Dieses Dokument von Marianne Meyer-Krahmer beschreibt die letzten Stunden in Sippenhaft im Konzentrationslager und ihre Erfahrungen in der Zeit danach. Marianne Meyer-Krahmer war eins der Kinder von Carl Goerdeler, Oberbürgermeister von Leipzig. Gördeler war am Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt und wurde hingerichtet. Frau Meyer-Krahmer hat dieses Dokument Bekannten von mir gegeben und es ist schließlich zu mir gelangt. Ich denke, sie hat sich die Mühe gemacht, diese Erinnerungen aufzuschreiben, damit sie verbreitet werden und die Veröffentlichung hier ist in ihrem Sinne. Stefan Müller, 27.09.2023
Es gibt einen ähnlichen Beitrag bei der Stiftung 20. Juli. Dort finden sich weitere Details aus der Zeit vor dem Attentat und von der Verhaftung und noch ein Zitat von Gördeler zu Plänen für ein Nachkriegseuropa und zum Thema Optimismus. Hier gibt es Details zum Unterricht (Goethe gegen ein Nazi-Männlichkeitsbild). 04.10.2023
Als Angehörige von Carl Goerdeler waren wir unmittelbar nach dem 20. Juli 1944 in Sippenhaft genommen worden: zunächst in Strafgefängnissen, dann in verschiedenen Konzentrationslagern in Haft gehalten, die Kinder meines älteren Bruders, (neun Monate und drei Jahre alt), ihrer Mutter weggenommen, an einen unbekannten Ort gebracht. – Ich selbst war damals 24 Jahre alt, also erwachsen und bewußt genug, um mich mit dem Kampf meines Vaters gegen Hitler voll identifizieren zu können. Im Sinne der Gestapo haben wir, meine Mutter und meine drei überlebenden Geschwister, uns nie als unschuldige Opfer gefühlt.
Wir waren zunächst im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. Als die Russen sich im Januar 1945 näherten, wurden wir nach Buchenwald transportiert. Als sich dort die Amerikaner näherten, nach Dachau. Und als sie im April in Bayern einzudringen begannen, brachte man uns in die Dolomiten.
Dachau – Abtransport
Wir wurden nicht wie andere KZ-Häftlinge zur Arbeit gezwungen, hatten es dadurch physisch zweifellos leichter. Durch die streng mit vier bewaffneten Wachmännern besetzten Ecktürme unseres Zaunes um die Sonderbaracke waren wir jedoch völlig von jeder menschlich mit uns fühlenden Umwelt abgeschlossen; keine Nachricht von außen über die Kinder, unsere alte Großmutter, den bedrohten Onkel Fritz, von dessen Hinrichtung wir erst nach unserer Befreiung erfahren sollten. Ihn und meinen Vater sollte während der monatelangen Haft nie ein Zeichen der ihnen liebsten Menschen erreichen.
Jede, auch nur zaghafte, Frage an die Wachmannschaften unterließen wir bald, denn nur ein zynisches Achselzucken wäre die Antwort gewesen. Sie hatte uns schon zu oft in neue Ängste gestürzt. Auch das barsche Wort „Abtransport“ kannten wir nur zu gut, um noch nach dem Wohin oder etwa unserer ferneren Zukunft zu fragen. Wir waren rechtlos und vogelfrei.
Heute, nachdem wir so viel von dem erlittenen Leid der geschundenen und in den Tod getriebenen Häftlinge und der Todesmaschine von Auschwitz wissen, stellen sich unsere Ängste und Demütigungen anders, bescheidener dar. Aber mitten in der Ausgesetztheit unserer damaligen Existenz vermochten wir nicht zu relativieren.
Am 30. April 1945, laut war die amerikanische Artillerie zu hören, wurden wir aus dem
Konzentrationslager Dachau abtransportiert. – Unvergeßlich hat sich mir dieser Abend eingeprägt. Heute erscheint er mir stellvertretend für alle Not jener Tage.
