auseindergesetzt hat. Ich habe dieses Jahr ein Plagiat in einer BA-Arbeit gefunden und ein 80seitiges Gutachten über ein Buch und das restliche Werk eines systematisch plagierenden Autors verfasst. Der Vorwurf des Plagiats gegen Rabe ist lächerlich. (Nachtrag 29.06.2024: Aber siehe unten.) Die Textstellen, die Teuwsen anführt, sind komplett verschieden, ja, sie haben inhaltlich außer den oben genannten Themen selbst nichts miteinander zu tun.
Die Antwort des Verlags ist interessant:
„Die Ähnlichkeiten sind aus unserer Sicht zufällig und allenfalls dadurch bedingt, dass die Bücher der beiden Autorinnen thematisch so nahe beieinander liegen. Die Autorinnen haben einen ähnlichen Blick auf die DDR und es gibt biografische Parallelen (so haben beide Autorinnen jüngere Brüder und kommen aus einem systemnahen Milieu)“, schreibt Rabes Verlag.
Die Brüder sind vielleicht relevant, DDR ist komplett irrelevant und Systemnähe auch. Schlitten, Brüder und den Großen Wagen gibt es auch im Westen. Jedenfalls kann man Teuwsens Artikel entnehmen, dass Geipel und Rabe befreundet waren: „Die Ältere fand es wunderbar, dass eine jüngere Autorin sich ihrer Themen annimmt und ihnen eine neue Stimme verleiht.“
Also kein Plagiat, aber der Einfluss von Ines Geipel ist wahrscheinlich für das gesamte Ideengeflecht relevant: Funktionärskinder kritisieren den Osten. Wie ich in meinem Blogpost Der Ossi und der Holocaust gezeigt habe, lügt Ines Geipel. Es geht Ihr und Anetta Kahane, ebenfalls Funktionärskind, nicht um eine Aufarbeitung von Unrecht. Sie stellen Dinge wahrscheinlich bewusst falsch dar. Wie ich damals schon sagte: Entweder sie lügen bewusst oder sie sind unwissend. Beides wäre schlecht, wenn man sich so weit aus dem Fenster lehnt. Und das ist auch für Anne Rabe so, wie ich in Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch hier gezeigt habe: Entweder sie lügt bewusst oder sie ist unwissend. Wahrscheinlich das Letztere. Schade nur, dass sie damit solch einen Schaden anrichtet.
Nachtrag vom 29.06.2024: In „Ines Geipel lügt“ habe ich eine Dokumentation des MDRs zu Ines Geipels Behauptungen zu ihrer Vergangenheit als Leistungssportlerin besprochen und auch wie sie gegen Gegner*innen vorgeht. Es sieht also so aus, als hätte sie allgemein Probleme mit der Wahrheit und ihre Behauptungen in Bezug auf den Umgang mit dem Holocaust gehen nicht auf Unwissenheit zurück. Ich habe jetzt ihr Buch Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass gelesen und habe dort erfahren, dass sie das Buch Nackt unter Wölfen kannte und auch in Buchenwald war.
Zum Thema Plagiat kann man folgendes festhalten: Das Buch von Anne Rabe ist von der Struktur genau parallel zu Ines Geipels Buch aufgebaut. Es gibt kurze Kapitel mit Impressionen aus dem Privatleben und dann längere essayistische Abschnitte mit politischer Analyse. Die Themen sind sehr ähnlich. Insgesamt gibt es einen entscheidenden Unterschied: Bei Ines Geipel gibt es ein relativ langes Quellenverzeichnis mit 79 Einträgen, überwiegend Fachaufsätzen zur DDR; das Quellenverzeichnis von Anne Rabe enthält 14 Einträge, von denen die meisten Gedichtsammlungen, Romane oder Filme sind, aus denen sie ihren Kapiteln Auszüge vorangestellt hat: Bachmann, Brasch, Brecht, Inge Müller, Einar Schleef, Wera Küchenmeister. Dazu ein Gesetz und ein allgemeiner Verweis auf das Stasi-Unterlagen-Archiv. Die Qualität der Bücher insgesamt spiegelt sich an den Quellenverzeichnissen: Professorin mit Studium der Germanistik auf der einen Seite und Person mit abgebrochenen Germanistikstudium auf der anderen Seite. Rabes Ausrede, sie habe ja kein Sachbuch geschrieben, ist lahm. Sie hat bzw. wollte genau so ein Buch schreiben wie Geipel. Sie hätte ein Quellenverzeichnis gebraucht und in diesem hätte Geipel zitiert werden müssen. Und Teuwsen ist zuzustimmen: Ines Geipel hätte in den Danksagungen als Ideengeberin genannt werden müssen. Interessanterweise gibt es bei Geipel eine Behauptung, die Rabe von dort übernommen zu haben scheint. Solche Übernahmen fallen auf, wenn das Übernommene falsch ist. Geipel schreibt:
26. April 2002. Der erste Schulamoklauf in Deutschland, die öffentlichen Morde eines Gymnasiasten, das Unvorstellbare schlechthin.
Ines Geipel, 2019: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass, Stuttgart: Klett-Cotta. S.110 des E‑Books.
Dieselbe Behauptung findet sich bei Anne Rabe und wie ich im Beitrag zu den Amokläufen gezeigt habe, ist die Behauptung falsch: Der erste Amoklauf war 1871 in Saarbrücken und dann gab es noch viele weitere. Mit Schusswaffen und Flammenwerfern usw. Zum Beispiel 1964 in Köln, 1983 in Eppstein, Hessen.
Also: Ja, es gibt auch hier ein Problem bei Anne Rabe.
Antisemitismus und Nationalismus
Auf S. 271 kommt mal eben so eine Aussage zu Antisemitismus und Nationalismus:
Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
S. 271
Wo hat sie das nur her? Quellen? Na, vielleicht von Geipel. Dass Anetta Kahane und Ines Geipel gelogen haben (oder extrem unwissend sind), wenn sie behaupten, der Holocaust sei im Osten nicht vorgekommen, habe ich schon in Der Ossi und der Holocaust besprochen. Zum (fast) nicht vorhandenen Antisemitismus in der DDR hat die Jüdin Daniela Dahn viel geschrieben. Manches ist auch im Holocaust-Post erwähnt. Andere Sachen bespreche ich im Post über die Ausstellung über jüdisches Leben in der DDR, die vom jüdischen Museum organisiert wurde.
Ich habe diverse Interviews mit Anne Rabe gelesen und in einem Interview von Cornelia Geißler von der Berliner Zeitung steht:
Auch der Historiker Patrice G. Poutrus, der eher Oschmanns Generation angehört, hat beobachtet, dass Rechte und Rechtsextreme im Osten auf ein festes nationalistisches Weltbild trafen.
Einen meiner Meinung nach entscheidenden Bestandteil des Nationalismus erwähnen die Autoren nur im Vorübergehen im Nachwort: den nationalen Taumel in der Wiedervereinigung.Dieser war vom Westen gewollt und gefördert. Die Ost-Linken haben das damals gesehen und sich davor gefürchtet. Mein Freund XY hat mir die beiden folgenden Grafiken geschenkt.
Menschen, die ihren Kopf in der Hand halten. Ein Hitlerkopf liegt am Straßenrand. Der Himmel ist schwarz. 1989Dank ich an angst in der Nacht Herzlichen Glückwunsch zur Wiedervereinigung
Deutschtümelei! Nationalismus! Das kam von der Bundesregierung. Nicht in Berlin. In Berlin wurde Kohl ausgebuht.
In Sachsen wurde er mit offenen Armen empfangen. Er hat den Ossis blühende Landschaften versprochen. Von Oskar Lafontaine, dessen Herz links schlug, und der damals Kanzlerkandidat der Partei war, in der auch Anne Rabe Mitglied ist, wollte niemand etwas Wissen. Er hat die Wahrheit gesagt. Aber „die Wahrheit ist hässlich und hat stinkenden Atem“.
Sicher ist alles nicht monokausal. Andere mögliche Ursachen werden im genannten Blog-Post diskutiert.
Nazis aus dem Westen
Im Post „Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern“: Kommentare zu einem Aufsatz von Patrice G. Poutrus, Jan C. Behrends und Dennis Kuck verlinke ich einen Fernsehbeitrag, der zeigt wie der CDU-Innenminister Jörg Schönbohm einen Jugendclub mit Nazi-Skins besucht und die Jugendlichen dort prima findet. Schönbohm war Generalleutnant in der Bundeswehr und Landesvorsitzender der CDU Brandenburg. Auch sieht man im Video, dass die Nazi-Partei Deutsche Alternative, die in Brandenburg aktiv war, von Menschen aus dem Westen aufgebaut wurde (11:25). Rabe schreibt dazu auch an einigen Stellen etwas und stellt das in Frage. Die rassistischen Ausschreitungen in Lichtenhagen erwähnt sie explizit. Auch Lichtenhagen ist ein schlimmes Beispiel von Polizeiversagen (siehe Rostock-Lichtenhagen 1992: Ein Polizeidebakel). Polizei, Justiz, Verfassungsschutz, alle Institutionen wurden vom Westen aufgebaut und waren von Westlern geleitet.6 Der Bruder meiner Schwiegermutter noch heute AfD-Wähler hat zum Beispiel das Landesarbeitsgericht in Dresden aufgebaut. Der für Lichtenhagen zuständige Polizist ist ins Wochenende gefahren. Nach Bremen. Er hat die bepissten Nazis pöbeln und zündeln lassen. Im Wikipediaeintrag zu den Ausschreitungen steht es noch krasser. Nach einer langen, langen Vorgeschichte mit Ankündigungen und Drohungen ist die gesamte politische und polizeiliche Führung ins Wochenende verschwunden. In den Westen:
Trotz der angekündigten Krawalle und der aufgeheizten Stimmung rund um die ZAst fuhr fast das gesamte politisch und polizeilich leitende Personal, das nach der Wende nahezu vollständig mit westdeutschen Beamten aus den Partnerländern Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen besetzt worden war, wie üblich am Freitag zu ihren Familien nach Westdeutschland. So waren am Wochenende der Ausschreitungen der Staatssekretär im Innenministerium, Klaus Baltzer, der Abteilungsleiter Öffentliche Sicherheit, Olaf von Brevern, der Abteilungsleiter für Ausländerfragen im Innenministerium und zum damaligen Zeitpunkt zugleich Ausländerbeauftragter der Landesregierung, Winfried Rusch, der Leiter des Landespolizeiamtes, Hans-Heinrich Heinsen, der Chef der Polizeidirektion Rostock, Siegfried Kordus, sowie der Einsatzleiter Jürgen Deckert nicht in Schwerin bzw. Rostock zugegen. Deckert hatte die Führung an den noch in der Ausbildung befindlichen Siegfried Trottnow übergeben.
Rabe lässt ihre Mutter bzw. Stines Mutter sagen, dass man Nazis aus dem Westen angekarrt habe:
Mutter hat gesagt, dass man nichts gegen Ausländer haben darf. Die machen hier die Arbeit, auf die die Deutschen keine Lust mehr haben. Und die Vietnamesen, wo sie in Rostock das Haus angezündet haben, die sind sogar schon zu Ostzeiten in Rostock gewesen, die können gar nichts dafür. Außerdem waren da auch viele Nazis aus dem Westen dabei. Die hat man extra da hingefahren, damit sie Randale machen. Das waren Rowdys. Aber im Fernsehen sagen sie immer, dass die alle Rostocker sind.
S. 88
Im Interview mit Cornelia Geißler sagt Rabe:
Als die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen in Brand gesetzt wurde, 1992, hieß es, die Neonazis seien nur aus dem Westen angefahren worden. Die Eltern, die Lehrer, die wollten das immer von sich weghalten. Aber wir Jugendlichen kannten die Nazis ganz gut, die saßen neben uns am Strand, in den Klassen, im Sportverein.
In den beiden Textpassagen gibt es verschiedene Aussagen. 1) Es waren viele Nazis aus dem Westen dabei. 2) Die Neonazis seien nur aus dem Westen angefahren worden.
Das sind die Fakten:
Gegen 12 Uhr am Sonntag hatten sich bereits wieder etwa 100 Personen vor der ZAst versammelt. Nun trafen Rechtsextremisten aus der ganzen Bundesrepublik in Rostock ein, darunter Bela Ewald Althans, Ingo Hasselbach, Stefan Niemann, Michael Büttner, Gerhard Endress, Gerhard Frey, Christian Malcoci, Arnulf Priem, Erik Rundquist, Norbert Weidner und Christian Worch. Von diesen wurde nur Endress während der Ausschreitungen festgenommen.
Also: Fakt ist, dass Neonazis aus dem Westen dabei waren. Ob die angefahren worden sind und wenn ja von wem, weiß ich nicht, aber ansonsten hatte Rabes (Roman-)Mutter Recht. Ja, auch ehemalige Funktionäre können Recht haben.
