Schlagersüßtafel und Klassenkeile

Nach dem Tod mei­nes Opas habe ich es oft bedau­ert, dass ich ihn nicht mehr zu sei­nem Leben befragt habe. Ich habe mei­ne Eltern gebe­ten, etwas aus ihren Erin­ne­run­gen auf­zu­schrei­ben, aber das wird wahr­schein­lich nichts. Ich muss sie fra­gen. Mich kann ich selbst fra­gen und ich kann auch Din­ge auf­schrei­ben. Ich habe beschlos­sen, das hier zu tun. Klei­ne Erin­ne­run­gen schaf­fen ein Bild unse­rer Ver­gan­gen­heit und ich möch­te, dass mei­ne Teil die­ses Bil­des sind, sonst schrei­ben ande­re unse­re Geschichte.

Schlagersüßtafel

Es gibt im Netz einen Ossi­la­den. Mit all dem Zeug, das ich nie mehr sehen woll­te. Es gab eine Kos­me­tik­se­rie, die hieß Action. Hm.

Schla­ger­süß­ta­fel! Konn­te man alles Mög­li­che mit machen nur nicht essen. Ich hat­te mit einem Kum­pel (C.) eine Tafel gekauft, weil wir dach­ten, dass da Bil­der von Schlagersänger*innen drin wären.1 Was für ne Ent­täu­schung. Wir haben dann Passant*innen vom Bal­kon aus damit bewor­fen. Irgend­wann kam ein Trupp Bau­ar­bei­ter. Die hat­ten offe­ne Farb­ei­mer auf einem Wagen. Die Scho­ko­la­de flog da rein. Splash. Sie fan­den es nicht gut und muss­ten gera­de noch gese­hen haben, wo die Scho­ko­la­de her­kam, obwohl wir uns urst schnell geduckt hat­ten. Sie kamen ins Haus zu uns hoch und klin­gel­ten Sturm. Ich dach­te mir, die machen ja das gan­ze Haus ver­rückt und stell­te die Klin­gel ab. Das war nicht so schlau, denn nun wuss­ten sie ja, dass sie an der rich­ti­gen Tür klin­gel­ten. Sie klopf­ten statt­des­sen. Damals waren die Woh­nungs­ein­gangs­tü­ren noch wenig wider­stands­fä­hi­ge Papp­tü­ren. Ich hat­te Angst. Auch um die Tür. Irgend­wann zogen sie ab. Wie immer haben die Nach­barn von unter uns mich an mei­ne Eltern verpetzt.

Die Siedlung

Den Klas­sen­ka­me­rad C. hab ich auch zu Hau­se besucht. Er wohn­te in einem Haus in der Sied­lung am Lin­den­ber­ger Weg und ich im Neu­bau (Es gab die „alten Neu­bau­ten“, die „Neu­bau­ten“ und die „neu­en Neu­bau­ten“. Wir wohn­ten in den „Neu­bau­ten“, die 1976 fer­tig gewor­den waren.) Die Fami­lie mei­nes Kum­pels hat­ten da noch Öfen und wir haben Wat­te ver­ko­kelt. Hat Spaß gemacht. 

Klassenkeile

Irgend­wann spä­ter gab es in unse­rer Klas­se eine Situa­ti­on, in der die Mäd­chen plötz­lich alle ein ande­res Mäd­chen B. schei­ße fan­den. Sie kam aus einer bil­dungs­fer­nen Fami­lie. Die Schul­klas­sen in mei­ner Schu­le bestan­den aus Schüler*innen, deren Eltern in der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten oder in den Kran­ken­häu­sern in Buch arbei­te­ten. In mei­ner Klas­se sind 8 von 31 Schüler*innen nach der ach­ten Klas­se abge­gan­gen. Zwei an die erwei­ter­te Ober­schu­le (Schli­e­mann und Hertz) und sechs Jun­gen in die Pro­duk­ti­on. Zu die­ser Zeit begann die nor­ma­le EOS ab der zehn­ten Klas­se. Die Schli­e­mann­schu­le war eine Spe­zi­al­schu­le mit Spra­chen­aus­rich­tung und die Hertz-Schu­le eine mit mathe­ma­tisch-natur­wis­sen­schaft­li­cher Aus­rich­tung. Die Klas­se war jeden­falls wild gemischt. Die Jungs, die die Klas­se ver­lie­ßen, waren zum Teil schon ein­mal sit­zen geblie­ben. Vie­le waren Früh­ent­wick­ler, super gut in Sport. Beim 100 Meter­lauf konn­te ich ihnen nur hinterhergucken.

