Ich habe das hervorragende Buch von Lutz Seiler Stern 111 gelesen. Es handelt von einem jungen Mann aus Gera, der nach Berlin aufbricht, nachdem seine Eltern am Tag der Maueröffnung in den Westen gegangen sind. Das Schicksal seiner Eltern in Aufnahmelagern und bei ersten Jobs wird beschrieben. Folgenden Ausschnitt habe ich mir markiert und auch auf Mastodon gepostet:
Ohne Zweifel gab es Kursteilnehmer, die über UNIX ein paar Dinge fragen konnten, die Walter Bischoff nicht wusste. Sie ließen es ihn spüren, sie versuchten, es ihm zu beweisen. „Das Wichtigste wird sein, dass niemand erfährt, woher du kommst, eigentlich“ — das hatte Karajan gesagt, Cheftrainer von CTZ. Karajan hatte Walter gezeigt, wie das Kursmaterial beschaffen sein sollte, welche Technik ihn vor Ort erwarten und wie sie gehandhabt werden musste. Das Aufwendigste waren die Folien für den Overhead-Projektor. Jeder Kurs war eine Folienwüste. „Ein Ostler, verstehst du, Walter — viele ertrügen das nicht, bei 1000 Mark Kursgebühr pro Tag“, hatte Karajan gesagt.
Lutz Seiler, 2020: Stern 111, Suhrkamp
Diese Abwertung und Arroganz. Sowohl durch den Chef der Ausbildungsfirma als auch durch die Auszubildenden. Ich selbst habe diese Abwertung nie erfahren, aber die Mehrheit der Ostdeutschen wohl schon. Viele Westdeutsche wundern sich, warum die Dinge so laufen, wie sie jetzt laufen, aber sie verstehen immer noch nichts.
Bei der Diskussion auf Mastodon hat mich jemand auf einen Podcast hingewiesen, in dem Andreas Baum und Andi Arbeit über Stern 111 sprechen. Andi Arbeit äußert dann irgendwann folgendes:
Und ich glaub, bei so Akademikereltern stellt sich dann ja auch raus, dass der Vater – wie man sich kaum vorstellen kann – irgendwelche Programmiersprachen kann, mit denen er dann bis in LA irgendwelche wilden Software-Programme irgendwie entwirft und wo man sich auch fragt: Mein Gott, woher konnte der das? In Jena oder irgendwo in irgend ner Uni hat er dann C+ oder C++, ich weiß auch nicht genau, wie die heißt, alles Mögliche gelernt, was ihn dazu befähigt hat, überhaupt dieses Leben zu führen.
Andi Arbeit 2020: Mein Freund der Baum — das Bücherradio mit Andreas Baum & Andi Arbeit 24:13
Hätte ich nicht beim Abwaschen gestanden, wäre ich wohl vom Stuhl gefallen. Über dreißig Jahre später kommt da dieselbe Arroganz zum Vorschein, die es auch 1989 gab und die im Buch beschrieben ist. Und Andi Arbeit hat es wahrscheinlich nicht einmal selbst bemerkt. Mein Gott, woher konnte der das? Als Ossi! C+ oder C++ oder wie das heißt. Das kann man sich ja kaum vorstellen, dass irgendeiner von diesem nichtsnutzigen Pack zu irgendwas gut war.
Mal schnell noch zwischendurch, bevor wir zum eigentliche Inhalt hier kommen. In der Syntax von C und auch anderen Programmiersprachen gibt es eine Nachfolgerfunktion. Man kann also statt c = c + 1; auch c = c++; oder einfach gleich c++; schreiben. Damit wird der Wert der Variable c um eins erhöht. Die Programmiersprache C++ ist der Nachfolger von C. Eine Weiterentwicklung.
Also: Also! Los.
