Bei meiner Arbeit zum Beitrag Die Ossis und der Holocaust habe ich nach den Weimertagen der FDJ gesucht, weil es da immer einen obligatorischen Besuch der Gedenkstätte Buchenwald gab. Mit großem Erstaunen habe ich festgestellt, dass die Weimartage außer auf einer Seite des Nationaltheaters Weimar nirgendwo im Netz auftauchen. Kein Wikipedia-Eintrag, kein Blog-Eintrag, nichts. Das ist einigermaßen erstaunlich, weil es ein jährlich wiederkehrendes Großereignis war. Für 21 Mark konnte man drei Tage in Schulen übernachten und volle Kanne von früh (7:00 Uhr !!!) bis abends (22:00) alles an Kultur (Theater, Konzerte, Lesungen, Museumsführungen, Parkführungen, Vorträge, …) mitnehmen, was man sich so vorstellen konnte. Hamlet-Vorführungen im Nationaltheater Weimar. Abschlussfest in den Parks Tiefurt oder Belvedere.
Die FDJ hat genervt. Es war eine Jugendorganisation, in der fast alle DDR-Bürger*innen Mitglied waren. Man musste am FDJ-Studienjahr teilnehmen, wo man ein mal im Monat propagandistisch versorgt wurde. Rot-Licht.
Aber eine Sache hat die FDJ wirklich gut gemacht: die Weimartage der FDJ. Ich war sieben Mal dort und es waren wichtige Tage in meinem Leben. Damit das irgendwo dokumentiert ist, stelle ich hier einige Programmhefte, Journale und Informationen für Reiseleiter ins Netz. Habt Spaß damit!
Simone Schmollack, die ich sehr schätze und die viele wichtige und richtige Artikel über den Osten geschrieben hat, hat heute einen Beitrag in der taz über promovierte Stasi-MitarbeiterInnen und über Jahns Vorschlag, Doktortitel, die an der Stasi-Hochschule in Potsdam erworben wurden, statt als Dr. Jur. als Dr. Stas einzuordnen. Ich stimme insgesamt in allem mit Simone Schmollack überein, nur eine kleine Textstelle hat mich geärgert:
Denn so ein Doktortitel verzückt, das hat er schon immer getan, besonders im obrigkeits- und titelorientieren Osten.
Obrigkeitsorientiert? Weiß ich nicht. Viele Menschen haben sich einfach ausgeklinkt und sich ins Private zurückgezogen. Titelorientiert war der Osten sicher nicht. Im Westen hatte und hat ein Professor, Offizier, Arzt viel höheres Ansehen als es diese Berufe im Osten je hatten. Ich würde sogar soweit gehen, den Osten als intellektuellenfeindlich einzustufen. Man hat es tunlichst vermieden, seinen Doktortitel in den Personalausweis zu schreiben, weil einem das bei Kontrollen eher schaden als nützen konnte. Soziale Hierarchien waren in der DDR eher flach. Intellektuelle waren im Alltag zu nichts zu gebrauchen, viel wichtiger waren Beziehungen zu Menschen, die begehrte Waren verkauften oder zu Handwerkern. HandwerkerInnen verdienten viel, viel mehr Geld als WissenschaftlerInnen und waren auch entsprechend angesehen. Zu studieren bedeutete, dass man erst mal zur Armee musste und dann fünf Jahre lang kein Geld verdiente. Irgendwann kam man irgendwo an, aber die Menschen mit Lehrberuf verdienten schon jahrelang. Schön blöd.
Nachtrag vom 26.01.2020: Ich möchte meinen Blogpost mit diesem Zitat aus einem Buch de Soziologen Prof. Dr. Steffen Mau stärken. (Ich weiß, das ist lustig …):
In unserer Klasse blickte die große Mehrheit, die eine Berufsausbildung anstrebte, verächtlich auf die »Streber«, und es war schwer zu vermitteln, warum man weiter die Schulbank drücken sollte, wenn es doch darum ging, schnell Geld zu verdienen und auf eigenen Füßen zu stehen. Ein Hochschulstudium erschien nicht allen als Gipfel des Glücks, was sicherlich auch damit zu tun hatte, dass die damit verbundenen Einkommensgewinne marginal blieben (ein Argument, das noch stärker zu Buche schlägt, wenn man die längere Bildungsphase einrechnet).
Die Behauptung, die Ossis seien nicht demokratiefähig, findet sich immer wieder. In den Print-Medien, im Radio, im Fernsehen, ja, sogar im Internet.1 Aber, und hier stimme ich zum ersten Mal in meinem Leben mit der AfD überein, was haben sie getan: Sie haben bei einer demokratischen Wahl eine im normalen demokratischen Prozess aufgestellte Partei gewählt. In Sachsen hatte diese Partei das mit dem Prozess zwar nicht so richtig gerafft und hat Fehler bei der Aufstellung der KandidatInnen gemacht, aber sonst alles prima. Und wie Kalbitz mit einem süffisanten Lächeln bemerkte, hat die AfD sogar Nicht-Wähler mobilisiert. Und zwar wie die Analyse der Wählerwanderung zeigt: 115.000 in Brandenburg und 246.000 in Sachsen! In Sachsen stieg die Wahlbeteiligung um 17,5 % in Brandenburg um 15,2 %.
Ja, sie haben Nazis gewählt. Vertreter (ohne ‑Innen) des Flügels, der vom Verfassungsschutz jetzt offiziell als kritisch eingestuft wird. Schauen wir uns die Partei, die zur Wahl stand, mal an.
Zusammensetzung des Vorstands / Personal in den Bundesländern / Rechtsextreme
Sie wurde 2013 gegründet von neoliberalen Professoren/Akademikern, die den Euro ablehnten.
Prof. Dr. Bernd Lucke (West-Berlin, Austritt 2015 nach Abwahl als Vorsitzender zugunsten von Petry auch wegen ausländer- und islamfeindlicher Tendenzen)
Albrecht Glaser (Worms, persönlicher Referent des Rektors der Uni Heidelberg, noch Mitglied und im Vorstand)
Andreas Kalbitz (Brandenburg, München, am 15.05.2020 mit sieben gegen fünf Stimmen bei einer Enthaltung wegen falscher Angaben bzgl. Unvereinbarkeitsliste ausgeschlossen)
Birgit Bessin (Brandenburg, Worms; ab 09.04.2022 Nachfolger von Kalbitz, gilt als Kalbitz Vertraute)
Man kann also zusammenfassen, dass im Vorstand 2 von 8 Personen aus dem Osten sind. Dazu noch Alice Weidel im Bundestag an prominenter Position. Also 2 von 9. Von den fünf neuen Bundesländern haben zwei einen Ostdeutschen zum Vorsitz. Inzwischen ist Andreas Kalbitz durch den rechtsextremen Hans-Christoph Berndt ersetzt worden, der aus dem Osten ist.