An besag­tem Tag hat­te sich die gesam­te Klas­se gegen das Mäd­chen zusam­men­ge­tan. Heu­te wür­de das wohl alles unter Mob­bing lau­fen. B. soll­te Klas­sen­kei­le bekom­men. Ich habe ver­sucht zu ver­ste­hen, wie­so und war­um und habe gesagt, sie soll­ten sie mal in Ruhe las­sen. Das führ­te dazu, dass ich plötz­lich im Zen­trum des Inter­es­ses stand. Kei­ne Ahnung wie. Grup­pen­dy­na­mik halt. Ich weiß noch, dass es in der Turn­hal­le begann. Ich ging dann ein­fach los. Nach Hau­se. Die Klas­se kam mir hin­ter­her. Ich bin so ca. zehn Minu­ten gelau­fen, dann wur­de ich umstellt und eins der Mäd­chen nahm mei­nen Schul­ran­zen. Klassenkeile.

C. soll­te mich irgend­wie ver­hau­en. Wir stan­den in der Mit­te eines Krei­ses unse­rer Klas­sen­ka­me­ra­den. Ich habe ihn umfasst, sei­nen Ober­kör­per nach hin­ten gebo­gen und er fiel um. Ich nahm H. mei­ne Map­pe aus der Hand und ging nach Hau­se. Ich habe mich nicht umge­dreht. Sie sind mir nicht hin­ter­her gekom­men. Ich wüss­te gern, was sie gedacht und gesagt haben.

Zu Hau­se saß ich auf dem Sofa. Ich habe drei Stun­den lang gezit­tert. Es war kei­ne Mut­ter da und kein Vater. Wie auch, sie haben gear­bei­tet. Das war gut und nor­mal so. Ich glau­be, ich habe auch spä­ter nicht mit ihnen dar­über gesprochen.

Am nächs­ten Tag bin ich nor­mal in die Schu­le gegan­gen. Kann mich nicht erin­nern, dass die Vor­gän­ge vom Vor­tag the­ma­ti­siert wor­den wären. Auch nicht an Angst. Viel­leicht verdrängt. 

Ich habe gelernt, dass man als Ein­zel­ner auch etwas gegen eine Grup­pe aus­rich­ten kann. Dass es merk­wür­di­ge grup­pen­dy­na­mi­sche Pro­zes­se gibt.

Und eine nicht ganz erns­te Bemer­kung zum Schluss. Die Nach­ge­bo­re­nen fin­den ja, wir soll­ten jetzt mal 1968 im Osten machen und über unse­re Gewalt­er­fah­run­gen reden (Blog­post Gewalt­er­fah­run­gen und 1968 für den Osten). Das hier sind mei­ne Gewalt­er­fah­run­gen. Die­se sind natür­lich nicht gemeint. Es gab alle mög­li­chen Zwän­ge im Osten, mili­ta­ri­sier­ter Sport­un­ter­richt, Wehr­un­ter­richt, Ver­wei­ge­rung von Bil­dungs­mög­lich­kei­ten, wenn man nicht mit­ge­spielt hat usw. Nur ist das alles bekannt. Da muss man nichts aufarbeiten.

Berliner und Breschnew

Nach dem Tod mei­nes Opas habe ich es oft bedau­ert, dass ich ihn nicht mehr zu sei­nem Leben befragt habe. Ich habe mei­ne Eltern gebe­ten, etwas aus ihren Erin­ne­run­gen auf­zu­schrei­ben, aber das wird wahr­schein­lich nichts. Ich muss sie fra­gen. Mich kann ich selbst fra­gen und ich kann auch Din­ge auf­schrei­ben. Ich habe beschlos­sen, das hier zu tun. Klei­ne Erin­ne­run­gen schaf­fen ein Bild unse­rer Ver­gan­gen­heit und ich möch­te, dass mei­ne Teil die­ses Bil­des sind, sonst schrei­ben ande­re unse­re Geschichte.

