Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe

Aktua­li­siert am 27.02.2024

Ich habe es geschafft. Ich woll­te es nicht, weil mich schon die Kri­ti­ken genervt haben (sie­he Gewalt­er­fah­run­gen und 1968 für den Osten), aber ich habe es gele­sen. Das neue Buch von Anne Rabe über ihre Gewalt­er­fah­run­gen mit ihrer Fami­lie nach der Wen­de: Die Mög­lich­keit von Glück. Ich hat­te erwar­tet, ein Buch zu lesen, in dem der Kampf einer Fami­lie in der Trans­for­ma­ti­on nach der Wen­de im All­tag beschrie­ben wird und die Gewalt, die aus der damit ver­bun­den Anspan­nung ent­ste­hen konn­te. Auf dem Cover steht Roman, aber das Buch ist wohl eher ein rela­tiv grad­li­ni­ger Bericht über ihre Nach­for­schun­gen bzgl. ihrer Fami­li­en­mit­glie­der und eine sehr ein­drück­li­che Schil­de­rung der Gewalt, die in ihrer Fami­lie üblich war. Das wird gemischt mit Spe­ku­la­tio­nen dar­über, was die Ursa­chen für Kinds­tö­tun­gen und Amok­läu­fe im Osten gewe­sen sein könn­ten. Das Buch hat ein Quel­len­ver­zeich­nis und ich dach­te schon, dass das ein Zei­chen für sorg­fäl­ti­ges Arbei­ten sein könn­te und das Buch doch so etwas wie ein Sach­buch über den Osten sein könn­te, aber das Quel­len­ver­zeich­nis lie­fert nur die Quel­len für die Zita­te, die den Kapi­teln vor­an­ge­stellt sind: Tho­mas Brasch, Ber­tolt Brecht, Hei­ner Mül­ler, Robert Have­mann und so.

Leser*innen, die die­sen Blog nicht ken­nen, möch­te ich noch die Über-Sei­te nahe­le­gen. Dort steht etwas über mei­nen Wer­de­gang. Ich hat­te nach der Wen­de die Mög­lich­keit, glück­lich zu wer­den, und ich hat­te Glück. Ich bin kei­ner der DDR-Nost­al­gi­ker, ich bin nicht wie Anne Rabes Eltern, ich war nie in der Par­tei, aber ich sehe ein gro­ßes Pro­blem dar­in, wie über die DDR geschrie­ben wird. Nun auch von unse­ren Kin­dern, die sie selbst nie erlebt haben.

Nun los.

Psychoeltern und die Unmöglichkeit von Glück

Anne Rabe tut mir Leid. Sie schil­dert in ihrem Buch ein­drück­lich die Gewalt, die sie und ihr Bru­der durch ihre Eltern und ihre Ver­wandt­schaft (Tan­ten, Onkels und Groß­el­tern) erfah­ren hat und wel­che Fol­gen das für sie hat­te. Man kann ihre Eltern und beson­ders ihre Mut­ter wohl als Psychopath*innen bezeich­nen. Nor­mal war das jeden­falls nicht. Ihre Mut­ter hat sie und ihren Bru­der in zu hei­ßes Bade­was­ser stei­gen las­sen und erwar­tet, dass sie sich irgend­wie dar­an gewöh­nen. Ein­mal war es so heiß, dass ihr Vater sie ret­ten muss­te (Kapi­tel 33). Im Früh­jahr muss­ten sie zu leicht beklei­det in die Schu­le gehen (S. 175). Wenn sie beim Essen mit Mes­ser und Gabel Feh­ler mach­ten, wur­den sie geschla­gen, auch von Tan­ten und Onkels. Und Bekannten.

Da fiel mir dann zum Bei­spiel ein, wie Tim und ich gelernt hat­ten, ordent­lich mit Mes­ser und Gabel zu essen. Wie selbst­ver­ständ­lich es war, dass einem jeder, von den Eltern über die Tan­ten und Bekann­ten, stän­dig auf die Fin­ger schlug.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S. 116

Auch sonst gab es „stän­dig“ Kopf­nüs­se, so dass der Schä­del krach­te, und ande­re Schlä­ge (S. 4, 63, 64). Die Mut­ter hat wochen­lang nicht mit ihr gespro­chen (Kapi­tel 41). Der Vater in die­ser Zeit nur ein­mal aus Ver­se­hen. Ihre Mut­ter hat sie gehasst und woll­te sie ver­nich­ten (S. 218). In Kapi­tel 17 wird beschrie­ben, wie ihre Groß­el­tern ihre Tan­te vom Baby­al­ter bis zum Alter von drei Jah­ren in einen Schup­pen gesperrt haben, wenn sie schrie. Mit drei hat sie dann auf­ge­hört. Die Mut­ter der Ich-Erzäh­le­rin hat es gehört. Spä­ter wur­de der Bru­der der Ich-Erzäh­le­rin in den Schup­pen gesperrt und die Ich-Erzäh­le­rin hört ihn schrei­en. Ein Miss­brauch durch den Vater wird auf S. 83 ange­deu­tet. Auch der Groß­va­ter schlug die Groß­mutter in Anwe­sen­heit der rest­li­chen Fami­lie (S. 245).

Als sie dann von mir ermun­tert noch ein­mal zum Erzäh­len ansetz­te, lan­de­te ein Faust­schlag an ihrer Schul­ter, der sie zu mir rüber­wan­ken ließ. „Nun halt aber mal dei­nen Mund, Ursel.“ So kann­te ich es und Oma Ursel auch. Alle, die dabei­sa­ßen, kann­ten es auch nicht anders. Kei­ner sag­te etwas.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S. 245

Das alles ist schlimm, ohne Zwei­fel. Nur stellt sich die Fra­ge, wel­che Rele­vanz die­se Schil­de­run­gen für die Ein­stu­fung des Lebens in der DDR haben. Der Roman wur­de in der Pres­se begeis­tert auf­ge­nom­men, er war sogar auf der Short­list für den Preis des deut­schen Buch­han­dels 2023. Mei­ner Mei­nung nach hat das Buch aber über­haupt kei­ne Rele­vanz für die Ein­ord­nung des Lebens in der DDR. Rabe schießt weit über das Ziel hin­aus, wenn sie aus ihrem Leben irgend­was für das gan­ze Land ablei­ten will. Sie schreibt ja auch selbst, dass ihre Fami­lie anders war als andere:

Alle Fami­li­en haben sol­che Geschich­ten. Gemein­sa­me Erleb­nis­se, die eine Fami­lie zu einer Fami­lie machen. Geschich­ten, die man sich immer wie­der erzählt. Die Geschich­ten von einem miss­glück­ten Weih­nachts­bra­ten, von Irr­fahr­ten zu einem lang ersehn­ten Urlaubs­ziel, Miss­ge­schi­cke und Toll­pat­schig­kei­ten, die einem noch immer die Lach­trä­nen in die Augen trei­ben. Die­se Geschich­ten, an die man denkt, wenn man Zuhau­se denkt.

Was Tim und ich uns erzäh­len, wenn wir über unse­re Kind­heit spre­chen, sind Geschich­ten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S. 23

Auf der Ebe­ne der anek­do­ti­schen Evi­denz kann ich nur all den­je­ni­gen, die die DDR nicht erlebt haben, ent­we­der weil sie im Wes­ten gelebt haben oder noch nicht geboh­ren waren, ver­si­chern, dass Rabes Mut­ter nicht nor­mal war. In dem Sin­ne, dass ande­re Müt­ter ihre Kin­der nicht zu heiß geba­det haben, dass ande­re Müt­ter ihre Kin­der nicht ver­brüht haben. Ich bin in mei­ner Kind­heit wahr­schein­lich von mei­nem Vater geschla­gen wor­den, an kon­kre­te Vor­fäl­le kann ich mich nicht erin­nern, aber Ohr­fei­gen gab es wahr­schein­lich. Wor­an ich mich erin­nern kann, ist, dass ich geschüt­telt wur­de. Das war aber auch sel­ten. Der Zugang zum Werk­zeug­schrank mei­nes Vaters war bei Andro­hung „mords­mä­ßi­ger Dre­sche“ ver­bo­ten. Wahr­schein­lich woll­te er ver­hin­dern, dass ich mir eine Ahle ins Auge sto­ße oder so was. Die Dro­hung war krass und der Erfolg durch­schla­gend: Ich fas­se bis heu­te kei­ne Werk­zeug­kis­ten an (Ich glau­be, bei so einem erns­ten The­ma muss man Iro­nie mar­kie­ren. Mein Vater hat mit mir gebas­telt. Das war schön und ich durf­te auch sein Werk­zeug benut­zen.). Mei­ne Mut­ter hat mich nie geschla­gen. Sie hat es ein­mal ver­sucht. Da war ich schon 16. Ich hat­te sie wirk­lich zur Weiß­glut gebracht und sie erhob bei­de Hän­de und woll­te mich von oben her­ab schla­gen. Ich habe bei­de ihrer Arme an den Hand­ge­len­ken gegrif­fen und sie fest­ge­hal­ten. Wir stan­den uns gegen­über und ich habe sie ange­grinst. Ich hat­te ein schlech­tes Ver­hält­nis zu mei­nen Eltern. Eher zu mei­nem Vater. Er war sehr streng und hielt mich für einen Ver­sa­ger. Das Ver­hält­nis zu mei­nem Vater ist in fol­gen­dem Song von Max Goldt (ausm Wes­ten) ganz gut beschrieben:

Foy­er des Arts (1982): Fami­lie und Beat­mu­sik. Von Bül­ler­bü nach Baby­lon. WEA Records.

Nach der Armee war ich genau einen Tag zuhau­se und bin dann aus­ge­zo­gen. Wir haben uns wie­der ver­stan­den, nach­dem ich mein Stu­di­um trotz Beat­mu­sik been­det hat­te. (Da ging es mir bes­ser als Tim im Buch, dem Bru­der der Ich-Erzäh­le­rin.) Unser etwas schwie­ri­ges Ver­hält­nis kam wohl daher, dass die früh­kind­li­che Bin­dung fehl­te, denn mein Vater war zu mei­ner Geburt bei der Armee, arbei­te­te danach in Ber­lin und war nur an den Wochen­en­den da. Erst als ich vier war zogen wir alle nach Ber­lin. Das Ver­hält­nis zu mei­nen Geschwis­tern war viel besser.

Also: Es gab bei mir gele­gent­li­che, sehr sel­te­ne, kör­per­li­che Stra­fen, aber nichts von dem was Anne Rabe schil­dert. Und wenn man sich aus heu­ti­ger Sicht über die Züch­ti­gun­gen zu Recht auf­regt, dann muss man beden­ken, dass das damals noch üblich war. Im Wes­ten wie im Osten. Ich habe in Gewalt­er­fah­run­gen und 1968 für den Osten bereits dar­über geschrie­ben: Prü­gel­stra­fe in Schu­len war im Wes­ten nicht ver­bo­ten, im Osten sehr wohl. Im pri­va­ten Bereich wur­de sie erst 2000 ver­bo­ten, weil eine UN-Vor­ga­be umge­setzt wer­den muss­te. Übri­gens durf­ten im Wes­ten bis 1958 nur Väter ihre Kin­der ver­prü­geln. Danach waren die Frau­en gleich­ge­stellt. Was für ein Fortschritt!

Ich war bei mei­ner Tan­te in den Feri­en. Zwei Wochen. Sie waren auch öfter bei uns. Ich war regel­mä­ßig bei mei­nen Groß­el­tern väter­li­cher­seits und bei mei­nem Groß­va­ter müt­ter­li­cher­seits in den Feri­en. Mein Opa war der lus­tigs­te, freund­lichs­te und gut­mü­tigs­te Mensch der Welt. Er hat mei­ne Oma nicht geschla­gen und auch sonst nie­man­den. Nie­mand, nie­mand von den Erwach­se­nen hat mich je geschla­gen. Das gilt auch für mein gesam­tes ande­res Leben. Leh­rer und Leh­re­rin­nen, Trai­ner im Sport­ver­ein (Schach, Leicht­ath­le­tik, Kara­te), Erwach­se­ne in Arbeits­ge­mein­schaf­ten (Astro­no­mie, Mathe­ma­ti­sche Schü­ler­ge­sell­schaft), Eltern ande­rer Kin­der und sons­ti­ge Bezugs­per­so­nen. Nie! 

Am 8. Okto­ber 1989 war ich vor der Geth­se­ma­n­e­kir­che und wir haben geru­fen: Kei­ne Gewalt!

(Viel­leicht ist es ja auch das, was dem Wes­ten gefällt: Das Buch von Anne Rabe kann man jetzt dazu benut­zen, die Geschich­te von die­sem einen gro­ßen Erfolg der Ossis, dem gewalt­lo­sen Sys­tem­um­sturz, zu zer­stö­ren. Denn in Wirk­lich­keit waren wir ja alle gewalttätig.)