Karl Marx und ich
Über Karl Marx haben wir in der Schule gelernt, dass er acht Sprachen konnte. Ich habe mich als junger Mann darüber gefreut, dass ich mehr Sprachen als Marx beherrschte. Die meisten davon waren allerdings Computersprachen. Ich konnte BASIC, Pascal (Turbo Pascal), C, C++, ReDaBas (Ost-Kopie von DBASE) und forth. Außerdem konnte ich Z80 Assembler programmieren. Ich kannte mich mit CP/M und Unix aus und hatte mit programmierbaren Taschenrechnern von Texas Instruments (Umgekehrte Polnische Notation, yes), Home-Computern (ZX81, C20, C64, C128, Z9001, KC 85/2) und an russischen Prozessrechnern wie der SM‑4 (Nachbau der PDP-11 von DEC) gearbeitet. Alles noch vor dem Studium. Wie war es mir nur gelungen, dieses Wissen zu erwerben? Als Ossi????
Homecomputer und Computerclubs
In den 80er Jahren kamen die ersten Homecomputer auf. Der ZX80 kostete 100£ und das Nachfolgemodell, der ZX81, fand auch seinen Weg nach Ostdeutschland. Liebe Westverwandte brachten einen mit, manche Arbeitsgruppen hatten solche Westgeräte. Später fand der C64 auch in ostdeutschen Kinderzimmern weite Verbreitung. Mit meinem Freund Peer bekam ich einen Ferienjob bei einem Wissenschaftler in einer Lungenklinik in Buch. Er hatte zwei C64 und auch das Vorgängermodell Commodore VC20. Unser Job war es, Programme aus der Zeitschrift 64er einzugeben. Diese Maschinenspracheprogramme waren dort in Hexadezimalcode abgedruckt. Endlose Zeichenkolonnen. Wozu die Lungenklinik Computerspiele brauchte, war uns nicht ganz klar, aber wir durften die Programme dann auch selbst haben und bekamen noch Geld. Diese Programme bildeten den Grundstock eines Tauschimperiums für Computerspiele, die dann im Haus der Jungen Talente in größeren Tauschkreisen noch vermehrt wurden (Don’t ask about copyrights. War halt ne Mauer dazwischen.). Der Punkt ist: Es gab West-Computer, es gab West-Zeitschriften, die bis zur absoluten Materialermüdung gelesen und weitergegeben wurden. Es gab auch Computer-Bücher von Data-Becker zum Beispiel, die von hilfsbereiten Omas oder Opas über die Grenze gebracht wurden. Es gab Computerclubs und es gab Veranstaltungen für Schüler*innen, bei denen man auch programmieren lernen konnte. Diese Heimcomputer hatten meist einen BASIC-Interpreter dabei, so dass alle BASIC lernen konnten.
Nachtrag 22.07.2024: Peer hat Stasi-Unterlagen zur Computerszene in der DDR gefunden. Diese bestätigen sehr schön, was ich hier geschrieben habe und geben auch Zahlen zum Umfang der Szenen. Die Stasi spricht von zehntausenden Computerbesitzern.
Universitäten und Forschungseinrichtungen
Meine Mutter hat Astrophysik studiert, mein Vater Physik. Im Rahmen des Astrophysikstudiums wurden die Student*innen auf dem Zeiss-Rechenautomat 1 (ZRA1) ausgebildet. Mein Vater hat, obwohl das eigentlich nur für die Astrophysiker*innen Pflicht war, auch in dieser Veranstaltung programmieren gelernt. Das war 1964/1965. Während der Mütterkur nach meiner Geburt 1968 lernte meine Mutter COBOL. Sie war nicht ganz sicher, welche Programmiersprache sie brauchen würde. Es stellte sich heraus, dass das die falsche Sprache gewesen war und sie Fortran brauchte, aber auch das war dann kein Problem. Über 20 Jahre später, nach der Wende, wurde meine Mutter entlassen. Sie arbeitete dann in der Weiterbildung für Frauen und brachte ihnen Programmieren bei. In COBOL. Meine Eltern arbeiteten beide an der Akademie der Wissenschaften in der Molekularbiologie an einem Großrechner, der BESM‑6. Noch während der DDR-Zeit lernte meine Mutter auch BASIC und C. Meine Eltern hatten in der Akademie der Wissenschaften Zugriff auf die Fachzeitschriften aus dem Westen. Mein Vater hat zu hause mit einem programmierbaren Taschenrechner von Texas Instruments gearbeitet, den sein Schwiegervater aus dem Westen mitgebracht hatte. Programme wurden auf Magnetkarten gespeichert. Mein Vater konnte MOPS (Maschinenorientierte Programmiersprache für den Robotron 300), alle Fortran-Varianten und Algol 60.