Berliner

Es ist etwas Schlim­mes pas­siert! Ich woll­te gera­de beim Bäcker #Ber­li­ner kau­fen. Dazu muss man wis­sen: Wir in #Ber­lin sind gewalt­frei und kei­ne #Kan­ni­ba­len. Wir essen köst­li­che #Pfann­ku­chen und kei­ne Berliner.

Ich stand also vor der Ver­käu­fe­rin und dach­te dar­über nach, wie es denn sein kön­ne, dass ich Ber­li­ner zu die­sem Gebäck gesagt hat­te. Ich dreh­te mich um und schau­te auf die Wer­bung und frag­te sie, ob da tat­säch­lich „Ber­li­ner“ gestan­den hat­te. Aber nee, da stand „Pfann­ku­chen“.

Wer­be­pla­kat am Bäcker: Köst­li­che Pfann­ku­chen, Ber­lin 11.11.2023

Beim Raus­ge­hen hab ich’s dann ver­stan­den: Drau­ßen wur­de mit „Ber­li­ner“ und drin­nen mit „Pfann­ku­chen“ geworben.

Außen Ber­li­ner, innen Pfann­ku­chen. Wer­bung am Bäcker im Prenz­lau­er Berg, Ber­lin, 11.11.2023

Den­noch wer­de ich mir nie ver­zei­hen, dass ich das Wort „Ber­li­ner“ benutzt habe.

Ich habe von 1992–1993 in Edin­burgh stu­diert. Am Anfang, als wir noch kei­ne Woh­nung hat­ten, schlief ich in der Jugend­her­ber­ge. Bei der Anmel­dung in der Jugend­her­ber­ge mein­te der Mann an der Rezep­ti­on: „Ah, you’­re from Ber­lin. This is whe­re Ken­ne­dy said: ‘I am a donut.’“. Ich habe nicht ver­stan­den, was er woll­te. Ken­ne­dy hat­te natür­lich gesagt: „Ich bin ein Ber­li­ner!“. Das wuss­te ich.

Ken­ne­dy sagt: Ich bin ein Donut.

Aber ich habe das nicht mit Donuts zusam­men­be­kom­men, weil wir in Ber­lin zwar Ber­li­ner sind, aber kei­ne Ber­li­ner essen. Donuts ab und zu schon.

Übri­gens, lie­be Wes­sis, noch zum ers­ten Bild: Wir sind ver­rückt, aber wir sind nicht när­risch. Kar­ne­val wird hier nicht ver­stan­den und fin­det nicht statt. Wir sind das gan­ze Jahr über lustig.

Breschnew

Ges­tern vor 41 Jah­ren starb Leo­nid Bre­sch­new und heu­te vor 41 Jah­ren wur­de sein Tod bekannt. Wir woll­ten um 11:11 Par­ty machen und Pfann­ku­chen essen, aber irgend­wann um 10:00 wur­de ver­kün­det, dass Bre­sch­new gestor­ben war. Unser Phy­sik­leh­rer Herr F. hat geweint. Wir waren sau­er und etwas ver­wun­dert über Herrn Fs. Trauer.

Gewis­ser­ma­ßen als spä­te Rache ver­lin­ke ich eine Rede Bre­sch­news, die die Noto­ri­schen Refle­xe 1983 ver­tont haben. Sol­che Sachen lie­fen damals im SFB in der Sen­dung Dau­er­wel­le, die ich begeis­tert gehört und in Tei­len mit­ge­schnit­ten habe.

Noto­ri­sche Refle­xe — BREZHNEV RAP — 1983

Mauerfall

Vor 34 Jah­ren war es kalt und dun­kel. Ich hat­te weder einen Fern­se­her noch ein Tele­fon. Inter­net gab es nur zwi­schen zwan­zig Rech­nern in der Hum­boldt-Uni. Ich habe mich auf den nächs­ten Tag vor­be­rei­tet und bin dann früh schla­fen gegan­gen, weil die ers­te Vor­le­sung immer 7:30 anfing. Am Mor­gen bin ich wie immer um 6:00 auf­ge­stan­den. Beim Früh­stü­cken habe ich das Radio ein­ge­schal­tet. Rei­se­frei­heit. Man kann einen Pass bean­tra­gen. Gren­ze ist auf. In der Stra­ßen­bahn konn­te ich sehen, wer es wuss­te: Man­che waren ver­schla­fen wie immer, man­che hell wach. In der Uni kam mir Udo Kru­schwitz mit einer taz und einem Spie­gel ent­ge­gen und mein­te, dass man bis 8:00 noch ohne Pass rüber kön­ne. Da ich ja gera­de aus der Armee ent­las­sen wor­den war und mei­ne Chan­cen auf einen Pass als eher gering ein­schätz­te, bin ich mit zwei Kom­mi­li­to­nen sofort los. (Einer war G., einer der Söh­ne von Chris­toph Hein.)