Bei den NSU-Morden war der Verfassungsschutz selbst dabei (taz, 03.04.2017). Maaßen, ein Neo-Nazi erst CDU, jetzt Werteunion, war der, der denjenigen abgelöst hat, der wegen des Versagens beim NSU gehen musste. In Leipzig Connewitz ist eine Horde von über 200 Nazis eingefallen und haben den Stadtteil verwüstet. Die Verfahren wurden verschleppt, viele sind straffrei davongekommen. Einer war Jura-Student. Er hat danach weiterstudiert und trat 2018 sein Referendariat an. Ein JVA-Mitarbeiter und Täter arbeitete fröhlich weiter in der JVA (taz: 11.01.2021, Schleppende Aufklärung). Die AfD wurde von Neoliberalen Wirtschaftsprofessor*innen aus dem Westen aufgebaut und nach und nach von West-Nazis übernommen. Das habe ich Oschmann nach seinem ersten Artikel geschrieben und ihn auf meinen Blog-Beitrag Der Ossi ist nicht demokratiefähig. Merkt Ihr’s noch? mit den Quellen verwiesen. Er hat sich herzlich bedankt und wird jetzt dafür zitiert. Die Quellenangabe hat er wohl vergessen.
Bei Enthüllungen von Correctiv zu den Deportationsplänen, die AfD-Mitglieder, CDU-Mitglieder und sonstige Neonazis diskutiert haben, habe ich mir auch mal den Spaß gemacht, zu schauen, wo die beteiligten Personen herkamen. Überraschung: Das Verhältnis West zu Ost ist 19:1. Bitteschön: Correctiv und die Nazi-Vorstellungen bzgl. Remigration.
In dieser Aufzählung darf Karl-Heinz Hoffmann nicht fehlen. Hoffmann ist ein extremer Rechtsextremist. Er hat die Wehrsportgruppe Hoffmann gegründet und hat mit 400–600 Kumpels bewaffnet für den Endsieg trainiert. (Ej, liebe Wessis, das gab es in der DDR wirklich nicht. Hört auf, vom „verordneten Antifaschismus“ zu faseln.) Hoffmann ging dann irgendwann doch in den Knast und kam schließlich 1989 wegen guter Führung und positiver Sozialprognose passend zur Maueröffnung wieder raus. Dankeschön! Hoffmann ist aus Kahla (Thüringen), ging sofort wieder rüber, kaufte die halbe Stadt auf und begann Neo-Nazi-Strukturen aufzubauen.
So war es. Wir wissen das. Nur Anne Rabe tut so, als wäre es anders. Weil sie es nicht weiß? Weil sie nie mit jemandem geredet hat? Außer mit Geipel? Weil sich das Gegenteil besser verkauft? Siehe unten.
Verbot des Themas
Anne Rabe nimmt die Kritik an ihrem Buch vorweg: Was wisst Ihr schon, Ihr Nachgeborenen!
„Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut In der wir untergegangen sind Gedenkt Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht Auch der finsteren Zeit Der ihr entronnen seid.“
Der blöde Brecht macht mich noch wahnsinnig. Er marschiert mir gerade rein in die Gedanken und mahnt und mahnt. Bilde dir kein Urteil! Bilde dir ja kein Urteil, du Nachgeborene! Ja, wieso eigentlich nicht? Das ist doch ein billiger Trick. Hinter der wortschönen Mahnerei drei Keller tief Schweigen. Dort habt ihr eure Schuld verbuddelt und verbietet uns, sie auszuheben. Sprecht uns ab, dass wir zu unserem eigenen Urteil kommen. Was kümmert’s euch? Was geht’s euch an, was wir über euch denken?
Tja, Frau Rabe. Hätten’se mal mit Adas Eltern gesprochen. Die hätten Ihnen erzählt, wie die DDR sich für Oppositionelle angefühlt hat. Das wollten Sie aber nicht. Sie haben sich geschämt. Wenn Sie ein Sachbuch über den Osten schreiben wollen oder einen sachlich richtigen Roman, dann müssen Sie recherchieren. Sie können sich nicht einfach etwas aus den Fingern saugen, von dem Sie annehmen, dass es sich gut verkauft. Die „drei Keller tief Schweigen“ fantasieren Sie herbei. Oder sie sind da. Im Haus Ihrer Eltern. Aber da hätten Sie vielleicht nicht suchen dürfen. Es ist alles besprochen und Sie haben es availible at your fingertips: einen Klick entfernt. Alles, was hier steht, kommt aus Wikipeidia bzw. den dort verlinkten Quellen. Sie habe es nicht für nötig gehalten, den Artikel über Lichtenhagen, den über Kindstötungen zu lesen. Sie dachten, dass Sie genug wüssten. So wie fast alle, die in Zeitungen und Zeitschriften über Ihr Buch geschrieben haben, sich in ihren Vorurteilen bestätigt sahen. Ich würde Ihre Arbeit nicht als Plagiat einordnen, aber als ein glattes „Durchgefallen“.
Schwarz: Das ist natürlich ein Buch auch, was, und das sage ich jetzt mal ganz bewusst als Westdeutsche, die Bundesrepublik total entlastet.
Rabe: Das ist aber interessant, weil das ist schön, dass man das immer, weil ich habe gar nicht an die Bundesrepublik gedacht dabei und ich sage das auch immer wieder, weil ja manchmal auch so Leute kommen ja aber in Westdeutschland gab es das auch und so. Da sag ich immer ja wunderbar, bitte schreibt die Bücher, weil ich finde, ich lese die auch gerne. Ich kann nur nichts darüber schreiben.
Schwarz: Aber Sie wissen was meine, ne?
Rabe: Ich weiß total, was Sie meinen.
Schwarz: Ich habe mir auch so gedacht, okay, warum lade ich denn jetzt Anne Rabe ein, um mit ihr über die dieses Buch zu reden. Warum spricht mich dann dieses Buch an? Hat das damit zu tun, dass es sozusagen …
Rabe: Ich könnte jetzt was ganz böses sagen.
Schwarz: Bitte. Nur zu.
Rabe: Das ist wirklich interessant, weil deswegen meinte ich, ich habe gar nicht an Westdeutschland gedacht bei dem Schreiben. Und ich finde auch nicht, dass man immer, wenn man über den Osten schreibt, damit automatisch was über den Westen sagt. Aber, dass sie als Westdeutsche anscheinend sofort denken, naja, das bedeutet was für mich als Westdeutsche, oder das bedeutet etwas Entlastendes für mich als Westdeutsche, wo der Westen eigentlich gar keine Rolle spielt in diesem Buch.
Das kann nicht sein. Rabe hat Germanistik und Theaterwissenschaft studiert. Sie hat den PEN Berlin mitgegründet. Sie ist politisch aktiv, Mitglied der SPD. Sie ist entweder absolut naiv oder durchtrieben. Das Buch schlägt genau in die Kerbe, in die von 60% der taz-Autor*innen und von weiß nicht wie vielen Autor*innen in Zeit, FAZ, Spiegel usw. geschlagen wird. Die Wunde ist tief und schmerzt. Und wenn keine neuen Schläge kommen, wird mal eben ein bisschen Salz reingeschüttet. Dieser Blog ist voll von Beispielen. Nur Frau Rabe hat von diesem Ost-West-Diskurs noch nichts gemerkt, obwohl sie ja einen Termin mit Oschmann auf der Leipziger Buchmesse hatte (zu dem Oschmann nicht gekommen ist).
Und weiter:
Schwarz: Ja, das bedeutet halt etwas …
Genau! Das lernt man in Pragmatik. Im Germanistik-Studium. Als Autorin und politischer Mensch sollte man das allerdings auch ohne Studium sehen können.
Rabe: Aber es ist ihr Zentrum anscheinend sofort wieder und vielleicht auch das Zentrum dieser Bundesrepublik immer noch zum Teil.
Schwarz: Ja, glaube ich jetzt nicht, dass es mein Zentrum ist, aber es bedeutet etwas für den Diskurs über Ostdeutschland, das es mir nicht so gefällt … […] Rabe: Das stimmt schon mit der Entlastung, aber das würde ich mir nicht anziehen.
Das Buch ist ein Erfolg und wird gefeiert, weil es den Westen entlastet. Die Ossis sind scheiße, alles Psychos, die in Schulen Amok laufen, ihre Kinder massenweise töten, Nationalisten und Antisemiten. Wir haben es immer gewusst und Anne Rabe hat es in ihrem Nicht-Sachbuch noch einmal gut zusammengefasst. Anschaulich bebildert mit Material aus ihrer eigenen Kindheit. Ich habe in der vergangenen Woche einem Professor für Politikwissenschaften einen kritischen Brief geschrieben. Er hat mir eine lange Antwort-Mail geschickt und mich dazu aufgefordert, doch einmal das Buch von Anne Rabe zu lesen. So gehen Fake News in unser Allgemeinwissen ein. Es wird in der Politikwissenschaft und in der Geschichtsforschung zitiert werden, obwohl es eben kein Sachbuch ist, obwohl es nicht von Fachwissenschaftler*innen begutachtet wurde.
Hier ein paar Ausschnitte aus den Rezensionen:
Die Zumutung dieses Buches besteht darin, erschütternde Lieblosigkeit und rohe Gewalt als Regelfall, nicht als Ausnahme dazustellen. Zu diesem Zweck durchziehen Archivrecherchen, Gesetzestexte und Umfrageergebnisse die 50 kurzen Kapitel. Sie vermischen sich mit Erinnerungen, Traumsequenzen und literarischen Zitaten zu einem kaleidoskopartigen Text.
Archivrecherchen hat es zu Anne Rabes Verwandten gegeben, aber wenn es Recherchen zu Rechtsextremen oder irgendwelchen DDR-Themen gegeben haben sollte, so sind sie nicht drei Keller tief gegangen, sondern waren oberflächlich. Umfrageergebnisse zum Osten gab es nicht. Rabe bezieht sich auf Umfragen wie den Erinnerungsmonitor der Uni Bielefeld und die von der Uni Hannover geleitete Mehrgenerationenstudie. Auf Ergebnisse von 2018 aus Bielefeld und es geht dabei um Erinnerungen an die Nazizeit. Diese sind „zu diesem Zweck“ ungeeignet.
Mit den folgenden Zitaten wirbt Anne Rabe selbst auf ihrer Web-Seite:
Liest man dieses Buch, sieht man Deutschland anders.
Dirk Hohnsträter, WDR 3
Ich hoffe, dass das Buch schnell in der Versenkung verschwindet. Und dass Dirk Hohnsträters Behauptung für diesen Blogbeitrag gilt.
Anne Rabe verbindet Archivarbeit mit politischem Essayismus und episodischer Autofiktion.
Katharina Teutsch, DLF Büchermarkt
Das Buch, das man jetzt lesen muss, wenn man nicht nach schlichten Antworten auf die schlichten Fragen sucht, was das Erbe des ersten sozialistischen Staats auf deutschem Boden sein könnte und warum ›im Osten‹ heute ›die Leute‹ wählen, wie sie wählen.
Ich würde ja die Antwort von Anne Rabe als schlicht bezeichnen. Sie nimmt die Gewalt, die sie in ihrer Familie erfahren hat, als monokausale Erklärung für alles.
Die Möglichkeit von Glück‹ (ist) ein Buch, das weit über seinen individuellen Gegenstand hinausreicht. Es erklärt, warum Ostdeutschland eine andere Gewaltgeschichte nach der Wiedervereinigung aufweist als Westdeutschland. (…) Und die auch den derzeit boomenden Büchern, die einer Normalisierung der DDR-Erfahrungen (und damit ihrer Relativierung) das Wort reden wollen, den Boden entziehen. Gegen den pauschalisierenden Blick hilft der aufs individuelle Schicksal. Dass es eines im Roman ist, nimmt ihm nichts an Wahrhaftigkeit. Oder an Erschütterungskraft.
Andreas Platthaus, FAZ
Ja. Ich bin erschüttert.
Wer sind eigentlich die Anderen?
Hier ist oft von „den Wessis“ und „den Ossis“, von „wir“ und „ihr“ die Rede. Das ist schlecht, denn diese Gruppeneinteilung ist Teil des Problems, das auch in diesem Beitrag besprochen wurde. Angefangen bei der Kollektivschuld, über die Scham Rabes, die angebliche Gewalttätigkeit des ganzen Ostens. Ich wollte nie ein Teil von „wir“ sein. Die DDR war mir zuwider. Zumindest der obere Teil. Also nicht Rostock sondern die Staatsführung. In einem Gymnasium in Gelsenkirchen habe ich mal gesagt, dass das Problem mit der DDR gewesen sei, dass die Herrschenden so doof gewesen seien. Das war sicher etwas vereinfachend, aber es war mein Problem. „Ihr“ habt mich zum Ossi gemacht. Prof. Dr. Naika Foroutan beschreibt das in ihrer Arbeit: „Ostdeutsche sind auch Migranten“. Mit „ihr“ sind in ihren Klischees gefangene Journalist*inne, Historiker*innen und sonstige Personen gemeint und ich hätte gehofft, dass „wir“ uns irgendwann auflösen, aber das ist nicht passiert. Wie ich an meinem eigenen Beispiel erfahren habe, werden „wir“ mehr, weil „ihr“ dafür sorgt. „Ihr“ konstruiert „Euch“ den Osten, so wie es der Oschmann gesagt hat. Jetzt helfen „Euch“ „unsere“ Kinder. Ich wünschte, das alles wäre nicht so. Ich wünschte, alle würden miteinander reden. Vielleicht hilft dieser Text.