Eine Sache gehört noch in die­sen Abschnitt. Anne Rabe schreibt über das Stil­len und das Durch­schla­fen und den Umgang mit Kindern:

Mei­ne ers­ten Tage habe ich im Säug­lings­zim­mer zwi­schen ande­ren Schrei­häl­sen ver­bracht. Zu fes­ten Zei­ten hat man uns unse­ren Müt­tern zum Stil­len über­ge­ben und dann gleich wie­der in die klei­nen Bett­chen gelegt. […] Mich hät­te man schon nach weni­gen Wochen abends ein­fach bloß ins Bett legen brau­chen. Dort sei ich dann ein­ge­schla­fen. Ganz von allein. Oder ganz allein. Das Wich­tigs­te für einen ordent­li­chen Schlaf­rhyth­mus sei es, die Still­zei­ten ein­zu­hal­ten, beton­te Mut­ter. Nach vier Wochen hät­te ich schon durchgeschlafen.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S.13–14

Tja, vie­le in mei­nem Alter wer­den das ken­nen. Vie­le wer­den Recht­fer­ti­gun­gen ihrer Eltern ken­nen. Nur hat das alles nichts mit der DDR zu tun. Die Ursprün­ge kann man ziem­lich genau zurück­ver­fol­gen zum Buch Die deut­sche Mut­ter und ihr ers­tes Kind von Johan­na Haa­rer von 1934. 

Titel von Die deut­sche Mut­ter und ihr ers­tes Kind. Erst­aus­ga­be 1934.

Ihr drit­tes Buch hieß übri­gens Mut­ter, erzähl von Adolf Hit­ler! und erschien 1939. Ihre Bücher wur­den nach dem Krieg durch die Alli­ier­ten ver­bo­ten. Die deut­sche Mut­ter war jedoch nicht tot­zu­krie­gen und wur­de bis 1987 unter dem Titel „Die Mut­ter und ihr ers­tes Kind“ wei­ter ver­öf­fent­licht. Wiki­pe­dia lis­tet drei Auf­la­gen. Die ers­ten bei­den in Nazi-Deutsch­land 1934 und 1941. Die zwei­te dann 338.–440. Tau­send Bücher und die letz­te Auf­la­ge von 1987 dann mit 1222.–1231. Tau­send der Gesamt­auf­la­ge. Wie viel der letz­ten Auf­la­ge ver­kauft wur­de, weiß man nicht, aber es dürf­ten min­des­tens 1.222.000 Bücher im Umlauf gewe­sen sein. Ihr könnt ja mal bei Euren deut­schen Müt­tern bzw. Euren deut­schen Eltern ins Bücher­re­gal gucken, ob da noch was steht. Theo­re­tisch könn­te natür­lich auch in der DDR was von den ers­ten 690.000 Büchern (Krat­zer, 2018) übrig geblie­ben sein, aber da man für Nazi-Lite­ra­tur bestraft wer­den konn­te, ist es eher unwahr­schein­lich. Neu kau­fen konn­te man es jeden­falls nicht. Wiki­pe­dia schreibt dazu: „In der 1949 gegrün­de­ten DDR wur­de Haa­r­ers Buch nicht verlegt.“

Die Zeit-Autorin Anne Krat­zer schreibt zum Buch: 

„Das Kind wird gefüt­tert, geba­det und tro­cken­ge­legt, im Übri­gen aber voll­kom­men in Ruhe gelas­sen“, riet damals Johan­na Haa­rer. Sie schil­der­te detail­reich kör­per­li­che Aspek­te, igno­rier­te aber alles Psy­chi­sche – und warn­te gera­de­zu vor „äffi­scher“ Zunei­gung: „Die Über­schüt­tung des Kin­des mit Zärt­lich­kei­ten, etwa gar von Drit­ten, kann ver­derb­lich sein und muss auf die Dau­er ver­weich­li­chen. Eine gewis­se Spar­sam­keit in die­sen Din­gen ist der deut­schen Mut­ter und dem deut­schen Kin­de sicher­lich ange­mes­sen.“ […] statt in einer „läp­pisch-ver­ball­horn­ten Kin­der­spra­che“ sol­le die Mut­ter aus­schließ­lich in „ver­nünf­ti­gem Deutsch“ mit ihm spre­chen, und wenn es schreie, sol­le man es schrei­en las­sen. Das kräf­ti­ge die Lun­gen und här­te ab.

Krat­zer, Anne. 2018. NS-Geschich­te: War­um Hit­ler bis heu­te die Erzie­hung von Kin­dern beein­flusst. Die Zeit.

Die Kin­der­er­zie­hung im Wes­ten wie im Osten war frü­her sehr anders. Das hat sich erst im Lau­fe der Zeit geän­dert. Hier irgend­wie dem Osten einen Strick dre­hen zu wol­len oder Ostel­tern Vor­wür­fe machen zu wol­len, die man nicht auch Westel­tern machen wür­de, ist ungerechtfertigt.

Und auch noch zu mei­nem eige­nen Erle­ben als Vater. Ich lie­be mei­ne Kin­der. Jeden Tag mehr. Ich emp­fin­de eine äffi­sche Zunei­gung zu ihnen, ich habe sie nicht in den Schup­pen gesperrt, son­dern hin und her getra­gen und gesun­gen: „Wide­wi­de­wen­de heißt mei­ne Put­hen­ne, Sau­se­wind heißt mein Kind, Gro­ter­jan heißt mein Hahn, Wie­dewie­dewen­de heißt mei­ne Put­hen­ne. Kun­ter­bunt heißt mein Hund. Wie­dewie­dewen­de heißt mei­ne Put­hen­ne.“ OK, der Text ent­sprach nicht genau dem, was man auf you­tube sehen kann, aber ich habe auf jeden Fall län­ger als 2:48 min gesun­gen. So lan­ge, bis es gut war. (lan­ge, lan­ge) Und ich habe sie ganz fest gehal­ten. Mei­ne Toch­ter ist, seit sie ein Jahr alt ist, in der Puber­tät. Der gan­ze Prenz­lau­er Berg kennt sie. Sie ist eine Legen­de. Ihr könnt fragen.

Aber manch­mal, wenn ich sie auf dem Arm hielt, habe ich mir vor­ge­stellt, sie ein­fach fal­len zu las­sen. Ich dach­te, dann ist sie wie­der weg. Dann ist alles vorbei.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S.14

Ich weiß war­um. Ich kann das ver­ste­hen und die völ­lig fik­tio­na­le Per­son im Roman tut mir Leid. Aber ich wür­de mei­ne Kin­der nie fal­len las­sen. Ich lie­be sie und zwar so sehr, dass ihre Zukunft eine mei­ner Haupt­sor­gen ist, weil wir gera­de dabei sind, ihre Lebens­grund­la­gen zu zer­stö­ren. Weil mir das alles so wich­tig ist, ist die Kli­ma­be­we­gung zu mei­nem Haupt­ar­beits­ge­biet als Foto­graf gewor­den (Frü­her war ich Musik­fo­to­graf. Ach, war das schön. No future und so.).

Amokläufe

Anne Rabe führt den Amok­lauf in Erfurt auf die Ost­so­zia­li­sa­ti­on des Amok­läu­fers zurück und beschwert sich dar­über, dass das in der Pres­se damals nicht so gese­hen wurde:

Es war der ers­te soge­nann­te Amok­lauf in Deutsch­land. Er geschah im Osten des Lan­des. Aber zum ers­ten Mal hieß es bei die­ser Form der „Jugend­ge­walt“ nicht, dass es sich um ein Phä­no­men der Nach­wen­de­zeit han­deln wür­de. Die Gewalt an die­sem Tag bedeu­te­te sieb­zehn Tote und eine gan­ze Schu­le vol­ler Angst. […] Viel­leicht durf­te die Tat des­halb nichts mit dem Osten zu tun haben, weil man sie gedank­lich über den Atlan­tik schob. Drei Jah­re zuvor hat­te es an der Colum­bi­ne High­school in den USA ein Mas­sa­ker gege­ben, das Stein­häu­ser sich zum Vor­bild nahm.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S.193

2002 erschoss der Amok­läu­fer elf Leh­rer, eine Refe­ren­da­rin, eine Sekre­tä­rin, zwei Schü­ler und einen Poli­zis­ten und sich selbst. 17 Tote. Rabe fragt: „Wie wahr­schein­lich war es denn, dass einer in Erfurt aus den glei­chen Grün­den schießt wie zwei in Colo­ra­do[?] Mob­bing, Bal­ler­spie­le, Leis­tungs­druck.“ (S. 194)

Wor­über die Eltern, Leh­rer und Fern­seh­re­por­ta­gen nie spra­chen, wenn sie für die Schwei­ge­mi­nu­ten noch ein­lei­ten­de Wor­te wähl­ten, waren sie selbst. Nie haben sie gefragt, ob die Schüs­se in Erfurt auch etwas mit ihnen zu tun haben könn­ten. Glaubt denn wirk­lich jemand, dass einer sieb­zehn Men­schen umbringt wegen Abi­stress? Dass einer sieb­zehn Men­schen abknallt, weil er ein Com­pu­ter­spiel zu oft gespielt hat? Dass einer sieb­zehn Men­schen hin­rich­tet, weil er Hor­ror­fil­me gese­hen hat? Ja, ganz sicher, Robert Stein­häu­ser hat geschos­sen, weil Mut­ti und Vati nicht streng genug waren und sei­ne Medi­en­zeit nicht begrenzt haben.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S.202

Nun gab es aber im Jah­re 2009 in Win­nen­den und Wend­lin­gen einen Amok­lauf mit 16 Toten inklu­si­ve Amok­läu­fer. Win­nen­den ist bei Stutt­gart, also sehr weit weg von der DDR. Oder zählt das nicht, weil es ein Toter weni­ger war? Bit­te, Frau Rabe, ein biss­chen mehr Mühe in der Argu­men­ta­ti­on hät­ten Sie sich schon geben können.

Der Psy­cho­lo­ge Jens Hoff­mann sagt 2016 zu den Amok­läu­fen an Schulen:

Fra­ge: Schul­at­ten­tä­ter ver­fol­gen doch kei­ne Ideologie. 

Ant­wort: Doch, inter­es­san­ter­wei­se gibt es so etwas auch dabei. Erstaun­lich vie­le Schul­a­mok­läu­fer bezie­hen sich auf das Atten­tat an der Colum­bi­ne-High­school im Jahr 1999. Die bei­den Atten­tä­ter woll­ten mit ihren Taten damals eine Revo­lu­ti­on der Aus­ge­sto­ße­nen begrün­den. Das ist vie­len auch zwei Jahr­zehn­te spä­ter noch ein Anknüpfungspunkt.

Kra­mer, Bernd. 2016. „Mehr­fach­tö­tun­gen im öffent­li­chen Raum“. Inter­view mit Psy­cho­lo­gen Jens Hoff­mann. flu­ter.

2016 gab es einen Amok­lauf in Mün­chen. Von einer 1998 in Mün­chen gebo­re­nen Per­son. In Wiki­pe­dia fin­det man dazu Folgendes:

Ehe­ma­li­ge Mit­schü­ler sag­ten, dass er am Tag der Tat durch eine Schul­prü­fung gefal­len sei.

Die Poli­zei fand in sei­nem Zim­mer das Buch „Amok im Kopf: War­um Schü­ler töten“ des US-ame­ri­ka­ni­schen Psy­cho­lo­gen Peter Lang­man, Zei­tungs­aus­schnit­te über ver­gan­ge­ne Amok­läu­fe und Fotos, die er im Vor­jahr an Orten des Amok­laufs von Win­nen­den auf­ge­nom­men hat­te. Den Anschlag hat­te er über etwa ein Jahr hin­weg geplant. Im Abschluss­be­richt der Staats­an­walt­schaft Mün­chen I und des Lan­des­kri­mi­nal­amts wird zudem dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Son­bo­ly in „sei­ner Frei­zeit […] exzes­siv am Com­pu­ter [spiel­te], ins­be­son­de­re soge­nann­te Ego-Shooter-Spiele.“

Und wäh­rend ich an die­sem Abschnitt arbei­te kommt die Mel­dung von einem bewaff­ne­ten Mann in einer Berufs­schu­le in Mölln und deren Eva­ku­ie­rung. Heu­te.

Das sagt die For­schung zu Erfurt und zu ande­ren Amoktaten:

Dage­gen stre­ben Nachahmungstäter nach der tatsächlichen Umset­zung ihrer Gewalt­fan­ta­sien (Robertz und Wickenhäuser 2010). Das Colum­bi­ne-Shoo­ting in Colo­ra­do scheint hier­bei für vie­le Jugend­li­che mit ähnlichen Vor­stel­lun­gen als „glo­ba­les Hand­lungs­mo­dell“ (Levin und Rei­chelm­ann 2016, S. 98) zu die­nen. Hin­wei­se dar­auf, dass sich Täter an den Colum­bi­ne-Taten ori­en­tier­ten, konn­ten sich in zahl­rei­chen Shoo- tings in den USA, Deutsch­land, Finn­land, Aus­tra­li­en, Eng­land und Bra­si­li­en wie­der­fin­den las­sen (Levin und Rei­chelm­ann 2016).