Meine Mutter hat mich auch schon als Schüler zu Kollegen mitgenommen, die Computer zusammen gebaut haben. Ich erinnere mich an Büros mit offenen Computern, wo ich die Platinen sehen konnte. Die Laufwerke.
Ich hatte das Glück, auf die Spezialschule mit mathematisch-naturwissenschaftlicher Ausrichtung Heinrich-Hertz gehen zu können. Dort hatten wir zu Beginn (1982) ebenfalls programmierbare Taschenrechner von Texas Instruments. Später kamen Z9001 dazu, die ersten Heimcomputer der DDR. Die Heinrich-Hertz-Schule ist sogar im Wikipedia-Artiekl über den Z9001 erwähnt. Unser Computerkabinett wurde mit Computern aus den ersten 100 Stück ausgestattet. Mit diesen Rechnern hatten wir speziellen Informatikunterricht, den es an anderen Schulen nicht gab. Wir lernten Grundlagen wie bestimmte Algorithmen und Programmablaufpläne. Mit Peer bekam ich eine Einzelbetreuung im Rechenzentrum der Humboldt-Uni. Wir konnten direkt am Hauptcomputer der HU arbeiten, was die Student*innen zu der Zeit nicht durften. Sie mussten Lochkarten stanzen und diese dann zum Rechnen abgeben. In der elften und zwölften Klasse gab es ein Unterrichtsfach Wissenschaftlich-praktische Arbeit. Die Hertz-Schule hatte Verträge mit dem Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse der DDR (ZKI). Peer, ich und ein Junge aus der Nachbarklasse konnten in der UNIX-Arbeitsgruppe arbeiten. Sie arbeiten an MUTOS. Das war eine UNIX-Variante, die ihren Weg über Österreich-Ungarn in den Ostblock gefunden hatte. Embargotechnik, aber für Geld … Im ZKI habe ich C gelernt. Der Wissenschaftler, der es mir beigebracht hat, meinte zu BASIC: „Wer BASIC gelernt hat, ist versaut für’s Leben!“ Ich habe dann die Arbeit am ZKI der Arbeit im Rechenzentrum der HU vorgezogen, denn die Rechner im ZKI waren besser. Der theoretische Teil in der HU war aber toll. In der HU wurde auch das folgende Dokument ausgedruckt:
Das war eine Version des Standard-Buches über C von Kernighan & Ritchie aus dem Jahre 1978. Es wurde für mich auf einem Paralleldrucker ausgedruckt. Der Drucker hatte Typenräder und es wurde je eine Zeile gedruckt. Leider waren die Typenräder nicht gut synchronisiert. Das wurde aber durch das Ruckeln der Straßenbahnen ausgeglichen.
Im ZKI konnten Peer und ich die Bibliothek benutzen und hatten darüber Zugriff auf Computer und Wissenschaftszeitschriften (mc – Die Mikrocomputer-Zeitschrift, c’t, Chip, Bild der Wissenschaft). Die aktuellen Ausgaben waren oft ausgeliehen, aber wir lasen auch alte Ausgaben gern. Peer sorgte auch dafür, dass wir an die Fachzeitschriften in der Berliner Stadtbibliothek drankamen: Nach einem Briefwechsel inklusive Leserbrief an die Berliner Zeitung hatten wir irgendwann ein Gespräch mit dem Direktor der Bibliothek. Ich habe dort als Schüler auch Bücher über die Grundlagen der Hardware von Computern gelesen. Diese Bücher waren ganz normal für alle auch ohne Sondergenehmigung ausleihbar.