Wir gin­gen am Trä­nen­pa­last (Fried­rich­stra­ße) rüber und fuh­ren mit der S‑Bahn in den Wes­ten. Aus der S‑Bahn konn­te man das Grenz­ge­biet sehen. Dort patrouil­lier­ten Grenz­pos­ten, als habe man ver­ges­sen, sie abzuschalten.

Ich weiß nicht, wie wir uns ori­en­tiert haben. An den Plä­nen in der S‑Bahn? Irgend­wie kamen wir jeden­falls nach Kreuz­berg und lie­fen dort durch die Stra­ßen. G. sprach ein­fach einen Typ mit Gitar­re an, wo den hier ein Ate­lier sei, wir wür­den gern ein paar Künst­ler ken­nen­ler­nen. Wir lan­de­ten in der Nau­nyn­stra­ße bei ein paar Künstler*innen, die gera­de früh­stück­ten. Sie erfuh­ren von uns, dass die Mau­er offen war. „Tach! Wir sind aus dem Osten. Die Mau­er ist weg und wir woll­ten mal gucken, was Ihr so macht.“ Es gab Kaf­fee und Scho­ko­la­de. Ich habe mich dar­über gewun­dert, dass ihr Zucker so fein war. Man konn­te ihn kaum von Salz unter­schei­den. Eine Male­rin habe ich spä­ter noch besucht und sie war auch bei uns bei einer Per­for­mance in mei­ner Woh­nung 1990.

Ich woll­te ins Rauch­haus, weil ich das von den Scher­ben-Lie­dern kann­te (Rauch-Haus-Song). Wir frag­ten in der Gegend vor einer Apo­the­ke eine Pun­ke­rin, die gera­de her­aus­kam, nach dem Weg. Als sie erfuhr, dass wir aus dem Osten waren, war sie so geplät­tet und erfreut, dass sie uns ihr Wech­sel­geld schenk­te. Wor­über sie dann selbst erstaunt war: „Ich hab noch nie jeman­dem zwei Mark geschenkt!“. Ich war dann mit ihr im Betha­ni­en. Das war inzwi­schen ein Wohn­pro­jekt vom Senat. Die Pun­ke­rin hat mir erzählt, dass sie da Strip­shows mit lau­ter Musik gemacht haben, um die Gren­zer abzulenken/zu ärgern. Ich habe sie noch ein paar Mal im Betha­ni­en besucht. Wir haben Kas­set­ten getauscht. Ich habe ihr Ölfar­be mit­ge­bracht und sie mir Tee besorgt (Im Osten gab es nur Gru­si­ni­schen Tee, auch Gru­sel­mi­schung genannt). Am Wochen­en­de nach Grenz­öff­nung war ich auch dort. Die Ossis ver­wüs­te­ten West-Ber­lin. Über­all über­quel­len­de Müll­ei­mer. Bana­nen­scha­len, Coca-Cola ver­schenk­te ihre Dosen palet­ten­wei­se vom Las­ter. Die Ossis stell­ten sich an. Kai­sers hat­te Las­ter mit Tüten mit Kaf­fee und Zeug drin. Die Ossis stell­ten sich an. Ich stand im Betha­ni­en am Fens­ter und mei­ne Bekann­te sag­te zu einem ande­ren Mann: „Oh, Gott, die Ossis kom­men.“ Der Mann war aus Isra­el und mein­te: „Deutsch­land wird in weni­ger als zwei Jah­ren wie­der­ver­ei­nigt sein.“ Mei­ne Ant­wort war: „Aber nie­mand will das!“. Er hat­te Recht, ich lag kom­plett daneben.

