Antwort auf abgedruckte Leserbriefe (Directors cut = viel zu lange Version)

Ich möch­te mich recht herz­lich für alle Emails, Brie­fe und Päck­chen bedan­ken, die ich nach der Ver­öf­fent­li­chung mei­nes Arti­kels zu Anne Rabes Buch Die Mög­lich­keit von Glück erhal­ten habe. Ich hat­te das nicht erwar­tet, aber das Feed­back war im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes über­wäl­ti­gend. Von den Brie­fen waren sechs kritisch/negativ und 23 posi­tiv. Ich habe die kritischen/negativen unge­kürzt in mei­nen Blog auf­ge­nom­men und dis­ku­tie­re sie dort detail­liert: https://so-isser-der-ossi.de/2024/05/27/anne-rabe-leserbriefe/, auch den zum Jam­mer-Ossi. Auf die in der Ber­li­ner Zei­tung abge­druck­ten Tei­le der Leser­brie­fe möch­te ich im Fol­gen­den ein­ge­hen. In mei­nem Blog und auch im ver­öf­fent­lich­ten Bei­trag in der BLZ geht es mir dar­um, wel­chen Ein­druck Anne Rabe von der DDR ver­mit­telt und was dar­aus abge­lei­tet wird. Den ers­ten Blog-Ein­trag Gewalt­er­fah­run­gen und 1968 für den Osten habe ich auch zu einem Arti­kel in der taz geschrie­ben, bevor ich Anne Rabes Roman über­haupt gele­sen hat­te. Anne Rabe argu­men­tiert grob ver­ein­fa­chend für eine Töpf­chen­theo­rie 2.0: Weil es Fami­li­en gab, in denen es Gewalt gab, war der ganz Osten so und man kann dar­aus letzt­end­lich alles ablei­ten: Ras­sis­mus, Faschis­mus, Natio­na­lis­mus, Anti­se­mi­tis­mus. Alles, wovor sich das Bil­dungs­bür­ger­tum zu Recht gru­selt. Und es ist pri­ma: Das alles ist nur im Osten zu ver­or­ten. Dun­kel­deutsch­land eben. Dabei ist es lei­der so, dass es im gesam­ten Land ziem­lich fins­ter aus­sieht, ja, sogar in Euro­pa. Die Rechts­extre­mis­mus-Stu­die hat das für Deutsch­land dis­ku­tiert. Der Autor der Stu­die hat in der Ber­li­ner Zei­tung (BLZ, 08.07.2023) her­vor­ge­ho­ben, dass der Rechts­extre­mis­mus mit der Struk­tur der Bevöl­ke­rung im Osten zusam­men­hängt und in struk­tu­rell ähn­li­chen Gebie­ten im Wes­ten ähn­li­che Ein­stel­lun­gen nach­zu­wei­sen sind. Das bedeu­tet also, dass man für die Wahl­er­fol­ge der AfD im Osten oder ras­sis­ti­sche Ein­stel­lun­gen kei­ne gewalt­tä­ti­gen Eltern als Erklä­rung benö­tigt. Die empi­ri­sche For­schung lie­fert Grün­de. Auch bricht Anne Rabes Töpf­chen­theo­rie sofort in sich zusam­men, wenn man ihren auto­fik­tio­na­len Roman genau­er liest, denn dort fin­det sich die fol­gen­de Passage: 

Alle Fami­li­en haben sol­che Geschich­ten. Gemein­sa­me Erleb­nis­se, die eine Fami­lie zu einer Fami­lie machen. Geschich­ten, die man sich immer wie­der erzählt. Die Geschich­ten von einem miss­glück­ten Weih­nachts­bra­ten, von Irr­fahr­ten zu einem lang ersehn­ten Urlaubs­ziel, Miss­ge­schi­cke und Toll­pat­schig­kei­ten, die einem noch immer die Lach­trä­nen in die Augen trei­ben. Die­se Geschich­ten, an die man denkt, wenn man Zuhau­se denkt.