So hat man z. B. her­aus­ge­fun­den, dass sowohl der 19-jährige Robert S., der im Jahr 2002 an einem Erfur­ter Gym­na­si­um 16 Men­schen tötete, als auch der 17-jährige Tim K., der im Jahr 2009 an einer Real­schu­le in Win­nen­den ins­ge­samt 15 Men­schen erschoss, vor ihren Taten Inter­net­re­cher­chen über die Columbine-Täter durchführten. Zudem wur­den auf dem Com­pu­ter von Robert S. gespei­cher­te Datei­en, u. a. zu den Taten an der Colum­bi­ne High School, gefun­den. Hin­wei­se konn­ten sich außer­dem bei Sebas­ti­an B. fin­den las­sen, der in Ems­det­ten im Jahr 2006 meh­re­re Men­schen in sei­nem Gym­na­si­um ver­letz­te (Ver­hov­nik 2014). In sei­nem Tage­buch konn­ten sich Text­pas­sa­gen mit deut­li­chem Bezug zu einem der bei­den Columbine-Tätern fin­den las­sen: „ERIC HARRIS IST GOTT! Da gibt es kei­nen Zwei­fel.“ (Robertz und Wickenhäuser 2010, S. 174). Imi­ta­tio­nen der bei­den Columbine-Täter konn­ten außer­dem im Tat­her­gang, in der Klei­dung (schwar­ze Hand­schu­he und Man­tel, umge­dreh­te Base­ball-Kap­pen), der eige­nen Überhöhung (Eric S. schrieb den Satz „Ich bin Gott“ in sein Tage­buch), der Hand­schrift sowie der Bewaff­nung gefun­den wer­den (Robertz und Wickenhäuser 2010; Ver­hov­nik 2014).

Zettl, Max Sebas­ti­an et. al. 2019. Ursa­chen. S. 71.

Zu guter Letzt sei noch ange­merkt, dass auch die Behaup­tung, dass der ers­te Schul­a­mok­lauf im Osten statt­ge­fun­den habe, ein­fach falsch ist. Wiki­pe­dia ist in sol­chen Fra­gen unschlag­bar. Es gibt für jeden Tod und Teu­fel eine Lis­te. Hier ist die Lis­te von Amok­läu­fen an Bil­dungs­ein­rich­tun­gen rele­vant. Ihr kann man ent­neh­men, dass der ers­te Amok­lauf bereits 1871 statt­fand. Da kön­nen Pieck, Ulb­richt und die Honeckers nun wirk­lich nichts dafür. Auch wenn der Amok­lauf in Saar­brü­cken statt­fand: Hon­ecker war da noch nicht gebo­ren. Er kam erst 41 Jah­re spä­ter auf die Welt. Die geneig­te Leser*in möge die Lis­te selbst kon­sul­tie­ren und schau­en, wer wann wen gemeu­chelt hat. Ich sage nur kurz: 1964, Köln mit Flam­men­wer­fer, 1983 in Eppstein, Hes­sen: Schuss­waf­fen. Auch nach den oben genann­ten Amok­läu­fe gab es noch vie­le wei­te­re mit vie­len, vie­len Toten, die längst wie­der in Ver­ges­sen­heit gera­ten sind.

Was Anne Rabe macht, ist Küchen­psy­cho­lo­gie. Sie glaubt, den Grund für alle Gewalt im Osten zu ken­nen. Es ist unver­ant­wort­lich vom Ver­lag gewe­sen, die­ses Buch zu ver­öf­fent­li­chen und es ist kurz­sich­tig und eben­falls unver­ant­wort­lich von Rezensent*innen, es zu fei­ern. Das Buch ist eine Ver­mi­schung von auto­fik­tio­na­lem Roman und Sach­buch und der Sach­buch­teil hät­te so nicht ver­öf­fent­licht wer­den dür­fen. Oh, sor­ry, ich habe die Gesamt­ein­schät­zung jetzt schon hin­ge­schrie­ben, aber es gibt noch wei­te­re Punkte.

Kindstötungen

Zwi­schen der Schil­de­rung einer Gewalt­sze­ne unter Jugend­li­chen und Kom­men­ta­ren zu den Base­ball­schlä­ger­jah­ren fin­det man fol­gen­den Satz:

Die Zahl der Kinds­tö­tun­gen ist im Osten Deutsch­lands in den 90er und 00er Jah­ren dop­pelt so hoch wie im Wes­ten und steigt im Jahr 2006 sogar auf das Vier­fa­che an.

Rabe, Anne. 2023. Die Mög­lich­keit von Glück. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S. 204

Will Anne Rabe uns nahe­le­gen, dass alle ihre Kin­der umbrin­gen, weil der gan­ze Osten durch und durch gewalt­tä­tig ist? Gin­ge es nicht irgend­wie dif­fe­ren­zier­ter? Viel­leicht spie­len ja Din­ge wie Armut und Per­spek­tiv­lo­sig­keit eine Rol­le? Ins­be­son­de­re bei den so genann­ten Neo­na­ti­zi­den, bei denen ein Kind direkt nach der Geburt getö­tet wird. Ich habe ver­sucht, mehr dar­über her­aus­zu­fin­den, und bin auf die Stu­die von Höynck, Behn­sen & Zäh­rin­ger (2015) gesto­ßen. Die Stu­die führt meh­re­re Pro­ble­me bzgl. der Daten auf:

Ein Punkt, der das Inter­es­se an der Ent­wick­lung des hier vor­ge­stell­ten For­schungs­pro­jekts ausgelöst hat, war die aus­weis­lich der Poli­zei­li­chen Kri­mi­nal­sta­tis­tik nicht unwe­sent­lich höhere Rate von Tötungsdelikten an Kin­dern in den neu­en Bundesländern ver­gli­chen mit den alten Bundesländern. Deut­lich war aber auch, dass die Fra­ge nach möglichen Ursa­chen für die­sen Befund auf ganz ver­schie­de­nen Ebe­nen lie­gen können und dass selbst wenn klar wäre, dass es sich nicht z.B. um unter­schied­li­che Hell­feld­ra­ten han­delt, son­dern um ein tatsächlich höheres Fall­auf­kom­men, ohne Wis­sen um die jewei­li­gen Fall­grup­pen­an­tei­le nicht sinn­voll nach möglichen Ursa­chen gefragt wer­den kann. Dies bedeu­tet aber gleich­zei­tig, dass die Fall­zah­len, die für eine Ana­ly­se zur Verfügung ste­hen, nur bei opti­ma­lem Rücklauf Rückschlüsse erlau­ben. Ange­sichts des uner­war­tet schwie­ri­gen und zudem regio­nal etwas unter­schied­li­chen Rücklaufes, der dazu führt, dass pro Jahr und Fall­grup­pe pro Bun­des­land oft ein­stel­li­ge Fall­zah­len zu ver­zeich­nen sind, ist eine regio­nal ver­glei­chen­de Dar­stel­lung der Belas­tungs­zah­len mit den ein­zel­nen Fall­grup­pen irreführend. Die Opfer­zif­fern wei­sen erwart­bar gro­ße Unter­schie­de auf, zei­gen aber kein kla­res Sche­ma.
Der ein­zi­ge Befund, der deut­lich wird und auf­grund der verhältnismäßig hohen Fall­zahl eine gewis­se Belast­bar­keit hat, ist, dass vier Bundesländer auffällig hohe Opfer­zif­fern bei den Neo­na­ti­zi­den auf­wei­sen. Die durch­schnitt­li­che Opfer­zif­fer (Opfer pro 100.000 Gebur­ten im sel­ben Jahr) beträgt in die­ser Fall­grup­pe 2,7, die Länderwerte lie­gen zwi­schen 0,39 und 11,22. Die vier Länder, die mit Abstand die höchsten Wer­te auf­wei­sen (7,91 — 11,22), sind Bran­den­burg, Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Sach­sen-Anhalt und Thüringen. Der höchste Wert unter den übrigen Ländern liegt bei 3,47. Die kleins­te Opfer­zif­fer von 0,39 zeigt Schles­wig-Hol­stein. Die Höherbelastung der genann­ten vier Länder fin­det kei­nen zeit­li­chen Schwer­punkt im Unter­su­chungs­zeit­raum, son­dern streut über die Jah­re. Bei allen genann­ten Wer­ten, dies sei erneut ausdrücklich betont, können Ver­zer­run­gen durch den Aktenrücklauf ent­stan­den sein und ange­sichts ins­ge­samt gerin­ger Zah­len würden sich die Opfer­zif­fern schon bei weni­gen Fällen Unter­schied nen­nens­wert ändern. Geht man davon aus, dass der Rücklauf nicht sys­te­ma­tisch ver­zerrt ist, stel­len die genann­ten Zah­len jeden­falls Unterschätzungen dar. Auf­grund der Aus­falls von 41 % gegenüber den Zah­len der PKS kann auch nicht mit Sicher­heit geschlos­sen wer­den, dass die Höherbelastung der neu­en Länder mit Tötungsdelikten an Kin­dern unter 6 Jah­ren, die eben auf­grund den Daten der PKS (mit) einen Anlass für die vor­lie­gen­de Unter­su­chung dar­stell­te, auf einer Höherbelastung mit Neo­na­ti­zi­den beruht. Die Daten spre­chen aller­dings durch­aus für die­se Annah­me. Über die Gründe hierfür kann nur spe­ku­liert werden.

Höynck, The­re­sia & Behn­sen, Mira & Zäh­rin­ger, Ulri­ke. 2015. Tötungs­de­lik­te an Kin­dern unter 6 Jah­ren in Deutsch­land: Eine kri­mi­no­lo­gi­sche Unter­su­chung anhand von Straf­ver­fah­rens­ak­ten (1997–2006). S.337

Ers­tens könn­te es ver­schie­de­ne Hell­feld­ra­ten geben. Das heißt, im Osten könn­ten ein grö­ße­rer oder klei­ne­rer Anteil der Kinds­tö­tun­gen gemel­det wor­den sein als im Wes­ten. Zwei­tens sind – wie die Autorin­nen der Stu­die beto­nen – die Sta­tis­ti­ken anhand der Poli­zei­li­chen Kri­mi­nal­sta­tis­tik (PKS) berech­net wor­den. Die­se spie­geln die Ermitt­lungs­er­geb­nis­se, d.h. Ver­mu­tun­gen über Tat­her­gän­ge und Schuld wie­der. Wich­tig sind aber die Pro­zess­ak­ten, denn es kann sich in einem Gerichts­ver­fah­ren die Unschuld einer beschul­dig­ten Per­son her­aus­stel­len. Da der Rück­lauf nur bei nur 59% der Akten lag, ist die Zahl der unter­such­ba­ren Fäl­le noch nied­ri­ger als ohne­hin schon. 

Und dann, lie­be Anne Rabe, sie sto­ßen ein gan­zes Land in die Schei­ße bzw. kip­pen Schei­ße über ihm aus. Wenn Sie das tun, soll­ten Sie ruhig, ratio­nal und sehr genau vor­ge­hen. Was Sie schrei­ben ist – so wie sie es geschrie­ben haben – garan­tiert falsch. Denn Sie schrei­ben über die abso­lu­ten Zah­len der Kinds­tö­tun­gen. Unter­sucht wur­de die Anzahl der Kinds­tö­tun­gen unter 100.000 Gebur­ten. Die abso­lu­ten Zah­len für 2006 sind für West­deutsch­land 48 und für Ost­deutsch­land 34. Die Zah­len für die ande­ren Jah­re kann man eben­falls der Tabel­le entnehmen:

Höynck, The­re­sia & Behn­sen, Mira & Zäh­rin­ger, Ulri­ke. 2015. Tötungs­de­lik­te an Kin­dern unter 6 Jah­ren in Deutsch­land: Eine kri­mi­no­lo­gi­sche Unter­su­chung anhand von Straf­ver­fah­rens­ak­ten (1997–2006). S. 17

Wie die Autorin­nen anmer­ken, sind das (rein mathe­ma­tisch gese­hen) sehr klei­ne Zah­len, was eine sinn­vol­le Aus­wer­tung erschwert:

Zu beach­ten ist zudem, dass Delik­te erst nach Abschluss der Ermitt­lun­gen, und damit frühestens im Jahr ihres Bekannt­wer­dens in die PKS auf­ge­nom­men wer­den, was nicht in jedem Fall iden­tisch mit dem Jahr der Tat­be­ge­hung ist. In einem extre­men Fall wie dem der neun tot auf­ge­fun­de­nen Neu­ge­bo­re­nen in Bries­kow-Fin­ken­herd führt dies auf­grund ins­ge­samt klei­ner Fall­zah­len bereits bei einer nur gro­ben regio­na­len Unter­glie­de­rung zu einer spürbaren Ver­zer­rung der Sta­tis­tik für das Erfas­sungs­jahr 2006 (vgl. die Wer­te für Ost­deutsch­land in Abbil­dung 1). 

