Dieser Blog-Post ist aus einer Mastodon-Diskussion entstanden. Weil sie so schön war, habe ich sie hier noch einmal ein bisschen sortiert und für die Nachwelt archiviert. Dieser Beitrag kann Spuren von Sarkasmus und sogar Wut enthalten.
Die taz hat am 03.07.2023, vor dem Hintergrund der Wahl eines AfD-Mitglieds zum Landrat in Sonneberg, ein Interview mit dem (ostdeutschen) Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk veröffentlicht. In der Printausgabe endet es so:
taz: Also ist das nicht nur ein Ost-Problem?
Nein. Zeigt nicht immer nur mit dem Finger auf den Osten. Der Osten ist als Laboratorium der Globalisierung, als Ort der Transformation dem Westen nur ein paar Trippelschritte voraus. Genau deshalb ist die Debatte über den Osten so relevant: Hier – wie zum Teil in Osteuropa – sehen wir Entwicklungen, die europaweit drohen, wenn nicht endlich mal gegengesteuert wird. Das können Sie an vielen demoskopischen Untersuchungen sehen und übrigens auch an den Wahlumfragen der AfD. Die liegt im Osten bei 30 Prozent, im Westen steht sie aber mittlerweile auch bei 15 Prozent, der Westen zieht nach. Deswegen sind der Ostdeutschland-Diskurs und Debatten über Sonneberg wichtig: Wir können hier erleben, was uns in ganz Deutschland erwartet, wenn wir nicht endlich mal gegensteuern.
taz, 03.07.2023: „Ilko-Sascha Kowalczuk über den Osten: „Wer Nazis wählt, ist ein Nazi““
Das ist genau meine Meinung. Ein Punkt, den ich hier in diesem Blog und auch auf Mastodon zu vermitteln versuche. Also alles primstens? Nein, leider nicht, denn es gibt komische Stellen im Interview.
Ilko-Sascha Kowalczuk hat in der #DDR #Nazi-Äußerungen gegen geistig Behinderte gehört und leitet daraus ab, dass die DDR ein präfaschistischer Staat war.
Das finde ich ein bisschen schnell geschossen. Solche Bemerkungen wird es sowohl im Westen wie im Osten geben, die Erziehung, die ich in meinen Schulen hatte, war aber zutiefst humanistisch. Die #Euthanasie-Morde der #Nazis und ihre Verbrechen wurden im Unterricht besprochen (siehe auch Der Ossi und der Holocaust).
Ich habe in Berlin-Buch gewohnt. WBS70. Im untersten Stockwerk haben in all den Häusern Rollstuhlfahrer*innen gewohnt. Es gab und gibt immer noch hinten an den Häusern spezielle Zufahrtswege, über die Menschen mit Rollis leicht in die Wohnungen gelangen konnten. Siehe rote Linien auf der Karte. Fahrstühle gab es in den Fünfgeschossern vor der Wende nicht. Für Menschen mit Rollstuhl kamen also nur die Ergeschosswohnungen in Frage. Die Zufahrten wurden beim Neubau der Blöcke 1974–1976 eingerichtet.
Das waren also strukturelle Maßnahmen im Zuge des Wohnungsbaus. Das folgende Bild zeigt, dass beim Entwurf des WBS 70-Systems, das in der DDR in den 70er Jahren entwickelt und dann für den Bau von 644 900 Wohnungen verwendet wurde, Erdgeschosswohnungen für Rollstuhlfahrer*innen und Menschen mit Behinderungen eingeplant wurden.
Ich habe von 1976 bis 1986 in dem Block gemeinsam mit vielen Rolli-Fahrer*innen gelebt und nie irgendein böses Wort gehört.
Ein geistig behinderter Junge fuhr immer mit dem Bus vom Bahnhof Buch zum Lindenberger Weg und zurück. Tagaus, tagein. Ohne Begleitung. Manchmal durfte er die Türen auf und zumachen. Er hat sich sehr gefreut. Er hatte eine brauen Kunstledertasche dabei, die er als Lenkrad benutze. Er saß immer in der ersten Reihe vorn neben dem Fahrer. Später habe ich ihn auch ab und zu in der S‑Bahn getroffen. Das war alles ganz normal.