Prominente Rechtsextreme/Nazis sind (fortwährend aktualisiert, die Namen verlinken auf die Wikipedia-Seiten, auf denen alles ausführlichst belegt ist):
Doris von Sayn-Wittgenstein (Arolsen, Hessen, rechtsextrem, Kontakt zu Reichsbürgern und Holocaustleugnern, bei laufendem Auschlussverfahren Wiederwahl zur Landesvorsitzenden Schleswig-Holstein)
Marcus Pretzell (Rinteln, Niedersachsen, Rechtsanwalt, Immobilienentwickler, seit 2013 dabei, 2016 Beitritt zur rechtsextremen Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF), Ehemann von Frauke Petry aber immer noch in der AfD)
Wolfgang Gedeon (Cham, Bayern, Antisemit, Flügel, die AfD-Fraktion in Baden-Würtemberg bekam keine 2/3‑Mehrheit zusammen, die für einen Ausschluss von Gedeon nötig gewesen wäre, nach Spaltung der Fraktion wurde weiter mit ihm zusammengearbeitet, im September 2019 spachen sich über die Hälfte der Landtagsabgeordenten für eine Wiederaufnahme von Gedeon in die Fraktion aus, im Oktober 2019 scheiterte das zweite Ausschlussverfahren)
Joachim Paul (Bendorf, Reihnland-Pfalz, Fraktionsvize Reihnland-Pfalz, hat höchstwahrscheinlich in NPD-Zeitschrift H&J publiziert, mit 107 von 127 Stimmen zum stellvertretenden Landesvorsitzenden gewählt)
Dennis Augustin (Hamburg, Landesvorsitzender Mecklenburg-Vorpomern 2017–2019, NPD-Mitglied, 2019 wegen Verheimlichung der NPD-Mitgliedschaft ausgeschlossen)
Jens Meier (Bremen, 2017 über Landesliste Sachsen (Platz 2) in den Bundestag eingezogen, vom Sächsischen Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft, er war Obman des Flügels)
Ralph Weber (Bad Mergentheim, Baden-Würtemberg, ab 2016 im Landtag Mecklenburg-Vorpommern, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, Kontakte zu NPD, DVU, Tragen von Thor-Steinar-Sachen in der Universität, Einladung von Rechtsextremen zu Vorträgen, Promotion eines klar faschistischen Neonazis, 2021 Austritt)
Thorsten Weiß (Berlin, Steglitz-Zehlendorf, bis zu dessen Selbstauflösung im April 2020 Landesobmann des rechtsnationalen Parteiflügels „Der Flügel“ in Berlin, welcher 2020 vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wurde. Er gilt als Vertrauensmann des thüringischen Landes- und Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke)
Dr. habil. Gottfried Curio (Berlin, Gymnasium in Schmargendorf, kommt im Bericht des Bundesamtes für Verfassungschutz mit ausländerfeindlichen Äußerungen vor, die „die Grenze der verfassungsschutzrechtlich zulässigen Kritik“ überschreiten und gegen diverse Artikel des Grundgesetzes verstoßen)
Carl-Wolfgang Holzapfel (Berlin-Zehlendorf, von der Berliner AfD 2022 in die Bundesversammlung entsandt hat 1973 die Entführung einer British-European Airways-Maschine von Stuttgart nach Moskau angekündigt, um die Freilassung von Rudolf Heß zu erreichen)
Stephan Protschka (Dingolfing, Bayern, beschäftigte Identitäre und stiftete im November 2019 mit anderen verfassungsfeindlichen Organisationen in Polen ein Kriegerdenkmal, auf dem auch Organisationen geehrt werden, die Polen und Juden ermordeten. Darüber wurde in tagesschau und Presse ausführlich berichtet, aber Protschka wurde im Dezember 2019 auf dem AfD-Bundesparteitag zum Beisitzer im AfD-Bundesvorstand wiedergewählt.)
Thomas Seitz (Ettenheim, Baden-Württemberg, Flügel, wegen rassistischer Äußerungen Richteramt für 8 Jahre abgesprochen, Verfassungstreue nicht gegeben)
Johannes Huber (Moosburg an der Isar, Bayern, Flügelnähe, beschäftigte Rechtextreme Mitarbeiter*innen im Bundestag, antisemitische und rechtsextreme Verschwörungtheorien)
Matthias Helferich (Dortmund-Hombruch, Kontakte zu Dortmunder Neo-Nazis, bezeichnet sich selbst als „das freundliche Gesicht des NS“, trägt Nazisymbole, Meuthen hat Ausschlussverfahren beantragt, dafür fand sich aber keine Mehrheit im Vorstand und Tino Chrupalla und Alice Weidel stimmten für Helferichs Verbleib in der Partei!)
Josef Dörr (Illiingen, Saarland, sollte vom Bundespartei wegen „allzu enge Kontakte zu rechten und neonazistischen Kreisen“ aus der AfD ausgeschlossen werden. Hat im Jahr 2015 Mitgliedern der Freien Bürger Union satzungswidrig Doppelmitgliedschaften angeboten. taz, 12.03.2022)
Andreas Winhart (out of Rosenheim, Bayern, seit 2021 Vorstand der AfD-Landtagsfraktion, durch rassistische und antisemtsiche Äußerungen bekannt. Mit Mordaufrufen gegen Seenotrettung 2018. Bis 2019 unter Beobachtung des Verfassungsschutzes.)
Hier noch eine Liste von Wikipedia-Seiten von AfD-Politiker*innen, auf denen nicht steht, dass die betreffenden Personen rechtsextrem sind, aber stattdessen ausländerfeindliche, anti-demokratisch oder sonst wie geartete Meinungen bekundet werden, die normalerweise Ossis vorgeworfen werden:
Nicolaus Fest (Hamburg, islamfeindlich und grundgesetzwidrig, weil er entgegen der Religionsfreiheit alle Moscheen schließen will, unter Merkel drohe Ent-Parlamentarisierung parallel zum Ermächtigungsgesetz der Nazis, will völkischen Flügel in AfD-Berlin integrieren, siehe auch taz, 15.02.22)
Man kann also zusammenfassend sagen: Die AfD wurde von West-Professoren gegründet und sie wird von Westdeutschen geleitet. Prominente Rechtsextreme bzw. Nazis kommen aus dem Westen und wurden zum Teil auch nach angelaufenen Ausschlussverfahren in ihren Ämtern bestätigt.
Demokratieversagen?
Was ist passiert? 25 % der sächsischen und brandenburgischen WählerInnen haben eine Nazi-Partei gewählt. Haben sie sich undemokratisch verhalten? Nein. Siehe oben. Wie konnte das überhaupt passieren? Wieso gab es das früher nicht? Es gab im Westen immer schon solche Parteien wie die NPD, die DVU, die Republikaner. Das Gute war: Die waren zu doof. Sobald sie irgendwie nennenswerte Stimmenanteile bekamen und Positionen besetzen konnten, brach alles zusammen, weil die nötige Strukturiertheit und der Durchhaltewille fehlten. Das ist nun anders. Neoliberale Professoren haben diese Partei gegründet und auf einen rechtskonservativen Weg gebracht. Die Partei wurde dann schrittweise von Nazis übernommen, bei den Machtspielchen von Lucke, Petry und Gauland ist eben einiges schief gelaufen.
Wer hat versagt? Wir alle. Ja, unsere Demokratie hat versagt. Spätestens seit Maaßen ist das klar. Verfassungsschutzchef Maaßen (CDU, Mönchengladbach, Nordrhein-Westfalen) konnte in Chemnitz keine Hetzjagden erkennen und es hat ein Jahr gebraucht, bis dann irgendwie doch klar war, dass es Hetzjagden gab. Seehofer (CSU) hat Monate gebraucht, bis er Maaßen endlich gefeuert hat. Kurt „Die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus.“ Biedenkopf konnte in Sachsen keine rechtsextremen Tendenzen feststellen. Der sächsische Verfassungsschutz war ihm offensichtlich keine große Hilfe. Kleine gemeine Frage: Wer hat den Verfassungsschutz im Osten aufgebaut? Wer die Polizei? Die Ostdeutschen? Nee. Wie war das mit dem NSU? Nix gemerkt? Oder vielleicht doch sogar einer vom Verfassungsschutz beim Mord dabei gewesen? Wir haben riesige rechtsextreme Netzwerke mit Todeslisten (Hannibal), rechtsextreme Vorfälle in Armee und Polizei. Gar einen Mord mit rechtsextremen Hintergrund in Hessen (wurde leider bei der Meldung der Straftaten mit rechtsextremen Hintergrund vergessen, upsi).
Und nun? Verbieten? Ist nicht so einfach, wenn die Partei bereits 25 % der Stimmen bekommen hat.
Sind die Ostdeutschen nicht demokratiefähig?