Höynck, The­re­sia & Behn­sen, Mira & Zäh­rin­ger, Ulri­ke. 2015. Tötungs­de­lik­te an Kin­dern unter 6 Jah­ren in Deutsch­land: Eine kri­mi­no­lo­gi­sche Unter­su­chung anhand von Straf­ver­fah­rens­ak­ten (1997–2006). S. 16

Rabe erwähnt den Fall in Bries­kow-Fin­ken­heerd (spricht aller­dings von Frankfurt/Oder). Dass die Fäl­le von Kinds­tö­tung, die zwi­schen 1988 und 1999 statt­ge­fun­den haben, wie sie selbst schreibt (S. 203) in die Sta­tis­tik des Jah­res 2006 ein­ge­hen, ist ihr nicht klar.

Viel­leicht kann man nicht von jeder Autorin ver­lan­gen, dass sie sich wirk­lich mit Sta­tis­tik beschäf­tigt, aber von einer Autorin, die ein poli­tisch bri­san­tes Buch schreibt, soll­te man das ver­lan­gen. Und erst recht von einem Ver­lag, der das Buch dann her­aus­bringt. Und von Rezen­sen­ten, die das Buch bespre­chen. Ich habe mich einen Tag mit dem The­ma Kinds­tö­tung beschäf­tigt und ohne Fach­wis­sen­schaft­ler zu sein, die hier dis­ku­tier­te Infor­ma­ti­on gefun­den. War­um hat das nie­mand von den genann­ten Per­so­nen getan? Weil das Bild, das die Autorin zeich­net, gar zu schön ist? Weil es passt?

Die Fall­zah­len bei den extre­me­ren Fäl­len sind nied­rig. Man kann und muss jeden Ein­zel­fall anse­hen. Zur Ein­ord­nung in ein Gesamt­bild braucht man eine Qua­li­fi­ka­ti­on. Jemand der wie Anne Rabe Ger­ma­nis­tik, Thea­ter­wis­sen­schaft und Sze­ni­sches Schrei­ben oder wie ich Infor­ma­tik stu­diert hat, hat die­se Qua­li­fi­ka­ti­on nicht. Auch die Lek­to­rin Corin­na Kro­ker (Buch­wis­sen­schaft / Ver­lags­pra­xis, Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, Spa­nisch und Psy­cho­lo­gie an der Lud­wig-Maxi­mi­li­ans-Uni­ver­si­tät Mün­chen) und die Jury des Deut­schen Buch­prei­ses 2023 haben die­se Qua­li­fi­ka­ti­on nicht. Aber alle sind hoch­ge­bil­de­te Men­schen, denen zumin­dest klar sein soll­te, dass sie nicht über die rele­van­te Qua­li­fi­ka­ti­on verfügen.

Die FAZ berich­tet schon 2006 über Unter­su­chun­gen von Ulri­ke Böhm (Uni Leip­zig). Die Forscher*innen haben 1000 Todes­fäl­le über­prüft und kom­men zu fol­gen­dem Schluss:

Dafür, daß Kin­der im Osten Deutsch­lands häu­fi­ger an Miß­hand­lung oder Ver­nach­läs­si­gung ster­ben als im Wes­ten, haben die Leip­zi­ger For­scher kei­ne Bele­ge gefun­den. Auch sieht Böhm die Aus­sa­ge des Kri­mi­no­lo­gen Chris­ti­an Pfeif­fer, das Risi­ko für Kin­der in Ost­deutsch­land, von ihren Eltern miß­han­delt zu wer­den, sei gut dop­pelt so hoch wie für Kin­der in West­deutsch­land, durch ihre Ergeb­nis­se nicht bestä­tigt. „Der Unter­schied liegt eher zwi­schen Groß­stadt und länd­li­chem Raum.“

Bur­ger, Rei­ner. 2006. Stu­die zu Kin­des­miß­brauch: Immer mehr Eltern sind erzie­hungs­un­fä­hig. Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung.

Die­se Aus­sa­ge ist inter­es­sant, denn sie deckt sich mit Befun­den zu rechts­extre­men Ein­stel­lun­gen. Auch da ist es so, dass es einen Stadt-Land-Unter­schied gibt. Der Osten hat über wei­te Tei­le des Lan­des eine länd­li­che­re Struk­tur und ver­gleich­ba­re Gegen­den im Wes­ten sind ähn­lich in Bezug auf poli­ti­sche Ansich­ten („Die The­se vom Rechts­ruck im Osten ist Unsinn.“. Ber­li­ner Zei­tung. 08.07.2023)

Kinderpornographie, Pädophilie und Vergewaltigung in der Ehe

Wol­len wir wirk­lich einen Krieg anfan­gen, in dem wir gucken, wer schei­ßer ist? Mir fal­len diver­se Kin­der­por­no­han­dels­rin­ge ein, Skan­da­le auf Zelt­plät­zen (Miss­brauchs­fäl­le in Lüg­de: „Das ist abgrün­dig“), Miss­brauch durch Kir­chen­menschen. Katho­li­sche und evan­ge­li­sche. Miss­hand­lun­gen in Kin­der­hei­men, oft mit kirch­li­chen Trä­gern (sie­he Blog-Post Kin­der­land­ver­schi­ckung und die DDR?). Bru­ta­le Fäl­le von Kin­des­miss­brauch in Saar­brü­cken. Müt­ter, die ande­ren ihre Klein­kin­der und Babies für Sex anbie­ten. Es gibt schlim­me Din­ge, hier wie da. Soll man dar­aus was ablei­ten? Etwas über den Osten? Etwas über den Kapitalismus?

Und wie war das mit der Ver­ge­wal­ti­gung in der Ehe? 

Pan­ora­ma. 1995. Ver­ge­wal­ti­gung mit Trauschein.

Wer war 1997 nach 25jähriger Dis­kus­si­on im Bun­des­tag gegen die Geset­zes­än­de­rung, die die­se Ver­ge­wal­ti­gun­gen erst ande­ren Ver­ge­wal­ti­gun­gen gleich­set­ze? 183 Nein-Stim­men, dar­un­ter Horst See­ho­fer, Vol­ker Kau­der und Fried­rich Merz. Die Namen sind fein säu­ber­lich in den Bun­des­tags­pro­to­kol­len notiert. Ori­gi­nal­tö­ne der Män­ner zum The­ma kann man im Pan­ora­ma-Bei­trag sehen.

Warum kein Sachbuch?

Cor­ne­lia Geiß­ler von der Ber­li­ner Zei­tung fragt in einem Inter­view: „Wie kam es nun zum Roman? War­um haben Sie kein Sach­buch geschrie­ben?“. Die Ant­wort ist interessant:

Weil die Fik­tio­na­li­sie­rung mir mehr Frei­heit lässt. In eini­gen Berei­chen gibt es ein­fach zu weni­ge Zah­len, um sie als Fak­ten beschrei­ben zu kön­nen. Das betrifft zum Bei­spiel Kin­des­miss­hand­lung, da wur­de die For­schung in der DDR ein­ge­stellt, auch sexua­li­sier­te Gewalt war in der DDR tabui­siert, auch dazu gab es kei­ne Stu­di­en, nur eine lose Samm­lung von Fra­ge­bö­gen von Bür­ger­recht­le­rin­nen. Im Roman kann ich Din­ge neben­ein­an­der­stel­len und neben­ein­an­der wir­ken las­sen, ohne sagen zu müs­sen, die­ses fol­ge zwangs­läu­fig aus jenem.

Das ist eine ehr­li­che Ant­wort. Aus der DDR-Zeit gibt es sicher zu wenig Zah­len. Aber Anne Rabe ver­brei­tet Unwahr­hei­ten über die Nach­wen­de­zeit, wie ich oben detail­liert dar­ge­legt habe. Die Infor­ma­ti­on, die sie gebraucht hät­te, liegt prak­tisch auf der Stra­ße. Ich habe alles inner­halb eines Tages her­aus­fin­den kön­nen. Es gibt aus­führ­li­che Wiki­pe­dia-Arti­kel zu den The­men und in denen fin­det man die Ver­wei­se auf die Fach­li­te­ra­tur. Schön, dass Anne Rabe selbst sagt, dass sie ein­fach Din­ge neben­ein­an­der stellt, ohne eine kau­sa­le Wir­kung zu behaup­ten. Das ist der Unter­schied zwi­schen Seman­tik und Prag­ma­tik. Die Leser*innen und Rezensent*innen zei­hen die Schlüs­se sel­ber. Ich war’s nicht, ich war’s nicht. Ich habe nur Fak­ten neben­ein­an­der­ge­stellt, die Ver­mu­tun­gen dar­über, was ich damit gemeint haben könn­te, habt ihr selbst gezo­gen. und dazu waren die Fak­ten noch nicht mal Fakten.

Zusammenfassung

Ich den­ke, dass Anne Rabe eine schreck­li­che Kind­heit in einer schreck­li­chen Fami­lie (inklu­si­ve Tan­ten, Onkels und Groß­el­tern) hat­te. Sie hat sich dar­aus befreit, aber die Kon­se­quen­zen und Schluss­fol­ge­run­gen, die sie zieht sind nicht trag­fä­hig. Ihre Erfah­run­gen sind nicht ver­all­ge­mei­ner­bar. Behaup­tun­gen im Buch sind nicht belegt und wenn man nach­forscht, stellt sich her­aus, dass sie nicht beleg­bar oder an den Haa­ren her­bei­ge­zo­gen (bit­te ent­schul­digt das gewalt­tä­ti­ge Bild) sind.

Danksagungen

Ich dan­ke Imma­nu­el Zirk­ler, der den Pan­ora­ma-Bei­trag zur Ver­ge­wal­ti­gung in der Ehe, gefun­den hat, und allen Diskussionsteilnehmer*innen auf Mastodon.

Quellen

Beer, Maxi­mi­li­an & Hol­ler­sen, Wieb­ke. 2023. „Die The­se vom Rechts­ruck im Osten ist Unsinn.“. Ber­li­ner Zei­tung. 08.07.2023. (https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/die-these-vom-rechtsruck-ist-unsinn-forscher-ueber-ostdeutschland-extremismus-und-afd-li.366563)

Bun­des­tag. 1997. Ste­no­gra­phi­scher Bericht, 175. Sit­zung. 15.05.1997. Bonn: Deut­scher Bun­des­tag. (https://dserver.bundestag.de/btp/13/13175.pdf)

Bur­ger, Rei­ner. 2006. Stu­die zu Kin­des­miß­brauch: Immer mehr Eltern sind erzie­hungs­un­fä­hig. Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung. (https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/studie-zu-kindesmissbrauch-immer-mehr-eltern-sind-erziehungsunfaehig-1385344.html)

Höynck, The­re­sia & Behn­sen, Mira & Zäh­rin­ger, Ulri­ke. 2015. Tötungs­de­lik­te an Kin­dern unter 6 Jah­ren in Deutsch­land: Eine kri­mi­no­lo­gi­sche Unter­su­chung anhand von Straf­ver­fah­rens­ak­ten (1997–2006). Wies­ba­den: Sprin­ger. (https://doi.org/10.1007/978–3‑658–07587‑3)

Kra­mer, Bernd. 2016. „Mehr­fach­tö­tun­gen im öffent­li­chen Raum“. flu­ter. (https://www.fluter.de/terroranschlag-oder-amoklauf-unterschiede-und-gemeinsamkeiten)

Krat­zer, Anne. 2018. NS-Geschich­te: War­um Hit­ler bis heu­te die Erzie­hung von Kin­dern beein­flusst. Die Zeit. (https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2018–07/ns-geschichte-mutter-kind-beziehung-kindererziehung-nazizeit-adolf-hitler)

Mika, Bascha. 1996. „Ich hab’ sie ver­packt wie einen Bon­bon“. taz. Ber­lin. 18.09.1996 (https://taz.de/!1437345/)

Pan­ora­ma. 1995. Ver­ge­wal­ti­gung mit Trau­schein. ARD. (Pan­ora­ma. 23.03.1995) (https://www.ardmediathek.de/video/panorama/vergewaltigung-mit-trauschein/das-erste/Y3JpZDovL25kci5kZS9kZDFmYjg0NC00NDk0LTQ0MmYtODU2MS1mMGFjZDVlMWYwNzI)

Rath, Chris­ti­an. 2023. Tötung eines Mäd­chens in Freu­den­berg: Ver­däch­tig­te Mäd­chen ohne Stra­fe. taz. Ber­lin. 15.03.2023 (https://taz.de/Toetung-eines-Maedchens-in-Freudenberg/!5918971/)

Schmol­lack, Simo­ne. 2019. Miss­brauchs­fäl­le in Lüg­de: „Das ist abgrün­dig“. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Missbrauchsfaelle-in-Luegde/!5614996/)

Zettl, Max Sebas­ti­an & Bock, Corin­ne & Bude­rus, Petra & Perei­ra, Anne-Sophie & Gon­çal­ves, Katya & Münch, Eva Eli­sa­beth. 2019. Ursa­chen. In Böh­mer, Mat­thi­as (ed.), Amok an Schu­len: Prä­ven­ti­on, Inter­ven­ti­on und Nach­sor­ge bei School Shoo­tings. Wies­ba­den: Sprin­ger. (https://doi.org/10.1007/978–3‑658–22708‑1)

Schlagersüßtafel und Klassenkeile

Nach dem Tod mei­nes Opas habe ich es oft bedau­ert, dass ich ihn nicht mehr zu sei­nem Leben befragt habe. Ich habe mei­ne Eltern gebe­ten, etwas aus ihren Erin­ne­run­gen auf­zu­schrei­ben, aber das wird wahr­schein­lich nichts. Ich muss sie fra­gen. Mich kann ich selbst fra­gen und ich kann auch Din­ge auf­schrei­ben. Ich habe beschlos­sen, das hier zu tun. Klei­ne Erin­ne­run­gen schaf­fen ein Bild unse­rer Ver­gan­gen­heit und ich möch­te, dass mei­ne Teil die­ses Bil­des sind, sonst schrei­ben ande­re unse­re Geschichte.