Dass ich nie irgendwas Böses gehört habe, schließt natürlich nicht aus, dass es böse Bemerkungen gegeben hat. Wenn man mit Behinderten unterwegs ist, gibt es ja viel mehr Begegnungen. Nur ist es eben nicht wahr, wenn behauptet wird, alle Behinderten seien weggesperrt worden oder beschimpft worden.
Insgesamt scheint es mir sehr weit hergeholt, aus Begegnungen mit behindertenfeindlichen Menschen zu schließen, dass man in einem präfaschistischen Staat lebt.
Der Nutzer Peer schreibt dazu auf Mastodon:
Warum so vorsichtig in deiner Kritik? Kowalczuks Schlussfolgerungen sind nicht nur „etwas weit hergeholt“, sondern Nonsens. Vorausgesetzt das taz-Interview gibt seine Aussagen zutreffend wieder.
Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster: Es gibt kein einziges Land auf der Welt, in dem die bestmöglichen staatlichen Inklusionsbemühungen verhindern würden, dass sich Menschen negativ über behinderte Menschen äußern. Demnach wären diese Länder alle präfaschistisch nach der Kowalczuk-Definition.
Geschichtenerzähler Kowalczuk schließt von mehreren Einzelerfahrungen auf strukturelle/staatliche Probleme und daraus wieder auf Prä-Faschismus.
In der Christburger Straße im DDR-Prenzlauer Berg gab es einen privaten Handwerker (Ledergürtel, Schuhmacher so was in der Art). Die hatten ein Kind mit Down-Syndrom, das sich dort sichtbar im bzw. vor dem Laden beschäftigte, ohne dass die Eltern immer selbst sichtbar waren. Hätte das zu negativen Reaktionen geführt, hätten sie das ihrem Kind vermutlich nicht zugemutet. Jedenfalls wurde es nicht versteckt und war auch nicht im Heim. (Geistig behindert und privater Handwerker gleich 2x nicht Mainstream in der DDR).
Anderes Beispiel: Sebastian Urbanski hat ebenfalls das Down-Syndrom. “Als er 1986 in Pankow eingeschult wurde, galten Kinder wie er in der DDR als „bildungsunfähig“. Doch seine Eltern hatten ihm einen Schulplatz erstritten.” https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/holocaust-gedenktag-2017-mit-sebastian-urbanski-spricht-erstmals-ein-mensch-mit-down-syndrom-im-bundestag-li.29544
Pankow war ein Stadtbezirk in der DDR. Ist natürlich nicht so postitiv, dass er in der Schule nicht sofort mit offen Armen aufgenommen wurde, aber das war zu der Zeit im Westen sicher auch nicht so. Entscheidender dürfte aber sein, dass seine Eltern sich gegen die „präfaschistische Diktatur“ durchgesetzt haben. Wie geht denn das? Würde mich nicht wundern, wenn der deutsche Rechtsstaat zu dieser Zeit noch sehr viel effektiver darin war, den Zugang zur Regelschule zu verhindern.
In Hamburg soll es jedenfalls erst seit dem Schuljahr 2010 das Recht für Schüler mit Down-Syndrom geben, allgemeine Schulen zu besuchen. https://kidshamburg.de/down-syndrom/das-kind-mit-down-syndrom-in-der-schule/ Das wären immerhin „nur“ 36 Jahre nach der westdeutschen TV-Serie „Unser Walter“, die angeblich sehr zur Sensibilisierung im Westen beigetragen hat.
Übrigens: Im Osten wurde auch Westfernsehen geschaut, bis auf marginale regionale Ausnahmen. – Sollte man vielleicht nicht ignorieren.
s.a. https://behinderung-ddr.de/lebenswelten/familie
Nutzer Peer in Diskussion auf Mastodon, 05.07.2023
Der Artikel enthält noch einige nicht belegte Allaussagen, z.B. über Nazis in der NVA, die ebenfalls auf Mastodon diskutiert wurden. Die fehlende Aufarbeitung der Naziverbrechen im Osten im Gegensatz zur Aufarbeitung im Westen durch die 68er ist auch ein Thema im Interview. Hierzu möchte ich nur kurz auf meinen Blog-Beitrag Der Ossi und der Holocaust verweisen, der ein ziemlich genaues Bild zeichnet, wann welche Aufarbeitungsschritte erfolgten, was an Wissen über die Verbrechen der Nazis in der Bevölkerung vorhanden war und in dem man auch die Unterschiede zum Westen sehen kann (Beispiel Ausstrahlung der Serie Holocaust und Bayrischer Rundfunk, sowie Skandal um Wehrmachtsausstellung).