Wir gin­gen dann noch Begrü­ßungs­geld abho­len. Jede*r DDR-Bürger*in hat­te das Anrecht auf 100 West­mark. Wir waren in irgend­ei­ner Bank­fi­lia­le, aber deren Com­pu­ter­sys­tem war zusam­men­ge­bro­chen, weil alle Ossis Begrü­ßungs­geld haben woll­ten. Sie haben ein­fach so das Geld aus­ge­ge­ben und einen Ver­merk im Per­so­nal­aus­weis gemacht, damit die Men­schen das Begrü­ßungs­geld nicht ein zwei­tes Mal abho­len konn­ten. Man­che haben dann ihren Aus­weis ver­lo­ren oder mit dem Pass, den sie spä­ter bean­tragt haben, noch ein­mal das Geld abgeholt.

In Wiki­pe­dia steht dazu Folgendes:

Als nach dem Mau­er­fall alle DDR-Bür­ger in die Bun­des­re­pu­blik und nach West-Ber­lin rei­sen konn­ten, führ­te dies zu erheb­li­chen logis­ti­schen Pro­ble­men. Es kam kurz­zei­tig zu chao­ti­schen Sze­nen, so am ers­ten Mon­tag nach der Mau­er­öff­nung vor der Spar­kas­se in der Bad­stra­ße in Ber­lin-Gesund­brun­nen, am Moritz­platz in Ber­lin-Kreuz­berg oder am Zoo­lo­gi­schen Gar­ten in Ber­lin-Tier­gar­ten, als jeweils bis zu 10.000 DDR-Bür­ger gleich­zei­tig vor den Aus­zah­lungs­stel­len Schlan­ge stan­den, der Ver­kehr total zusam­men­brach und Poli­zei, Feu­er­wehr und Ret­tungs­diens­te auf­fuh­ren, um die Lage unter Kon­trol­le zu bringen.

Wiki­pe­dia­ein­trag zu Begrüßungsgeld

Bei uns lief es rela­tiv geord­net ab. =:-)

Abends war ich zurück. Fried­rich­stra­ße. Der S‑Bahnhof war voll. Gro­ßes Geschie­be. Ich hat­te Angst, dass ich nicht mehr zurück­kom­men wür­de. Plötz­lich ging irgend­wo eine gro­ße Tür in einer Wand auf und wir waren alle wie­der im Osten. Ein tol­ler Tag und ich war froh, wie­der zu hau­se zu sein mit der Aus­sicht, irgend­wann mal einen Rei­se­pass zu bekom­men. Es ging dann alles sehr schnell ….

Ausstellung: „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR.“

Ein Arti­kel in der taz über eine Aus­stel­lung im jüdi­schen Muse­um beginnt mit der Unter­über­schrift: „Jüdi­sche Lin­ke waren in der DDR will­kom­men. Obwohl sie ab 1933 vor den Nazis geflüch­tet waren, wur­den sie in der DDR bald anti­se­mi­tisch dis­kri­mi­niert.“ Die­se Kurz­zu­sam­men­fas­sung ist das, was vie­le Leser*innen als ein­zi­ges lesen. Sie ist falsch.

Hier eini­ge Passagen:

Die Geschich­te der Zadeks war kein Ein­zel­fall. Gemes­sen an der gerin­gen Zahl der in Sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne und in der DDR leben­den Jüdin­nen und Juden waren die­se über­pro­por­tio­nal oft in Füh­rungs­po­si­tio­nen ver­tre­ten. Das änder­te sich, als man 1948 damit begann, mas­si­ve Kon­trol­len aller Par­tei­mit­glie­der und Funk­ti­ons­trä­ger durchzuführen.

Hier wird zuerst fest­ge­hal­ten, dass Jüd*innen will­kom­men waren und dass sie, da es sich ja auch um ver­trau­ens­wür­di­ge Remigrant*innen han­del­te, in füh­ren­de Posi­tio­nen ein­ge­setzt wurden.

Dann schreibt Jens Win­ter von sta­li­nis­ti­schen Säuberungen:

Vor allem die „West­emi­gran­ten“ gerie­ten so ins Visier der Par­tei. Als West­emi­gran­ten bezeich­ne­te man die­je­ni­gen, die vor dem Natio­nal­so­zia­lis­mus zunächst in den Wes­ten geflo­hen oder in west­li­che Kriegs­ge­fan­gen­schaft gera­ten waren. Allein der Umstand der West­emi­gra­ti­on genüg­te, um in Ver­dacht zu gera­ten, ein „impe­ria­lis­ti­scher“ oder „ame­ri­ka­ni­scher Agent“ zu sein. Reich­te das zur Stüt­zung einer Ankla­ge nicht aus, warf man den Per­so­nen auch noch „Trotz­kis­mus“ oder „Zio­nis­mus“ vor.