Eine Studie der Universität Leipzig hat ergeben, dass die Ostdeutschen Demokratie grundsätzlich befürworten und zwar zu 95 % (im Westen nur 93 %). Ein Teil der WählerInnen hat eine rechtsextreme Partei gewählt. Diese wurde von Westdeutschen Professoren gegründet und etabliert und wird immer noch überwiegend von Westdeutschen geleitet. Aufgrund der spezifischen Situation im Osten sind Menschen dort für rassistische und nationalistische Positionen und den Quatsch, den die AfD von der Wende erzählt, empfänglich. Insgesamt ist es aber so, dass dieses Land, das gesamte Land, ein Rechtsextremismusproblem hat. Dieses kann man nur gemeinsam lösen und man löst es nicht durch Fingerzeigen und Bemerkungen von oben nach unten. Das Positive ist, dass die jüngsten Ereignisse zu einer Politisierung und auch zu einem Umdenken in der Politik geführt haben:
Dennoch geben die Wahlen für allzu apokalyptische Deutungen keinen Anlass. In dem Schlamassel stecken Geschichten, die Mut machen. Sie spielen jenseits der klassischen Parteienarithmetik und klingen nach Aufbruch und Erneuerung. Da wäre zum Beispiel eine umfassende Politisierung der Gesellschaft, die bei Wahlveranstaltungen von CDU, SPD, Grünen oder Linken zu spüren war. Die Menschen kamen, sie waren viele, und sie redeten ernsthaft über Politik. Über schrumpfende Dörfer, über Züge, die nicht mehr fahren, über die Braunkohle – und über Konzepte, die es besser machen. Was selten vorkam, war das imaginierte Zuviel an Migration. Es fand eine Erdung statt, die vor einem Jahr undenkbar schien, als Neonazis durch Chemnitz marodierten. Die demokratische Mehrheit hat sich diskursive Räume zurückerkämpft und mit Leben gefüllt. Von Desinteresse der BürgerInnen kann keine Rede sein, es gibt ein Bedürfnis nach Teilhabe und Engagement. Das, was Ost- und Westdeutschland 30 Jahre nach der Wende trennt, liegt jetzt auf dem Tisch, für alle sichtbar. Auch die Parteien haben viel richtig gemacht. Oben auf der Bühne steht einer, belehrt die anderen und wird gewählt – so funktioniert es nicht mehr. CDU-Mann Kretschmer hat im Wahlkampf gefühlt jedem Sachsen persönlich die Hand geschüttelt, der Grüne Habeck in seinen Town Halls auch dem kritischsten Atomkraftfan minutenlang geantwortet.
Ernsthaft ins Gespräch kommen, Zugewandtheit zeigen, das ist ein Anfang, aus dem etwas entstehen kann. Die Zivilgesellschaft und die demokratischen Parteien befinden sich in einer Suchbewegung – aufeinander zu.
Ich bin Antifaschist, habe für #unteilbar gearbeitet und bin zutiefst erschüttert über das Wahlergebnis der AfD in Brandenburg und in Sachsen. Es ist umso schlimmer, weil klar ist, dass Kalbitz ein Nazi ist (taz, Spiegel, Jung&Naiv). Mit tiefer Verwurzelung im rechtsextremen Milieu.
Anatol Stefanowitsch ist ein guter Kollege von mir. Wir haben jahrelang zusammen in Bremen gearbeitet und uns zur Freude unserer MitarbeiterInnen jeden Tag beim Mittagessen über alles Mögliche gestritten. Meistens Grammatik.
Ich teile viele seiner Ansichten und liebe seine pointierten Tweets. Sie sind oft auf den Punkt.
Klischees und wilde Behauptungen
In seinem Tweet vom 02.09.2019 direkt nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg schreibt Anatol Stefanowitsch folgendes: Wahlstatistiker: „Warum haben Sie AfD gewählt?“ Wähler: „Aus Protest gegen Ausländer, Juden, Muslime, Schwule, Frauen und Greta.“ Wahlstatistiker: *kreuzt “Protestwähler” an.
Tweet von @astefanowitsch nach den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen, 02.09.2019
Damit tut Anatol (ich nehm’ mal den Vornamen) zwei Dinge: Erstens er bezweifelt die Wissenschaftlichkeit von Wahlforschung. Und er beleidigt die Protestwähler, denn er unterstellt, dass ein großer Teil der ProtestwählerInnen Ausländer, Juden, Muslime, Schwule, Frauen oder Greta Thunberg ablehnt.
Infragestellung von Forschungsergebnissen: eine rechte Strategie, oder?
Der erste Punkt ist schlimm, denn er entspricht genau dem, was Rechte und Rechtsextreme tun: Sie ziehen wissenschaftliche Ergebnisse in Zweifel. OK, wir alle wissen, dass mit Umfrageergebnissen auch Politik gemacht wird. Aber es gibt ja mehrere Meinungsforschungsinstitute und man kann die Prognosen vor Wahlen sehr gut mit den Wahl-Ergebnissen abgleichen und kann dann das Institut entsprechend einordnen. Je nach Institut schwanken die Zahlen um einige Prozent. Bei der Wahlberichterstattung in der ARD wurde aber gesagt, dass nur 39 % der AfD-WählerInnen in Sachsen sie wegen der Inhalte gewählt haben, 52 % dagegen aus Enttäuschung. Von 8–9% wissen wir es nicht.
Wahlberichterstattung Landtagswahl Sachsen und Brandenburg am 01.09.2019
Selbst wenn man hier eine Verfälschung des Ergebnisses in eine bestimmte Richtung unterstellen wollte, bekäme man immer noch einen Wert um die 50% von Wählern, die sich nicht mit den Inhalten der Partei identifizieren.
Protestwähler
Noch mal: Ich bin zutiefst erschüttert ob des Wahlergebnisses. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, eine Partei mit Nazi-Personal an der Spitze zu wählen.
Aber: Es gibt Leute, die aus Protest keine der demokratischen Parteien mehr wählen. Man sieht in Sachsen sehr deutlich, dass WählerInnen der Linken zur AfD gewechselt sind.
Man kann sich die Deutschlandkarten ansehen und stellt fest, dass sozioökonomischer Status stark mit dem Wahlverhalten korreliert ist. Guckt man nach Bayern (19,2% Deggendorf) oder Baden-Würtemberg (16,3% Pforzheim) so findet man in einigen Wahlkreisen einen 15–20%-Anteil an AfD-Wählern, ohne dass es in diesen Orten irgendwelche Probleme der Art gibt, mit der der Osten kämpft. Ähnlich gelagert dürfte es im Osten sein: Es gibt einen Anteil derjenigen, die AfD-Positionen teilt (die 39% der WählerInnen). Oben drauf kommen dann die Abghängten und Frustrierten. Das ist keine Entschuldigung für irgendwas, aber wir müssen uns damit auseinandersetzen, damit wir etwas ändern können.
Arroganz
Auf meine Kritik an Anatols ursprünglichem Post kam die Antwort von einem Nutzer aus NRW: „Niveau sieht nur von unten wie Arroganz aus.“ Netterweise hat er noch dazugeschrieben, dass NRW in Westdeutschland liegt. Ich hätte sonst erst nachgucken müssen.
Lustiger Austausch auf Twitter. 02.09.2019
Das zeigt recht deutlich, wo das Problem liegt: Man bewegt sich niveauvoll in seiner Blase und spricht von oben nach unten. Das löst aber das Problem nicht. Leider verstärkt es das Problem nur. Ja, das Von-oben-nach-unten-Reden ist ein Problem. Der Westen ist immer noch wirtschaftlich stärker. Im Osten gibt es die Tarife nicht, die es im Westen gibt. Schon über Jahrzehnte (z.B. seit 2003 35-Stunden-Woche bei der IG Metall im Westen, 38 Stunden im Osten für gleiches Geld).