Die Diskussion auf Mastodon hatte sich gerade ein wenig beruhigt, da erschien dieser Leserbrief in der taz:
Bezeichnend für die Wahrnehmung behinderter Menschen durch DDR-Bürger ist, dass die im Interview erwähnte westdeutsche, auch „ drüben“ zu empfangende ZDF Fernsehserie „Unser Walter“ in der DDR entgegen der Intention der Sendung diskriminatorisch benutzt wurde. „Mein Gott, Walter“ sagten die Leute zum Beispiel, wenn jemand ungeschickt handelte. Die faschistischen Narrative vom gesunden Volkskörper wurden in der DDR eben nur abgesägt, aber Wurzel und Nährboden blieben weitestgehend unangetastet.
Leserbrief von Wolfram Hasch, Berlin in der taz, 12.07.2023
Dieser Brief ist so haarsträubend! Die Redensart kommt von einem Lied von Mike Krüger von 1975, in dem es um einen Walther mit „th“ geht, der der Verwalter eines Mietshauses ist.
Das könnte man kennen, wenn man in der Bundesrepublik oder in der DDR aufgewachsen ist. Mike Krüger ist ein deutscher Komiker aus Ulm. Mein Gott, Walther war 32 Wochen auf Platz 1 der deutschen Album-Charts und wurde über 250.000 mal verkauft (siehe Wikipedia). Im Osten ist die Platte sicher auf Kassetten kopiert und weitergereicht worden.
So und zum Schluss, weil ich gerade so schön in Schwung bin, kommt jetzt mein Leserbrief in meiner privaten Ossi-Bild-Zeitung.
Mein Leserbrief in meiner Zeitung (Sarkasmus)
Ich habe kurz vor Corona noch einige Amazon-Aktien gekauft und bin dadurch unglaublich reich geworden. Ich habe mich dafür sehr geschämt und das meiste Geld an die Deutsche Umwelthilfe gespendet. Vom Rest habe ich eine Zeitung für Ostdeutsche auf Bild-Niveau gegründet. Die ist natürlich, was die Redaktion angeht, total unabhängig von ihrem Besitzer, so wie die Washington Post auch. Aber ab und zu veröffentliche ich einen Leserbrief. Hier meiner zu Mein Gott, Walther.
Betrifft Beitrag „Im Westen alles Nazis?“
Ihren Ausführungen zu den faschistischen Umtrieben in den alten Bundesländern der BRD kann ich nur zustimmen. Zu denen von Ihnen bereits erwähnten Nazi-Strukturen im Verfassungschutz, in der Armee, in der Polizei und der notorischen Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge, sowie der trotz Parteiausschlussverfahren mit Mehrheit als AfD-Landesvorsitzende von Schleswig-Holstein wiedergewählten Politikerin Doris von Sayn-Wittgenstein mit Kontakt zu Holocaust-Leugnerin möchte ich noch folgende unerhörte Begebenheit hinzufügen: 1974 begann das Fernsehen der BRD mit der Ausstrahlung der Fernsehserie „Unser Walter“, in der das Leben mit einem Kind mit Behinderung thematisiert wurde. Nur kurz darauf erschien eine Schallplatte mit dem Titel „Mein Gott, Walther“, in dem Menschen verhöhnt werden, denen ab und zu Dinge misslingen. Der Zusammenhang zur Fernsehserie wurde durch die Änderung der Schreibung des Wortes „Walther“ nur oberflächlich kaschiert. Die faschistische Grundhaltung der Bürger der BRD kann man auch daran erkennen, dass sich dieses Machwerk eines west-deutschen Komikers über 250.000 mal verkauft hat. Das Lied war übrigens wie immer noch auf youtube abrufbare Videos zeigen, auch im österreichischen Fernsehen zu sehen, aber dass in diesem Land sogar die Künstler Nazis sind, wissen wir ja spätestens seit dem Erscheinen von „Mein Kampf“!
Mit antifaschistischen Grüßen aus Ost-Berlin Stefan Müller
Ist absurd, oder? Aber nicht absurder als der Leserbrief, den die taz gedruckt hat.