Ohne Jüdin­nen und Juden expli­zit als Fein­de zu benen­nen, wur­den die­se de fac­to oft­mals zu den Opfern der bizar­ren Rei­ni­gungs­ri­tua­le, die wegen ihrer Eigen­lo­gik im Grun­de unab­schließ­bar waren.

Hier wird es inter­es­sant. Die Jüd*innen wur­den nicht als Fein­de benannt, was dar­an lie­gen könn­te, dass sie nicht als sol­che wahr­ge­nom­men wur­den. Und da es bei den Säu­be­run­gen auch um den Unter­schied zwi­schen Ost- und Westemigrant*innen ging (Osten = Mos­kau = gut und ver­trau­ens­wür­dig, Wes­ten = kapi­ta­lis­tisch und dubi­os), waren eben Jüd*innen, die aus dem Wes­ten zurück­ka­men in der Zeit der Säu­be­run­gen einem Gene­ral­ver­dacht aus­ge­setzt, so wie Nicht-Jüd*innen auch. 

Auch Ger­hard Zadek wur­de 1952 nach der Auf­lö­sung des Amts für Infor­ma­ti­on nach Meck­len­burg ver­setzt. Zu die­sem Zeit­punkt leb­te er gera­de erst fünf Jah­re wie­der in Deutsch­land. In Meck­len­burg soll­te er von nun an stell­ver­tre­tend das SED-Bezirks­or­gan Freie Erde lei­ten – eine Degra­die­rung. Als er 1953 trotz sei­nes Stu­di­ums auch noch Gie­ße­rei­ar­bei­ter wer­den soll­te, ver­wei­ger­te er sich. Er sat­tel­te um, stu­dier­te Patent­in­ge­nieur­we­sen und wur­de anschlie­ßend Direk­tor des VEB Schwer­ma­schi­nen­baus. Ali­ce Zadek wur­de zur Schu­lungs­lei­te­rin für die Natio­na­le Front herabgesetzt.

Die­se Pas­sa­ge zeugt von einer Unkennt­nis der DDR. In Ungna­de Gefal­le­ne wur­den nicht Direk­tor des VEB Schwer­ma­schie­nen­baus. Das war eine ver­ant­wor­tungs­vol­le Posi­ti­on und letzt­end­lich eine Reha­bi­li­ta­ti­on. Wenn es einen irgend­wie gear­te­ten struk­tu­rel­len Anti­se­mi­tis­mus gege­ben hät­te, wäre Ger­hard Zadek raus gewe­sen und nicht Direk­tor. Genau­so wenig wird man zur Schu­lungs­lei­te­rin für die Natio­na­le Front. Das wur­den nur voll­stän­dig ins Sys­tem inte­grier­te Personen.

Auch waren nicht aus­schließ­lich Jüdin­nen und Juden von den Säu­be­run­gen betrof­fen, jedoch häu­fig. Oste­mi­gran­ten blie­ben dage­gen in der Regel ver­schont, auch wenn sie jüdisch waren.

Hier schreibt Jens Win­ter es selbst. Ger­hard und Ali­ce Zadek waren nach Lon­don emi­griert und als West­emi­gran­ten ver­däch­tig. Der Arti­kel ist, wie vie­le, ten­den­zi­ös mit einer irre­füh­ren­den Über­schrift. Die wil­li­ge Leser*in kann die Details aber immer­hin im Text fin­den und sich dann über die Wider­sprüch­lich­keit wundern. 

In der Aus­stel­lung im Jüdi­schen Muse­um kom­men Par­tei­kon­troll­ver­fah­ren und ihre Eigen­lo­gik lei­der zu kurz. Dabei wäre es sinn­voll gewe­sen, gera­de hier genau­er hin­zu­se­hen, um ein Bild von der Viel­ge­stal­tig­keit des Anti­se­mi­tis­mus zu ver­mit­teln. Auch hät­te das The­ma die Mög­lich­keit gebo­ten, die­se in die­ser Form spe­zi­fi­sche his­to­ri­sche Ver­bin­dung von Kom­mu­nis­mus und Anti­se­mi­tis­mus aufzuzeigen.