Was Tim und ich uns erzäh­len, wenn wir über unse­re Kind­heit spre­chen, sind Geschich­ten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S. 23

Das bedeu­tet, dass Anne Rabe bzw. die Ich-Erzäh­le­rin die­se Fami­lie als unnor­mal ein­stuft. Wenn sie aber unnor­mal war, dann kann man aus der Exis­tenz die­ser Fami­lie nicht auf die Bevöl­ke­rung eines gan­zen Lan­des schlie­ßen. Wie hoch die Antei­le von auto und fik­tio­nal an der auto­fik­tio­na­len Geschich­te sind, wer­den wir nie her­aus­fin­den, denn Anne Rabe äußert sich in Inter­views zu dies­be­züg­li­chen Fra­gen nicht (zum Bei­spiel beim taz-Lab-Gespräch mit Simo­ne Schmol­lack).

Zwei Brie­fe spre­chen die Fra­ge nach den abso­lu­ten und den rela­ti­ven Zah­len bei Kinds­tö­tun­gen an und einer unter­stellt mir eine bewuss­te Falsch­dar­stel­lung. Die Poli­zei­li­che Kri­mi­nal­sta­tis­tik (PKS) ver­wen­det rela­ti­ve Zah­len, um die Zah­len über­haupt ver­gleich­bar zu machen. Ich möch­te das an einem Bei­spiel erklä­ren: Im Fall der so genann­ten Neo­na­ti­zide, also der Kinds­tö­tun­gen direkt nach der Geburt, sind abso­lu­te Zah­len nicht aus­sa­ge­kräf­tig, denn in Bre­men wur­den zum Bei­spiel im Jahr 2022 nur 6.720 Kin­der gebo­ren. In NRW waren es im sel­ben Zeit­raum dage­gen 164.496 Kin­der. Wenn in bei­den Bun­des­län­dern jeweils ein Kind getö­tet wor­den wäre, wäre die abso­lu­te Anzahl gleich, aber für Bre­men wäre die rela­ti­ve Anzahl, also die Anzahl im Ver­gleich zu den Kin­dern, die über­haupt Opfer hät­ten wer­den kön­nen, viel grö­ßer. Neh­men wir an, in Bre­men wären 6.720 Kin­der getö­tet wor­den, dann wären es 100% gewe­sen. 6.270 Kin­der in NRW wären aber nur 4,1%. Der Ver­gleich abso­lu­ter Zah­len ist also offen­sicht­lich unsin­nig. In der PKS wird des­halb der abso­lu­te Wert auf Opfer pro 100.000 mög­li­che Opfer umge­rech­net. In Bre­men wäre die ermit­tel­te Zahl dann also grö­ßer als die tat­säch­li­che Zahl und in NRW klei­ner. So wer­den die Neo­na­ti­zi­de in Bre­men und NRW ver­gleich­bar. Das ist auch in der zitier­ten Stu­die zu den Kinds­tö­tun­gen auf S. 337 erklärt (Höynck, Behn­sen & Zäh­rin­ger, 2015). Ich zitie­re genau die­se Sei­te in mei­nem Blog-Post vom 20.02.2024, der die Kinds­tö­tun­gen aus­führ­li­cher bespricht, als das in der Ber­li­ner mög­lich war. Im Arti­kel, der als Print-Ver­si­on erschie­nen ist, sind die Quel­len aus Platz­grün­den aus­ge­la­gert wor­den. Wenn man nun über die Kinds­tö­tun­gen von Kin­dern unter 6 Jah­ren spricht, muss man als Bezugs­grö­ße 100.000 Kin­der in den jewei­li­gen Bun­des­län­dern anneh­men. Ein Bezug auf die Gesamt­be­völ­ke­rungs­zahl, wie von einem Leser vor­ge­schla­gen, wäre nicht kor­rekt. In mei­ner Ori­gi­nal­ein­rei­chung war ein Satz zu