Keine Toleranz für Nazis und Mitläufer
Es gibt ganz viele Antworten auf den Tweet, die ihre Abgrenzung zum Ausdruck bringen. Kann ich voll verstehen. Nur was folgt daraus? Dass wir mit 18 % der Bevölkerung (18,6 % in Sachsen, 14,4 % in Brandenburg bei Berücksichtigung der Nichtwähler) nicht mehr reden? Es ist zu einfach zu sagen, ich bin gut und ihr seid Nazis. Das ist selbstgefällig. Man macht es sich bequem auf seinem Sessel/Bürodrehstuhl und guckt mit Schaudern gen Osten und zeigt mit dem Finger. Davon ändert sich aber nichts. Im Gegenteil. Die anderen Reden mit ihnen. Und sie hören das wahnsinnige Gefasel von der Wende 2.0. Von Leuten, die damals noch ganz klein waren und in Westfalen oder München zur Schule gegangen sind.
Höcke: Dafür haben wir nicht die friedliche Revolution gemacht
Hier noch mal für den Geschichtslehrer: Das haben die Bürgerbewegungen damals gewollt. Der ganze andere Scheiß kam später.
Demoaufruf der verschiedenen Gruppierungen der Bürgerbewegung, 19.12.1989, DDR-Museum Eisenhüttenstadt
Schlussfolgerung
Wir müssen miteinander reden. Wohl eher nicht mit den Nazis, obwohl Thilo von Jung auch das sehr gut hinbekommen hat (Interview mit Kalbitz). Aber wenn wirklich 61 % von 25 % nicht mit den Ansichten der AfD übereinstimmen, dann sind das doch sehr viele Menschen. Und selbst bei den 39 % ist noch nicht alles verloren. Da sind sicher Menschen dabei, die wegen „Greta“ die AfD gewählt haben, denn die Klimawandelleugner haben sich recht klar für Kohle positioniert und das ist für einige BrandenburgerInnen existenziell.
Also, versuchen wir mit ihnen zu reden. Bitte versucht Ihr Wessis mit uns Ossis auf Augenhöhe zu reden. Es ist Eure einzige Chance. Es ist unsere einzige Chance.
Nachtrag 04.09.2019
Leider muss ich mir hier gleich widersprechen. Die oben angesprochenen Erkenntnisse von infratest dimap, wonach nur 39% der WählerInnen in Sachsen die AfD aus Überzeugung gewählt haben, widerspricht eine Studie der Forschungsgruppe Wahlen, derzufolge 28 % das Motiv „Denkzettel“ nannten und 70% die AfD „wegen ihrer politischen Forderungen“ wählten (Telefonbefragung unter 1071 zufällig ausgewählten Wahlberechtigten in der Woche vor der Wahl und Befragung von 18 411 Wählern am Wahltag). Ein Unterschied von 31% in den Ergebnissen ist doch ziemlich groß. Ich werde mich bemühen, Näheres über die erste Befragung herauszufinden. Immerhin ist die Zahl 28% auch nicht klein. In Brandenburg lag die Zahl der Protestwählerinnnen bei über 50%.
Dieser Text wurde am 01.09.2019 begonnen und ist leider immer noch nicht ganz fertig, aber er soll jetzt mal sichtbar werden
Einleitung
Die Wessis versuchen jetzt, den Osten zu verstehen. Ein bisschen spät, denn das Kind ist in den Brunnen gefallen. Dazu gibt es verschiedene Analysen in Zeitungen, die für die Meinungsbildung relevant sind. Einen wichtigen Punkt aus zwei dieser Analysen möchte ich in diesem Beitrag besprechen: DDR und Holocaust. Die AutorInnen der besprochenen Beiträge sind jeweils aus dem Osten: Ines Geipel und Anetta Kahane. Das macht ihre Aussagen um so verwunderlicher. Sehen wir uns die Aussagen von Ines Geipel und Anetta Kahane im Detail an:
Die West-Gesellschaft des direkten Nachkriegs, die sich manisch schönputzte, die schier märchengleich Kohle machte und sich in ihrer Unfähigkeit zu trauern verpuppte. Die postfaschistische DDR der fünfziger Jahre dagegen wurde zur Synthese zwischen eingekapseltem Hitler und neuer Stalin-Diktatur, planiert durch einen roten Antifaschismus, der einzig eine Heldensorte zuließ: den deutschen Kommunisten als Überwinder Hitlers. Mit dieser instrumentellen Vergessenspolitik wurde im selben Atemzug der Holocaust für 40 Jahre in den Ost-Eisschrank geschoben. Er kam öffentlich nicht vor.
Im Osten war eine systemische und individuelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah nicht gewollt. Dies hätte zu Fragen nach Menschenrechten oder Minderheitenschutz geführt, die nur bei Strafe des Untergangs der DDR zu beantworten gewesen wären.
Die krasseste Behauptung ist die von Geipel, der Holocaust sei öffentlich nicht vorgekommen.1 Diese Behauptung ist leicht zu widerlegen und Matthias Krauß hat das bereits 2007 getan.2 Für die Behauptung von Kahane muss man etwas weiter ausholen.
Schulbildung: Literatur und Filme
Die Beschäftigung mit dem Holocaust zog sich durch die gesamte Schulbildung. Die Schulbildung war in der DDR zentral geregelt, d.h. alle Schülerinnen und Schüler wurden nach demselben Lehrplan und mit denselben Lehrmaterialien unterrichtet. Wir haben in der 9. Klasse Kinderschuhe aus Lublin von Johannes R. Becher gelernt. Viele haben das aufgesagt (33 Strophen). Die, die es nicht selbst gelernt haben, haben es zumindest viele Male gehört. Bechers Balade von den Dreien war ebenfalls im Lesebuch der DDR 9. Klasse enthalten. Dieses Gedicht hatte nur neun Zeilen. Das haben die aufgesagt, denen die Kinderschuhe zu lang waren. Ich habe es oft gehört.
Wir haben Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz gelesen. Im Buch geht es um ein jüdisches Kind, das im KZ Buchenwald versteckt wird. Der Mord an den Juden wird ganz klar thematisiert:
Unter den 6000 jüdischen Häftlingen des Lagers verursachte der Befehl einen Aufruhr der Angst und Verzweiflung. Zuerst war ein Schrei des Entsetzens in ihnen aufgebrochen. Sie wollten die schützenden Blocks nicht verlassen. Sie schrien und weinten, wussten nicht, was sie tun sollten. Wie ein wütender Wolf hatte der furchtbare Befehl sie angesprungen, hatte sich in sie verbissen, und sie konnten ihn nicht mehr abschütteln. Ungeachtet von Weisangks Befehl, die Blocks nicht zu verlassen, stürzten viele der jüdischen Häftlinge fort, kopflos und in höchster Not. Sie rannten in andere Blocks hinein, in die Seuchenbaracke des Kleinen Lagers, ins Häftlingsrevier. »Helft uns! Versteckt uns!«
»Wie euch verstecken? Wir kommen doch selber dran.«
Trotzdem, die Blocks nahmen sie auf. Man riss ihnen die jüdischen Markierungen von den Kleidern, gab ihnen andere dafür. Köhn {und der Kapo vom Revier} steckten die Hilfesuchenden als »Kranke« in die Betten, gab ihnen ebenfalls andere Markierungen und Nummern. Manche der Gehetzten versteckten sich auf eigene Faust und krochen in den Leichenkeller des Reviers. Andere wieder stürzten in die Pferdeställe des Kleinen Lagers, in der Masse untertauchend. Und doch war diese Flucht die sinnloseste, denn gerade hier steckten viele jüdische Angehörige fremder Nationen. Aber wer überlegte, wer dachte klar, wenn er vom Wolf gehetzt wurde … Was in den Blocks der jüdischen Häftlinge zurückblieb, unterlag schließlich der Lähmung des mörderischen Befehls. Verstört sahen sie dem Kommenden entgegen. Die Blockältesten, selbst jüdische Häftlinge, hatten nicht den Mut, zum Marsch nach dem Tor antreten zu lassen. Dort wartete der Tod! Konnte man ihn nicht auch hier erwarten?