Ich bin die Andern, Du bist die Anderen. Die Andern haben angefangen! COR: Leitkultur. 2017.
„So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen.“
Ich bitte um Entschuldigung für diesen langen Blogpost. Und das war ja nur der zweite Teil zu den Möglichkeiten für Glück.
Daniela Dahn erklärt in ihrem 1997er Buch über mehrere Seiten, warum ein einziger Satz im West-Ost-Diskurs falsch gewesen ist, und schreibt danach:
So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen. Vielleicht versteht man, daß die Ostler zu solchem Kraftakt auf die Dauer keine Lust haben und oft nur abwinken: Ihr werdet es nie verstehen!
Dahn, Daniela. 1997. Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit S. 68
Ich musste viele Sätze in Anne Rabes Buch kommentieren. Entsprechend lang sind die Blog-Posts geworden. Ich würde mich freuen, wenn sie von genauso vielen Menschen gelesen werden wie Anne Rabes Buch. Das wird wahrscheinlich nicht passieren, denn ich habe keine Buchpreis-Jury und keine Marketingmaschine auf meiner Seite. Nur Euch. Aber vielleicht schaffen wir es ja. Empfehlt die Posts weiter. Danke. Bitte.
Schlussfolgerung
Anne Rabe hat Recht mit ihrer Aussage bezüglich Schlagersüßtafeln!
Danksagungen
Ich danke meiner Such-Maschine Peer für viele Belege und auch für die immer kritische Diskussion. Ich danke meinem kleinen Bruder dafür, dass er mir die Bummi-Hefte gekauft hat, weil die alten, an die ich mich erinnert hatte, irgendwann mal weggeworfen worden waren. Ich danke meiner Frau für die fortwährende Diskussion von Ostthemen. Wenn wir nicht über die Klimakatastrophe reden, reden wir eigentlich nur über den Osten. (Hat eigentlich schon mal jemand versucht, dem Osten die Klimakatastrophe anzuhängen? Ach ne, geht ja gar nicht, denn Deutschland steht ja nur deshalb halbwegs gut in der Klimabilanz da, weil die Ost-Industrie in den 90ern abgewickelt wurde.)
Und ich danke meinem Vater und meiner Mutter für die Erlaubnis, allein als Sechszehnjähriger bis ans Schwarze Meer zu fahren, und dafür, dass sie mich nicht zum Nazi erzogen haben.
Und Ihnen/Euch danke ich dafür, dass Ihr bis hierher gelesen und alle Videos angesehen und alle verlinkten Wikipediaartikel gelesen habt.
Goschler, Constantin. 1993. Paternalismus und Verweigerung: Die DDR und die Wiedergutmachung für jüdische Verfolgte des Nationalsozialismus. In Benz, Wolfgang (ed.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, vol. 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.
(Dieser Blog-Beitrag ist aus einem Mastodon-Post vom 30.01.2024 mit anschließender Diskussion entstanden. Ich danke allen, die sich an der Diskussion beteiligt haben.)
das verleugnete Wissen um den Holocaust und die Verbrechen des NS-Regimes konnte sich gleichwohl durch das Beschweigen auf verquere Art und Weise auf die nächsten Generationen übertragen.
Die Nachfolgegenerationen sind auch heute noch mit der sprachlosen Weitergabe eines schuldbelasteten Erbes konfrontiert.
Dies gilt für den Westen, aber noch stärker für den Osten Deutschlands: Unter dem dünnen Firnis des staatlich verordneten Antifaschismus wurden in den Familien noch stärker als im Westen Einstellungsmuster tradiert und konserviert, die nahtlos an die Zeit des Nationalsozialismus anknüpften.
So, so. Alles was bei Ihnen (den Autor*innen, solcher Artikel) scheiße ist, ist im Osten noch scheißer. In jedem Artikel. Immer. Seit über dreißig Jahren. Neulich ja auch in dem Beitrag von Garet Joswig.
Sehr geehrter Herr Professor, lieber Kollege, wo ist Ihre Evidenz? Ich bin auch Wissenschaftler. Wenn ich so arbeiten würde, würden mich alle Wissenschaftler*innen in meinem Fachgebiet auslachen! Könnte ich da bitte mal irgendwelche empirische Forschung sehen? Woher wissen Sie das denn? Und dann noch vergleichend Ost-West? Waren Sie jemals in der DDR? Wie groß war die Stichprobe? Nach der Wende? Befragungen?
Aber hey, wie wäre es denn, wenn Sie (Plural für all diejenigen, die völlig evidenzfrei Klischees verbreiten) mal die Juden fragtet, die in der DDR gelebt haben? Jan Feddersen war in der Ausstellung zu Juden in der DDR im jüdischen Museum und bedauerte, dort nichts darüber gefunden zu haben, wie es wirklich war. Nämlich total antisemitisch (siehe Blog-Post Ausstellung: „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR.“). Wenn er richtig gelesen hätte, hätte er gemerkt, dass es diesen Antisemitismus, so wie er ihn sich vorstellt, in der DDR nicht gegeben hat. Aber er weiß ja, dass es ihn gegeben hat. Evidenz ist dann auch irgendwie egal.
Lesen Sie doch mal das Buch Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute: Die Einheit – eine Abrechnung von Daniela Dahn, einer Jüdin. Darin geht es auch um Antisemitismus, u.a. über Friedhöfe und was da wie passiert ist und den Vergleich mit dem Westen, wo Neonazis jüdische Gräber in die Luft gesprengt haben. Und gehen Sie in die Ausstellung im jüdischen Museum, falls die noch läuft.
Bei einer Diskussion Ihres Beitrags auf Mastodon hat sich dann auch ergeben, dass es nicht nur so ist, dass Sie keine Evidenz für Ihre Anwürfe haben, sondern dass es sogar so ist, dass es Evidenz für das Gegenteil Ihrer Behauptung gibt. Interessanterweise wird diese ebenfalls von Daniela Dahn vorgebracht.
Wie SepiaFan, von dem auch das Bild seines Bücherregals mitgeschickt wurde, angemerkt hat, zitiert Daniela Dahn in Westwärts und nicht vergessen eine Emnid-Umfrage von 1991 zum Thema Antisemitismus und diese kommt zu dem Ergebnis, dass es in den alten Bundesländern bei 16% der Befragten ausgeprägte antisemitische Haltungen gab, in den neuen Bundesländern bei 4% (S. 58). Wenn man rechtsextreme und antisemitische Einstellungen auf die DDR-Vergangenheit zurückführen will, braucht man wohl Daten aus dieser Zeit, da man bei späteren Umfragen immer auch Einflüsse der traumatischen Nach-Wende-Zeit bekommt.
Daniela Dahn hat übrigens auch ein ganzes Kapitel zum „verordneten Antifaschismus“. Sehr interessante Überlegungen. Ich möchte das Kapitel jedem, der über den Osten und Faschismus schreibt, sehr ans Herz legen. Oder an den Kopf.
Bei der Lektüre dieses Kapitels ist mir klar geworden, dass Daniela Dahn meinen Kampf schon in den 90ern geführt hat (siehe auch Zitat am Ende des Blog-Posts). Sie konnte damals bei Rowohlt Bücher veröffentlichen. Mir war der Osten damals noch halbwegs egal. Jedenfalls soweit egal, dass ich mein Wissen nicht systematisiert und aufgeschrieben habe. Das habe ich dann erst mit diesem Blog begonnen. Und dann wird einem klar, wie schlimm es in Westdeutschland war, wie lange die Menschen nichts wussten oder Dinge, die sie wussten verdrängt haben. Ich erinnere nur einmal mehr an die Skandale um die Wehrmachtsausstellung: Nein, Opi war OK. Der war zwar in der Wehrmacht, aber die haben nur lieb andere Soldaten erschossen. So wie Rommel halt, nach dem noch heute Bundeswehrkasernen benannt sind. Im Osten wussten wir dagegen von Babyn Jar und dergleichen. Hier, damit die Anwürfe nicht immer nur von mir kommen, ein paar Punkte von Wolfgang Pomrehn aus der Mastodon-Diskussion:
Als Wessi überfällt mich bei derlei Lektüre immer Fremdschämen. Als linker Wessi älteren Jahrgangs möchte ich mal ein paar aus der Hüfte geschossene Fakten erwähnen:
Bundeswehr, Geheimdienste und Polizei wurden von alten Nazis aufgebaut.
Auf einigen Lehrstühlen saßen an den Unis bis an den 1980ern alte Nazis, die sich konkret an Verbrechen beteiligt hatten.
Deserteure galten noch viele Jahrzehnte als nach Recht und Gesetz ermordet.
Sinti wurden nach 45 weiter diskriminiert, alte Naziakten über sie weitergeführt.
Nach 1990 wurden Renten an alte Faschisten v.a. im Baltikum gezahlt, die in der SS waren und sich höchstwahrscheinlich an allerlei Verbrechen beteiligt hatten.
Wer über „verordneten Antifaschismus“ in der DDR schwadroniert, will von all dem ablenken, oder ist zu blöd zu sehen, dass er eben dies tut. Das sage ich im Übrigen als jemand, der nie ein Freund der DDR-Regierung gewesen ist.
Ein paar Anmerkungen zu den Punkten: Es gibt in meiner Verwandtschaft einen Angehörigen der Wehrmacht, der in Norwegen Zivilisten erschießen sollte. Er hat sich geweigert und wurde selbst erschossen. Der westliche Teil der Familie hat darüber nie gesprochen, weil sie sich geschämt haben.
Ich habe die Goerdeler-Tochter Marianne Meyer-Krahmer kennen gelernt. Sie hat darüber berichtet, wie ihr Anfang im Westen nach der Entlassung aus dem KZ war. Wie sie als Lehrerin gearbeitet hat und wie die normale Bevölkerung auf sie reagiert hat. Diesen Text hat sie uns gegeben: Mein langer Weg zur Stunde Null.
Irgendwann in den 90ern waren wir in Mannheim. Wir durften bei der Nachbarin derjenigen wohnen, die wir besucht hatten, weil die Nachbarin verreist war. Eine Lehrerin. An der Wand hing ein Bild ihres Vaters. In SS-Uniform. Mit Totenkopf an der Mütze. Die Wohnung war ansonsten piko-bello aufgeräumt. Wenn man irgendwie der Meinung wäre, dass ein SS-Vater etwas Schlimmes ist, dann hätte man den doch wenigstens vorübergehend in die Schublade gepackt. Aber es wahr wohl normal.
In einem Fernsehbeitrag von 1959 vom Hessischen Rundfunk, immerhin 14 Jahre nach dem Krieg, kann man sehen, was west-deutsche Schüler auf Volksschulen von Hitler denken.
Ausschnitt aus der Sendung „Blick auf unsere Jugend“, Teil 1: „Hitler und Ulbricht? Fehlanzeige“ (1959)
Das ist wohl der direkte Reflex der jeweiligen Elternhäuser, unverdorben von irgendeiner Art Geschichtsunterricht: „Hitler hat für das deutsche Volk viel getan, war nur dann schlecht, dass er wahnsinnig geworden ist.“
Diese kleinen Geschichten zeigen Beispiele dafür, wie es im Westen war. Meine beschränkte Wahrnehmung, aber es ist schön, dass diese mit den Wahrnehmungen von Menschen aus dem Westen übereinstimmt.
Also, Herr Professor, lesen Sie die Bücher von Daniela Dahn und arbeiten Sie sorgfältiger.
Und liebe taz, behandelt die Ossis so, wie Ihr andere Minderheiten oder benachteiligte Gruppen behandelt: queere Menschen, Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund. Schreibt nicht einfach irgendwelchen Mist über sie und lasst das auch bei Gastautor*innen nicht zu. Danke!
Ich ende hier mit einem weiteren Zitat aus Daniela Dahns Buch von 1997 (vor 28 Jahren geschrieben):
So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen. Vielleicht versteht man, daß die Ostler zu solchem Kraftakt auf die Dauer keine Lust haben und oft nur abwinken: Ihr werdet es nie verstehen!
Dahn, Daniela. 1997. Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit S. 68
Seit 2013 gibt es Westler, die zuhören und die so tun, als würden sie etwas verstehen, als wären sie eine Alternative, und das ist ein ernsthaftes Problem.
Quellen
Dahn, Daniela. 1997. Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit (Rororo Sachbuch 60341). Hamburg: Rowohlt Verlag.
Ein Artikel in der taz über eine Ausstellung im jüdischen Museum beginnt mit der Unterüberschrift: „Jüdische Linke waren in der DDR willkommen. Obwohl sie ab 1933 vor den Nazis geflüchtet waren, wurden sie in der DDR bald antisemitisch diskriminiert.“ Diese Kurzzusammenfassung ist das, was viele Leser*innen als einziges lesen. Sie ist falsch.
Hier einige Passagen:
Die Geschichte der Zadeks war kein Einzelfall. Gemessen an der geringen Zahl der in Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR lebenden Jüdinnen und Juden waren diese überproportional oft in Führungspositionen vertreten. Das änderte sich, als man 1948 damit begann, massive Kontrollen aller Parteimitglieder und Funktionsträger durchzuführen.