den rela­ti­ven Zah­len bzgl. 100.000 mög­li­chen Opfern ent­hal­ten. Ich wur­de gebe­ten, das noch bes­ser zu erklä­ren und habe des­halb die Sät­ze ein­ge­fügt, die dar­le­gen, wie absurd das Ergeb­nis wür­de, wenn man von abso­lu­ten Zah­len aus­gin­ge. Die PKS und auch die Pres­se­be­rich­te dar­über haben sich auf rela­ti­ve Zah­len (Fach­wort Opferzahlen/OZ) bezo­gen, Anne Rabe hat aber geschrie­ben: „Die Zahl der Kinds­tö­tun­gen ist im Osten Deutsch­lands in den 90er und 00er Jah­ren dop­pelt so hoch wie im Wes­ten und steigt im Jahr 2006 sogar auf das Vier­fa­che an.“ Die­se Aus­sa­ge ist fak­tisch falsch. Ein Leser schrieb mir AR hät­te die rela­ti­ve Zahl gemeint. Was jemand gemeint hat, ist aber nicht rele­vant, ent­schei­dend ist, was jemand ver­öf­fent­licht hat. Als Sprach­wis­sen­schaft­ler kann ich ein­schät­zen, was ein Satz bedeu­tet und als Mathe­ma­ti­ker und pro­mo­vier­ter Infor­ma­ti­ker weiß ich, was Anne Rabe statt­des­sen hät­te schrei­ben müs­sen. Dass ich das jetzt nicht hin­ter­her irgend­wie zurecht­ge­bo­gen habe, sieht man, wenn man sich den Print-Arti­kel ansieht: Dort sind die Bevöl­ke­rungs­grö­ße und die Gebur­ten­ra­ten erwähnt. Nur der eine Satz mit der Bezugs­grö­ße 100.000 ist lei­der im Ping-Pong mit der Redak­ti­on ver­lo­ren gegan­gen. Ich hät­te bes­ser auf­pas­sen müs­sen. Der Punkt mit den abso­lu­ten und rela­ti­ven Zah­len hat jetzt in der Dis­kus­si­on und auch im Arti­kel einen viel zu gro­ßen Raum ein­ge­nom­men. Wich­tig ist, und das sagen Höynck, Behn­sen & Zäh­rin­ger (2015: 337) auch sehr klar (auch an ande­ren Stel­len in ihrem im renom­mier­ten Wis­sen­schafts­ver­lag Sprin­ger erschie­nen Buch), dass man aus der PKS nichts ablei­ten kann. Der wich­tigs­te Punkt ist, dass die Zah­len (glück­li­cher­wei­se) zu klein sind. Die Autorin­nen lis­ten wei­te­re Pro­ble­me auf, die zei­gen, dass das Zie­hen von Schlüs­sen aus der PKS zu Kinds­tö­tun­gen unzu­läs­sig ist. Es wur­de in vie­len Brie­fen kri­ti­siert, dass ich auf Wiki­pe­dia ver­wie­sen habe. Ich bin Pro­fes­sor und bil­de zukünf­ti­ge Wissenschaftler*innen aus. Ich weiß sehr wohl, was Wiki­pe­dia kann und was Wiki­pe­dia nicht kann. In mei­nem Blog-Bei­trag zu den Leser­brie­fen gehen ich dar­auf auch genau­er ein. Der Punkt ist hier, dass genau die­se Stu­die und auch die ent­spre­chen­de Sei­te im Wiki­pe­dia-Ein­trag zu Kinds­tö­tun­gen zitiert wird. Wenn also jemand einen Quick­check zu Anne Rabes Behaup­tun­gen hät­te machen wol­len (Ver­lag, Jury, Rezen­sen­ten), so wäre es ein Leich­tes gewe­sen, in Wiki­pe­dia die Stel­le für wei­te­re Nach­for­schun­gen zu fin­den. Das Pro­blem für die­ses Land ist, dass nie­mand sich die Mühe gemacht hat. Die Gru­sel­ge­schich­te war doch zu schön.