Bei der Armee konnte ich dann letztlich auch mit Computern arbeiten. Ich habe mit Redabas (ein geklautes Ostblock-DBASE) und dann mit Turbo-Pascal gearbeitet. Um in die Computergruppe reinzukommen (lief wohl irgendwie über die ZKI-Connection, die Kontakte nach Strausberg hatten, wo auch MUTOS verwendet wurde), musste ich nachweisen, dass ich das entsprechende Wissen hatte. Ich arbeite nach Dienst an einem Programm für den KC85/2 in Assembler. Die KC85/2 hatten einen U880-Prozessor. Das war die Ost-Variante des Z80.
Zusammenfassung: Es gab im Osten Computer. Die liefen mit denselben Programmiersprachen wie im Westen. Wir hatten Zugriff auf die West-Literatur. Mitunter lief die Literaturbeschaffung etwas holperig, aber man kam dran. Mitunter waren die Ausdrucke etwas holperig, aber man kam zurecht. Wissenschaftler*innen aus ganz verschiedenen Disziplinen haben mit Computern gearbeitet. Allein in meiner Familie war es Physik, Astrophysik, Molekularbiologie, Kristallografie. Das Militär hatte Computer. Nach der Wende arbeitet ich als Studentische Hilfskraft bei der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung für Computerlinguistik von Prof. Jürgen Kunze. Die Arbeitsgruppe gab es – soweit ich weiß – seit den 70er Jahren. Sie hatten Computer und haben diese programmiert. Überraschung.
Informatik als eigenes Fach gab es erst relativ spät. Es gab ab 1987 an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Studiengang für Mathematische Informatik. Das war das komplette Mathestudium plus zusätzliche Informatikkurse. In diesem Studiengang habe ich 1989 angefangen zu studieren. In Dresden gab es noch technische Informatik. Dort ging es mehr um die Hardware von Computern.
In Frankfurt/Oder gab es ein Halbleiterwerk, das den Osten versorgt hat. Es brach zusammen, am Tag der Währungsunion, weil der Ostblock keine West-Währung bezahlen konnte. In Sachsen gab es ebenfalls Halbleiter-Industrie. Die NZZ schreibt zur Zeit nach der Wende:
In den 1990er Jahren habe man deshalb die richtigen Fachkräfte gefunden, und die Universitäten seien darauf ausgerichtet gewesen, diese Fachkräfte auszubilden.
Höltschi, 2022: Von der DDR-Vergangenheit zur Bewahrung europäischer Souveränität: der Halbleiter-Cluster Silicon Saxony, Neue Züricher Zeitung.
Das heißt, es gab qualifiziertes Personal und es gab Universitäten, die die Menschen ausgebildet haben.
Nachtrag 22.07.2024: In den schon erwähnten Stasi-Unterlagen werden auch Besitzer privater Computer erwähnt, die einen beruflichen EDV-Hintergrund haben.
Das sind nur die Personen, die zusätzlich zu ihrer Arbeit mit Computern auch privat über einen Computer verfügten. Obwohl meine Eltern beide mit Rechnern arbeiteten, hatten sie bis auf einen programmierbaren Taschenrechner keine privaten Computer. Das heißt, die Zahl der Personen mit EDV-Berufen war größer.
Schulbildung
Die Schulbildung war im naturwissenschaftlichen Bereich besser als die im Westen. Sagt man. Mein Sohn hatte einen guten Mathelehrer, der auch schon zu Ostzeiten Lehrer war. Er hat zur Vorbereitung auf die MSA-Prüfung die Schüler*innen Aufgaben für die Prüfung nach der 10. Klasse in der DDR rechnen lassen. Mein Sohn meinte, dass die viel, viel schwieriger waren als die aktuellen Aufgaben.