Hier wird zuerst festgehalten, dass Jüd*innen willkommen waren und dass sie, da es sich ja auch um vertrauenswürdige Remigrant*innen handelte, in führende Positionen eingesetzt wurden.
Dann schreibt Jens Winter von stalinistischen Säuberungen:
Vor allem die „Westemigranten“ gerieten so ins Visier der Partei. Als Westemigranten bezeichnete man diejenigen, die vor dem Nationalsozialismus zunächst in den Westen geflohen oder in westliche Kriegsgefangenschaft geraten waren. Allein der Umstand der Westemigration genügte, um in Verdacht zu geraten, ein „imperialistischer“ oder „amerikanischer Agent“ zu sein. Reichte das zur Stützung einer Anklage nicht aus, warf man den Personen auch noch „Trotzkismus“ oder „Zionismus“ vor.
Ohne Jüdinnen und Juden explizit als Feinde zu benennen, wurden diese de facto oftmals zu den Opfern der bizarren Reinigungsrituale, die wegen ihrer Eigenlogik im Grunde unabschließbar waren.
Hier wird es interessant. Die Jüd*innen wurden nicht als Feinde benannt, was daran liegen könnte, dass sie nicht als solche wahrgenommen wurden. Und da es bei den Säuberungen auch um den Unterschied zwischen Ost- und Westemigrant*innen ging (Osten = Moskau = gut und vertrauenswürdig, Westen = kapitalistisch und dubios), waren eben Jüd*innen, die aus dem Westen zurückkamen in der Zeit der Säuberungen einem Generalverdacht ausgesetzt, so wie Nicht-Jüd*innen auch.
Auch Gerhard Zadek wurde 1952 nach der Auflösung des Amts für Information nach Mecklenburg versetzt. Zu diesem Zeitpunkt lebte er gerade erst fünf Jahre wieder in Deutschland. In Mecklenburg sollte er von nun an stellvertretend das SED-Bezirksorgan Freie Erde leiten – eine Degradierung. Als er 1953 trotz seines Studiums auch noch Gießereiarbeiter werden sollte, verweigerte er sich. Er sattelte um, studierte Patentingenieurwesen und wurde anschließend Direktor des VEB Schwermaschinenbaus. Alice Zadek wurde zur Schulungsleiterin für die Nationale Front herabgesetzt.
Diese Passage zeugt von einer Unkenntnis der DDR. In Ungnade Gefallene wurden nicht Direktor des VEB Schwermaschienenbaus. Das war eine verantwortungsvolle Position und letztendlich eine Rehabilitation. Wenn es einen irgendwie gearteten strukturellen Antisemitismus gegeben hätte, wäre Gerhard Zadek raus gewesen und nicht Direktor. Genauso wenig wird man zur Schulungsleiterin für die Nationale Front. Das wurden nur vollständig ins System integrierte Personen.
Auch waren nicht ausschließlich Jüdinnen und Juden von den Säuberungen betroffen, jedoch häufig. Ostemigranten blieben dagegen in der Regel verschont, auch wenn sie jüdisch waren.
Hier schreibt Jens Winter es selbst. Gerhard und Alice Zadek waren nach London emigriert und als Westemigranten verdächtig. Der Artikel ist, wie viele, tendenziös mit einer irreführenden Überschrift. Die willige Leser*in kann die Details aber immerhin im Text finden und sich dann über die Widersprüchlichkeit wundern.
In der Ausstellung im Jüdischen Museum kommen Parteikontrollverfahren und ihre Eigenlogik leider zu kurz. Dabei wäre es sinnvoll gewesen, gerade hier genauer hinzusehen, um ein Bild von der Vielgestaltigkeit des Antisemitismus zu vermitteln. Auch hätte das Thema die Möglichkeit geboten, diese in dieser Form spezifische historische Verbindung von Kommunismus und Antisemitismus aufzuzeigen.
Wie schon in einer ersten Besprechung durch einen anderen Autor wirft der Autor dieses Artikels dem Jüdischen (!!) Museum vor, nicht noch mehr Antisemitismus gefunden zu haben. Vielleicht liegt es einfach daran, dass es ihn abgesehen von den stalinistischen Prozessen in den 50er Jahren nicht gab.
Max Kahane wird angesprochen, aber es wird glatt unterschlagen, wie Max Kahanes Leben nach der Ablösung 1952 im Zusammenhang mit den Prozessen in der CSSR weiter verlief. Max Kahane war ganz oben mit dabei. Er hatte 1949 ADN gegründet. Nach 1952 hat er im Ausland Prozesse begleitet (Eichmann), war Leiter des NDs und somit die röteste Socke im ganzen Land. Wikipedia listet die folgenden Auszeichnungen auf:
1956: Hans-Beimler-Medaille der DDR – als ehemaliger Kämpfer der Internationalen Brigaden
1959: Vaterländischer Verdienstorden der DDR (Silber)
1961: Franz-Mehring-Ehrennadel des Verbandes der Journalisten der DDR
1970: Vaterländischer Verdienstorden der DDR (Gold)
1974: Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden
In meinem Beitrag „Der Ossi und der Holocaust“ gebe ich eine Liste von jüdischen Personen an, die in der DDR höchst angesehen waren und in Kultur, Wissenschaft oder Politik wichtige Positionen innehatten.
Die Sache mit dem Antisemitismus in der DDR ist Quatsch. Die DDR allgemein war antireligiös. Christ*innen konnten in der SED keine Karriere machen, weil Religion als Opium für’s Volk galt. Das galt nicht für Jüd*innen, wobei die meisten ohnehin nicht religiös waren. Die Haltung zu Israel war kritisch, weil Israel im anderen Block war. Ich weiß, dass es manchen schwer fällt, das auseinanderzuhalten, aber aus einer kritischen Haltung gegenüber Israel von einem Ostblockstaat folgt nicht unbedingt Antisemitismus.
Im Artikel wird eine Sendung im Deutschlandfunk zitiert. Zwei Braschs (Marion, Lena) unterhalten sich mit Peter Kahane. Marion Brasch berichtet, wie sie als Jungpionier 1974 den PLO-Chef Yassir Arafat am Werbellinsee begrüßt hat. Ihre Mutter meinte: „Wenn der wüsste, dass Du Jüdin bist.“. Für mich ist das ein weiteres Zeichen dafür, dass das Jüdischsein in der DDR überhaupt keine Rolle gespielt hat. Es war für den Staatsapparat kein Problem ein Kind aus einer jüdischen Familie den Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation begrüßen zu lassen. Die Familie Brasch war sehr bekannt (der Vater Horst Brasch war Kulturminister) und jeder wusste, dass es sich um eine jüdische Familie handelte, also war es auch den zuständigen Organen bekannt, wer da wen begrüßte.
Dieser Text wurde am 01.09.2019 begonnen und ist leider immer noch nicht ganz fertig, aber er soll jetzt mal sichtbar werden.
Einleitung
Die Wessis versuchen jetzt, den Osten zu verstehen. Ein bisschen spät, denn das Kind ist in den Brunnen gefallen. Dazu gibt es verschiedene Analysen in Zeitungen, die für die Meinungsbildung relevant sind. Einen wichtigen Punkt aus zwei dieser Analysen möchte ich in diesem Beitrag besprechen: DDR und Holocaust. Die AutorInnen der besprochenen Beiträge sind jeweils aus dem Osten: Ines Geipel und Anetta Kahane. Das macht ihre Aussagen um so verwunderlicher. Sehen wir uns die Aussagen von Ines Geipel und Anetta Kahane im Detail an:
Die West-Gesellschaft des direkten Nachkriegs, die sich manisch schönputzte, die schier märchengleich Kohle machte und sich in ihrer Unfähigkeit zu trauern verpuppte. Die postfaschistische DDR der fünfziger Jahre dagegen wurde zur Synthese zwischen eingekapseltem Hitler und neuer Stalin-Diktatur, planiert durch einen roten Antifaschismus, der einzig eine Heldensorte zuließ: den deutschen Kommunisten als Überwinder Hitlers. Mit dieser instrumentellen Vergessenspolitik wurde im selben Atemzug der Holocaust für 40 Jahre in den Ost-Eisschrank geschoben. Er kam öffentlich nicht vor.
Im Osten war eine systemische und individuelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah nicht gewollt. Dies hätte zu Fragen nach Menschenrechten oder Minderheitenschutz geführt, die nur bei Strafe des Untergangs der DDR zu beantworten gewesen wären.
Die krasseste Behauptung ist die von Geipel, der Holocaust sei öffentlich nicht vorgekommen.7 Diese Behauptung ist leicht zu widerlegen und Matthias Krauß hat das bereits 2007 getan.8 Für die Behauptung von Kahane muss man etwas weiter ausholen.
Schulbildung: Geschichts- und Literaturunterricht
Die Beschäftigung mit dem Holocaust zog sich durch die gesamte Schulbildung. Die Schulbildung war in der DDR zentral geregelt, d.h. alle Schülerinnen und Schüler wurden nach demselben Lehrplan und mit denselben Lehrmaterialien unterrichtet.
Geschichtsunterricht
Die Nazizeit wurde in der 9. Klasse behandelt. Im Geschichtsbuch der 9. Klasse findet man mehrere Seiten, auf denen Verbrechen an Juden thematisiert werden: Antisemitische Hetze, Rassengesetze, Boykottaufrufe, Berufsverbote, zerstörte Synagogen, Enteignungen. Es folgen Seiten aus dem Geschichtsbuch von 1977 (8. Auflage der Ausgabe von 1970):
Zusammen mit einem Bild von Auschwitz-Birkenau wird auf die acht Millionen Menschen hingewiesen, die in Konzentrationslagern ermordet wurden: „in erster Linie Arbeiter, Kommunisten, Sowjetbürger, progressive Angehörige der Intelligenz und Juden“.
Bericht über den Generalplan Ost im Geschichtslehrbuch 9. Klasse von 1988.Bericht über die Planung und Umsetzung der Ermordung von slawischen Völkern und Juden im Geschichtslehrbuch 9. Klasse von 1988.
Judenverfolgung und Wannseekonferenz werden explizit thematisiert. Die rassisch begründeten Morde werden klar angesprochen:
Errichtung weiterer Konzentrationslager. Die Faschisten pferchten weitere Millionen Häftlinge — Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Antifaschisten verschiedenster Klassenzugehörigkeit, rassisch verfolgte, vor allem Juden, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und andere Häftlinge — in unzähligen Konzentrationslagern zusammen (vgl. Karte). Auf polnischem Boden entstanden die KZ Auschwitz, Bełżec, Kulmhof, Majdanek, Sobibor und Treblinka. In diesen größten Vernichtungslagern wurden mehr als sieben Millionen Menschen unter entsetzlichen Qualen umgebracht.
Geschichtslehrbuch 9. Klasse von 1988. S. 168–169
Bericht über den Massenmord in Vernichtungslagern im Geschichtslehrbuch 9. Klasse von 1988.Bericht über die Ermordung von 56.000 Juden im Warschauer Ghetto im Geschichtslehrbuch 9. Klasse von 1988.Bericht über den Massenmord in Vernichtungslagern in der Zusammenfassung des Abschnitts im Geschichtslehrbuch 9. Klasse von 1988.
In der Zusammenfassung findet sich auch noch mal explizit folgendes:
durch sogenannte ‘Straf- und Vergeltungsaktionen’ begannen die Faschisten den Massenmord an Millionen Hitlergegnern und Angehörigen verschiedener Völker, insbesondere von Bürgern der Sowjetunion und Polens sowie von Juden vieler europäischer Staaten. […] 20. Januar 1942 ‘Wannsee-Konferenz’ beschließt Massenmord an Juden
Geschichtslehrbuch 9. Klasse von 1988. S. 173
In den Empfehlungen für die außerunterrichtliche Lektüre kamen Romane vor, die auch im Literaturunterricht behandelt wurden:
Literaturunterricht
Wir haben in der 9. Klasse Kinderschuhe aus Lublin von Johannes R. Becher gelernt. Viele haben das aufgesagt (33 Strophen). Die, die es nicht selbst gelernt haben, haben es zumindest viele Male gehört. Bechers Balade von den Dreien war ebenfalls im Lesebuch der DDR 9. Klasse (Ausgabe 1980) enthalten. Dieses Gedicht hatte nur neun Zeilen. Das haben die aufgesagt, denen die Kinderschuhe zu lang waren. Ich habe es oft gehört.