Bern­hard Kave­mann liest aus mei­nem Arti­kel, dass ich kein Ver­ständ­nis für Kau­sa­li­tät hät­te. Ich habe in mathe­ma­ti­scher Logik eine 1,0 im Stu­di­um gehabt, habe ein Sys­tem mit Dis­kurs­re­prä­sen­ta­ti­ons­theo­rie imple­men­tiert und Logik und Com­pu­ta­tio­na­le Seman­tik an diver­sen Unis gelehrt. Wie Schlüs­se funk­tio­nie­ren, weiß ich sehr wohl. Ich habe nir­gends behaup­tet, dass es im Osten kei­ne Nazis gab. Wes­halb wäre ich sonst wohl 1989 im Anti­fa-Block mar­schiert (was ich im Arti­kel auch erwähnt habe). Ich habe behaup­tet, dass Anne Rabe fak­tisch fal­sche Behaup­tun­gen in ihren Roman ein­ge­baut hat. Den Nach­weis dafür haben ich im Arti­kel und noch detail­lier­ter in den Blog-Posts erbracht. Bern­hard Kave­mann schreibt wei­ter: „Der Ver­such mit den AfD-Poli­ti­kern geht eben­falls dane­ben: „Höcke und Kal­bitz sind aus dem Wes­ten.“ Ja, aber da sind sie nichts gewor­den, waren klei­ne Lich­ter, groß sind sie erst im Osten gewor­den.“ Im Arti­kel habe ich bereits Georg Maa­ßen erwähnt, der nicht im Osten groß gewor­den ist, son­dern im Ver­fas­sungs­schutz. Das Bun­des­ka­bi­nett hat ihn 2012 auf Vor­schlag des Bun­des­in­nen­mi­nis­ters Hans-Peter Fried­rich (CSU) zum Chef gemacht. Inzwi­schen wird Maa­ßen von der Behör­de, der er vor­saß, beob­ach­tet. Auch Dr. Alex­an­der „Wir wer­den sie jagen“ Gau­land ist nicht durch Ossis groß gewor­den. Vogel­schiss-Gau­land war von 1973 bis 2013 in der CDU, war im Magis­trat von Frankfurt/Main, und lei­te­te von 1987 bis 1991 die Hes­si­sche Staats­kanz­lei. Er ist jetzt Ehren­vor­sit­zen­der der Höcke-AfD und Vor­sit­zen­der der Bun­des­tags­frak­ti­on. Alle die­je­ni­gen, die noch ein biss­chen Anstand haben, sind bereits aus der AfD aus­ge­tre­ten. Wo kom­men die füh­ren­den Nazis her? Wer hat sie groß gemacht? Gern bit­te in mei­nem Blog in der Rubrik Nazis nachlesen. 