Bruno Apitz. 1958. Nackt unter Wölfen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale). Zitiert nach Ausgabe vom Aufbauverlag, 2012, S. 274–275
Zum Buch gab es 1963 eine Verfilmung von Frank Beyer für die DEFA (siehe Filme). Nackt unter Wölfen erschien in 30 Sprachen und erreichte eine Gesamtauflage von mehr als zwei Millionen.
Professor Mamlock (ein Theaterstück von 1934) wurde 1961 verfilmt und in Schulen gezeigt. Der Film handelt von einem jüdischen Klinikleiter und dessen Familie. Arbeitsverbot, Inhaftierung. Ein Sohn flieht. Professor Mamlock begeht Selbstmord.
Edu und Unku wurde ebenfalls im Literaturunterricht behandelt. Unku ist ein Sinti-Mädchen, das in Auschwitz ermordet wurde.
Die erstmals 1958 veröffentlichte Erzählung Frühlingssonate von Willi Bredel befand sich im Lesebuch der 9./10. Klasse.3 Es ging um einen jüdischen Politoffizier, der mit der Roten Armee nach Deutschland gekommen war. Er hört die Musik, die eine Familie mit Klavier und Fagott spielt, kommt in deren Wohnung, immer wieder, bringt Essen mit. Sie werden vertraut. Eines Tages fragt die Familie ihn nach seinem Lieblingsstück und er nennt Beethovens Frühlingssonate. Die Familie studiert das Stück ein, spielt es vor dem Offizier und dieser bricht zusammen und verwüstet die Wohnung. Daraufhin wird er verhaftet und eingesperrt und von seinen Vorgesetzten verprügelt. Der Familienvater – ein deutscher Professor – entschuldigt ihn. Hier Auszüge aus dem Text, der aus seiner Perspektive geschrieben ist:
Der Familienvater:
Ich beobachtete Ruthilde, sie spielte vortrefflich. Plötzlich aber sah ich sie erschrecken: Hauptmann Pritzker wankte an den Tisch und goss den Inhalt der Wodka-Karaffe in ein Bierglas. Der Hauptmann goss in einem einzigen Zug den Wodka in sich hinein. Aufhören! Um Gottes Willen aufhören, dachte ich. Ruthilde aber spielte weiter – und wie sie spielte. Meine Frau musste einsetzen. Der Hauptmann hatte beide Hände vors Gesicht gepresst, als litte er Qualen. Was bedeutete das alles nur? „Warum spielten sie noch?
Plötzlich geschah es. Ein Schrei dem unverständliche Worte folgten – und plötzlich riss der Hauptmann mit einem Ruck die Tischdecke samt allem, was darauf stand herunter. Meine Frau schlug mit dem Kopf auf die Tasten des Flügels – wie ohnmächtig. Irmgart und Hänschen, zu Tode erschrocken, rannten aus dem Zimmer. Der Hauptmann zog mit seinem ganzen Gewicht an dem Schrank, in dem unsere Gläser und etwas Geschirr standen, so dass er über den Tisch fiel. Er zerrte mit einem Griff Vorhänge und Gardinen vom Fenster. Einem Stuhl gab er einen Tritt. Und ununterbrochen schrie er Flüche oder Drohungen in seiner Muttersprache heraus. Ruthilde, Geige und Bogen noch in der Hand, stand da und rührte sich nicht. Gleich wird er über sie herfallen, dachte ich, bereit, mich ihm entgegenzuwerfen. Statt dessen aber hockte er sich plötzlich in den Sessel, legte den Kopf auf die Lehne und weinte, schluchzte herzzerreißend. Ich hatte meine Frau auf das Sofa gebettet, jetzt trat ich zu meiner Tochter und legte den Arm um ihre Schulter. So blickten wir auf den Unglücklichen, der den Kopf hin und her warf und wie ein Kind wimmerte. Endlich kamen Soldaten der Militärpolizei und führten ihn ab.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 164–165. (Zitat mit freundlicher Genehmigung der Willi-Bredel-Gesellschaft-Geschichtswerkstatt e. V., Hamburg)
Die Erklärung für das Verhalten wird am nächsten Tag von einem anderen Offizier geliefert:
Heute mittag nämlich hat mich ein junger Offizier von der Kommandantur aufgesucht. Er bat für seinen Landsmann um Entschuldigung und erbot sich, den Schaden zu ersetzen. Dann erzählte er mir das Schicksal des Hauptmanns. Es ist noch tragischer, als wir vermuten konnten. Hören Sie nur:
Hauptmann Pritzker war vor seiner Einberufung zur Sowjetarmee Musikpädagoge am Konservatorium in Kiew. Er war verheiratet, hatte eine Tochter und einen Sohn, beide noch schulpflichtig. Im Jahre 1942 haben deutsche Soldaten der Hitler-Wehrmacht in Kiew Zehntausende Juden, Männer, Frauen und Kinder, zusammengetrieben wie Vieh und unweit der Stadt vor ihren Gräbern erschossen. Unter den Opfern befanden sich des Hauptmanns Frau und Kinder. Die Familie hatte am Abend, bevor Pritzker einberufen wurde, die Frühlingssonate von Beethoven gespielt.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 165.
An einer anderen, aus der Sicht des Oberst der sowjetischen Militärkommandanturer, der den Hauptmann verhört und geschalgen hat, erzählten Stelle heißt es:
Der Oberst überlegte … Da liest man in den Zeitungen, hört in Rundfunksendungen, auch in Gesprächen: Bei Worowschilwograd zwölftausend Juden massakriert. In Kertsch Tausende Einwohner vor der Stadt füsiliert. In Kiew zehntausende Juden und Kommunisten gemeuchelt und in Massengräber verscharrt. Man liest es, ist entsetzt, aber es dringt nicht mehr richtig ins Bewusstsein; der Verstand wehrt sich diese Häufung von Verbrechen aufzunehmen.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 168.
Der Bericht des Professors endet damit, dass er den Hauptmann entschuldigt:
„Die Schuldigen sind doch eigentlich wir“: sagte der Professor, „ich meine, wir Deutschen. ” Er blickte auf und fuhr fort: „Man stelle sich vor: Ein Offizier befindet sich als Sieger in dem Land, aus dem die Menschen kamen, die in seiner Heimat seine Frau und seine beiden Kinder umgebracht haben. Die Mörder sind besiegt, aber die Menschen dieses Landes sind den Mördern nicht in den Arm gefallen, sie haben sie gewähren, das heißt morden lassen. Und einsam geht er durch die Stadt der Besiegten. Da sitzt in ihrem Haus eine Familie – nicht einer fehlt: Mann, Frau, Töchter, Sohn – sie musizieren, spielen Schumann, Brahms und Mozart. Er steht auf der Straße und lauscht. Jeden Akkord kennt er, er ist ja Musiklehrer, ein Freund der Hausmusik. Musik ist stärker als Hass. Gleich einem Bittsteller klopft er an die Tür der Besiegten und — ja, der Mitschuldigen an seinem und seines Landes Unglück. Er darf zuhören und ist glücklich. Bei Deutschen, den Landsleuten derer, die seine Frau und Kinder und ungezählte Tausende anderer Frauen und Kinder in seiner Heimat ermordet haben. Er denkt daran, er muss immer wieder daran denken, und ihn packt, ihn überwältigt das ihm zugefügte Leid. Er will es betäuben, er will nicht, dass seine deutschen Bekannten etwas davon merken. Er trinkt, um zu vergessen. Und gerade das Stück, das sie nichtsahnend ihm zur Freude spielen, wird ihm zur größten Qual … ja, wir sind die Schuldigen. Die Schuldigen sind wir.”
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 166.