Wir haben Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz gelesen. Im Buch geht es um ein jüdisches Kind, das im KZ Buchenwald versteckt wird. Der Mord an den Juden wird ganz klar thematisiert:
Unter den 6000 jüdischen Häftlingen des Lagers verursachte der Befehl einen Aufruhr der Angst und Verzweiflung. Zuerst war ein Schrei des Entsetzens in ihnen aufgebrochen. Sie wollten die schützenden Blocks nicht verlassen. Sie schrien und weinten, wussten nicht, was sie tun sollten. Wie ein wütender Wolf hatte der furchtbare Befehl sie angesprungen, hatte sich in sie verbissen, und sie konnten ihn nicht mehr abschütteln. Ungeachtet von Weisangks Befehl, die Blocks nicht zu verlassen, stürzten viele der jüdischen Häftlinge fort, kopflos und in höchster Not. Sie rannten in andere Blocks hinein, in die Seuchenbaracke des Kleinen Lagers, ins Häftlingsrevier. »Helft uns! Versteckt uns!«
»Wie euch verstecken? Wir kommen doch selber dran.«
Trotzdem, die Blocks nahmen sie auf. Man riss ihnen die jüdischen Markierungen von den Kleidern, gab ihnen andere dafür. Köhn {und der Kapo vom Revier} steckten die Hilfesuchenden als »Kranke« in die Betten, gab ihnen ebenfalls andere Markierungen und Nummern. Manche der Gehetzten versteckten sich auf eigene Faust und krochen in den Leichenkeller des Reviers. Andere wieder stürzten in die Pferdeställe des Kleinen Lagers, in der Masse untertauchend. Und doch war diese Flucht die sinnloseste, denn gerade hier steckten viele jüdische Angehörige fremder Nationen. Aber wer überlegte, wer dachte klar, wenn er vom Wolf gehetzt wurde … Was in den Blocks der jüdischen Häftlinge zurückblieb, unterlag schließlich der Lähmung des mörderischen Befehls. Verstört sahen sie dem Kommenden entgegen. Die Blockältesten, selbst jüdische Häftlinge, hatten nicht den Mut, zum Marsch nach dem Tor antreten zu lassen. Dort wartete der Tod! Konnte man ihn nicht auch hier erwarten?
Bruno Apitz. 1958. Nackt unter Wölfen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale). Zitiert nach Ausgabe vom Aufbauverlag, 2012, S. 274–275
Zum Buch gab es 1963 eine Verfilmung von Frank Beyer für die DEFA (siehe Filme). Nackt unter Wölfen erschien in 30 Sprachen und erreichte eine Gesamtauflage von mehr als zwei Millionen. (Nachtrag 19.06.2024: Ines Geipel spricht in ihrem 2019 erschienenen Buch Umkämpfte Zone auf S. 36 des Ebooks selbst von Nackt unter Wölfen.)
Professor Mamlock (ein Theaterstück von 1934) wurde 1961 verfilmt und in Schulen gezeigt. Der Film handelt von einem jüdischen Klinikleiter und dessen Familie. Arbeitsverbot, Inhaftierung. Ein Sohn flieht. Professor Mamlock begeht Selbstmord.
Edu und Unku wurde ebenfalls im Literaturunterricht behandelt. Unku ist ein Sinti-Mädchen, das in Auschwitz ermordet wurde.
Die erstmals 1958 veröffentlichte Erzählung Frühlingssonate von Willi Bredel befand sich im Lesebuch der 9./10. Klasse.9 Es ging um einen jüdischen Politoffizier, der mit der Roten Armee nach Deutschland gekommen war. Er hört die Musik, die eine Familie mit Klavier und Fagott spielt, kommt in deren Wohnung, immer wieder, bringt Essen mit. Sie werden vertraut. Eines Tages fragt die Familie ihn nach seinem Lieblingsstück und er nennt Beethovens Frühlingssonate. Die Familie studiert das Stück ein, spielt es vor dem Offizier und dieser bricht zusammen und verwüstet die Wohnung. Daraufhin wird er verhaftet und eingesperrt und von seinen Vorgesetzten verprügelt. Der Familienvater – ein deutscher Professor – entschuldigt ihn. Hier Auszüge aus dem Text, der aus seiner Perspektive geschrieben ist:
Der Familienvater:
Ich beobachtete Ruthilde, sie spielte vortrefflich. Plötzlich aber sah ich sie erschrecken: Hauptmann Pritzker wankte an den Tisch und goss den Inhalt der Wodka-Karaffe in ein Bierglas. Der Hauptmann goss in einem einzigen Zug den Wodka in sich hinein. Aufhören! Um Gottes Willen aufhören, dachte ich. Ruthilde aber spielte weiter – und wie sie spielte. Meine Frau musste einsetzen. Der Hauptmann hatte beide Hände vors Gesicht gepresst, als litte er Qualen. Was bedeutete das alles nur? „Warum spielten sie noch?
Plötzlich geschah es. Ein Schrei dem unverständliche Worte folgten – und plötzlich riss der Hauptmann mit einem Ruck die Tischdecke samt allem, was darauf stand herunter. Meine Frau schlug mit dem Kopf auf die Tasten des Flügels – wie ohnmächtig. Irmgart und Hänschen, zu Tode erschrocken, rannten aus dem Zimmer. Der Hauptmann zog mit seinem ganzen Gewicht an dem Schrank, in dem unsere Gläser und etwas Geschirr standen, so dass er über den Tisch fiel. Er zerrte mit einem Griff Vorhänge und Gardinen vom Fenster. Einem Stuhl gab er einen Tritt. Und ununterbrochen schrie er Flüche oder Drohungen in seiner Muttersprache heraus. Ruthilde, Geige und Bogen noch in der Hand, stand da und rührte sich nicht. Gleich wird er über sie herfallen, dachte ich, bereit, mich ihm entgegenzuwerfen. Statt dessen aber hockte er sich plötzlich in den Sessel, legte den Kopf auf die Lehne und weinte, schluchzte herzzerreißend. Ich hatte meine Frau auf das Sofa gebettet, jetzt trat ich zu meiner Tochter und legte den Arm um ihre Schulter. So blickten wir auf den Unglücklichen, der den Kopf hin und her warf und wie ein Kind wimmerte. Endlich kamen Soldaten der Militärpolizei und führten ihn ab.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 164–165. (Zitat mit freundlicher Genehmigung der Willi-Bredel-Gesellschaft-Geschichtswerkstatt e. V., Hamburg)
Die Erklärung für das Verhalten wird am nächsten Tag von einem anderen Offizier geliefert:
Heute mittag nämlich hat mich ein junger Offizier von der Kommandantur aufgesucht. Er bat für seinen Landsmann um Entschuldigung und erbot sich, den Schaden zu ersetzen. Dann erzählte er mir das Schicksal des Hauptmanns. Es ist noch tragischer, als wir vermuten konnten. Hören Sie nur:
Hauptmann Pritzker war vor seiner Einberufung zur Sowjetarmee Musikpädagoge am Konservatorium in Kiew. Er war verheiratet, hatte eine Tochter und einen Sohn, beide noch schulpflichtig. Im Jahre 1942 haben deutsche Soldaten der Hitler-Wehrmacht in Kiew Zehntausende Juden, Männer, Frauen und Kinder, zusammengetrieben wie Vieh und unweit der Stadt vor ihren Gräbern erschossen. Unter den Opfern befanden sich des Hauptmanns Frau und Kinder. Die Familie hatte am Abend, bevor Pritzker einberufen wurde, die Frühlingssonate von Beethoven gespielt.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 165.
An einer anderen, aus der Sicht des Oberst der sowjetischen Militärkommandanturer, der den Hauptmann verhört und geschalgen hat, erzählten Stelle heißt es:
Der Oberst überlegte … Da liest man in den Zeitungen, hört in Rundfunksendungen, auch in Gesprächen: Bei Worowschilwograd zwölftausend Juden massakriert. In Kertsch Tausende Einwohner vor der Stadt füsiliert. In Kiew zehntausende Juden und Kommunisten gemeuchelt und in Massengräber verscharrt. Man liest es, ist entsetzt, aber es dringt nicht mehr richtig ins Bewusstsein; der Verstand wehrt sich diese Häufung von Verbrechen aufzunehmen.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 168.
Der Bericht des Professors endet damit, dass er den Hauptmann entschuldigt:
„Die Schuldigen sind doch eigentlich wir“: sagte der Professor, „ich meine, wir Deutschen. ” Er blickte auf und fuhr fort: „Man stelle sich vor: Ein Offizier befindet sich als Sieger in dem Land, aus dem die Menschen kamen, die in seiner Heimat seine Frau und seine beiden Kinder umgebracht haben. Die Mörder sind besiegt, aber die Menschen dieses Landes sind den Mördern nicht in den Arm gefallen, sie haben sie gewähren, das heißt morden lassen. Und einsam geht er durch die Stadt der Besiegten. Da sitzt in ihrem Haus eine Familie – nicht einer fehlt: Mann, Frau, Töchter, Sohn – sie musizieren, spielen Schumann, Brahms und Mozart. Er steht auf der Straße und lauscht. Jeden Akkord kennt er, er ist ja Musiklehrer, ein Freund der Hausmusik. Musik ist stärker als Hass. Gleich einem Bittsteller klopft er an die Tür der Besiegten und — ja, der Mitschuldigen an seinem und seines Landes Unglück. Er darf zuhören und ist glücklich. Bei Deutschen, den Landsleuten derer, die seine Frau und Kinder und ungezählte Tausende anderer Frauen und Kinder in seiner Heimat ermordet haben. Er denkt daran, er muss immer wieder daran denken, und ihn packt, ihn überwältigt das ihm zugefügte Leid. Er will es betäuben, er will nicht, dass seine deutschen Bekannten etwas davon merken. Er trinkt, um zu vergessen. Und gerade das Stück, das sie nichtsahnend ihm zur Freude spielen, wird ihm zur größten Qual … ja, wir sind die Schuldigen. Die Schuldigen sind wir.”
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 166.
Man beachte, dass bei Bredel 1958 auch schon ganz klar auf die Rolle der Wehrmacht bei der Massenvernichtung der Juden hingewiesen wird. Die ganze Ungeheuerlichkeit ist im Artikel über Babyn Jar in Wikipedia ausführlich dokumentiert. SS und Wehrmacht haben gemeinsam 33.771 Juden in einer Schlucht bei Kiew ermordet und dann vor Kriegsende noch versucht, die Spuren zu beseitigen. Menschen aus dem Osten waren sehr erstaunt, was die Wehrmachtsausstellung noch 1995–1999 für einen Aufruhr erzeugen konnte. Wir wussten Bescheid. Wir hatten es spätestens in der 10. Klasse gelernt.
Wikipedia schreibt zur Wehrmachtsausstellung:
Die breite Öffentlichkeit nahm so erstmals historisch gut erforschte, aber damals allgemein noch wenig bekannte Sachverhalte zur Kenntnis:
den Beginn des Holocaust in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, den die Wehrmachtsführung mit plante und dann arbeitsteilig mit durchführte,
die Beteiligung ganzer Truppenteile an diesen Verbrechen, wobei Widerstand bis auf wenige Ausnahmen ausblieb,
den in Wehrmachtsführung wie einfachen Truppen weit verbreiteten Antisemitismus und Rassismus,
die verbrecherischen Befehle (zum Beispiel den Kommissarbefehl) und ihre weithin widerspruchslose Ausführung und
die als Kriegsziel beabsichtigte millionenfache Vernichtung der osteuropäischen Zivilbevölkerung.
In aktuellen politischen Diskussionen wird immer wieder behauptet, dass es in der DDR keine systematische Aufarbeitung des Faschismus gegeben habe, wohingegen das in der BRD nach 1968 geschehen sei. Wie das Wikipedia-Zitat nahelegt, waren die Fakten Experten bekannt, jedoch kein Allgemeinwissen. In der DDR kam niemand an diesen Fakten vorbei. Die Großnichte von Hermann Göring begann sich 1968 für ihren Großonkel zu interessieren und suchte nach Literatur. Sie hat in einem Interview im Jahre 2024 gesagt, dass die besten Geschichtsbücher zum Thema aus der DDR kamen (Reich, 2024).
Überlebende wurden in die Schulen eingeladen. Schulen wurden nach Widerstandskämpfern benannt z.B. nach Herbert Baum (jüdischer Widerstandskämpfer). Nach der Wende zog das Heinrich-Hertz Gymnasium in die Gebäude der POS Herbert Baum. Es gibt jetzt keine Schule mehr, die nach ihm benannt ist.
Neulehrer
Bei der ganzen Sache mit der Schulbildung sollte man auch bedenken, dass Nazis nach dem Krieg im Bildungssystem der DDR systematisch durch sogenannte Neulehrer ersetzt wurden. 40.000 Neulehrer. Laut Wikipedia waren 1949 67,8 Prozent aller Lehrerstellen mit Neulehrern besetzt. Es war somit sichergestellt, dass die Personen auch das in den Lehrplänen Vorgegebene unterrichten würden, insbesondere dann, wenn es sich um antifaschistischen Lehrstoff handelte. LehrerInnen hätten den entsprechenden Stoff schon allein deshalb nicht weglassen können, weil in jeder Klasse Kinder mit Genosseneltern waren und es sicher Probleme mit der Schulleitung gegeben hätte. Das kann man finden, wie man will, aber daraus folgt, dass alle Kinder in der DDR die Materialien, die sich mit dem Faschismus beschäftigt haben, auch behandelt haben. Im Gegensatz dazu hatte Bettina Göring in den 60ern einen Nazi als Geschichtslehrer (Reich, 2024) und es gibt auch heute noch Geschichtslehrer, wie Björn Höcke (aus NRW, studiert in Bonn, Gießen und Marburg, von 2001–2014 hat er Geschichte unterrichtet), den man laut Gerichtsbeschluss Nazi nennen darf.