Diesmal waren die Fenster des Busses nicht verhängt und die Wachmannschaften spürbar nervös. – Wir fuhren in den sinkenden Tag. Die schräg einfallende Sonne beleuchtete mit scharfen Strahlen eine gespenstische Szene: Wir fuhren eine Stunde lang, kilometerlang, vorbei an marschierenden, nein, sich hinschleppenden Häftlingskolonnen. Zahllos schienen diese abgemagerten Elendsgestalten, zu Nummern entwürdigt mit ihren kahl geschorenen Köpfen und in der graugestreiften Häftlingskleidung. Bis in den Bus hörten wir den harten Tritt ihrer Holzschuhe, halb schlurfend, halb marschierend.
Ein grausamer Widersinn lag in dem Bild: Mitten im Chaos des Zusammenbruchs und der Auflösung waren sie noch unter dem Kommando ihrer Bewacher in Reihen und Blocks organisiert und geordnet. Am Straßenrand lagen tote Häftlinge, erschossen oder vor Schwäche umgekommen. – Wohin ging der Weg für die anderen?
War es ein Marsch in die Freiheit? Oder — im Angesicht der Freiheit — zum Erschießen: in den Tod? Todesfurcht und Hoffnung auf Freiheit hielten auch uns in äußerster Spannung. Und diese Spannung wird die Seelen vieler Menschen damals fast zerrissen haben. Auf der Flucht, im sinnlosen Kampf, in der Angst der Bombennächte.
Unser Bus fuhr diesmal in einem Konvoi mit drei anderen, deren Insassen uns unbekannt waren. (Nach der Befreiung erfuhren wir, daß es prominente Häftlinge wie Niemöller, General Halder, der Prinz von Hessen u.a. waren.) Ein Führungswagen mit SS-Offizieren war an der Spitze des Konvois. So sicher wir uns für den Augenblick in unserem Bus fühlen konnten, so gab es die Sicherheit und Gewißheit, am Leben zu sein, nur eben für den Augenblick – wie so oft in dieser Haftzeit.
Niederndorf – Befreiung
Da wir von Beginn unserer Haft an von jeder verläßlichen Nachricht abgeschnitten waren, wußten wir nicht, wie nahe das Kriegsende schon war. Es mag Mitternacht gewesen sein, als uns Stimmengewirr aus dem Dahindämmern aufrüttelte: Lichtstrahlen großer Stablampen fuhren über unsere Gesichter. Soldaten waren zu erkennen. Verdutzt, fast fröhlich riefen sie zu uns herein: „Was machen hier Frauen und Kinder? Wollt ihr etwa noch über den Paß nach Süden? Von da kommen wir doch! Zurück! Es geht zurück in die Heimat.“ – Es waren deutsche Soldaten, die von der italienischen Front über den Brenner zurückfluteten.
Die Rufe verstummten schnell, als die Soldaten unsere strenge Bewachung wahrnahmen. Für uns war es aber die erste Begegnung mit freien Menschen, wenn auch kein Zwiegespräch. (Wir hatten Sprechverbot.) Nun, wir wurden nicht in den Süden gefahren, sondern in scharfem Bogen nach Osten; wie wir später erfahren sollten, ins österreichische Pustertal. Es war schon Tag geworden, als unser Konvoi in einem Waldstück zum Stehen kam. Wir waren gewohnt, langes Warten hinzunehmen. Hatten uns die frischen Stimmen aus der Außenwelt da oben auf dem Brennerpaß nicht Mut gemacht, eben nicht mehr alles hinzunehmen? Jedenfalls bestürmten wir die beiden jungen volksdeutschen Wachmänner, uns wenigstens kurz einmal herauszulassen. Sie fühlten sich wohl schon recht hilflos uns gegenüber, verstanden sie doch kaum ihren Wachtbefehl bei diesen Frauen und jungen Menschen, die ihnen völlig ungefährlich erschienen sein müssen. So gaben sie nach. Zunächst suchte sich jeder von uns nur ganz rasch ein privates Fleckchen. Doch als wir uns wieder zum Einsteigen versammelt hatten, wurden wir plötzlich widerspenstig. Irgendjemand hatte entdeckt, daß der SS-Führungswagen fehlte. Auch aus den anderen Wagen war man ausgestiegen; doch wir zögerten, Verbindung aufzunehmen, nun doch noch im Gehorsam gegenüber dem Verbot der Wachmänner. Nur wollten wir nicht sofort wieder in den Bus. Wir „maulten“, wir hätten Hunger, hätten seit unserer Abfahrt aus Dachau nichts mehr zu essen gehabt. Unser Eigen-Sinn wurde desto heftiger, je zögerlicher und verlegener die Wachleute antworteten.