Im Einigungsvertrag wurden alle Ost-Abitur-Abschlüsse um eine Note heruntergestuft. Ich stelle mir gerade vor, wie der West-Verhandlungsführer, dessen Name ich vergessen habe, mit dem Ost-Verhandlungsführer, dessen Name ich vergessen habe, gesprochen hat: „Also, Herr X, Sie müssen schon einsehen, dass die Ossis alle ein bisschen döofer als die Wessis sind.“ „Ja, ehm, hm, Herr Y, da haben sie schon Recht. Wäre es ok, wenn wir die Abiturnoten aller Ossis um eine halbe Note nach unten korrigieren?“ „Nein, die sind noch viel döofer. Also das muss mindestens eine ganze Note sein.“ „Ok.“ (Mister X zu sich selber: „Sag ich doch, die sind doof.“)
Aber jetzt mal Spaß beiseite. Die empirische Grundlage dieses Beschlusses würde mich schon interessieren. Wie wurden die Vergleichsstichproben bestimmt? So?
Aber das kann es nicht gewesen sein, denn diese Form der Bestenermittlung fand erst statt, als der Einigungsvertrag unter Dach und Fach war.
Das Ergebnis war jedenfalls, dass alle Ossis schon mal schlechtere Chancen hatten, wenn sie sich mit Westlern messen mussten. Und das mussten viele. Millionen haben nach der Wende das Land (den Osten) verlassen, denn sie wurden dort arbeitslos, weil ihre Betriebe geschlossen wurden oder sie einfach aus den Universitäten und den Forschungseinrichtungen rausgeworfen wurden. („Von den 218.000 Wissenschaftlern der ehemaligen DDR verlor die Hälfte ihre Stelle. Bei den Professoren waren es nach Zahlen der britischen Zeitschrift Nature sogar zwei Drittel.“ Peter André Alt, Berliner Zeitung, 06.11.2019)
Es gab übrigens zwei Schulen im Osten, deren Abitur nicht abgewertet wurde. Eine davon war meine. Ich bin also nicht betroffen. Ich bin also kein Jammer-Ossi. Bis 2013 war mir das ganze Ost-Thema Wumpe. Die DDR war nichts meins, ich habe ihr nicht nachgeweint. Ich bin Professor, mir geht es gut. Bis 2019 habe ich auch nichts gesagt. Jetzt spreche ich für andere. Ich hoffe, irgendwer versteht das und irgendwem nützt das.
Nachtrag 08.01.2024. Es gab Nachfragen bezüglich der Herabstufung der Abiturnoten. Im Einigungsvertrag war das nicht geregelt, aber ich habe zwei Artikel zu dem Thema gefunden. Einen im Spiegel (Drüben war es leichter) und einen in der taz (Zwei Bundesländer erkennen DDR-Abitur nicht an). Noch zum Hintergrund: In der DDR konnten pro Klasse zwei bis drei Schüler*innen Abitur machen, wobei die Klassenstärke um die 30 lag.
In unseren Klassen erhielten von knapp dreißig Kindern gerade mal zwei bis drei eine Empfehlung für die Erweiterte Oberschule, so dass Lehrer gut daran taten, frühzeitig zu signalisieren, wen sie dafür im Auge hatten.
Mau, Steffen, 2019, Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp Verlag S. 55.
In meiner Klasse waren 31 Schüler*innen. Die Studienplatzvergabe erfolgte nach volkswirtschaftlichem Bedarf. Wenn man einen Studienplatz bekommen hat, hatte man dann auch die Arbeitsstelle sicher. Das war ganz anders, als das im Westen ist, wo es hunderte Student*innen im Bereich Literaturwissenschaft und habilitierte Taxifahrer*innen gibt.