Schlagersüßtafel

Es gibt im Netz einen Ossi­la­den. Mit all dem Zeug, das ich nie mehr sehen woll­te. Es gab eine Kos­me­tik­se­rie, die hieß Action. Hm.

Schla­ger­süß­ta­fel! Konn­te man alles Mög­li­che mit machen nur nicht essen. Ich hat­te mit einem Kum­pel (C.) eine Tafel gekauft, weil wir dach­ten, dass da Bil­der von Schlagersänger*innen drin wären.1 Was für ne Ent­täu­schung. Wir haben dann Passant*innen vom Bal­kon aus damit bewor­fen. Irgend­wann kam ein Trupp Bau­ar­bei­ter. Die hat­ten offe­ne Farb­ei­mer auf einem Wagen. Die Scho­ko­la­de flog da rein. Splash. Sie fan­den es nicht gut und muss­ten gera­de noch gese­hen haben, wo die Scho­ko­la­de her­kam, obwohl wir uns urst schnell geduckt hat­ten. Sie kamen ins Haus zu uns hoch und klin­gel­ten Sturm. Ich dach­te mir, die machen ja das gan­ze Haus ver­rückt und stell­te die Klin­gel ab. Das war nicht so schlau, denn nun wuss­ten sie ja, dass sie an der rich­ti­gen Tür klin­gel­ten. Sie klopf­ten statt­des­sen. Damals waren die Woh­nungs­ein­gangs­tü­ren noch wenig wider­stands­fä­hi­ge Papp­tü­ren. Ich hat­te Angst. Auch um die Tür. Irgend­wann zogen sie ab. Wie immer haben die Nach­barn von unter uns mich an mei­ne Eltern verpetzt.

Die Siedlung

Den Klas­sen­ka­me­rad C. hab ich auch zu Hau­se besucht. Er wohn­te in einem Haus in der Sied­lung am Lin­den­ber­ger Weg und ich im Neu­bau (Es gab die „alten Neu­bau­ten“, die „Neu­bau­ten“ und die „neu­en Neu­bau­ten“. Wir wohn­ten in den „Neu­bau­ten“, die 1976 fer­tig gewor­den waren.) Die Fami­lie mei­nes Kum­pels hat­ten da noch Öfen und wir haben Wat­te ver­ko­kelt. Hat Spaß gemacht. 

Klassenkeile

Irgend­wann spä­ter gab es in unse­rer Klas­se eine Situa­ti­on, in der die Mäd­chen plötz­lich alle ein ande­res Mäd­chen B. schei­ße fan­den. Sie kam aus einer bil­dungs­fer­nen Fami­lie. Die Schul­klas­sen in mei­ner Schu­le bestan­den aus Schüler*innen, deren Eltern in der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten oder in den Kran­ken­häu­sern in Buch arbei­te­ten. In mei­ner Klas­se sind 8 von 31 Schüler*innen nach der ach­ten Klas­se abge­gan­gen. Zwei an die erwei­ter­te Ober­schu­le (Schli­e­mann und Hertz) und sechs Jun­gen in die Pro­duk­ti­on. Zu die­ser Zeit begann die nor­ma­le EOS ab der zehn­ten Klas­se. Die Schli­e­mann­schu­le war eine Spe­zi­al­schu­le mit Spra­chen­aus­rich­tung und die Hertz-Schu­le eine mit mathe­ma­tisch-natur­wis­sen­schaft­li­cher Aus­rich­tung. Die Klas­se war jeden­falls wild gemischt. Die Jungs, die die Klas­se ver­lie­ßen, waren zum Teil schon ein­mal sit­zen geblie­ben. Vie­le waren Früh­ent­wick­ler, super gut in Sport. Beim 100 Meter­lauf konn­te ich ihnen nur hinterhergucken.

An besag­tem Tag hat­te sich die gesam­te Klas­se gegen das Mäd­chen zusam­men­ge­tan. Heu­te wür­de das wohl alles unter Mob­bing lau­fen. B. soll­te Klas­sen­kei­le bekom­men. Ich habe ver­sucht zu ver­ste­hen, wie­so und war­um und habe gesagt, sie soll­ten sie mal in Ruhe las­sen. Das führ­te dazu, dass ich plötz­lich im Zen­trum des Inter­es­ses stand. Kei­ne Ahnung wie. Grup­pen­dy­na­mik halt. Ich weiß noch, dass es in der Turn­hal­le begann. Ich ging dann ein­fach los. Nach Hau­se. Die Klas­se kam mir hin­ter­her. Ich bin so ca. zehn Minu­ten gelau­fen, dann wur­de ich umstellt und eins der Mäd­chen nahm mei­nen Schul­ran­zen. Klassenkeile.

C. soll­te mich irgend­wie ver­hau­en. Wir stan­den in der Mit­te eines Krei­ses unse­rer Klas­sen­ka­me­ra­den. Ich habe ihn umfasst, sei­nen Ober­kör­per nach hin­ten gebo­gen und er fiel um. Ich nahm H. mei­ne Map­pe aus der Hand und ging nach Hau­se. Ich habe mich nicht umge­dreht. Sie sind mir nicht hin­ter­her gekom­men. Ich wüss­te gern, was sie gedacht und gesagt haben.

Zu Hau­se saß ich auf dem Sofa. Ich habe drei Stun­den lang gezit­tert. Es war kei­ne Mut­ter da und kein Vater. Wie auch, sie haben gear­bei­tet. Das war gut und nor­mal so. Ich glau­be, ich habe auch spä­ter nicht mit ihnen dar­über gesprochen.

Am nächs­ten Tag bin ich nor­mal in die Schu­le gegan­gen. Kann mich nicht erin­nern, dass die Vor­gän­ge vom Vor­tag the­ma­ti­siert wor­den wären. Auch nicht an Angst. Viel­leicht verdrängt. 

Ich habe gelernt, dass man als Ein­zel­ner auch etwas gegen eine Grup­pe aus­rich­ten kann. Dass es merk­wür­di­ge grup­pen­dy­na­mi­sche Pro­zes­se gibt.

Und eine nicht ganz erns­te Bemer­kung zum Schluss. Die Nach­ge­bo­re­nen fin­den ja, wir soll­ten jetzt mal 1968 im Osten machen und über unse­re Gewalt­er­fah­run­gen reden (Blog­post Gewalt­er­fah­run­gen und 1968 für den Osten). Das hier sind mei­ne Gewalt­er­fah­run­gen. Die­se sind natür­lich nicht gemeint. Es gab alle mög­li­chen Zwän­ge im Osten, mili­ta­ri­sier­ter Sport­un­ter­richt, Wehr­un­ter­richt, Ver­wei­ge­rung von Bil­dungs­mög­lich­kei­ten, wenn man nicht mit­ge­spielt hat usw. Nur ist das alles bekannt. Da muss man nichts aufarbeiten.

Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten

So, nun gibt es etwas Neu­es. Die Ossis bräuch­ten doch mal ein 1968, um mit ihren Eltern dar­über zu reden, was die so wäh­rend der DDR-Zeit gemacht hät­ten. 1968 wird auch immer wie­der im Zusam­men­hang mit der Auf­ar­bei­tung des Faschis­mus erwähnt. Es wird behaup­tet, dass dar­über im Osten genau so wenig wie im Wes­ten gespro­chen wur­de und dass das eben dar­an läge, dass es im Osten kein 1968 gege­ben hät­te. Das ist Quatsch bzw. eine Lüge bzw. eine quat­schi­ge Lüge. Ich habe das aus­führ­lich in mei­nem Blog-Post zum Umgang mit dem Holo­caust in der DDR nach­ge­wie­sen: Im Osten wur­de in der Schul­bil­dung, mit­tels Brief­mar­ken, Denk­mä­lern, Stra­ßen­nah­men, Schul­na­men usw. auf die jüdi­schen Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus hin­ge­wie­sen und zwar schon seit kurz nach dem Krieg, als es den Begriff Holo­caust noch gar nicht gab. Es gab über 1000 Bücher zum The­ma und über 1000 Fil­me. Das alles ist im Prin­zip bekannt und gut doku­men­tiert durch zwei Bücher und eben auch die­sen Blog-Bei­trag, den es ja nun auch schon seit 2019 gibt. Jetzt sind zwei Bücher erschie­nen. Eins von einer Frau aus dem Wes­ten, eins von einer Frau, die 1986, also drei Jah­re vor der Wen­de, im Osten gebo­ren wur­de. Sie schreibt über eine Fami­lie in der Kin­der Gewalt aus­ge­setzt sind. Dar­aus wer­den dann diver­se Schluss­fol­ge­run­gen gezo­gen. Dar­über, wie der Ossi so ist, dass es in den Fami­li­en Gewalt gab und letzt­end­lich ergibt sich wie­der die Erklä­rung dafür, war­um die Ossis so schei­ße sind.

Zwei Fra­gen hät­te ich an Euch, lie­be Wes­sis. War­um glaubt Ihr, mir mein Leben erklä­ren zu dür­fen? Woher nehmt Ihr die Gewiss­heit, nur irgend­wie annä­hernd ver­ste­hen zu kön­nen, wie das war? Ihr regt Euch fürch­ter­lich drü­ber auf, wenn ein Kind mit Feder­schmuck zum Fasching geht, Aus­druck gro­ßer Bewun­de­rung für die ame­ri­ka­ni­schen Urein­woh­ner, oder wenn ein Kind im Kimo­no kommt. Aber Ihr kommt ange­rit­ten und wollt einem Fünf­tel der Lan­des­be­völ­ke­rung erklä­ren, wie es damals in deren Land war? War­um? Weil Ihr die­sel­be Spra­che sprecht? Ich sag jetzt jedes Mal, wenn Ihr wie­der so einen Arti­kel ver­fasst habt, laut: India­ner. Drei Mal! India­ner, India­ner, India­ner. So, dit zeckt, wa? 

Ihr habt die DDR über­nom­men. Die ahnungs­lo­sen Ossis haben sich Euch in die Arme gewor­fen. Die Bür­ger­be­we­gung woll­te es mehr­heit­lich nicht, aber die Mehr­heit woll­te es schon. Nun isses so, wie es ist: Die Men­schen sind arbeits­los gewor­den, die Indus­trie wur­de abge­wi­ckelt, ver­schenkt oder zer­stört. Wissenschaftler*innen wur­den ent­las­sen. Es blei­ben ein paar still vor sich hin­blü­hen­de Land­schaf­ten. Mit Män­ner­über­schuss, komi­scher Alters­struk­tur, weil alle, die konn­ten, in den Wes­ten zum Arbei­ten gegan­gen sind. Und jetzt kommt Ihr an und wollt irgend­wie her­aus­fin­den, war­um wir so komisch sind? Ihr ver­sucht das an einer Zeit fest­zu­ma­chen, die 34 Jah­re zurück­liegt und nur 40 Jah­re lang war? Klingt irgend­wie merk­wür­dig, zumal die ent­schei­den­de Zeit, die mit den größ­ten Trans­for­ma­tio­nen und den größ­ten Brü­chen ja für alle noch leben­den Ossis wohl die Wen­de 1989 sein dürfte.