Heute – im Rückblick – würde ich es eine Etappe auf dem Weg zur Stunde Null nennen. daß sich spontan ein kleiner Trupp von etwa fünfzehn jungen Häftlingen zusammenfand und trotzig erklärte, wir würden uns nun selbst um etwas zu essen kümmern. Wir konnten sehen, daß die Straße am Ende aus dem Waldstück hinausführte; dorthin wollten wir gehen. Wir brachen auf, kein Wachmann hob das Gewehr. Diesmal hinderte uns niemand, fortzugehen, aus eigenem Willen, mit eigenem Ziel. Das Finale dieser Etappe ist rasch erzählt: nach etwa einer Viertelstunde schon begrüßte uns das Ortsschild „Niederndorf“. Jetzt waren wir nicht mehr – wie bisher – im Irgendwo; jetzt kannten wir sogar den Ort, in dem wir waren. Nach all den Geheimniskrämereien der Haftmonate gab es für uns wieder ein Zeichen selbst erfahrener Außenwelt.
Rechts, gleich am Eingang des Dorfes, ein Wirtshaus. Wir öffnen die Tür zum Gastzimmer – da waren sie schon alle versammelt, „unsere“ SS-Offiziere. „Wir wollen etwas zu essen haben!“ Trotzig und doch noch im Bewußtsein der Abhängigkeit begehrten wir auf. Erstaunen. Bestürzung, beinahe Entsetzen und zugleich eine merkwürdige Gefügigkeit zeichnete die Gesichter unserer obersten Bewacher. Die Busse wurden in das Dorf geholt, Brote und Getränke verteilt. In der Schule erhielten wir Quartier. Nur haben wir dort keine Nacht verbracht: Als es Abend wurde, kam mein ältester Bruder, Ulrich, leise eine Hintertreppe heraufgeschlichen, Brote unter dem Mantel versteckt, und flüsterte, wir sollten ihm rasch folgen, es gäbe einen unbewachten Hinterausgang. In kleinen Gruppen fanden wir Unterkommen bei Nachbarn, die erstaunlich spontan bereit waren, uns aufzunehmen. Anders als uns muß ihnen das nahe Kriegsende bewußt gewesen sein, und sie waren
nicht mehr bereit, sich auf die Seite der SS zu stellen.
Eigentümlich undramatisch verlief so das Ende unserer Haftzeit. Doch markierte dieses unvermutete Ende keineswegs die „Stunde Null“. Wir waren zwar „frei“, unabhängig aber noch nicht; unsere Situation, rechtlich, praktisch, war völlig undurchsichtig, Zukunft, nah oder fern, unerkennbar. Auf unerklärliche Weise waren die SS-Bewacher am nächsten Morgen verschwunden. Oberst Bonin, der aus Dachau zu uns gestoßen war, bewirkte, daß wir unter die Obhut deutscher Soldaten gestellt wurden. Nicht sofort begriffen wir, daß wir noch Schutz brauchten: der Krieg war an diesem 4. Mai nicht endgültig beendet, das Dorf weitgehend in der Hand von Partisanen, unsere Versorgung keineswegs gesichert. So fuhren uns die Soldaten in ein nahegelegenes, von Truppen gerade geräumtes Hotel am Pragser Wildsee.