Man beachte, dass bei Bredel 1958 auch schon ganz klar auf die Rolle der Wehrmacht bei der Massenvernichtung der Juden hingewiesen wird. Die ganze Ungeheuerlichkeit ist im Artikel über Babyn Jar in Wikipedia ausführlich dokumentiert. SS und Wehrmacht haben gemeinsam 33.771 Juden in einer Schlucht bei Kiew ermordet und dann vor Kriegsende noch versucht, die Spuren zu beseitigen. Menschen aus dem Osten waren sehr erstaunt, was die Wehrmachtsausstellung noch 1995–1999 für einen Aufruhr erzeugen konnte. Wir wussten Bescheid. Wir hatten es spätestens in der 10. Klasse gelernt.
Wikipedia schreibt dazu:
Die breite Öffentlichkeit nahm so erstmals historisch gut erforschte, aber damals allgemein noch wenig bekannte Sachverhalte zur Kenntnis:
den Beginn des Holocaust in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, den die Wehrmachtsführung mit plante und dann arbeitsteilig mit durchführte,
die Beteiligung ganzer Truppenteile an diesen Verbrechen, wobei Widerstand bis auf wenige Ausnahmen ausblieb,
den in Wehrmachtsführung wie einfachen Truppen weit verbreiteten Antisemitismus und Rassismus,
die verbrecherischen Befehle (zum Beispiel den Kommissarbefehl) und ihre weithin widerspruchslose Ausführung und
die als Kriegsziel beabsichtigte millionenfache Vernichtung der osteuropäischen Zivilbevölkerung.
In aktuellen politischen Diskussionen wird immer wieder behauptet, dass es in der DDR keine systematische Aufarbeitung des Faschismus gegeben habe, wohingegen das in der BRD nach 1968 geschehen sei. Wie das Wikipedia-Zitat nahelegt, waren die Fakten Experten bekannt, jedoch kein Allgemeinwissen. In der DDR kam niemand an diesen Fakten vorbei.
Überlebende wurden in die Schulen eingeladen. Schulen wurden nach Widerstandskämpfern benannt z.B. nach Herbert Baum (jüdischer Widerstandskämpfer). Nach der Wende zog das Heinrich-Hertz Gymnasium in die Gebäude der POS Herbert Baum. Es gibt jetzt keine Schule mehr, die nach ihm benannt ist.
Neulehrer
Bei der ganzen Sache mit der Schulbildung sollte man auch bedenken, dass Nazis nach dem Krieg im Bildungssystem der DDR systematisch durch sogenannte Neulehrer ersetzt wurden. 40.000 Neulehrer. Laut Wikipedia waren 1949 67,8 Prozent aller Lehrerstellen mit Neulehrern besetzt. Es war somit sichergestellt, dass die Personen auch das in den Lehrplänen Vorgegebene unterrichten würden, insbesondere dann, wenn es sich um antifaschistischen Lehrstoff handelte. LehrerInnen hätten den entsprechenden Stoff schon allein deshalb nicht weglassen können, weil in jeder Klasse Kinder mit Genosseneltern waren und es sicher Probleme mit der Schulleitung gegeben hätte. Das kann man finden, wie man will, aber daraus folgt, dass alle Kinder in der DDR die Materialien, die sich mit dem Faschismus beschäftigt haben, auch behandelt haben.
Bücher
LTI – Notizbuch eines Philologen von Victor Klemperer erschien 1947 im Aufbau Verlag und wurde dann 1966 in Reclams Universal-Bibliothek in Leipzig wiederveröffentlicht. 1990 wurde die 10. Auflage gedruckt. Papier war in der DDR knapp. Populäre Zeitschriften wie das Magazin waren deshalb Bückware. Es muss also erstens einen Bedarf für LTI gegeben haben und zweitens auch den politischen Willen der Staatsmacht, dieses Buch in großen Stückzahlen unters Volk zu bringen. Klemperer selbst war jüdischer Abstammung und hat sich dafür entschieden, in der DDR zu bleiben.
Martin Riesenburger. 1960. Das Licht verlöschte nicht. Ein Zeugnis aus der Nacht des Faschismus, Berlin: Union Verlag. weiter Auflagen in den 1980ern.
Arnold Zweig. 1960. „Beginn und ‚Endlösung‘“. In: Programmheft zu „Affäre Blum“, Volksbühne Berlin, Spielzeit 1960/61, S. 4–7., weitere Artikel im Neuen Deutschland etc.
Kurt Pätzold. 1983. Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942. Berlin: Reclam.
Reclam-Buch von 1983 über die Judenverfolgung. Kurt Pätzold hat an der Humboldt-Universität zu diesem Thema geforscht. Sein Wikipediaeintrag enthält weitere Quellen.
Filme
Es gab diverse Filme, die die Judenverfolgung thematisierten oder in denen sie vorkam. Es gab in der DDR in vielen kleinen Orten Kinos und die Filme sind oft jahrelang durch die DDR getourt. Folgende Filme sind mir bekannt:
Ich bin klein, aber wichtig, 1988, Walther Petri und Konrad Weiß, DEFA Studio für Dokumentarfilme, biographischer Filmessay über Janusz Korczak
Zur Premiere des Anne-Frank-Films gibt es einen interessanten Beitrag in der ZEIT von 1959:
Vor der Uraufführung des Films „Ein Tagebuch für Anne Frank“ im Ostsektor Berlins betrat der greise Arnold Zweig die Bühne im „Haus der Presse“ am Bahnhof Friedrichstraße. Er sprach davon, daß mit diesem Film ein Beitrag zur moralischen Wiedergutmachung geleistet werden solle.
Zu Ich bin klein aber wichtig gibt es einen Text von Konrad Weiß, der 1988 in Film und Fernsehen veröffentlicht wurde.
Theaterstücke
Der DEFA-Film Affäre Blum, 1948, Erich Engel, hatte zu DDR-Zeiten über 4 Mio Zuschauer. Es geht um einen antisemitischen Justizsakndal im Jahre 1925. Zum Film gab es auch ein Theaterstück und im Programmheft von 1960/1961 gab es einen Beitrag von Arnold Zweig: Beginn und ‚Endlösung‘. In: Programmheft zu „Affäre Blum“, Volksbühne Berlin, Spielzeit 1960/61, S. 4–7.
Skulpturen und Denkmäler
Ingeborg Hunzinger. 1970. Stürzende, Sandstein; für die Opfer des Todesmarsches des KZ Sachsenhausen vom April 1945 in Parchim in einer Parkanlage zwischen Goetheschule und Krankenhaus.
Der Bildhauer Will Lambert war mit einer jüdischen Frau verheiratet und floh 1933 aus Deutschland. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil und der Verbannung arbeitete er hauptsächlich an der Gestaltung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Die Jüdin Olga Benario war das Vorbild für die Skulptur Tragende (1957). Diese Skulptur wurde 1959 in Ravensbrück aufgestellt.
Originalbildunterschrift: Zentralbild Junge 15.4.65 DDR: Zum 20. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück. An der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück gedenken die Bürger der DDR und viele ausländische Gäste am 30. April dieses Jahres der 92.000 Frauen, Mütter und Kinder, die an dieser Stätte einen qualvollen Tod fanden. Hier verneigen wir uns vor den unsterblichen Helden des antifaschistischen Kampfes aus mehr als 20 Nationen, die für eine glückliche Zukunft aller Völker ihr Leben gaben. 132.000 Frauen und Kinder verschleppten die Hitlerfaschisten nach Ravensbrück, 92.000 erlebten den Tag der Befreiung nicht mehr. CC-BY-SA Von Bundesarchiv, Bild 183-D0415-0016–006
13 Figuren, die eigentlich mit der Tragenden kombiniert werden sollten (siehe auch Briefmarken), stehen seit 1985 zum Gedenken an die jüdischen Opfer des Faschismus am Alten Jüdischen Friedhof in Berlin-Mitte.