Gewalt/Keine Gewalt

Anne Rabe ver­ar­bei­tet ihre Gewalt­er­fah­run­gen in einem Roman. Sie wur­de 1986 gebo­ren und war also zur Wen­de drei Jah­re alt. Ich weiß nichts über die Fami­lie und was da aus der DDR noch mit­ge­kom­men ist, aber die Eltern dürf­ten vom Nach­wen­de­cha­os beein­flusst gewe­sen sein, das natür­lich ein zusätz­li­cher Stress­fak­tor für alle war und even­tu­el­le Nei­gun­gen zu Gewalt ver­stärkt haben könn­te. (Nach­trag: Ich habe das Buch jetzt gele­sen und Rabe beschreibt dar­in kei­ne Nach­wen­de­ge­walt. Sie beschreibt eine gewalt­tä­ti­ge Fami­lie. Schla­gen­de Groß­vä­ter und eine psy­cho­pa­thi­sche Mut­ter. Sie schreibt selbst, dass ihre Fami­lie nicht nor­mal war. sie­he Kei­ne Gewalt! Zu Mög­lich­kei­ten und Glück und dem Buch von Anne Rabe) Aus mei­nem Schul­um­feld sind mir kei­ne Fäl­le von Gewalt in Fami­li­en bekannt. Ich habe vor zwei Jah­ren von einer Bekann­ten von Gewalt in ihrer Fami­lie erfah­ren, aber das jetzt als typisch für den Osten ein­zu­ord­nen, wäre kom­plett verfehlt. 

Dirk Knipp­hals, gebo­ren 1963, in Kiel und Ham­burg stu­diert, also wohl aus dem Wes­ten, schreibt:

Die Pri­vat­heit, auch die Fami­lie waren kei­ne Schutz­räu­me, die dem Zugriff des Regimes ent­zo­gen waren. Es gab den Über­bau, für eine bes­se­re, gerech­te­re anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Welt zu strei­ten, und die Eltern der Ich-Erzäh­le­rin Sti­ne glau­ben in dem Roman unbe­dingt dar­an – und zugleich fehl­te die Mög­lich­keit, inner­halb der Fami­lie nahe Bezie­hun­gen zwi­schen der Eltern- und der Kin­der­ge­ne­ra­ti­on auf­zu­bau­en. Das macht das indi­vi­du­el­le Schick­sal, das von Anne Rabe geschil­dert wird, all­ge­mein inter­es­sant. Es trifft auf vie­le Fami­li­en der DDR zu.

Dirk Knipp­hals, Roma­ne von Char­lot­te Gneuß und Anne Rabe: Was hast du vor 1989 gemacht?, taz, 16.10.2023

Mit Ver­laub, das ist ein­fach Quatsch. Vie­le Leu­te haben sich aus­ge­klinkt und ihr Ding gemacht. Es war klar, dass die Sta­si ver­sucht hat, alles zu unter­wan­dern, was irgend­wie dem Sys­tem gefähr­lich wer­den konn­te. Man muss­te dann damit rech­nen, dass die Sta­si irgend­wo zuhört, aber man konn­te eben doch sein Ding machen. Ich habe in den 70ern West-Bücher gele­sen (Comics und Sim­mels Es muss nicht immer Kavi­ar sein), von Freun­den geborgt. Ich habe 1988 Dia­lek­tik ohne Dog­ma von Robert Have­mann und ein Buch von Rudolf Bah­ro von mei­nem Deutsch­leh­rer geborgt bekom­men. Mein Leh­rer war sogar in der Par­tei, aber irgend­wie trotz­dem so eine Art Dissident. 

Mein Leh­rer 2017 mit dem Buch Stirb nicht im War­te­raum der Zukunft über den Punk-Unter­grund im Osten, das ich ihm geschenkt hat­te. Er war mit dafür ver­ant­wort­lich, dass bis auf einen Jun­gen aus mei­ner Klas­se alle „frei­wil­lig“ drei Jah­re zur Armee gegan­gen sind. Er hat sich für eine Pun­ke­rin ein­ge­setzt, die von unse­rer Schu­le flie­gen soll­te. Ich war im Okto­ber 1989, drei Jah­re nach mei­ner Schul­zeit, mit ihm auf einem Punk-Kon­zert in der Wer­ner-See­len­bin­der-Hal­le, bei dem Die Fir­ma und Die Skep­ti­ker auf­tra­ten. Die Fir­ma mit Trans­pa­ren­ten vom Neu­en Forum. Ich habe mei­nen Leh­rer noch oft getrof­fen und wir haben geredet.

Und die meis­ten DDR-Men­schen waren ein­fach unpo­li­tisch, sind nicht ange­eckt und haben sich ins Pri­va­te zurück­ge­zo­gen. Natür­lich gab es da Pri­vat­heit. Und woher nimmt Dirk Kipp­hals die Gewiss­heit, dass irgend­et­was auf vie­le Fami­li­en zutrifft. India­ner, India­ner, India­ner! Echt, wenn Ihr so was behaup­tet, möch­te ich Quel­len. Unter­su­chun­gen. Und als Sprach­wis­sen­schaft­ler weiß ich auch, dass „vie­le“ vom Kon­text abhängt. Drei? Drei Mil­lio­nen? Mehr als im Wes­ten? 15 Millionen?

Zur Gewalt in der DDR hier noch fol­gen­des Zitat vom unver­däch­ti­gen Bay­ri­schen Rundfunk:

In der DDR wur­de in anti­fa­schis­ti­schem Selbst­ver­ständ­nis die Prü­gel­stra­fe an Schu­len 1949 abge­schafft, als „Relikt inhu­ma­ner Dis­zi­pli­nie­rungs­me­tho­den des NS-Regimes“ – wäh­rend in West­deutsch­land der Bun­des­ge­richts­hof Leh­rern noch 1957 ein „gene­rel­les Gewohn­heits­recht“ zum Prü­geln zusprach.

In den bun­des­deut­schen Län­dern wur­de die Prü­gel­stra­fe erst 1973 ver­bo­ten, Bay­ern schaff­te sie als letz­tes Bun­des­land 1983 ab – ein Ver­dienst der 68er-Bewe­gung und deren Wunsch nach gewalt­frei­er Erzie­hung. Auch die Schü­ler selbst for­der­ten damals eine ande­re Pädagogik.

Bay­ri­scher Rund­funk: Prü­gel­stra­fe in Deutsch­land – Ein his­to­ri­scher Rück­blick, 04.09.2022

In mei­ner POS gab es den Che­mie­leh­rer Herr Keil, der mit dem Schlüs­sel­bund warf. Das hät­te ins Auge gehen kön­nen. Nie­mand hat jeman­den geschlagen.

Im pri­va­ten Bereich wur­de in der BRD das Prü­geln übri­gens erst 2000 ver­bo­ten, weil die BRD eine UN-Vor­ga­be umset­zen muss­te. Ej, Mann! Und da kommt Ihr uns mit der Gewalt in der DDR wegen eines repres­si­ven Sys­tems? Papa gibt mal ne Schel­le, war im Wes­ten ganz nor­mal. Übri­gens: gro­ße Errun­gen­schaft: Ab 1957 durf­te Mama auch ganz offi­zi­ell mit zulan­gen. Vor­her war das dem Herr im Hau­se vorbehalten:

In Deutsch­land sprach der Bun­des­ge­richts­hof Leh­rern noch 1957 ein „gene­rel­les Gewohn­heits­recht“ zum Prü­geln zu. Ein Jahr spä­ter wur­den Män­ner und Frau­en gleich­ge­stellt. Nun durf­ten auch Müt­ter Schlä­ge aus­tei­len, vor­her war das Züch­ti­gungs­recht den Vätern vorbehalten.

Deutsch­land­funk Kul­tur: Prü­geln ver­bo­ten: Vom lan­gen Kampf für die Kin­der­rech­te, 25.08.2019

Im sel­ben Bei­trag steht folgendes:

Wel­che Aus­wüch­se die­se Kin­der­feind­lich­keit auch nach dem Krieg noch her­vor­brach­te, zeig­ten die unhalt­ba­ren Zustän­de in vie­len Kin­der­hei­men bis Mit­te der 1970er-Jah­re. Das Unrecht wur­de erst 2006 durch das Buch „Schlä­ge im Namen des Herrn“ in sei­nem gan­zen Aus­maß publik. Mehr als eine hal­be Mil­li­on Kin­der in kirch­li­chen und staat­li­chen Hei­men wur­den allein in West­deutsch­land kör­per­lich und see­lisch schwer miss­han­delt. Aber auch in ande­ren euro­päi­schen Ländern.

Der Wes­ten hat das also ganz ohne Dik­ta­tur geschafft. Im Namen des Her­ren wur­den die Kin­der aus Barm­her­zig­keit ver­prü­gelt. Ja, ich weiß, es gab im Osten Jugend­werk­hö­fe, ich ken­ne auch jeman­den, der dort war und jetzt arbeits­un­fä­hig ist. Im Wes­ten waren aber auch nor­ma­le Hei­me und Kuren wohl nicht so schön, wie jetzt her­aus­kommt. Ich habe über Kuren im Osten und mei­ne Erfah­run­gen bereits geschrieben.

1968

Die Wes­sis fin­den, es müs­se doch eine Auf­ar­bei­tung der DDR-Zeit in den Fami­li­en geben, so wie es eine Auf­ar­bei­tung der Nazi-Zeit 1968 in der BRD gege­ben habe. Man muss nur kurz dar­über nach­den­ken, was das bedeu­tet, um die Unge­heu­er­lich­keit die­ses Ansin­nens zu ver­ste­hen. Es wird auch nicht bes­ser, wenn man das selbst wie Dirk Knipp­hals in sei­nem Arti­kel erwähnt. Deut­sche hat­ten Mil­lio­nen Juden bes­tia­lisch umge­bracht. Sie waren jahr­zehn­te­lang in einer Art Eupho­rie Hit­ler hin­ter­her­ge­tau­melt. Sie hat­ten alle flei­ßig ihre Arier­nach­wei­se zusam­men­ge­stellt, glaub­ten sie wür­den zur Her­ren­ras­se gehö­ren und woll­ten bes­se­re Men­schen züch­ten. Sie hat­ten einen zwei­ten Welt­krieg ange­fan­gen. Die Mehr­heit fand das groß­ar­tig! Die Mit­glieds­num­mern der NSDAP gin­gen über 10 Mil­lio­nen. Noch 1943 freu­te sich der Sport­pa­last auf den Tota­len Krieg, den Deutsch­land dann auch bekam.

Goeb­bels for­dert 1943 vor begeis­ter­ten Natio­nal­so­zia­lis­ten und Mili­tärs den tota­len Krieg.

Da muss man Fra­gen stellen!

Ich habe in der DDR gelebt. Es war eine Dik­ta­tur. Wir haben das in der Schu­le gelernt: die Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats. Die Sta­si hat­te ein rie­si­ges Über­wa­chungs­netz aus haupt­amt­li­chen und inof­fi­zi­el­len Mitarbeiter*innen instal­liert. Es war ein Über­wa­chungs­staat. Man konn­te dort nur leben, wenn man sich sag­te, dass es egal ist. Alle wuss­ten, dass alles irgend­wie bei der Sta­si lan­den konn­te. In den ers­ten Jah­ren nach dem Krieg wur­den Men­schen abge­holt und ver­schwan­den dann. Es gab auch spä­ter noch poli­ti­sche Gefan­ge­ne, die ein gel­bes Qua­drat auf dem Rücken hat­ten, damit man sie bes­ser erschie­ßen konn­te, soll­ten sie eine Flucht­ver­such unter­neh­men. (Sie wur­den dann aber doch gegen Apfel­si­nen ein­ge­tauscht.) Auch an der Mau­er wur­den Men­schen erschos­sen. Aber, hey, 6 Mil­lio­nen ver­gas­te, erschos­se­ne, an Krank­hei­ten in KZs gestor­be­ne oder ver­hun­ger­te Juden, Schrumpf­köp­fe, Lam­pen­schir­me aus Men­schen­haut sind ja wohl eine gaaa­anz ande­re Hausnummer.