Ein paar Tage später erlebten wir die Kapitulation dieser deutschen Wehrmachtseinheit. Die Erinnerung hat sich mir eingeprägt wie ein Standbild: Im Hof uneres Hotels standen die Soldaten im Kreis um die von ihnen in der Mitte aufgeschichteten Gewehre. Nun waren auch sie offensichtlich wehrlos – eine Wehrlosigkeit hilfsbereiter Männer, die uns trotz allem rührte –, und die Amerikaner übernahmen das Kommando. Wir, vordem Häftlinge, vielleicht auch Geiseln, waren unter neuer Aufsicht.
Warteschleife: Capri, Paris, Frankfurt
Unbeschwert waren diese jungen Amerikaner, die nun unsere Betreuer waren! Sie haben wohl gewußt, daß wir dem KZ entkommen waren, verwöhnten uns, schafften wärmere Kleidung herbei, sorgten für reichliche und allerbeste Kost. Ab und an ruderte uns ein freundlicher GI über den Wildsee … Das Glück , freundliche, arglose Menschen um uns zu haben, uns frei bewegen zu können, lockerte die eisernen Reifen, die sich nach vielen Ängsten um unsere Herzen gezogen hatten. Keine Wachtürme, keine Zäune – wir waren wirklich frei. Glücklichsein als schwereloses Gefühl, das wir mit der Vorstellung von „Befreiung“ verbinden, aber hat sich nicht gleich einstellen können. Eher eine Benommenheit, in der unsere Freude sich nur zaghaft vorwagte. Fast brutal überfiel uns die Gewißheit, daß mein Vater und sein Bruder Fritz nicht überlebt hatten – entgegen unseren geheimsten Hoffnungen. Das Leben war nun ohne sie zu bestehen, und es war ein Leben unter dem Vorzeichen gescheiterter Hoffnungen.
Nach zwei Wochen wurde uns – gewohnt freundlich – mitgeteilt, daß wir noch nicht nach Hause kämen, sondern „in die Nähe von Neapel“. Wieder war es schwierig, Gründe oder Zusammenhänge zu verstehen, die über unser Dasein entschieden; wenn wir auch spürten, daß die Amerikaner uns nicht wissentlich quälen wollten. Es verlautete, wir sollten befragt werden, man wolle Näheres über die Konzentrationslager erfahren. Die buntgemischte Gesellschaft, zu der sich unser Gefangenenkorps seit Dachau vergrößert hatte, mußte ja Interesse wecken: ein englischer Oberst vom Secret Service, Mitglieder der Horthy-Familie, Schuschnigg, General Halder und Pastor Niemöller. Wir selbst waren aber nicht im geringsten neugierig, wir wollten nur an den Ort, an den wir wirklich gehörten. In Italiens Süden kämen wir – mit welcher Vorfreude würde ich heute die Botschaft hören! Damals machte uns die Nachricht nur traurig und auch zornig. Capri, die Trauminsel, wieder nur ein Asyl.
Auch die abenteuerliche Fahrt in den amerikanischen Jeeps bergab in die Geröllfelder der Po-Ebene konnte uns nicht fesseln; der Generalbaß brummte nur, „es geht immer weiter weg von zuhaus.“ Dann tat sich wie ein Theaterprospekt die Schönheit dieser Insel vor uns auf. Die Amerikaner hatten uns an einen ihrer schönsten Flecken gebracht, nach Anacapri, der Spitze der damals stillen Insel. Bewundernd sahen wir abends die dunklen Konturen der Bergküste, den ungewohnt hellen Sternenhimmel; die bunt flackernden Positionslichter der Fischerboote grüßten zu uns herauf. Der metallene Glanz des Meeres schimmerte besänftigend im Dunkel der Nacht.