Bücher
LTI – Notizbuch eines Philologen von Victor Klemperer erschien 1947 im Aufbau Verlag und wurde dann 1966 in Reclams Universal-Bibliothek in Leipzig wiederveröffentlicht. 1990 wurde die 10. Auflage gedruckt. Papier war in der DDR knapp. Populäre Zeitschriften wie das Magazin waren deshalb Bückware. Es muss also erstens einen Bedarf für LTI gegeben haben und zweitens auch den politischen Willen der Staatsmacht, dieses Buch in großen Stückzahlen unters Volk zu bringen. Klemperer selbst war jüdischer Abstammung und hat sich dafür entschieden, in der DDR zu bleiben.
Martin Riesenburger. 1960. Das Licht verlöschte nicht. Ein Zeugnis aus der Nacht des Faschismus, Berlin: Union Verlag. weiter Auflagen in den 1980ern.
Arnold Zweig. 1960. „Beginn und ‚Endlösung‘“. In: Programmheft zu „Affäre Blum“, Volksbühne Berlin, Spielzeit 1960/61, S. 4–7., weitere Artikel im Neuen Deutschland etc.
Kurt Pätzold. 1983. Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942. Berlin: Reclam.
Reclam-Buch von 1983 über die Judenverfolgung. Kurt Pätzold hat an der Humboldt-Universität zu diesem Thema geforscht. Sein Wikipediaeintrag enthält weitere Quellen.
Diese Aufzählung aus dem Hut wirkt geradezu lächerlich gegenüber der Liste von 1086 Titeln, die die einstige Leiterin der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in Ost-Berlin, Renate Kirchner, zusammengestellt hat (Kirchner, 2010).
Daniela Dahn schreibt in ihrem Buch von 2019 (siehe unten) zu dieser Liste:
Die Bibliographie umfasst alle Themen – jüdische Geschichte, Religion, Philosophie, Kultus und Brauchtum, Lebens- und Werkbetrachtungen bekannter Juden, Antisemitismus und Rassismus, jüdisches Leben in anderen Ländern, insbesondere die Welt der Ostjuden, auch Palästina und Israel. Fast genau die Hälfte aller Bücher aber widmet sich dem Thema: Nationalsozialismus und Judenverfolgung. Die meisten davon, nämlich 302, waren Sachbücher, Biographien, Tagebücher, Briefbände, auch einzelne Diplomarbeiten und Dissertationen, die der Jüdischen Bibliothek zum Dank für Unterstützung übergeben wurden. Viele davon waren sachliche Faktensammlungen, andere unverkennbar der Systemauseinandersetzung und dem Legitimationsbedürfnis der DDR untergeordnet. So unterschiedlich sie waren, kann man ihnen eine verinnerlichte, humanistische Grundhaltung und einen tiefempfundenen Antifaschismus schwerlich absprechen.
Ohne den im Raum stehenden, monströsen Vorwurf der Unterdrückung jüdischer Themen in der DDR könnte ich mir den nun vielleicht schon pedantisch wirkenden Hinweis sparen, dass zu dem auch ästhetisch heiklen Thema Holocaust, für das erst eine Sprache gefunden werden musste, außerdem 238 DDR-Autoren wie Anna Seghers, Bruno Apitz, Jurek Becker, Johannes Bobrowski, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Walter Kaufmann, Günter Kunert, Fred Wander, Arnold Zweig. Westdeutsche Autoren wie Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Paul Celan, Peter Härtling, Heinar Kipphardt, Wolfgang Koeppen, Luise Rinser und Peter Weiss wurden in DDR-Verlagen genauso verlegt wie die Generation davor: Lion Feuchtwanger, Frank Leonhard, Klaus Mann, Erich Mühsam, Erich Maria Remarque, Nelly Sachs, Franz Werfel. Schließlich wurde auch viel übersetzt, besonders aus Osteuropa: Josef Bor, Tibor Déry, Ladislav Grosman, Imre Kertész, Anatoli Kusnezow, Stanislaw Lem, Icchokas Meras, aber auch Natalia Ginzburg, Primo Levi, Elie Wiesel oder Jorge Semprún.)
Dahn, Daniela (2019) Der Schnee von gestern ist die Sintflut von morgen.
Meine Schwiegereltern hatten in ihrer Mannheimer Wohnung am Esstisch extra ein Regal mit Judaika platziert, damit die West-Kollegen dieses bei Einladungen sehen konnten, denn auch ihre Kolleg*innen hatten merkwürdige Vorstellungen über den Umgang mit Juden und dem Völkermord in der DDR.
Filme
Es gab diverse Filme, die die Judenverfolgung thematisierten oder in denen sie vorkam. Es gab in der DDR in vielen kleinen Orten Kinos und die Filme sind oft jahrelang durch die DDR getourt. Folgende Filme sind mir bekannt:
Ich bin klein, aber wichtig, 1988, Walther Petri und Konrad Weiß, DEFA Studio für Dokumentarfilme, biographischer Filmessay über Janusz Korczak
Zur Premiere des Anne-Frank-Films gibt es einen interessanten Beitrag in der ZEIT von 1959:
Vor der Uraufführung des Films „Ein Tagebuch für Anne Frank“ im Ostsektor Berlins betrat der greise Arnold Zweig die Bühne im „Haus der Presse“ am Bahnhof Friedrichstraße. Er sprach davon, daß mit diesem Film ein Beitrag zur moralischen Wiedergutmachung geleistet werden solle.
Zu Ich bin klein aber wichtig gibt es einen Text von Konrad Weiß, der 1988 in Film und Fernsehen veröffentlicht wurde.
Fernsehserien
Nach der ersten Veröffentlichung dieses Textes erschien am 17.09.2019 ein Buch von Daniela Dahn (aus einer jüdischen Familie) zum Thema Wiedervereinigung. Dieses Buch enthält auch eine erhellende Diskussion der Behauptung, der Holocaust sei in der DDR nicht vorgekommen. Ich habe das Buch leider erst 2023 gelesen. Dahn weist darauf hin, dass es mehrere Jahre vor der Holocaust-Serie in der DDR eine vierteilige Serie zum Völkermord an den Juden gab: Die Bilder des Zeugen Schattmann.
Cover der DVD, auf der die Serie Die Bilder des Zeugen Schattmann vertrieben wird
Die Serie war nach dem autobiografischen Roman von Peter Edel konzipert und es spielten mehrere Jüd*innen in den Hauptrollen:
Was gab es doch unlängst für einen Hype um den 40. Jahrestag der Sendung der US-Serie Holocaust, durch die 1979 das deutsche Publikum, und zwar das gesamtdeutsche, angeblich erstmalig eine Ahnung vom Ausmaß des den Juden zugefügten Leids bekommen habe. Was für ein Armutszeugnis! Nirgends war ein Hinweis darauf zu hören, dass im DDR-Fernsehen bereits sieben Jahre [fünf Jahre, St. Mü.] vor der Hollywood-Serie eine vierteilige Folge über eine jüdische Familie gesendet wurde, die nach Auschwitz deportiert wird. Erstmalig durfte dafür ein deutscher Filmstab im Lager Auschwitz drehen. Die Authentizität des Films rührte aber nicht nur vom schwer zu verkraftenden Originalschauplatz, sondern von dem Wissen, dass es sich hier um die Verfilmung des autobiographischen Romans des Juden Peter Edel handelt, der all diese Schrecken in Auschwitz selbst erlebt hat. Und nicht nur er, auch einige der Hauptdarsteller hatten die fürchterliche Hürde zu nehmen, an die Stätte ihres grauenvollen Traumas zurückzukehren. In der Rolle des Stubenältesten Tadeusz spielte August Kowalczyk ein Stück seines eigenen Lebens. Er war zwei Jahre Häftling in Auschwitz gewesen und hatte sich eigentlich geschworen, nie wieder an diesen Ort zurückzukehren. Peter Sturm, im Film der Elias, stammte aus einer sehr frommen, armen jüdischen Familie aus Wien. Er hatte das Martyrium der Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und ebenfalls Auschwitz hinter sich. Und die Schauspielerin Marga Legal, im Film Frau Müller, bekam 1933 wegen ihrer jüdischen Vorfahren ein Arbeitsverbot und konnte sich nur durch eine sogenannte «privilegierte Ehe» vor Verfolgung retten.
Dahn, Daniela (2019) Der Schnee von gestern ist die Sintflut von morgen.
Der Film wurde im Westberliner Tagesspiegel positiv besprochen (25.05.1972).
Zu dieser Serie und dem Roman, der die Grundlage bildet, sollte man noch folgendes insbesondere über die Verbreitung wissen:
Dieser Peter Edel, aus einer bürgerlichen Berliner Familie stammend, konnte wegen der Rassengesetze das Gymnasium nicht beenden und nahm illegal Zeichenunterricht bei Käthe Kollwitz. Versuche, ins Exil zu gehen, misslangen, ein Großteil seiner Verwandten und seine erste Frau wurden in Auschwitz umgebracht. Er selbst überlebt dieses Vernichtungslager nur, weil er als bildender Künstler nach Sachsenhausen zum Geldfälschen verlegt wird. Noch im Lager beschließt er, Kommunist zu werden, als Konsequenz des Erlittenen. Nach der Befreiung versucht er es in Österreich als Journalist und Graphiker, später in Westberlin, ab 1947 in Ostberlin. Häufig suchen ihn Fieberanfälle heim, die einige Tage andauern. Im Fieberwahn durchleidet er immer wieder Auschwitz. Danach kann er sich an nichts erinnern. Davon befreit hat er sich mit seinem autobiographischen Roman, der 1969 erschien. Bis 1989 erlebte der Schattmann 12 Auflagen, danach keine mehr. Die vierteilige Verfilmung lief im Fernsehen alle drei, vier Jahre erneut, auch nachmittags im Schulprogramm, sonst zur besten Sendezeit, mit Wiederholung am nächsten Morgen, zuletzt 1988. Man kam an diesem Film eigentlich nicht vorbei, wer ihn nicht gesehen hat, wollte ihn nicht sehen.
Dahn, Daniela (2019) Der Schnee von gestern ist die Sintflut von morgen.
Ich kannte diese Serie nicht, weil wir keinen Fernseher hatten.
Durch Dahn bin ich auch auf die Arbeit Elke Schieber aufmerksam geworden. Sie hat alle Filme aufgelistet, die in der SBZ/DDR zwischen 1946 und 1990 zu den Themen Antisemitismus vor 1933, jüdisches Leben, Judenverfolgung im Nationalsozialismus, jüdische Vergangenheit in der Gegenwart, Palästina-Israel-Naher Osten produziert wurden. 700 Seiten. 1000 Filme. Wie Dahn richtig feststellt, sagt das allein noch nichts über die Qualität der Filme aus, aber die schiere Masse dieser Dokumente reicht wohl dazu aus, die Falschdarstellung, in der DDR sei Jüdisches nicht vorgekommen oder der Holocaust sei ignoriert worden, zu widerlegen.
Theaterstücke
Der DEFA-Film Affäre Blum, 1948, Erich Engel, hatte zu DDR-Zeiten über 4 Mio Zuschauer. Es geht um einen antisemitischen Justizsakndal im Jahre 1925. Zum Film gab es auch ein Theaterstück und im Programmheft von 1960/1961 gab es einen Beitrag von Arnold Zweig: Beginn und ‚Endlösung‘. In: Programmheft zu „Affäre Blum“, Volksbühne Berlin, Spielzeit 1960/61, S. 4–7.
Skulpturen und Denkmäler
Ingeborg Hunzinger. 1970. Stürzende, Sandstein; für die Opfer des Todesmarsches des KZ Sachsenhausen vom April 1945 in Parchim in einer Parkanlage zwischen Goetheschule und Krankenhaus.
Der Bildhauer Will Lambert war mit einer jüdischen Frau verheiratet und floh 1933 aus Deutschland. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil und der Verbannung arbeitete er hauptsächlich an der Gestaltung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Die Jüdin Olga Benario war das Vorbild für die Skulptur Tragende (1957). Diese Skulptur wurde 1959 in Ravensbrück aufgestellt.
Originalbildunterschrift: Zentralbild Junge 15.4.65 DDR: Zum 20. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück. An der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück gedenken die Bürger der DDR und viele ausländische Gäste am 30. April dieses Jahres der 92.000 Frauen, Mütter und Kinder, die an dieser Stätte einen qualvollen Tod fanden. Hier verneigen wir uns vor den unsterblichen Helden des antifaschistischen Kampfes aus mehr als 20 Nationen, die für eine glückliche Zukunft aller Völker ihr Leben gaben. 132.000 Frauen und Kinder verschleppten die Hitlerfaschisten nach Ravensbrück, 92.000 erlebten den Tag der Befreiung nicht mehr. CC-BY-SA Von Bundesarchiv, Bild 183-D0415-0016–006
13 Figuren, die eigentlich mit der Tragenden kombiniert werden sollten (siehe auch Briefmarken), stehen seit 1985 zum Gedenken an die jüdischen Opfer des Faschismus am Alten Jüdischen Friedhof in Berlin-Mitte.
Denkmal „Jüdische Opfer des Faschismus“ von Will Lammert am Alten Jüdischen Friedhof, Berlin-Mitte, 1956/85 Wikimedia, CC-BY-SA Jochen Teufel.