Schrumpf­köp­fe und Men­schen­haut mit Täto­wie­run­gen im KZ Buchenwald

Wie soll­te denn Eurer Mei­nung nach eine Auf­ar­bei­tung aus­se­hen? Es ist eine Auf­ar­bei­tung direkt nach der Wen­de erfolgt. Die meis­ten Gräu­el­ta­ten sind bes­tens doku­men­tiert: in den Sta­si­un­ter­la­gen. Die Sta­si woll­te sie 1989 noch ver­nich­ten, Bürgerrechtler*innen konn­ten das zum größ­ten Teil ver­hin­dern. Mein Schwa­ger hat die geret­te­ten Akten in der Nor­man­nen­stra­ße bewacht. Jeder, der eine Sta­si­ak­te hat­te, konn­te Akten­ein­sicht bean­tra­gen. Vie­le haben das gemacht. Vera Wol­len­ber­ger hat erfah­ren, dass ihr Man sie bespit­zelt hat. Mein Chef hat erfah­ren, dass sei­ne Mut­ter Infor­ma­tio­nen über ihn an die Sta­si gelie­fert hat. Wir wis­sen das. Wir wis­sen auch, ob unse­re Eltern in der Par­tei waren oder nicht. Mei­ne waren nicht in der Par­tei. Wir wis­sen sel­ber, ob wir drei Jah­re zur Armee gegan­gen sind, um stu­die­ren zu kön­nen. Wir ken­nen Men­schen, die sich quer­ge­stellt haben und Schä­fer gewor­den sind, statt Mathe­ma­ti­ker. Ihrer Idea­le wegen. Wir ken­nen Men­schen, die vier Jah­re zur Armee gegan­gen sind, weil sie dann ein Jahr vor den Drei­jäh­ri­gen die Bewer­bung auf das Medi­zin­stu­di­um sicher hat­ten. Nie­mand, selbst die rötes­te Socke aus dem Osten war an einer indus­tri­el­len Aus­lö­schung eines Teils der Bevöl­ke­rung beteiligt.

Ich habe mit mei­nen Eltern schon zu DDR-Zei­ten über 1953 gere­det. Wir hat­ten Auf der Suche nach Gatt in der Schu­le. Ich habe sie gefragt, wie es bei ihnen war. Sie waren damals zehn Jah­re alt. Ihre Eltern, mei­ne Groß­el­tern haben sich nicht am Auf­stand betei­ligt. Schlimm? 

Die Mehr­heit der Men­schen in der DDR haben so ihr Leben gelebt, um den offi­zi­el­len Teil her­um. Den hat man soweit es ging aus­ge­blen­det. Ich war zum Bei­spiel bei vie­len Demos am ers­ten Mai. Das Erschei­nen dort war Pflicht. Ich fand die Demos immer groß­ar­tig, weil ich dort mei­ne Kum­pels aus ande­ren Schu­len wie­der­ge­trof­fen habe. Man ist hin­ge­gan­gen, hat sich so ver­hal­ten, dass der Klas­sen­leh­rer einen wahr­ge­nom­men hat und ist dann wie­der verschwunden.

Ich wüss­te nicht, was es außer den Sta­si­ak­ten noch auf­zu­ar­bei­ten gäbe. Für mich sieht die gesam­te Dis­kus­si­on mit 1968 + Gewalt nach Töpf­chen­theo­rie 2.0 aus. Erin­nert Ihr Euch noch? Der Kri­mi­no­lo­ge Pfeif­fer hat­te damals her­aus­ge­fun­den, war­um wir Ossis alle so anders sind: Weil wir alle im Kin­der­gar­ten neben­ein­an­der auf dem Töpf­chen geses­sen hat­ten. Nein? Ihr erin­nert Euch nicht? Dann lest mal den Osch­mann, er erin­nert Euch. 

Nachtrag 1: Aufarbeitung Die Firma

Char­lot­te Gneuß wur­de 1992 gebo­ren. Ihre Eltern haben im Osten gelebt und sind dann aus­ge­reist. Sie nutzt die Erfah­run­gen ihrer Eltern für den Roman. Das ist der zitier­te Aus­schnitt zum 1968 für die Ostgeschichte:

Ich glau­be, dass wir end­lich anfan­gen soll­ten, in unse­ren Fami­li­en Fra­gen zu stel­len. Wo wart Ihr damals? Was habt ihr vor 1989 gemacht? Ich glau­be, das fin­det nicht genug statt. Wir haben in Deutsch­land ein faschis­ti­sches Erbe, im Osten kommt noch die Gewalt­er­fah­rung bis 1989 hin­zu. Natür­lich müs­sen wir das ange­hen. Wir kön­nen doch nicht immer die Eman­zi­pa­ti­ons­er­fah­rung Ost gegen das Gewalt­ge­dächt­nis aus­spie­len, wir müs­sen das gleich­zei­tig den­ken, die Geschich­te muss in ihrer Kom­ple­xi­tät erzählt wer­den. Fort­schritt und Rück­schritt gehen Hand in Hand. Und ja, wir brau­chen ein 1968 für unse­re Ost­ge­schich­te, davon bin ich über­zeugt. Viel­leicht wird es irgend­wann hei­ßen: 2023, das war das Jahr, als die Kin­der und Enkel began­nen, Fra­gen zu stel­len, die ihre Vor­gän­ger nicht fra­gen woll­ten oder konnten.

Char­lot­te Gneuß im Inter­view mit der FAZ, 25.09.2023

Ich fin­de es völ­lig legi­tim, dass die Kin­der Fra­gen stel­len. Mei­ne begin­nen jetzt, sich lang­sam für die The­men zu inter­es­sie­ren, die ich ihnen schon län­ger nahe­zu­brin­gen ver­su­che. Viel­leicht gibt es Fra­gen, die ich mir nicht vor­stel­len konn­te. Mir fällt aber selbst bei gro­ßer Anstren­gung nichts ein. Ich weiß auch nicht, wel­che Gewalt­er­fah­run­gen sie meint. In der Zeit, in der ich auf­ge­wach­sen bin, gab es kei­ne Gewalt gegen DDR-Bürger*innen, von den Fäl­len, wo es gegen har­te Oppo­si­tio­nel­le ging, abge­se­hen. 99% der DDR-Bürger*innen dürf­ten kei­ne Gewalt­er­fah­run­gen haben. Weder als Han­deln­de noch als Leidende.

Oben habe ich mei­nen Leh­rer und das Fir­ma-Kon­zert erwähnt. Nach der Wen­de kam raus, dass Trötsch, der Sän­ger der Band Die Fir­ma, bei der Sta­si war. Er hat die Band nach der Sta­si benannt.

„Fir­ma“ war ein übli­cher infor­mel­ler Begriff für die Sta­si in der DDR. Tat­ja­na, die Sän­ge­rin, hat sich dann auch geoutet. Dar­über wur­de gespro­chen. Ein Inter­view mit der Firma/Freygang/Ichfunktion wur­de in der Sze­ne-Zeit­schrift NMI Mes­sit­sch veröffentlicht.

Inter­view mit der Firma/Freygang/Ichfunktion in der Sze­ne-Zeit­schrift NMI Mes­sit­sch, 5/92

Ich habe die Fir­ma foto­gra­fiert. Im CD-Book­let von Kin­der der Maschi­nen­re­pu­blik sind zwei Bil­der von mir. Ich habe mich mit Tat­ja­na getrof­fen und wir haben über die Sta­si-Geschich­te gespro­chen, über den Beruf ihres Vaters und dass sie sehr jung zur Sta­si gekom­men ist. So ähn­lich wie die Hel­din des Romans.

Wir haben gespro­chen. Dar­über wie das pas­sie­ren konn­te, wer sie ist, wer sie war. Die Fir­ma hat zu DDR-Zei­ten Lie­der über die Ver­wei­ge­rung des Mili­tär­diens­tes gesun­gen (Boris Vian: „Der Deser­teur“).

Die Fir­ma: „Verweigert’s Mili­tär, verweigert’s Waf­fen-Tra­gen!“ in einer Auf­nah­me von 1992.

Hier eine Auf­nah­me von 1988 mit schlech­tem Ton, auf­ge­nom­men in einem Jugend­klub in Friedrichsfelde-Ost:

Die Fir­ma: „Verweigert’s Mili­tär, verweigert’s Waf­fen-Tra­gen! Ihr müsst schon etwas wagen!“ 

Auf Ver­wei­ge­rung stand Gefäng­nis. Zivil­dienst gab es nicht. Die Fir­ma war extrem wich­tig für eine gan­ze Sze­ne von Men­schen. Sie hat Men­schen Kraft gege­ben. Den­noch: Sie ist jetzt auch im Sta­si­mu­se­um in der Normannenstraße.

Alles ist im Prin­zip bekannt, alles wur­de bespro­chen. Nur hat es damals nie­man­den inter­es­siert oder es wur­de eben ver­ges­sen. Es ist nicht so, dass wir Lei­chen im Kel­ler hät­ten. Ich kann ver­ste­hen, dass Men­schen, die heu­te auf­wach­sen, Fra­gen haben und ich wäre auch jeder­zeit Bereit als Zeit­zeu­ge zu berich­ten. Ich war vor eini­gen Jah­ren mal in der Schu­le einer befreun­de­ten Leh­re­rin in Gel­sen­kir­chen. Aus dem Infor­ma­ti­ons­be­darf der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on jetzt aber abzu­lei­ten, wir müss­ten etwas auf­ar­bei­ten und wir wären so komisch, weil da etwas Unver­ar­bei­te­tes sei, ist ein­fach … Quatsch.

Nachtrag 2: Regelabfrage

Noch ein wei­te­rer Punkt zur Auf­ar­bei­tung: Für alle, die im öffent­li­chen Dienst arbei­ten woll­ten, gab es bis 2007 eine Regel­an­fra­ge beim Sta­si-Unter­la­gen-Archiv. Belas­te­te Per­so­nen wur­den nicht ein­ge­stellt. Kam bei Per­so­nen im öffent­li­chen Dienst her­aus, dass sie für die Sta­si tätig waren, wur­den sie ent­las­sen. Ich habe im April 2007 einen Ruf an die FU-Ber­lin bekom­men und woll­te zum 01.08. dort anfan­gen. Der Fach­be­reichs­lei­ter infor­mier­te mich, dass dar­aus wahr­schein­lich nichts wer­den wür­de, da die Regel­ab­fra­ge erst noch erfol­gen müs­se. Es sah so aus, als wür­de noch 18 Jah­re nach der Wen­de die Sta­si mein Leben nega­tiv beein­flus­sen. Dann wur­de aber gera­de noch recht­zei­tig die Regel­ab­fra­ge auf­ge­ho­ben, so dass die­ser Schritt im Ein­stel­lungs­ver­fah­ren weg­fiel und ich im August begin­nen konnte.

Der Punkt ist: Es gab staat­li­che vor­ge­schrie­be­ne Auf­ar­bei­tung für alle, die im öffent­li­chen Dienst arbei­ten woll­ten. Die Arbeits­grup­pe, in der ich nach der Wen­de gear­bei­tet habe, kam von der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten. Eini­ge Mit­glie­der der Grup­pe sind in die Indus­trie gegan­gen, weil ihnen klar war, dass sie die Regel­an­fra­ge nicht über­ste­hen wür­den. Wir wuss­ten, wer das war. 

Nachtrag 3: Aufarbeitung Sascha Anderson

Im Prenz­lau­er Berg gab es zu DDR-Zei­ten eine rege Kunst­sze­ne. Musiker*innen, Dichter*innen, bil­den­de Künstler*innen usw. usf. Eine wich­ti­ge Figur war Sascha Ander­son. Nach der Wen­de stell­te sich her­aus, dass Ander­son IM war. Das ging groß durch die Medi­en. Wolf Bier­mann bezeich­ne­te ihn als Sascha Arsch­loch. Alles wur­de auf­ge­ar­bei­tet und bespro­chen. Es war ein gro­ßer Skan­dal. Vie­le Freund­schaf­ten sind zer­bro­chen. 2014 ist ein Film dar­über erschienen.

Ich war zur Pre­mie­re. Vie­le der Betrof­fe­nen und auch Sascha Ander­son selbst waren vor Ort. 

Sascha Ander­son, IM der Staats­si­cher­heit, bei der Pre­mie­re des Doku­men­tar­films Ander­son von Anne­kat­rin Hendel

Und obwohl die DDR da schon 25 Jah­re Geschich­te war, war alles immer noch sehr schmerz­haft und emo­tio­nal für die Anwesenden. 

Also: Es wur­de gespro­chen. Über gro­ße und über klei­ne Bege­ben­hei­ten in der Ver­gan­gen­heit. Anne Rabe schreibt in ihrem Roman selbst oder lässt die Ich-Erzäh­le­rin sagen, dass sie nicht reden woll­te. Das kann sein, aber sie soll­te es dann nicht ande­ren vor­wer­fen. Und ahnungs­lo­se Wes­sis soll­ten sich hüten, aus Anne Rabes Roman irgend­et­was abzu­lei­ten. Ich habe das in Wei­te­re Kom­men­ta­re zu Anne Rabes Buch: Eine Mög­lich­keit aber kein Glück genau­er ausgeführt.

Quellen

Decker, Kers­tin. 11.05.1999. Das Töpf­chen und der Haß. tages­spie­gel. Ber­lin. (https://www.tagesspiegel.de/kultur/das-toepfchen-und-der-hass/77844.html)

Kinderlandverschickung und die DDR?

In der letz­ten Zeit gab es mehr­fach Arti­kel in der taz zur Kin­der­land­ver­schi­ckung (sie­he Quel­len). Berich­tet wur­de über Grau­sam­kei­ten, die in den Hei­men statt­fan­den. Zum Bei­spiel, dass Schlaf­sä­le nachts ver­schlos­sen wur­den, so dass die Kin­der nicht auf die Toi­let­te gehen konn­ten (taz, 14.12.21).