Der Tag bescherte unschuldige Urlaubsfreuden. Praktisch und zupackend, wie Amerikaner nun einmal sind, hatten unsere Befreier binnen 24 Stunden Bikinis aus Armee-Handtüchern nähen lassen und ließen es sich nicht nehmen, uns im Jeep ans Meer zu chauffieren. Freundliche Gastgeber auch die italienischen Bauern, die uns geradezu einluden, in ihre Kirschbäume zu klettern und uns gütlich zu tun. Abends aber, wenn wir vergeblich Schlaf suchten und unsere Gedanken sich selbständig machten konnten der Frohsinn, das unbeschwerte Gelächter aus dem Innenhof des Hotels zum Disakkord werden. Unsere enge, letztlich erzwungene Schicksalsgemeinschaft bekam Risse. Ganz zu Recht freuten sich viele ihrer Freiheit, der Aussicht auf das Wiedersehen mit den Ihren. Wenige aber mußten sich auf die Endgültigkeit eines Verlustes vorbereiten, auf eine Zukunft, die im Schatten lag.
Fast vier Wochen dauerte es, bis wir die ersehnte Nachricht erhielten, wir „Sippenhäftlinge“ würden nach Deutschland geflogen. – Von unserem Gedächtnis erwarten wir, daß es Fakten speichert, die wir abgleichen und überprüfen können; Erinnerung als Vergegenwärtigung aber hat ihre eigenen Gesetze: Sie sammelt Erlebnisse und Eindrücke, andere überläßt sie dem Vergessen. So habe ich keine Einzelheiten unseres Aufbruchs und Rückflugs von Capri gespeichert, wohl aber die Erinnerung an eine kurze, wenngleich wesentliche Begegnung in Paris. Es war gegen Abend; ich stand am Ende eines Ganges vor meinem Hotelzimmer und schaute durch ein großes Fenster auf einen Platz, der schon im Halbdunkel lag. Ein britischer Offizier trat neben mich, wohl, um auch hinauszuschauen. „Bonjour, Madame“ – die Stimme klang höflich, doch etwas verhalten. Ich wandte mich ihm zu und erkannte an einem Abzeichen, er müsse zur polnischen Division innerhalb der britischen Truppen gehören. Spontan beglückwünschte ich ihn: „Nun ist auch Ihr Land frei!“ „Sie irren sich, Madame“, kam es zurück, „Jetzt herrschen bei uns die Bolschewisten.“ Es klang tieftraurig und resigniert und signalisierte mir, einem Menetekel gleich, daß Kriegsende und Freiheit noch lange nicht miteinander identisch waren.
Am folgenden Vormittag landeten wir in Frankfurt am Main und wurden mit der lang ersehnten Nachricht begrüßt: „Tomorrow we shall bring everybody home.“ Seltsam, wie Stimmungen umkippen, welche Macht Gefühle haben können! Als die ersehnte Heimkehr greifbar nahe war. spürten wir plötzlich den Schmerz, gar keinen Ort zu wissen, der H e i m a t war. – Heimat der Familie war und blieb Ostpreußen, seelischer Ort das geliebte großelterliche Haus am Meer, mit dem wir alles Glück unserer behüteten Kinder- und Jugendzeit verbanden. Ostpreußen aber war längst an die Sowjetunion verloren. – Leipzig hätte Wahlheimat sein können, die Stadt unserer Schul- und Studienjahre, der wir viel verdankten. Aber das Haus in er ehemaligen Rathenaustraße, das unsere Eltern 1930 gemietet hatten, war jetzt merkwürdig beziehungslos für uns: All unser Hab und Gut war durch das Volksgerichtshofsurteil gegen meinen Vater weggenommen und abtransportiert war
uns durch das Volksgerichtsurteil gegen meinen V~ter weggenommen und abtransportiert worden. Es gab dort also kein gemütliches Wohnzimmer mehr mit den alten Mahagoni-Möbeln, keinen runden Tisch, an dem wir fröhlich mit dem Vater Karten gespielt hatten, keine vertrauten „Kinder“-Zimmer. Wir würden uns mit dem zufrieden geben müssen, was der Auktionator noch nicht versteigert hatte. Auch die Diele zum Empfang hatte ihren Sinn verloren. Das Verhältnis unseres Elternhauses zu den meisten seiner ursprünglichen Gäste hatte sich schon in der NS-Zeit durch Anpassung und Opportunismus der führenden Schichten aufzulösen begonnen. Selbst in der Notzeit hatte es nur eine Handvoll treuer Freunde gegeben. Aber würden wir sie überhaupt vorfinden?