Zusammenfassung
Liebe Wessis, wir wussten alles über Euch. Wir fanden Euch interessant. Euer Leben haben wir im Fernsehen gesehen und das der Amis. Wir haben Eure Bücher gelesen. Die Romane und die Fachbücher. Das war noch viel spannender, wenn sie schwer zu bekommen waren. Wir wussten alles über Euch, aber Ihr nichts über uns. Und das ist zum Teil leider auch über 30 Jahre nach dem Anschluss der DDR immer noch so. Shame on you. Also jedenfalls on ein paar von Euch. On those, who immer noch solchen Müll in Zeitungen schreiben, in Podcasts sagen oder sonst wie verbreiten. Wundert Euch nicht, wenn das keiner mehr will bzw. immer noch keiner will.
Und noch etwas: Redet über uns, als wären wir dabei. Das reicht vielleicht schon. Wobei, Andreas Baum ist ja aus dem Osten und Andi Arbeit hat dennoch so gesagt, was sie gesagt hat.
Immerhin haben ja alle bis zum Ende gelesen. =:-) Stay tuned, bis zum nächsten Rant.
Nachgedanken
Mir fallen immer noch nachträglich Dinge ein. Zum Thema „doofe Ossis“ noch drei Punkte: 1) Prof. Dr. Manfred Bierwisch war der erste Deutsche, der im Rahmen von Chomskys Transformationsgrammatik gearbeitet hat. Und zwar ab 1959, lange, lange vor dem Westen. Jahrzehnte. Bierwisch hat 1963 die erste Transformationsanalyse des Deutschen vorgestellt. Es gibt ein tolles Gespräch mit Bierwisch über die gesamte DDR-Zeit und darüber, wie die Entwicklung der Arbeitsgruppen verlief. Viele bekannte Westler haben die Gruppe im Osten besucht (Prof. Dr. Dieter Wunderlich war einer davon. In Wikipedia steht auch, dass Wunderlich über Bierwisch zur Generativen Grammatik kam.)
2) Die sogenannte Akademie-Grammatik von 1981 Grundzüge einer deutschen Grammatik hat Standards gesetzt. Die Duden-Grammatik aus dieser Zeit war … nun ja. Ab 2005 ist sie sehr gut.
3) Renate Schmidt, eine gute Bekannte, hat an der Akademie der Wissenschaften an Wörterbüchern gearbeitet. Nach der Wende wurde die Akademie der Wissenschaften der DDR abgewickelt. 22 Ossis wurden vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim übernommen. Renates Chef Helmut Schumacher begrüßte die Neuen und versprach ihr, ihr das Erstellen von Wörterbüchern beizubringen. Sie hatte aber schon an fünf Wörterbüchern mitgearbeitet. Zum Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache steht in Wikipedia:
Das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (WDG) wurde in Berlin an der Deutschen Akademie der Wissenschaften (ab Oktober 1972: Akademie der Wissenschaften der DDR) zwischen 1952 und 1977 unter der Leitung von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz erarbeitet. Das Wörterbuch erschien in 6 Bänden und wurde bis zum Ende der DDR bandweise versetzt nachgedruckt. Das WDG umfasst über 4.500 Seiten und enthält knapp 100.000 Stichwörter. In Konzeption und Quellenauswahl war es seiner Zeit weit voraus und wurde daher auch als Vorbild vieler Wörterbuchprojekte herangezogen, so etwa vom Großen Wörterbuch der deutschen Sprache des Dudenverlags (1976–1981).
Im Westen wurde das Werk zu DDR-Zeiten kaum rezensiert oder gar in seiner Bedeutung erkannt und gewürdigt.