Fast alle berich­ten von: Ess­zwang, nächt­li­chem Toi­let­ten­ver­bot, haar­sträu­ben­den hygie­ni­schen Zustän­den, Ein­grif­fen in die kör­per­li­che Unver­sehrt­heit, Kon­takt­ver­bot zur Fami­lie, Ein­schüch­te­rung, die zu Angst- und Schuld­ge­füh­len führ­ten: Haben mich mei­ne Eltern ver­sto­ßen, sehe ich sie je wie­der, was habe ich falsch gemacht? Eine Atmo­sphä­re, in der „see­li­sche Grau­sam­keit“ gedieh. Aber auch Fäl­le von Prü­gel, Eis­du­schen, Straf­maß­nah­men wie nächt­li­chem Weg­sper­ren in dunk­le, kal­te Kam­mern oder Dach­bö­den, also phy­si­schem – aber auch sexu­el­lem – Miss­brauch sind bekannt.

Sabi­ne Sei­fert, Kur­auf­ent­hal­te von Kindern:Wir Ver­schi­ckungs­kin­der, taz 14.12.21

Betrof­fe­ne orga­ni­sie­ren sich in Ver­ei­ni­gun­gen, um die Ver­gan­gen­heit aufzuarbeiten.

Heu­te wird in der taz wie­der berich­tet. Der Arti­kel ent­hält einen klei­nen ver­gif­te­ten Satz:

Vor­sich­tig geschätzt sind zwi­schen sechs und acht Mil­lio­nen Kin­der in der alten Bun­des­re­pu­blik zur Kur geschickt wor­den, zum Gesund­wer­den oder zur Vor­beu­gung. Auch in der DDR gab es Kin­der­ku­ren. Vie­le Kin­der – nicht alle – haben in den Kur­hei­men Lieb­lo­sig­keit, Schi­ka­nen, Miss­hand­lun­gen oder sogar sexua­li­sier­te Gewalt erlebt.

Sabi­ne Sei­fert, For­schungs­be­darf, taz, 15.03.2022

Rein logisch wird nur mit­ge­teilt, dass es in der DDR Kin­der­ku­ren gab. Sug­ge­riert wird aber, dass es in der DDR „Lieb­lo­sig­keit, Schi­ka­nen, Miss­hand­lun­gen oder sogar sexua­li­sier­te Gewalt“ gab und zwar von der Art, wie sie in den vor­an­ge­gan­ge­nen Ver­öf­fent­li­chun­gen the­ma­ti­siert wur­de. Zum Bei­spiel berich­ten Kin­der davon, dass sie Essen auf­es­sen muss­ten, egal, was es gab. Erbro­che­nes muss­te auch auf­ge­ges­sen wer­den (taz, 14.12.21).

Frau Sei­fert ver­linkt dann auf die Sei­te https://verschickungsheime.de/ und wenn man sich dort umsieht, fin­det man zum The­ma DDR folgendes:

Ab 1945 sag­te man „Ver­schi­ckung“, in der DDR war der Begriff „Kur­kin­der“ gebräuch­li­cher. DDR-Kur­kin­der haben sich bis­her bei uns nur weni­ge gemel­det. Die Kur­bä­der auf dem Gebiet der DDR erlit­ten nach 45 einen Nie­der­gang, daher gab es in der DDR nicht annä­hernd so vie­le Kur­or­te wie im Wes­ten (BRD 1964: ca. 1200 Hei­me in 350 Kur­or­ten). Es kön­nen sich aber auch DDR-Kur­kin­der mel­den und bei uns mit­ma­chen, sich gern auch als Heim­or­tver­ant­wort­li­che für ihre Hei­me ein­set­zen lassen. 

verschickungsheime.de, 16.01.2000

Auf der Sei­te gibt es Logos von Bun­des­län­dern und bei den Ost-Bun­des­län­dern gibt es kei­ne Einträge.

Kein Trauma!

Ich war als Kind zwei­mal zur Kur: ein­mal für drei Mona­te in Graal-Müritz und ein­mal für 6 Wochen in Ahl­beck. Laut https://verschickungsheime.de/ddr-kurkinder/ muss es sich um die Kur­hei­me Kli­niksa­na­to­ri­um „Richard Aßmann“ Graal-Müritz und die Kur­ein­rich­tung Insel Use­dom, Betriebs­teil IV: Kin­der­sa­na­to­ri­um „Klaus Stör­te­be­ker“ See­bad Ahl­beck gehan­delt haben. In den Ein­rich­tun­gen wur­den Kin­der mit Asth­ma und/oder Neu­ro­der­mi­tis behan­delt. Ich war jeweils im Win­ter dort. Ich kann mich noch erin­nern, dass in Graal-Müritz die Ost­see kurz vor dem Zufrie­ren war. Das Was­ser sah aus wie Tape­ten­kleis­ter und mach­te inter­es­san­te Geräu­sche. Wir waren viel drau­ßen, sind an der Ost­see spa­zie­ren gegan­gen und ich habe noch immer Bern­stei­ne aus der Use­dom-Zeit. Wir haben in klei­nen Grup­pen Unter­richt gehabt, der auch so gut war, dass ich – zurück in Ber­lin – mei­ner Klas­se weit vor­aus war. Das Essen war ver­nünf­tig. Kein Ess­zwang. (Spä­ter bei der Armee hat­te ich Pro­ble­me, weil die Zeit zum Essen nicht reich­te.) Wir haben in grö­ße­ren Schlaf­sä­len geschla­fen. Die Betreue­rin­nen waren nicht über­mä­ßig streng. Ich erin­ne­re mich noch dar­an, wie wir immer lus­ti­ge Furz­ge­räu­sche in der Arm­beu­ge erzeugt haben. Das ging eben so lan­ge, bis uns die Augen zuge­fal­len sind. Mit­tags gab es Mit­tags­ru­he. Wir lagen in unse­ren Bet­ten, durf­ten aber lesen. Es gab einen klei­nen Laden auf dem Gelän­de, in dem ich mir ein Buch gekauft habe. Ich habe es immer noch. Biblio­the­ken gab es sicher auch.

Wir sind ein­mal in der Woche in die Sau­na gegan­gen. Danach gab es eine Lie­ge­kur. Drau­ßen. Wir sind zu Lie­gen durch den Schnee gestapft und Frau­en haben uns ganz fest in dicke Decken ein­ge­wi­ckelt. Es war sehr schön.

Ab und zu gab es Unter­su­chun­gen durch Ärzt*innen. Die waren auch sehr freundlich.

Mei­ne Mut­ter hat mir ein Päck­chen mit einer klei­nen Woll-Hand­fi­gur geschickt: Stülpner-Karle. 

Woll-Figur Stül­pner-Kar­le

Wie man im Bild sieht, hat­te die Figur kei­ne Bei­ne. Ich habe mei­ner Mut­ter einen Brief geschrie­ben, der ging so:

Lie­be Mutti,

Ich habe mir bei­de Bei­ne gebrochen.

Herz­li­che Grüße 

Dein Stül­pner-Kar­le.

Ich bin heu­te noch froh, dass sie nicht schon nach dem ers­ten Satz einen Herz­in­farkt bekom­men hat. Die Epi­so­de zeigt zwei Din­ge: 1) Gab es – anders als im Wes­ten – kei­ne Zen­sur und wir – bzw. unse­re Pup­pen – haben unse­re Karten/Briefe selbst geschrie­ben. 2) War der klei­ne Ste­fan zu Scher­zen auf­ge­legt. Auch wenn der Brief sonst nicht viel ent­hielt, war er doch eine posi­ti­ve Nachricht. 

Beim zwei­ten Kur­auf­ent­halt habe ich zwei Kin­der vom ers­ten Mal wie­der­ge­trof­fen. Einen moch­te ich beim ers­ten Mal gar nicht, aber da wir uns schon kann­ten, haben wir uns dann gleich ange­freun­det. Wir hat­ten eine gute Zeit und den Bea­tels- und Hard­core-Fan habe ich dann spä­ter auch noch in Mar­klee­berg besucht und er war zu Besuch bei mir in Ber­lin. Wir waren kei­ne trau­ma­ti­sier­ten Kin­der. Wir sind frei­wil­lig zum zwei­ten Mal zur Kur gefahren. 

Kirche und Kontinuitäten

Im Wes­ten wur­den vie­le Hei­me durch kirch­li­che Trä­ger bewirt­schaf­tet. Die­se spiel­ten in der DDR eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le und ich bin mir ziem­lich sicher, dass die Saats­macht ihre Freu­de an der Ver­fol­gung und Bestra­fung von Sexu­al­de­lik­ten oder Sons­ti­gem in der Kir­che gehabt hät­te. Die Aus­gangs­la­ge ist hier völ­lig anders als in der west­deut­schen Gesell­schaft, wo es die katho­li­sche Kir­che auch jetzt noch nicht rich­tig hin­be­kommt, die Straf­ta­ten ihrer Wür­den­trä­ger aufzuklären. 

Auch in der Päd­ago­gik gab es nach 1945 einen Bruch. Es wur­den Neulehrer*innen ein­ge­stellt. Die hat­ten zwar kei­ne Ahnung und waren den Schüler*innen immer höchs­tens zwei Sei­ten im Buch vor­aus, aber wenigs­tens waren es kei­ne Nazis. Ich habe dar­über im Bei­trag über Holo­caust und Osten genau­er geschrieben.

Gesundheit und Kommerz

Frau Sei­fert schreibt in einem frü­he­ren Arti­kel über die West-Kinderlandverschickungen:

Statt gesund, wur­den sie oft krank, krank gemacht. Weil an die­sen Orten ein päd­ago­gi­sches Regime herrsch­te, das sie schi­ka­nier­te, miss­han­del­te, ihre gesund­heit­li­che Ver­fas­sung und ihre natür­li­che Schwä­che aus­nutz­te. Ein Regime, das nicht das Kind und sei­ne phy­si­sche und psy­chi­sche Gesund­heit in den Mit­tel­punkt stell­te, son­dern mit des­sen Kon­sti­tu­ti­on und den Sor­gen der Eltern Geld verdiente.

Sabi­ne Sei­fert, Kur­auf­ent­hal­te von Kindern:Wir Ver­schi­ckungs­kin­der, taz 14.12.21

Das war ein wesent­li­cher Unter­schied zur DDR. Das Gesund­heits­sys­tem war staat­lich finan­ziert und konn­te an nie­man­dem Geld verdienen.

Schluss

Also: Viel­leicht war in der DDR auch mal etwas bes­ser. Ich fän­de es gut, wenn sol­che ten­den­ziö­se Sät­ze wie der heu­te in der taz ein­fach unter­blei­ben könnten.

Nachtrag: Gar nichts Negatives?

Ich habe den Fra­ge­bo­gen des For­schungs­pro­jekts zur Kin­der­land­ver­schi­ckung aus­ge­füllt, denn wenn Men­schen, die kein Pro­blem hat­ten, die Bögen nicht aus­fül­len, gibt es eine Ver­zer­rung. Eine Fra­ge war „Gab es Gescheh­nis­se in den Hei­men, die pro­ble­ma­tisch für Sie waren?“ und es gab in der Tat eine Sache, die ich mir gemerkt habe und die ich auch heu­te noch in der Logik-Ein­füh­rung benut­ze: Sonn­tags um 19:00 kamen im Fern­se­hen die Lot­to­zah­len (Tele-Lot­to). Die Betreue­rin ver­sprach uns: „Wenn ich im Lot­to gewin­ne, dürft ihr län­ger auf­blei­ben.“ Wir erwar­te­ten höchst gespannt die Zie­hung der letz­ten Zahl und frag­ten sie: „Und?“ Die Ant­wort: „Ich spie­le gar kein Lot­to.“ In der Logik-Ein­füh­rung ver­wen­de ich das Bei­spiel, um zu erklä­ren, dass sie nicht gelo­gen hat: Wenn der Vor­satz falsch ist, kann man danach alles behaup­ten. Das war die schlimms­te „see­li­sche Grau­sam­keit“, an die ich mich erin­nern kann. Im bes­ten Fall ein gro­ber Scherz.

Quellen

Knöd­ler, Ger­not. 2024. Ver­schi­ckungs­kin­der beim Roten Kreuz: Wer weint, wird ein­ge­sperrt. taz. Bre­men. (https://www.taz.de/!6000563)

Sei­fert, Sabi­ne. 2021. Kur­auf­ent­hal­te von Kin­dern: Wir Ver­schi­ckungs­kin­der. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Kuraufenthalte-von-Kindern/!5818643)

Sei­fert, Sabi­ne. 2022. Stu­di­en zu Kin­der­ver­schi­ckun­gen: Schi­ka­nen und Miss­hand­lun­gen. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Studien-zu-Kinderverschickungen/!5838490/)