Denkmal „Jüdische Opfer des Faschismus“ von Will Lammert am Alten Jüdischen Friedhof, Berlin-Mitte, 1956/85 Wikimedia, CC-BY-SA Jochen Teufel.
Briefmarken
Es gab Reihe von Sondermarken, die in der Zeit von 1955–1964 herausgegeben wurden. Mit einem Aufschlag konnten sich die KäuferInnen am Aufbau und der Erhaltung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück beteiligen. Die gesamten Marken inklusive Auflagenhöhe sind ausführlich in Wikipedia dokumentiert: Aufbau und Erhaltung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten. Laut dem Wikipediartikel zur Gedenkstätte Sachsenhausen sind allein 1955 2 Millionen Mark auf diese Weise gespendet worden. Zum Vergleich: Das Durchschnittseinkommen (brutto) betrug damals 432 Mark (Statistisches Jahrbuch der DDR, 1990, S. 52).
Briefmarkenserie zu KZsDiese Briefmarke (Auflage 1.500.000) zeigt die Plastik Tragende von Will Lammert. Die Tragende ist nach der Jüdin Olga Benario modelliert. Die Figuren am Fuße der Säule wurden später zum Gedenken an die jüdischen Opfer des Faschismus am Alten Jüdischen Friedhof in Berlin Mitte aufgestellt.Herbert Baum-Briefmarke, 1961, Auflage 2.000.000, 5 Pfennig wurden für den Aufbau von Gedenkstätten gespendet
1963 wurde eine Briefmarke „Niemals wieder Kristallnacht“ in einer Auflage von 5 Millionen Stück herausgegeben.
Briefmarke von 1963 zum 25 Jahrestag der Reichsprogromnacht, Auflage 5 MioBriefmarke 1988 zum 50 Jahrestag der Reichsprogromnacht, Auflage 3,5 Mio
Straßen, Schulen, Plätze
Im Abschnitt über Schulen wurde schon erwähnt, dass es Schulen gab, die nach Juden benannt waren, die in KZs ermordet wurden. Nach Herbert Baum wurde auch eine Straße benannt: Eine Gedenktafel für die Getöteten der Herbert-Baum-Gruppe und das Grab Baums befinden sich auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee. Das Grab ist als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet. Die auf das Hauptportal des Friedhofs führende Straße heißt seit 1951 Herbert-Baum-Straße.
Rudi Arndt (in Buchenwald ermordet) ist ein weiterer Jude, nach dem viele Straßen, Plätze, Theater und Jugednherbergen benannt wurden. Zu den Details siehe Ehrungen in seinem Wikipediaeintrag. Wie auch Herbert Baum war Rudi Arndt im kommunistischen Widerstand, aber bei einer Auseinadersetzung mit seiner Person stieß man auch auf seine Religionszugehörigkeit:
1938 wurde er als „politischer Jude“ ins KZ Buchenwald deportiert. Nach seiner Ankunft war Arndt zunächst kurze Zeit in einem Baukommando tätig. 1938/1939 arbeitete er als Krankenpfleger für jüdische Häftlinge und war Blockältester im Block 22. Er setzte sich sehr für die jüdischen Patienten ein, was der SS außerordentlich missfiel. Nach einer Denunziation durch kriminelle Häftlinge im Steinbruch wurde er von der SS vorgeblich „auf der Flucht“ erschossen.
Wikipediaeintrag von Rudi Arndt, 03.03.2020
Nach Olga Benario waren Schulen, Kindergaärten und Straßen benannt.
Ich selbst bin in der Georg-Benjamin-Straße aufgewachsen, einer Straße, die 1974 in einem Neubaugebiet nach dem jüdischen Arzt und Widerstandskämpfer Georg Benjamin benannt wurde. Zu weiteren Ehrungen siehe Wikipedia. In Wikipedia steht übrigens auch, dass eine im Sommer 1951 am Weddinger Nettelbeckplatz aufgestellte Gedenktafel für „Hingerichtete und ermordete Weddinger Antifaschisten“, die Georg Benjamins Namen enthielt, von Unbekannten recht schnell entfernt wurde.
Weimartage der FDJ und Besuche im KZ Buchenwald
Die FDJ hat jedes Jahr in Weimar ein großes dreitägiges Festival veranstaltet. Theater, Musik, Museen. Man konnte für 21 Mark alles besuchen, bekam Essen und konnte in Weimarer Schulen schlafen. Auf Probebühnen und den Hauptbühnen fanden gleichzeitig mehrere Vorstellungen pro Tag statt. (Merkwürdig, dass man dazu im Netz bis auf eine Seite des Nationaltheaters in Weimar und das Archiv des Neuen Deutschlands nichts, aber auch gar nichts, finden kann.)
Obligatorisch mit im Programm war immer ein Besuch im KZ Buchenwald inklusive Film in der Gedenkstätte. Gezeigt wurde Filmmaterial, das die Amerikaner nach der Befreiung angefertigt haben. Leichenberge, fast verhungerte KZ-Insassen und die Weimarer Bevölkerung, die auf Anordnung der Amerikaner durch das Lager geführt wurde, um zu sehen, was dort passiert war. Der Spiegel hat ein Interview mit einer Frau, die als 17jährige Teil dieses KZ-Besuches war. Ich war sieben Mal bei den Weimartagen. Ich sage immer, dass die Weimartage das einzige Gute sind, was die FDJ zustande gebracht hat. Sechs Mal war ich mit im KZ. Einmal habe ich geschwänzt. Man möge es mir verzeihen. Ich kannte da schon jedes Detail. Ich habe die Öfen gesehen, die Schrumpfköpfe, die Lampenschirme aus Menschenhaut.5
Schrumpfköpfe und Menschenhaut mit Tätowierungen im KZ Buchenwald
Obligatorische Besuche in KZs
Meine Mutter hat einen großen Teil ihrer Jugend in Jena verbracht. Im Rahmen ihrer Jugendweihe war sie Ende der 50er Jahre auch im KZ Buchenwald. Der Besuch eines Konzentrationslagers war für alle Schülerinnen und Schüler in der DDR obligatorisch. (Siehe Wikipedia-Artikel zu Jugendstunden, die in Vorbereitung auf die Jugendweihe stattfanden.)
Die Berliner und Brandenburger Schüler waren alle im KZ Sachsenhausen. Ich war dort wahrscheinlich in der 8ten Klasse. Es gab (und gibt) in Sachsenhausen Ausstellungsteile, die auf das Leid der jüdischen Bürger hingewiesen haben: Die Baracke 38 war das „Museum des Widerstandskampfes und der Leiden jüdischer Bürger“.
Ich war außerdem noch in Lublin-Maidanek (1984 bei einer Reise im Rahmen einer Schulpartnerschaft in Polen). Ich habe die Baracken mit den deutschen Aufschriften gesehen. Ich habe die Haare und die Schuhe gesehen. Baracken voll damit.
Schuhe von Ermordeten, Majdanek, Polen, August 1944 (Quelle)
Auch Zeitzeugen spielten im Osten eine Rolle. Wie schon gesagt, wurden sie z.B. in Schulen eingeladen. Meine Mutter berichtete mir von einem Konzertabend 1959 im Volkshaus Jena, bei dem die Pianistin ihre eintätowierte KZ-Nummer gezeigt hat. Sie hat nur überlebt, weil sie für die Nazis gespielt hat.
Holocaust im West-Fernsehen
Die amerikanische Mini-Serie Holocaust wurde im Jahr 1979 im West-Fernsehen gezeigt (da sich einige Sendeanstalten der ARD weigerten, die Serie im Hauptprogramm zu zeigen, kam sie dann in den dritten Programmen). Da bis auf die Sachsen im Tal der Ahnungslosen alle DDR-Bürger West-Programme empfangen konnten, dürften einige die Serie gesehen haben. Nein, jetzt bitte keinen Zusammenhang zwischen schlechtem Fernsehempfang und Wahl von Nazi-Parteien herstellen.