Wikipedia zum Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache, 08.01.2024
Renate Schmidt arbeitete unter Helmut Schumachers „Leitung“ am Valenzwörterbuch: VALBU. Valenzwörterbuch deutscher Verben. Schumachers Beitrag am gesamten Wörterbuch waren vier Artikel von insgesamt 638. Seine Artikel waren von schlechter Qualität. Renate Schmidt korrigierte diese Artikel und legte sie ihm wieder hin. Er übernahm die revidierten Fassungen ohne irgendwelche Änderungen und ohne irgendeinen Kommentar. Wortlos. Renate hat noch als Rentnerin das ganze Wörterbuch durchgesehen und alle Artikel korrigiert. Als Erstautor wird Schumacher geführt (Wer als Erstautor genannt wird, ist in der Wissenschaft wichtig, weil die Literaturverzeichnisse nach Erstautoren sortiert sind.) Schuhmacher war dann wegen schwerer Depressionen sechs Monate krank geschrieben. Er sagte, Renate Schmidt habe ihn in die Depression getrieben. Tja, ist eben doof, wenn man nichts beiträgt und das Wenige, was von einem kommt, dann auch noch falsch ist. Vielleicht noch zum Hintergrund: Renate ist die liebste Person der Welt, niemand, der Stress macht oder so. Das können sicher alle ehemaligen Kolleg*innen bestätigen. Ein Kollege, der früher am IDS arbeitete und jetzt eine Professur anderswo hat, hat mir mal gesagt, dass sich die Arbeitsatmosphäre am IDS durch die Ossis wesentlich verbessert hat. Die Ossis gingen sogar mit Sekretärinnen essen, was die Wessis nie im Leben gemacht hätten, obwohl sie 68er-Revoluzzer waren. Also alles sehr umgängliche Menschen, kein Grund für schlechte Laune. Schumachers Depression ist also wahrscheinlich wirklich auf die Einsicht in die eigene Inkompetenz zurückzuführen.
Auf der ersten Jahrestagung des IDS nach der Wende hat Prof. Dr. Hartmut Schmidt, Renate Schmidts Mann, einen Vortrag gehalten (Beitrag im Jahrbuch). Danach kam ein Kollege aus dem Westen zu ihr und lobte den Vortrag. Sie fragte sich, wieso er dazu zur Frau des Vortragenden gekommen war (Tja, doch etwas andere Rollenbilder damals. Im Westen.) und antwortete: „Wir haben viele an unserem Institut, die solche Vorträge halten können.“. Das Gegenüber wusste nicht mehr weiter und das Gespräch war beendet.
Quellen
Alt, Peter André. 2019. Wende an Universitäten und Bibliotheken: Viele DDR-Wissenschaftler verloren ihre Stelle. Berliner Zeitung. (https://www.berliner-zeitung.de/zukunft-technologie/wende-an-universitaeten-und-bibliotheken-viele-ddr-wissenschaftler-verloren-ihre-stelle-li.69910)
Fetsch, Wilfried. Information der Zentralen Arbeitsgruppe Geheimnisschutz zur privaten Nutzung von Computern. Bundesarchiv/Stasi-Unterlagen-Archiv. (https://www.stasi-mediathek.de/medien/information-der-zentralen-arbeitsgruppe-geheimnisschutz-zur-privaten-nutzung-von-computern/blatt/84/)
Höltschi, René. 2022. Von der DDR-Vergangenheit zur Bewahrung europäischer Souveränität: der Halbleiter-Cluster Silicon Saxony. Neue Züricher Zeitung. Zürich. (https://www.nzz.ch/wirtschaft/silicon-saxony-halbleiter-oekosystem-mit-ddr-erbe-in-sachsen-ld.1693996)
Spiegel. 1990. Drüben war es leichter. Der Spiegel 13/1990. (https://www.spiegel.de/politik/drueben-war-es-leichter-a-548dc5bf-0002–0001-0000–000013499353)
taz. 1990. Zwei Bundesländer erkennen DDR-Abitur nicht an. taz 24.03.1990. (https://taz.de/Zwei-Bundeslaender-erkennen-DDR-Abitur-nicht-an/!1775240/)