Ein amerikanischer Offizier gesellte sich zu unserer kleinen Familiengruppe. „Vielleicht wissen Sie noch nicht, daß wir Amerikaner nur noch kurze Zeit in Leipzig sind. Wir können Sie dorthin bringen, aber Sie müssen damit rechnen, daß uns Ende Juni die sowjetische Armee in Leipzig ablösen wird.“ – So zart und leicht verletzlich meine Mutter war, in schwierigen Situationen konnte sie bewundernswert gelassen sein und ihren klaren Verstand bewahren: Nur war sie bisher gewohnt gewesen, wichtige Entscheidungen zunächst mit meinem Vater zu überlegen. Jetzt übernahm sie ganz selbstverständlich und ruhig die Verantwortung für die Familie: Auf jeden Fall würde sie selbst nach Leipzig fahren; dort warteten auf sie ihre alte Mutter, Juttas Schwestern und vielleicht auch mein Bruder Reinhard (er hatte Dachau mit vier anderen jungen Sippenhäftlingen zu Fuß verlassen müssen). Darüberhinaus war meine Mutter fest entschlossen, sich von dort aus für die Rehabilitierung ihres Mannes und unsere Rechte einzusetzen. Uns drei jungen „Mädels“ aber riet sie, nach Süddeutschland auf „den Hof“ zu gehen, den mein Vater als Refugium für die Familie erworben hatte. „Unter den Kommunisten werdet ihr keine Chance haben, euch ein neues Leben aufzubauen!“ (Wie recht meine Mutter mit ihrer Voraussage hatte, zeigte sich bereits ein halbes Jahr später, als mein Bruder Remhard auf Anraten eines alten Sozialdemokraten Leipzig verließ, um in Heidelberg sein Jurastudium wieder aufzunehmen.) –
Nach den Monaten der Haft und des tröstlichen Zusammenseins mußten wir uns nun unvermittelt trennen, eine wenig überschaubare Zukunft vor Augen. Meine Schwägerin Irma wollte zu ihrer Mutter in Hamburg, um von dort aus ihre beiden von der Gestapo nach Bad Sachsa verschleppten kleinen Kinder heimzuholen. Mein ältester Bruder Ulrich, schon fertiger Jurist, sollte uns für ein paar Tage nach Süddeutschland begleiten, um dort unsere Wohn- und Eigentumsrechte durchzusetzen. Für den Augenblick waren wir ja arm wie Kirchenmäuse und mußten sehen, irgendwie und irgendwo zu existieren.
Die „Stunde Null“ könnte nur eine Kurzformel für Geschichtsbücher sein. Weder das kollektive noch das individuelle Bewußtsein kennen diese Zäsur. Wohl mag es Tage geben, an denen wir eine neue Seite im Buch unseres Lebens aufschlagen, wenn wir an einem neuen Ort, mit einem neuen Berufsabschnitt beginnen. Immer aber begleitet uns unsere Vergangenheit. Sie begleitet uns nicht wie ein sanft dahinfließender Strom, naturgegeben, unabhängig von unserem Dasein. Oft kann sie sperrig sein, diese Vergangenheit, dem naiven Sich-Erinnern widerstehen. Erinnerungen an Unwiederholbares können plötzlich aufsteigen, Sehnsüchte nach Unwiederbringlichem wecken. Die Furcht vor der Wiederkehr erlebter Schrecken aber hat in meinem Gedächtnis auch Luftlöcher des Vergessens entstehen lassen. Dies möge der Leser bedenken, der mit mir die Länge meines Weges zur „Stunde Null“ durchmißt, in diesen Monaten noch immer bedrohter Freude an der Freiheit.