Hel­gard Most merkt an, dass man bei der Dis­kus­si­on mit Anne Rabe beim taz-Lab mei­ne Behaup­tun­gen nicht nach­prü­fen konn­te. Dafür habe ich den Blog geschrie­ben und den Arti­kel in der Ber­li­ner Zei­tung ver­öf­fent­licht. Die Blog-Bei­trä­ge hat­te ich aus­ge­druckt beim taz-Lab mit. 80 Sei­ten. Ich hät­te sie Anne Rabe geschenkt. Wirk­lich. HM behaup­tet wei­ter: „Wir Leser*innen sind intel­li­gent genug, zwi­schen einem Roman, der Anre­gun­gen für eige­ne Gedan­ken geben soll, und der Pau­scha­li­sie­rung einer gan­zen Bevölkerung, wie Herr Müller sie behaup­tet, zu unter­schei­den.“ Das mag für Frau Most zutref­fen, ist aber im All­ge­mei­nen lei­der nicht rich­tig. Mein ers­ter Anne Rabe-Post im Blog bezog sich des­halb auch nicht auf den Roman, den ich damals noch nicht gele­sen hat­te, son­dern auf die Dis­kus­si­on, den die­ser Roman aus­ge­löst hat. Da wird pau­scha­li­siert, die Mär von der gewalt­tä­ti­gen DDR wird ver­brei­tet. End­lich eine Erklä­rung dafür, wie komisch die Ossis sind. Ich möch­te hier ein wei­te­res wich­ti­ges Bei­spiel für die Roman/­Sach­buch-Dis­kus­si­on geben. Anne Rabe behaup­tet: „Auch waren Anti­se­mi­tis­mus und Natio­na­lis­mus wich­ti­ge Bestand­tei­le der sowje­ti­schen und real­so­zia­lis­ti­schen Ideo­lo­gie.“ Das ist eine Tat­sa­chen­be­haup­tung. Der Kon­text ist:

In der DDR droh­te die Dik­ta­tur zudem stän­dig, einen für die Ver­gan­gen­heit zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen. Auch des­halb wur­de geschwie­gen. In einem Land, in dem der Anti­fa­schis­mus Staats­rä­son war, wie soll man da über das spre­chen, was man in der »faschis­ti­schen Wehr­macht« getan hat­te? Auch waren Anti­se­mi­tis­mus und Natio­na­lis­mus wich­ti­ge Bestand­tei­le der sowje­ti­schen und real­so­zia­lis­ti­schen Ideologie.