Der Begriff Holocaust wurde durch diesen Film sowohl im Osten als auch im Westen bekannt. Im Osten wurde sonst von Völkermord gesprochen.
Wiederaufbau der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin
Diskussion
Das war der Osten. Im Osten kam man als Schüler nicht am Holocaust vorbei. Ich war übrigens auch bei Führungen in einer jüdischen Synagoge in Berlin. Ich wusste, dass es in Ost-Berlin noch zweihundert in der jüdischen Gemeinde organisierte Juden gab. Und ich wusste auch, warum das so wenige waren.
Zum Vergleich möchte ich von einem persönlichen Erlebnis in einer süddeutschen Stadt Ende der 90er Jahre berichten. Wir durften bei Nachbarn von Bekannten übernachten. Dort hing an der Wand ein Bild des Vaters in Uniform. Waffen-SS. Mit Totenkopfsymbol. Eine ganz normale nette Nachbarin (Lehrerin), die andere in ihrer Wohnung wohnen lässt. Kein normaler Mensch hätte sich im Osten seinen Vater in SS-Uniform ins Wohnzimmer gehängt. So etwas hätte es im Osten nie gegeben. Nie. [Inzwischen ist mir noch ein weiterer solcher Fall bekannt.]
Kahane schreibt weiter: „Dies [die Auseinandersetzung mit dem Holocaust] hätte zu Fragen nach Menschenrechten oder Minderheitenschutz geführt, die nur bei Strafe des Untergangs der DDR zu beantworten gewesen wären.“ Das ist einigermaßen bizarr, denn damit relativiert sie den Holocaust. In der DDR wäre niemand im Traum darauf gekommen so ein bisschen Redefreiheit und Publikationsfreiheit, Reisefreiheit mit der systematischen Ermordung von Millionen Menschen zu vergleichen. Solche Einschränkungen zu erklären, war für die Staatsmacht kein Problem. Sie wurden ja sogar auch damit erklärt, dass verhindert werden sollte, dass sich so etwas wiederholt. Damit das ganz klar ist: Ich war 1989 auf der Straße für Redefreiheit, Reisefreiheit und nicht als Stasi-Mitarbeiter. Ich verstehe nicht, warum Kahane schreibt, was sie schreibt. Es entspricht jedenfalls nicht der Wahrheit.
Auch legt ihr Satz nahe, dass es in der DDR keine Diskussionen über Menschenrechte gegeben hätte. Es gab sehr wohl Menschen, die sich mit Fragen der Menschenrechte beschäftigt haben. Die Initiative für Frieden und Menschenrechte wurde 1986 offiziell gegründet. Vorher gab es Gruppen, meist unter dem Dach der Kirche organisiert aber nicht notwendigerweise religiös, die den Einsatz für Menschenrechte als ihr Hauptanliegen sahen. Dafür brauchte es keine Holocaust-Diskussion.
„Lügenpresse“ bzw. Pfuschpresse
Der Westen wundert sich, warum der Osten sich anders benimmt, als man das vielleicht erwarten würde. Ein Grund dafür sind solche Artikel in der Presse. Sieht man vom Neuen Deutschland ab, gibt es keine Ost-Presse mehr. Die West-Medien haben immer nur über den Osten geschrieben. Die Wessis haben über die Ossis geredet, nicht mit ihnen. Das beginnt sich nun gerade zu ändern. Es gibt tolle Artikel von Anja Maier, Simone Schmollack und Sabine am Orde in der taz6, gute Artikel im Spiegel, von Sabine Rennefanz in der Berliner Zeitung und auch die Zeit ist aktiv um Änderungen bemüht. Aber die oben zitierten Beiträge enthalten grobe Unwahrheiten und das macht die, über die geredet wird, wütend. Es verletzt sie, sie wenden sich ab und sind nicht mehr erreichbar. Ein Viertel der Menschen, die in diesem Land leben. Unglaublich, oder?
Es ist ein Armutszeugnis, dass die FAZ einen Artikel wie den von Geipel einfach so veröffentlicht. Wenn sie irgendwas über den Osten wüssten, wüssten sie eben auch, wie die Schulbildung aussah, was die Menschen gemacht und gedacht haben. Ich habe für das Schreiben dieses Artikels einen Sonntag gebraucht. Die Quellen sind im Netz verfügbar. Es gibt sogar ein Buch, das sich mit dem Holocaust im DDR-Unterricht auseinandersetzt. Wenn es der FAZ wichtig wäre, würden sie Menschen einstellen, die das nötige Wissen für entsprechende Diskussionen haben. So ist es einfach nur unterirdisch.
Wenn Ostdeutsche behaupten, der Holocaust wäre in der DDR nicht thematisiert worden, dann gibt es dafür zwei mögliche Gründe: Sie verfolgen politische/persönliche Ziele und lügen bewusst oder sie haben die Behandlung des Holocaust vergessen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.
Literatur
Bodo von Borries
Krauß, Matthias. 2007. Völkermord statt Holocaust. Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR. Leipzig: Anderbeck Verlag.
Krauß, Matthias. 2012. Völkermord statt Holocaust. Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR. Schkeuditz: Schkeuditzer Buchverlag. Überarbeitete Version von Krauß (2007).
Danksagung
Ich habe nach der Erstellung einer Entwurfsfassung dieses Textes mit vielen Menschen gesprochen bzw. Mail ausgetauscht und den Text dann entsprechend angepasst. Dafür danke ich ihnen. Besonderer Dank geht an XY für den Hinweis, mal nach Plastiken und Briefmarken zu suchen. Über die Wikipediaseite zu den Briefmarken bin ich dann auch auf die Plastiken von Will Lambert gestoßen. Ich danke der Willi-Bredel-Gesellschaft für prompte Auskunft zu Erscheinungsdaten der Frühlingssonate.
Johann Niemann, der Lagerkommandant des Vernichtungslagers Sobibor, in dem 180.000 Juden ermordet wurden steht auf dem Kriegerdenkmal im ostfriesischen Völlen mit der Inschrift „Unseren gefallenen Helden“. taz, 26.02.2020
Im ersten Post in diesem Blog geht es um einen Witz. Ich habe ihn zuerst von einem lieben Freund aus Schwaben gehört und fand ihn damals noch ein bisschen lustig.
Frage: „Was macht die Mutter in Brandenburg, wenn sie ins Kinderzimmer geht?“
Antwort: „Mal nach dem Rechten sehn.“
Toller Witz, tolles Klischee. Warum gibt es diesen Witz nicht mit Dortmund? Die taz berichtete über den Kiez Dorstfeld in Dortmund, in dem Hardcore-Nazis wohnen, demonstrieren, Menschen verprügeln. An den Häusern gibt es Nazi-Parolen. Der Vermieter weigert sich, diese entfernen zu lassen. Also:
Frage: „Was macht die Mutter, wenn sie ihren Sohn in Dortmund besucht?”
Antwort: „Mal nach dem Rechten sehn.“
Nicht lustig? In Dortmund gibt es auch noch Menschen, die keine Nazis sind? Echt? Oh, Entschuldigung, da war meine Wahrnehmung wohl etwas einseitig. Immer, wenn ich in der taz was über Dortmund lese, geht es um soziale Probleme im Ruhrgebiet und über die Nazis dort.
Meine Kinder erzählen die Witze, die wir uns als Ostfriesenwitze erzählt haben mit Dummsdorf statt mit Ostfriesland. Ich weiß nicht, ob die Ostfriesen unter den Witzen gelitten haben, aber es ist irgendwie besser mit Dummsdorf. Leider funktioniert der Witz mit Dummsdorf nicht so gut.1 Man sollte ihn wohl deshalb einfach nicht mehr machen.
Vorsicht: Post kann Spuren von Ironie enthalten.