Briefmarken
Es gab eine Reihe von Sondermarken, die in der Zeit von 1955–1964 herausgegeben wurden. Mit einem Aufschlag konnten sich die KäuferInnen am Aufbau und der Erhaltung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück beteiligen. Die gesamten Marken inklusive Auflagenhöhe sind ausführlich in Wikipedia dokumentiert: Aufbau und Erhaltung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten. Laut dem Wikipediartikel zur Gedenkstätte Sachsenhausen sind allein 1955 2 Millionen Mark auf diese Weise gespendet worden. Zum Vergleich: Das Durchschnittseinkommen (brutto) betrug damals 432 Mark (Statistisches Jahrbuch der DDR, 1990, S. 52).
Briefmarkenserie zu KZsDiese Briefmarke (Auflage 1.500.000) zeigt die Plastik Tragende von Will Lammert. Die Tragende ist nach der Jüdin Olga Benario modelliert. Die Figuren am Fuße der Säule wurden später zum Gedenken an die jüdischen Opfer des Faschismus am Alten Jüdischen Friedhof in Berlin Mitte aufgestellt.Herbert Baum-Briefmarke, 1961, Auflage 2.000.000, 5 Pfennig wurden für den Aufbau von Gedenkstätten gespendet
1963 wurde eine Briefmarke „Niemals wieder Kristallnacht“ in einer Auflage von 5 Millionen Stück herausgegeben.
Briefmarke von 1963 zum 25 Jahrestag der Reichspogromnacht, Auflage 5 MioBriefmarke 1988 zum 50 Jahrestag der Reichspogromnacht, Auflage 3,5 Mio
Straßen, Schulen, Plätze
Im Abschnitt über Schulen wurde schon erwähnt, dass es Schulen gab, die nach Juden benannt waren, die in KZs ermordet wurden. Nach Herbert Baum wurde auch eine Straße benannt: Eine Gedenktafel für die Getöteten der Herbert-Baum-Gruppe und das Grab Baums befinden sich auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee. Das Grab ist als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet. Die auf das Hauptportal des Friedhofs führende Straße heißt seit 1951 Herbert-Baum-Straße.
Rudi Arndt (in Buchenwald ermordet) ist ein weiterer Jude, nach dem viele Straßen, Plätze, Theater und Jugendherbergen benannt wurden. Zu den Details siehe Ehrungen in seinem Wikipediaeintrag. Wie auch Herbert Baum war Rudi Arndt im kommunistischen Widerstand, aber bei einer Auseinandersetzung mit seiner Person stieß man auch auf seine Religionszugehörigkeit:
1938 wurde er als „politischer Jude“ ins KZ Buchenwald deportiert. Nach seiner Ankunft war Arndt zunächst kurze Zeit in einem Baukommando tätig. 1938/1939 arbeitete er als Krankenpfleger für jüdische Häftlinge und war Blockältester im Block 22. Er setzte sich sehr für die jüdischen Patienten ein, was der SS außerordentlich missfiel. Nach einer Denunziation durch kriminelle Häftlinge im Steinbruch wurde er von der SS vorgeblich „auf der Flucht“ erschossen.
Wikipediaeintrag von Rudi Arndt, 03.03.2020
Nach Olga Benario waren Schulen, Kindergärten und Straßen benannt.
Ich selbst bin in der Georg-Benjamin-Straße aufgewachsen, einer Straße, die 1974 in einem Neubaugebiet nach dem jüdischen Arzt und Widerstandskämpfer Georg Benjamin benannt wurde. Zu weiteren Ehrungen siehe Wikipedia. In Wikipedia steht übrigens auch, dass eine im Sommer 1951 am Weddinger Nettelbeckplatz aufgestellte Gedenktafel für „Hingerichtete und ermordete Weddinger Antifaschisten“, die Georg Benjamins Namen enthielt, von Unbekannten recht schnell entfernt wurde.
Weimartage der FDJ und Besuche im KZ Buchenwald
Die FDJ hat jedes Jahr in Weimar ein großes dreitägiges Festival veranstaltet. Theater, Musik, Museen. Man konnte für 21 Mark alles besuchen, bekam Essen und konnte in Weimarer Schulen schlafen. Auf Probebühnen und den Hauptbühnen fanden gleichzeitig mehrere Vorstellungen pro Tag statt. (Merkwürdig, dass man dazu im Netz bis auf eine Seite des Nationaltheaters in Weimar und das Archiv des Neuen Deutschlands nichts, aber auch gar nichts, finden kann.)
Obligatorisch mit im Programm war immer ein Besuch im KZ Buchenwald inklusive Film in der Gedenkstätte (siehe Blog-Post Weimartage der FDJ mit verlinkten Programmen). Gezeigt wurde Filmmaterial, das die Amerikaner nach der Befreiung angefertigt haben. Leichenberge, fast verhungerte KZ-Insassen und die Weimarer Bevölkerung, die auf Anordnung der Amerikaner durch das Lager geführt wurde, um zu sehen, was dort passiert war. Der Spiegel hat ein Interview mit einer Frau, die als 17jährige Teil dieses KZ-Besuches war. Ich habe erst lange nach der ersten Fassung dieses Blog-Beitrags herausgefunden, wie der Film heißt. Es handelt sich um O Buchenwald, einen DEFA-Film von Ulrich Teschner aus dem Jahr 1984. Er ist manchmal bei Filmabenden mit historischer Einordnung zu sehen. Ich konnte ihn noch nicht selbst sehen, aber auf der Wikipediaseite steht, dass die Wannsee-Konferenz zur systematischen Vernichtung der Juden und die tausende Juden im Lager im Film vorkommen. Ich war sieben Mal bei den Weimartagen. Ich sage immer, dass die Weimartage das einzige Gute sind, was die FDJ zustande gebracht hat. Sechs Mal war ich mit im KZ. Einmal habe ich geschwänzt. Man möge es mir verzeihen. Ich kannte da schon jedes Detail. Ich habe die Öfen gesehen, die Schrumpfköpfe, die Lampenschirme aus Menschenhaut.11
Schrumpfköpfe und Menschenhaut mit Tätowierungen im KZ Buchenwald
Obligatorische Besuche in KZs
Meine Mutter hat einen großen Teil ihrer Jugend in Jena verbracht. Im Rahmen ihrer Jugendweihe war sie Ende der 50er Jahre auch im KZ Buchenwald. Der Besuch eines Konzentrationslagers war für alle Schülerinnen und Schüler in der DDR obligatorisch. (Siehe Wikipedia-Artikel zu Jugendstunden, die in Vorbereitung auf die Jugendweihe stattfanden.)
Die Berliner und Brandenburger Schüler waren alle im KZ Sachsenhausen. Ich war dort wahrscheinlich in der 8ten Klasse. Es gab (und gibt) in Sachsenhausen Ausstellungsteile, die auf das Leid der jüdischen Bürger hingewiesen haben: Die Baracke 38 war das „Museum des Widerstandskampfes und der Leiden jüdischer Bürger“.
Ich war außerdem noch in Lublin-Maidanek (1984 bei einer Reise im Rahmen einer Schulpartnerschaft in Polen). Ich habe die Baracken mit den deutschen Aufschriften gesehen. Ich habe die Haare und die Schuhe gesehen. Baracken voll damit.
Schuhe von Ermordeten, Majdanek, Polen, August 1944 (Quelle)
(Nachtrag vom 19.06.2024: Ines Geipel war selbst auch in Buchenwald. 1974 zur Jugendweihe. So steht es in ihrem 2019 erschienenen Buch Umkämpfte Zone.)
Zeitzeugen
Auch Zeitzeugen spielten im Osten eine Rolle. Wie schon gesagt, wurden sie z.B. in Schulen eingeladen. Meine Mutter berichtete mir von einem Konzertabend 1959 im Volkshaus Jena, bei dem die Pianistin ihre eintätowierte KZ-Nummer gezeigt hat. Sie hat nur überlebt, weil sie für die Nazis gespielt hat.
Holocaust im West-Fernsehen
Die amerikanische Mini-Serie Holocaust wurde im Jahr 1979 im West-Fernsehen gezeigt (da sich einige Sendeanstalten der ARD weigerten, die Serie im Hauptprogramm zu zeigen, kam sie dann in den dritten Programmen). Da bis auf die Sachsen im Tal der Ahnungslosen alle DDR-Bürger West-Programme empfangen konnten, dürften einige die Serie gesehen haben. Nein, jetzt bitte keinen Zusammenhang zwischen schlechtem Fernsehempfang und Wahl von Nazi-Parteien herstellen.
Der Begriff Holocaust wurde durch diesen Film sowohl im Osten als auch im Westen bekannt. Im Osten wurde sonst von Völkermord gesprochen.
Wiederaufbau der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin
Eine vollständige Wiederherstellung in den Originalzustand wurde verworfen – sie hätte als Versuch missverstanden werden können, die Leiden der Vergangenheit zu verdrängen und womöglich zu vergessen. Die Absicht war aber, mit dem Gebäude gleichzeitig ein Mahnmal zur ständigen Erinnerung zu erhalten.
Jüdische Personen in einflussreichen/sichtbaren Positionen
Es gab in der DDR viele einflussreiche und bekannte jüdische Familien. Es gab Minister oder ansonsten hochstehende Funktionäre.
Straßenschild der Albert-Norden-Straße 1984–1992 im Jüdischen Museum in Berlin in der Ausstellung „Ein anderes Land – Jüdisch in der DDR“. Der Ausstellungstext: „Die heutige Cecilienstraße im Nordosten Berlins war zwischen 1984–1992 nach Albert Norden (1904–1982) benannt. In der Nachwendezeit wurde das Straßenschild mit rotem Klebestreifen als ungültig markiert und später abmontiert. Norden stammte aus einer Rabbinerfamilie. Er war hochrangiges Mitglied im Politbüro des Zentralkomitees der SED.“, Berlin, 19.11.2023
Einige Funktionäre sind hier aufgezählt:
Alexander Abusch (Parteivorstandes der SED, Vizepräsident des Kulturbundes und hauptamtlicher Mitarbeiter des Zentralkomitees der SED, Kulturminister, IM)
Helmut Aris (Präsident des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Mitglied des Präsidiums des Nationalrates der Nationalen Front, Verdienstmedaille der DDR, Ernst-Moritz-Arndt-Medaille der Nationalen Front, Vaterländischer Verdienstorden, Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden, Deutsche Friedensmedaille, IM)
Ellen Brombacher (Sekretär für Kultur in der SED-Bezirksleitung Berlin, sie hatte damit wesentlichen Einfluss auf alle Kultureinrichtungen von Ost-Berlin, Banner der Arbeit, Vaterländischer Verdienstorden in Bronze, Dr.-Theodor-Neubauer-Medaille)
Hermann Axen (Sekretär des ZK der SED, Mitglied des Politbüros)
Albert Norden (Professor für neuere Geschichte, Sekretär des ZK der SED, Mitglied des Politbüros, Autor Braunbuch)
Horst Brasch (stellvertretender Minister für Kultur)
Klaus Gysi (Minister für Kultur, Staatssekretär für Kirchenfragen)
Markus Wolf (Generaloberst, Leiter des Auslandsnachrichtendienstes HVA bei der Stasi)
Friedrich Karl Kaul (Anwalt in Ost und West, Professor und Nationalpreisträger, organisierte Zusammenarbeit der RAF-Anwälte mit Stasi)
Hans Rodenberg (Rodenberg war 1952 bis 1956 Hauptdirektor des DEFA-Studios für Spielfilme, 1956–1960 Dekan an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg; ab 1958 Professor, stellvertretender Kulturminister (1960–1963), Mitglied des Staatsrats, der Volkskammer und des Zentralkomitees der SED. 1969–1974 Vizepräsident der Akademie der Künste, Berlin (Ost))
Ich habe hier auch die Zusammenarbeit mit der Stasi als Inoffizieller Mitarbeiter immer mit angegeben, weil das ja auch ein spezielles Vertrauensverhältnis impliziert. Mitunter war die IM-Tätigkeit nur zeitweise. Die Details finden sich in den Wikipedia-Einträgen.
Journalisten:
Max Kahane (Mitgründer des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes (ADN), später Stellvertretender Direktor, stellvertretender Chefredakteur der Berliner Zeitung, Chefkommentator des Neuen Deutschlands)
Andere bekannte und einflussreiche Intellektuelle waren:
Schriftsteller
Bücher jüdischer Autor*innen im Jüdischen Museum in Berlin in der Ausstellung „Ein anderes Land – Jüdisch in der DDR“. Das Buch „Die Jagd nach dem Stiefel“ von Max Zimmering war ein Kinderbuch, das ich auch gelesen habe. Die Troika von Markus Wolf kurz vor dem Ende der DDR auch. Berlin, 19.11.2023
Peter Edel (Schriftsteller und Grafiker, Mitglied des P.E.N.-Zentrums der DDR und 1978 Vorstandsmitglied des Deutschen Schriftstellerverbandes, Heinrich-Heine-Preis des Ministeriums für Kultur der DDR, Vaterländischer Verdienstorden in Gold, Nationalpreis der DDR, vom MfS beobachtet, dann selbst IM)
1979: Karl-Marx-Orden
Stephan Hermlin (Schriftsteller, Übersetzer, Redakteur Ulenspiegel, Aufbau sowie Sinn und Form, enger Freund von Honecker, Protest gegen Biermann-Ausbürgerung),
Wieland Herzfelde (Professor für Soziologie der modernen Weltliteratur in Leipzig, Präsident des P.E.N.-Zentrums der DDR)
Anna Seghers (Schriftstellerin, Präsidentin des Schriftstellerverbands der DDR, Nationalpreisträgerin),
Maxi Wander (Ihr Porträtband „Guten Morgen, du Schöne“ war eines der erfolgreichsten Bücher in der DDR.)