S. 215

Das ist nicht ein Satz, den irgend­ei­ne Per­son im Roman sagt. Das ist eine Erklä­rung für den Leser. Und sie ist fak­tisch falsch. Ich habe das in mei­nem Blog-Post zum Holo­caust aus­führ­lich bespro­chen und es gibt auch diver­se ande­re Posts, zum Bei­spiel einen, der eine wis­sen­schaft­li­che Stu­die zu Poli­ti­kern in Ost und West aus­wer­tet. Im Osten gab es in den ver­schie­de­nen Regie­run­gen neun, dann acht, dann einen jüdi­schen Poli­ti­ker. Unter ande­rem Klaus Gysi. Im Wes­ten gab es nie in irgend­ei­ner Regie­rung einen. Null. Wich­ti­ge Poli­ti­ker, Musi­ker, Künst­ler der DDR waren Juden. Der Vater von Anet­ta Kaha­ne war ganz vorn mit dabei: Er hat die Nach­rich­ten­agen­tur ADN auf­ge­baut und lei­te­te das Neue Deutsch­land. Wolf Bier­mann hat­te mit Mar­got Hon­ecker meh­re­re Jah­re in einem Haus­halt gelebt. Mari­on Brasch hat als Jüdin Yas­sir Ara­fat am Wer­bel­lin­see begrüßt. Als ich einen Bre­mer Pro­fes­sor für Poli­tik­wis­sen­schaft nach sei­ner Evi­denz bezüg­lich tra­dier­ten Anti­se­mi­tis­mus’ in der DDR frag­te, schrieb er mir zurück, ich sol­le doch mal das Buch von Anne Rabe lesen. Das ist das Niveau, auf dem die Dis­kus­si­on läuft. Ein Wis­sen­schaft­ler ver­weist mich auf ein Buch, das nicht als Sach­buch bewer­tet wur­de und des­halb auch nicht das wis­sen­schaft­li­che Qua­li­täts­si­che­rungs­sys­tem durch­lau­fen hat. Beim taz-Lab gab es eine Dis­kus­si­on zwi­schen dem Schrift­stel­ler Mar­co Mar­tin und der His­to­ri­ke­rin Kat­ja Hoyer. Ich habe Hoyers Buch noch nicht gele­sen und kann zu sei­ner Qua­li­tät nichts sagen, aber Mar­co Mar­tin behaup­te­te, dass es nicht wahr sei, dass die Sie­ger die Geschich­te schrei­ben, und führt zum Bei­spiel Ines Gei­pel und Anne Rabe als ost­deut­sche Stim­men an, die ja den Gegen­part zu den Sie­gern über­näh­men. Das heißt, dass Anne Rabe auf eine Stu­fe mit His­to­ri­kern gestellt wird, die in einem Qua­li­täts­si­che­rungs­sys­tem arbei­ten und ver­öf­fent­li­chen. So wird aus einem Roman ein Sach­buch. Zu Ines Gei­pel gibt es eine Doku­men­ta­ti­on des MDR, die dis­ku­tiert, dass Gei­pel weder Olym­pio­ni­kin, noch Welt­re­kord­hal­te­rin war, dass die Zah­len der Doping­op­fer, die sie als Che­fin der Doping­op­fer­hil­fe genannt hat, viel zu hoch waren. Gei­pel hat eine Pro­gramm­be­schwer­de beim Rund­funk­rat ein­ge­legt. Die 101-sei­ti­ge Erwi­de­rung des MDR liegt mir vor. Die Autor*innen nen­nen Gei­pel dar­in eine Lüg­ne­rin und Hoch­stap­le­rin, die Wör­ter Unver­fro­ren­heit und Dreis­tig­keit kom­men vor. Wie­so soll jemand, der in Bezug auf sei­ne eige­ne Geschich­te lügt, eine glaub­wür­di­ge Quel­le für unser aller Geschich­te sein? Über den Holo­caust schreibt Gei­pel: „Mit die­ser instru­men­tel­len Ver­ges­sens­po­li­tik wur­de im sel­ben Atem­zug der Holo­caust für 40 Jah­re in den Ost-Eis­schrank gescho­ben. Er kam öffent­lich nicht vor.“ Das ist fak­tisch falsch, wie ich aus­führ­lich in Der Ossi und der Holo­caust nach­ge­wie­sen habe.  Anne Rabe und ihre (ehe­ma­li­ge?) Freun­din Ines Gei­pel sind kei­ne ver­läss­li­chen Quel­len, was die Geschich­te der DDR angeht. Das in Bezug auf Anne Rabe zu zei­gen, war das Ziel mei­nes Bei­trags in der Ber­li­ner Zei­tung. Und dann bleibt die Fra­ge: Wer schreibt unse­re Geschichte?

Den Leser­brief zu den Blu­men­töp­fen ver­ste­he ich nicht. Ich weiß nicht, war­um die Leser­brief­re­dak­ti­on ihn aus­ge­sucht hat. 