Wie schon in einer ers­ten Bespre­chung durch einen ande­ren Autor wirft der Autor die­ses Arti­kels dem Jüdi­schen (!!) Muse­um vor, nicht noch mehr Anti­se­mi­tis­mus gefun­den zu haben. Viel­leicht liegt es ein­fach dar­an, dass es ihn abge­se­hen von den sta­li­nis­ti­schen Pro­zes­sen in den 50er Jah­ren nicht gab.

Max Kaha­ne wird ange­spro­chen, aber es wird glatt unter­schla­gen, wie Max Kaha­nes Leben nach der Ablö­sung 1952 im Zusam­men­hang mit den Pro­zes­sen in der CSSR wei­ter ver­lief. Max Kaha­ne war ganz oben mit dabei. Er hat­te 1949 ADN gegrün­det. Nach 1952 hat er im Aus­land Pro­zes­se beglei­tet (Eich­mann), war Lei­ter des NDs und somit die rötes­te Socke im gan­zen Land. Wiki­pe­dia lis­tet die fol­gen­den Aus­zeich­nun­gen auf:

  • 1956: Hans-Beim­ler-Medail­le der DDR – als ehe­ma­li­ger Kämp­fer der Inter­na­tio­na­len Brigaden
  • 1959: Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den der DDR (Sil­ber)
  • 1961: Franz-Meh­ring-Ehren­na­del des Ver­ban­des der Jour­na­lis­ten der DDR
  • 1970: Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den der DDR (Gold)
  • 1974: Ehren­span­ge zum Vater­län­di­schen Verdienstorden

In mei­nem Bei­trag „Der Ossi und der Holo­caust“ gebe ich eine Lis­te von jüdi­schen Per­so­nen an, die in der DDR höchst ange­se­hen waren und in Kul­tur, Wis­sen­schaft oder Poli­tik wich­ti­ge Posi­tio­nen innehatten.

Die Sache mit dem Anti­se­mi­tis­mus in der DDR ist Quatsch. Die DDR all­ge­mein war anti­re­li­gi­ös. Christ*innen konn­ten in der SED kei­ne Kar­rie­re machen, weil Reli­gi­on als Opi­um für’s Volk galt. Das galt nicht für Jüd*innen, wobei die meis­ten ohne­hin nicht reli­gi­ös waren. Die Hal­tung zu Isra­el war kri­tisch, weil Isra­el im ande­ren Block war. Ich weiß, dass es man­chen schwer fällt, das aus­ein­an­der­zu­hal­ten, aber aus einer kri­ti­schen Hal­tung gegen­über Isra­el von einem Ost­block­staat folgt nicht unbe­dingt Antisemitismus.

Im Arti­kel wird eine Sen­dung im Deutsch­land­funk zitiert. Zwei Braschs (Mari­on, Lena) unter­hal­ten sich mit Peter Kaha­ne. Mari­on Brasch berich­tet, wie sie als Jung­pio­nier 1974 den PLO-Chef Yas­sir Ara­fat am Wer­bel­lin­see begrüßt hat. Ihre Mut­ter mein­te: „Wenn der wüss­te, dass Du Jüdin bist.“. Für mich ist das ein wei­te­res Zei­chen dafür, dass das Jüdisch­sein in der DDR über­haupt kei­ne Rol­le gespielt hat. Es war für den Staats­ap­pa­rat kein Pro­blem ein Kind aus einer jüdi­schen Fami­lie den Chef der Paläs­ti­nen­si­schen Befrei­ungs­or­ga­ni­sa­ti­on begrü­ßen zu las­sen. Die Fami­lie Brasch war sehr bekannt (der Vater Horst Brasch war Kul­tur­mi­nis­ter) und jeder wuss­te, dass es sich um eine jüdi­sche Fami­lie han­del­te, also war es auch den zustän­di­gen Orga­nen bekannt, wer da wen begrüßte.

Quellen

Hol­ler­sen, Wieb­ke. 2023. Jüdisch in der DDR: Eine Rei­se zu den „kaputt­ge­gan­ge­nen Träu­men“ der Eltern. Ber­li­ner Zei­tung. Ber­lin. (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/juedisch-in-der-ddr-eine-reise-zu-den-kaputt-gegangenen-traeumen-der-eltern-im-juedischen-museum-berlin-li.386242) 06.09.2023