Max Zimmering (Von 1949 bis 1953 Landesvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) Sachsen, von 1950 bis zu dessen Auflösung 1952 Abgeordneter im Sächsischen Landtag, anschließend bis 1958 Abgeordneter im Bezirkstag des Bezirks Dresden. Von 1952 bis 1956 1. Vorsitzender des Deutschen Schriftstellerverbands im Bezirk Dresden, 1956 bis 1958 1. Sekretär des Deutschen Schriftstellerverbands in Berlin. Von 1958 bis 1964 Direktor des Instituts für Literatur „Johannes R. Becher“ in Leipzig. 1963 Kandidat des ZK der SED. 1968 Kunstpreis der DDR, 1969 den Nationalpreis der DDR)
Arnold Zweig (Schriftsteller, Nationalpreisträger, Präsident der Deutschen Akademie der Künste der DDR, Präsident des Deutschen P.E.N.-Zentrums Ost und West)
Musiker
Plattencover von Stern-Meißen, Pankow, City mit jeweils einem jüdischen Sänger im Jüdischen Museum in Berlin in der Ausstellung „Ein anderes Land – Jüdisch in der DDR“. Der Ausstellungstext: „Die Leadsänger der drei erfolgreichen Rockbands teilten eine gemeinsame Erfahrung: Sie wuchsen als Kinder jüdischer Remigranten in der DDR auf. Die Eltern von Martin Schreier (geboren 1948) gehörten in Belgien dem Widerstand an, die Familien von André Herzberg (geboren 1955) und Toni Krahl (geboren 1949) kehrten aus dem britischen Exil zurück.“, Berlin, 19.11.2023
Wolf Biermann (Liedermacher, lebte ab 1953 in der DDR, sollte für die Stasi angeworben werden, war SED-Kandidat, hat sich dann aber in den 60ern systemkritisch geäußert und wurde nicht in die SED aufgenommen und Ziel von Zersetzungsmaßnahmen der Stasi und letztendlich ausgebürgert, Margot Honecker hatte als Kind mehrere Jahre in Biermanns Familie gelebt.)
Paul Dessau (Musiker, Professor in Dessau, arbeitete mit Brecht am Berliner Ensemble, Vizepräsident Deutschen Akademie der Künste in Berlin (Ost))
Hanns Eisler (Professur für Komposition in Berlin)
Louis Fürnberg (Komponist, Text und Melodie des Lieds der Partei, Erster Botschaftsrat (Kulturattaché) der tschechoslowakischen Botschaft in Ost-Berlin, später Weimar)
Andrej Hermlin (Musiker, am 7.10.1989 zum Konzert bei Feier mit Honecker)
André Herzberg (Sänger und Texter für die Rockband Pankow),
Lin Jaldati (Sängerin, die jiddische Volkslieder sang, Kunstpreis der DDR, Vaterländischer Verdienstorden in Bronze, Silber und Gold, Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden in Gold)
Toni Krahl (Sänger von City, einer der erfolgreichsten Band im Osten und auch international erfolgreich, saß nach 1968 im Gefängnis wegen Protesten gegen den Einmarsch der Russen in Prag, seit 1975 bei City, ab 1988 Vorsitzender der Sektion Rockmusik beim Komitee für Unterhaltungskunst)
Martin Schreier (Sänger bei Stern Meißen, später Stern-Combo Meißen war der Sohn jüdischer Remigranten, die in Belgien im Widerstand gewesen waren)
Maler/Fotografen/Grafiker
Grafik von Lea Grundig im Jüdischen Museum in Berlin in der Ausstellung „Ein anderes Land – Jüdisch in der DDR“. Der Ausstellungstext: „Die Künstlerin Lea Grundig (1906–1977) gelangte 1941 auf der Flucht vor den Nazis in das britische Mandatsgebiet Palästina. Dort arbeitete sie als Malerin, Grafikerin und Kinderbuchillustratorin. Auch politisch war sie in der Emigration aktiv und widmete sich in ihren Arbeiten dem Leid und der Verfolgung der Juden in Europa. 1949 kehrte Lea Grundig in die DDR zurück, wo sie Professorin für Grafik und später Präsidentin des Verbandes Bildender Künstler der DDR wurde.“, Berlin, 19.11.2023
Sibylle Boden-Gerstner (Kostümbildnerin, Malerin und Modejournalistin, Gründerin der Modezeitschrift Sibylle, Mutter von Daniela Dahn)
Lea Grundig (Malerin und Grafikerin, Professur für Grafik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, Professur für Grafik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, Mitglied der Akademie der Künste der DDR, von 1964 bis 1970 Präsidentin des Verbandes Bildender Künstler., ab 1967 Mitglied des Zentralkomitees der SED)
John Heartfield (Helmut Herzfeld, Nationalpreis für Kunst und Literatur, Professor)
Filmschaffende
Konrad Wolf (Regisseur u.a. „Solo Suny“, Präsident der Akademie der Künste der DDR)
Wissenschaftler
Ernst Bloch (Philosoph Uni Leipzig, Nationalpreis der DDR)
Victor Klemperer (Professor Dresden, Greifswald, Wittenberg, HU Berlin: Literaturwissenschaftler und Romanist, Ehrendoktor Dresden, Nationalpreisträger, Abgeordneter der Volkskammer, zu LTI siehe oben)
Ingeborg Rapoport (Professorin für Pädiatrie und Inhaberin des ersten europäischen Lehrstuhls für Neonatologie, Verdienter Arzt des Volkes, Vaterländischer Verdienstorden in Bronze und Silber, zusammen mit anderen Ärzten den Nationalpreis der DDR III. Klasse für Wissenschaft und Technik für ihren Beitrag zur Senkung der Säuglingssterblichkeit in der DDR. Sie zählte über die Wissenschaftsgemeinde in der Deutschen Demokratischen Republik hinaus zu den renommiertesten Kinderärzten ihrer Zeit.)
Samuel Mitja Rapoport (Arzt und Biochemiker, Direktor des Instituts für Biologische und Physiologische Chemie an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR gewählt. Er erhielt mehrere Ehrendoktorate. Zahlreiche staatliche Auszeichnungen)
Tom Rapoport (Prof. am Zentralinstitut für Molekularbiologie der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Buch beziehungsweise an dessen Nachfolgeeinrichtung, dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Seit Januar 1995 ist er Professor für Zellbiologie an der Medizinischen Fakultät der Harvard University in Boston.)
die Rapoports (Mediziner, Naturwissenschaftler*innen),
die Herzbergs (Andre Herzberg Sänger und Texter für die Rockband Pankow, Mutter Staatsanwältin, Vater Rundfunkjournalist, Wolfgang Herzberg Autor),
die Simons Hermann Simon (praktizierender Jude und Historiker)
Diskussion
Das war der Osten. Im Osten kam man als Schüler nicht am Holocaust vorbei. Ich war übrigens auch bei Führungen in einer jüdischen Synagoge in Berlin. Ich wusste, dass es in Ost-Berlin noch zweihundert in der jüdischen Gemeinde organisierte Juden gab. Und ich wusste auch, warum das so wenige waren.
Zum Vergleich möchte ich von einem persönlichen Erlebnis in einer süddeutschen Stadt Ende der 90er Jahre berichten. Wir durften bei Nachbarn von Bekannten übernachten. Dort hing an der Wand ein Bild des Vaters in Uniform. Waffen-SS. Mit Totenkopfsymbol. Eine ganz normale nette Nachbarin (Lehrerin), die andere in ihrer Wohnung wohnen lässt. Kein normaler Mensch hätte sich im Osten seinen Vater in SS-Uniform ins Wohnzimmer gehängt. So etwas hätte es im Osten nie gegeben. Nie. [Inzwischen ist mir noch ein weiterer solcher Fall bekannt.]
Kahane schreibt weiter: „Dies [die Auseinandersetzung mit dem Holocaust] hätte zu Fragen nach Menschenrechten oder Minderheitenschutz geführt, die nur bei Strafe des Untergangs der DDR zu beantworten gewesen wären.“ Das ist einigermaßen bizarr, denn damit relativiert sie den Holocaust. In der DDR wäre niemand im Traum darauf gekommen, so ein bisschen Redefreiheit und Publikationsfreiheit, Reisefreiheit mit der systematischen Ermordung von Millionen Menschen zu vergleichen. Solche Einschränkungen zu erklären, war für die Staatsmacht kein Problem. Sie wurden ja sogar auch damit erklärt, dass verhindert werden sollte, dass sich so etwas wiederholt. Damit das ganz klar ist: Ich war 1989 auf der Straße für Redefreiheit, Reisefreiheit und nicht als Stasi-Mitarbeiter. Ich verstehe nicht, warum Kahane schreibt, was sie schreibt. Es entspricht jedenfalls nicht der Wahrheit.
Auch legt ihr Satz nahe, dass es in der DDR keine Diskussionen über Menschenrechte gegeben hätte. Es gab sehr wohl Menschen, die sich mit Fragen der Menschenrechte beschäftigt haben. Die Initiative für Frieden und Menschenrechte wurde 1986 offiziell gegründet. Vorher gab es Gruppen, meist unter dem Dach der Kirche organisiert aber nicht notwendigerweise religiös, die den Einsatz für Menschenrechte als ihr Hauptanliegen sahen. Dafür brauchte es keine Holocaust-Diskussion.
„Lügenpresse“ bzw. Pfuschpresse
Der Westen wundert sich, warum der Osten sich anders benimmt, als man das vielleicht erwarten würde. Ein Grund dafür sind solche Artikel in der Presse. Sieht man vom Neuen Deutschland ab, gibt es keine Ost-Presse mehr. Die West-Medien haben immer nur über den Osten geschrieben. Die Wessis haben über die Ossis geredet, nicht mit ihnen. Das beginnt sich nun gerade zu ändern. Es gibt tolle Artikel von Anja Maier, Simone Schmollack und Sabine am Orde in der taz12, gute Artikel im Spiegel, von Sabine Rennefanz in der Berliner Zeitung und auch die Zeit ist aktiv um Änderungen bemüht. Aber die oben zitierten Beiträge enthalten grobe Unwahrheiten und das macht die, über die geredet wird, wütend. Es verletzt sie, sie wenden sich ab und sind nicht mehr erreichbar. Ein Viertel der Menschen, die in diesem Land leben. Unglaublich, oder?
Es ist ein Armutszeugnis, dass die FAZ einen Artikel wie den von Geipel einfach so veröffentlicht. Wenn sie irgendwas über den Osten wüssten, wüssten sie eben auch, wie die Schulbildung aussah, was die Menschen gemacht und gedacht haben. Ich habe für das Schreiben dieses Artikels einen Sonntag gebraucht. Die Quellen sind im Netz verfügbar. Es gibt sogar ein Buch, das sich mit dem Holocaust im DDR-Unterricht auseinandersetzt. Wenn es der FAZ wichtig wäre, würden sie Menschen einstellen, die das nötige Wissen für entsprechende Diskussionen haben. So ist es einfach nur unterirdisch.
Wenn Ostdeutsche behaupten, der Holocaust wäre in der DDR nicht thematisiert worden, dann gibt es dafür zwei mögliche Gründe: Sie verfolgen politische/persönliche Ziele und lügen bewusst oder sie haben die Behandlung des Holocaust vergessen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.
Nachtrag
Auch Jan Feddersen von der taz versucht in seinem Interview mit Daniel Rapoport immer wieder aus diesem Statements zum angeblichen Antisemitismus in der DDR herauszukitzeln, bekommt aber Antworten, die dem hier Gesagten entsprechen (aber besser formuliert sind). Jakob der Lügner und der Bau der Synagoge werden erwähnt.
Literatur
Bodo von Borries
Dahn, Daniela. 2019. Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute: Die Einheit – eine Abrechnung. Hamburg: Rowohlt Verlag.
Ich habe nach der Erstellung einer Entwurfsfassung dieses Textes mit vielen Menschen gesprochen bzw. Mail ausgetauscht und den Text dann entsprechend angepasst. Dafür danke ich ihnen. Besonderer Dank geht an XY für den Hinweis, mal nach Plastiken und Briefmarken zu suchen. Über die Wikipediaseite zu den Briefmarken bin ich dann auch auf die Plastiken von Will Lambert gestoßen. Ich danke der Willi-Bredel-Gesellschaft für prompte Auskunft zu Erscheinungsdaten der Frühlingssonate.
Johann Niemann, der Lagerkommandant des Vernichtungslagers Sobibor, in dem 180.000 Juden ermordet wurden steht auf dem Kriegerdenkmal im ostfriesischen Völlen mit der Inschrift „Unseren gefallenen Helden“. taz, 26.02.2020