Rein­hard Brett­schnei­der wirft mir vor, dass ich die Spal­tung erhal­ten will. Nichts liegt mir fer­ner. Wie gesagt: Ich habe mich bis 2013 nicht als Ossi gese­hen. Die Spal­tung ist jedoch real. Vie­les wird man nicht mehr repa­rie­ren kön­nen. Eigen­tums­struk­tu­ren wer­den immer so blei­ben: Ver­mie­ter woh­nen im Wes­ten, die Ein­nah­men flie­ßen dort­hin ab. Fir­men­sit­ze lie­gen im Wes­ten, Ein­nah­men und Paten­te gehen in den Wes­ten. Steu­ern wer­den nicht im Osten gezahlt, son­dern am Fir­men­sitz. Aber man könn­te eini­ge Din­ge ändern, die zur Ver­hei­lung eini­ger Wun­den bei­tra­gen könn­ten. Dazu gehört, dass respekt­voll über den Osten geschrie­ben wird, ja, dass die Men­schen dort über­haupt als sol­che wahr­ge­nom­men wer­den. Ich habe in mei­nem Blog eini­ge Fäl­le dis­ku­tiert, in denen West-Autoren und ‑Wis­sen­schaft­ler über den Osten reden, als wäre er nicht Teil des Lan­des. Und das in Arti­keln, die einen posi­ti­ven Bei­trag zur Ost-West-Debat­te leis­ten wol­len. Ich kämp­fe dafür, dass für die­se Pro­ble­me über­haupt erst mal ein Bewusst­sein ent­steht. Das ist drin­gend not­wen­dig, denn ein ver­nünf­ti­ges Mit­ein­an­der ist auch ein Betrag im Kampf gegen den Faschis­mus. In der taz schreibt Georg Seeß­len: „Die Men­schen, die einem Maxi­mi­li­an Krah zuju­beln, […] trotz der Nach­rich­ten über die­sen Mann, müs­sen einen fun­da­men­ta­len Bruch voll­zo­gen haben.“ Der Punkt hier ist: Die­se Men­schen wur­den von den rele­van­ten Nach­rich­ten wahr­schein­lich nicht erreicht, denn sie sind nicht mehr Teil des gesell­schaft­li­chen Dis­kur­ses. 2021 schrieb Anne Fromm in der taz: „2,5 Pro­zent ihrer Gesamt­auf­la­ge ver­kauft die Süd­deut­sche Zei­tung in den Neu­en Bun­des­län­dern. 3,4 Pro­zent sind es bei der FAZ, etwa 4 Pro­zent beim Spie­gel. Bei der taz sind es, das steht nicht in der Stu­die, rund 6 Pro­zent. […] Die Ost­deut­schen lesen also kei­ne Zei­tun­gen, zumin­dest kei­ne über­re­gio­na­len mit Sitz in der alten BRD.“ War­um soll ich Geld für Druckerzeug­nis­se bezah­len, in denen dau­ernd merk­wür­di­ge Din­ge über mich ste­hen? Ich möch­te, dass es wie­der einen Dis­kurs gibt. Dass wir mit­ein­an­der reden, nicht über­ein­an­der. Ich bin also kein Spal­ter. Ich kämp­fe für ein Mit­ein­an­der, eine Eini­gung, für die deut­sche Ein­heit! Wer hät­te das 1989 gedacht?

Quellen

Beer, Maxi­mi­li­an & Hol­ler­sen, Wieb­ke. 2023. „Es hat eher wenig mit der DDR zu tun“: For­scher über Rechts­extre­mis­mus in Ost­deutsch­land. Ber­li­ner Zei­tung. 08.07.2023. (https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/die-these-vom-rechtsruck-ist-unsinn-forscher-ueber-ostdeutschland-extremismus-und-afd-li.366563)

Fromm, Anne. 2021. Pres­se in Ost­deutsch­land: Wer strei­chelt unse­re See­le? taz, 09.03.2021. Ber­lin. (https://taz.de/Presse-in-Ostdeutschland/!5756271/)

Höynck, The­re­sia & Behn­sen, Mira & Zäh­rin­ger, Ulri­ke. 2015. Tötungs­de­lik­te an Kin­dern unter 6 Jah­ren in Deutsch­land: Eine kri­mi­no­lo­gi­sche Unter­su­chung anhand von Straf­ver­fah­rens­ak­ten (1997–2006). Wies­ba­den: Sprin­ger. (https://doi.org/10.1007/978–3‑658–07587‑3)

Kar­te, Uwe. 2023. Doping und Dich­tung – Das schwie­ri­ge Erbe des DDR-Sports. mdr. 21.01.2023 (https://www.youtube.com/watch?v=FUInTLwH4fI)

MDR Haupt­re­dak­ti­on Sport. 2023. MDR-Doku­men­ta­ti­on „Doping und Dich­tung“ Fak­ten­check. Leip­zig.

Teuw­sen, Peer. 2023. Ver­heim­lich­te Nähe. Neue Züri­cher Zei­tung. 30.09.2023. (https://www.nzz.ch/feuilleton/anne-rabe-verheimlichte-naehe-ld.1782626)

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