Zabergäu — Sackgasse
Wie froh waren wir, daß unser großer Bruder bei uns war, als wir zwei Tage später dem Verwalter und seiner Frau gegenüberstanden! Zuerst glaubten sie wohl an Geister, als Jutta und Nina leibhaftig vor ihnen standen; war doch kein Jahr vergangen, daß die Gestapo die beiden mit meiner Schwägerin auf dem Hof verhaftet und weggeschafft hatte. Dann aber wechselte ihre Haltung zwischen ängstlicher Unsicherheit und Unwillen. Schnell aber wich die bestürzte Fassungslosigkeit widerwilliger Abwehr, ja Feindseligkeit. Nur dem energischen Auftreten meines Bruders verdankten wir den Einlaß in das große Haus, in dem über der Verwalter-Wohnung dre Räume für unsere Familie bereitstanden. Wir sollten nur ja keine Ansprüche an Essensvorräte stellen. Die seien sämtlich von den einrückenden Franzosen beschlagnahmt worden. Man habe ja mit unserer Rückkehr nicht rechnen können, deshalb seien die Wohnräume noch in dem Zustand, wie die Gestapo sie hinterlassen habe. (Daß sie einige wertvolle Besitztümer meiner Schwägerin schon dem ihren einverleibt hatten, stellte mein Bruder wenig später fest.)
In diesem schwäbischen Dorf sollten wir nun endlich, nach zehn Monaten Gefängnis- und KZ-Haft, wieder unser eigenes, aber auch ein neues Alltagsleben beginnen. Für diesen Ort einer ersten Zuflucht hatte, wie erwähnt, noch mein Vater gesorgt. Mitten im Krieg hatte er ein kleines Anwesen in Süddeutschland gesucht; er wußte, Ostpreußen, unsere ursprüngliche Heimat, würde an die Sowjetunion abzutreten sein, und was von Leipzig nach den Bombenangriffen übrig bleiben würde, war im Ungewissen. – Nie hatte mein Vater daran gezweifelt, daß der Krieg, hatte er erst einmal begonnen, mit einer Katastrophe enden würde, wenn Hitler nicht aufgehalten würde. Ja, für ihn, den eher liberalen Christen, konnte ein gerechter Gott die Verbrechen des deutschen Volkes nicht ungestraft lassen. Großer Gnade würde es bedürfen, wenn die Völker Deutschland einmal seine Untaten vergeben würden. – Nahezu prophetisch hatte unser sonst so realistischer Vater vorausgesehen, wie flüchtende Menschen zu Fuß auf den Autobahnen dahinströmen würden; auf Autobahnen, die Hitler für angriffsstarke Panzer und Armeekolonnen in imperialer Hybris hatte ausbauen lassen.
Immer wieder hatte meinen Vater die Sorge verfolgt, uns in Deutschlands Zusammenbruch nicht mehr helfen und beschützen zu können; dann sollte uns im – weitgehend vom Krieg verschonten – Südwesten auf dem Lande ein Dach über dem Kopf gesichert sein und, wenn wir selbst tüchtig zupackten, die nötige Nahrung und Wärme. Was er nicht vorausgesehen hatte, waren das Mißtrauen und die Ablehnung, die uns an diesem kleinen Ort, an dem es noch viele Nazi-Freunde gab, begegnen würden. „Was hatten die Kinder eines Vaterlandsverräters bei ihnen zu suchen?“ Noch kein Jahr war seit dem mißglückten Attentat vergangen, diesem verzweifelten Versuch, den Krieg und die Verbrechen zu beenden; noch kein Jahr, daß auf den Kopf Carl Goerdelers eine Million Reichsmark ausgesetzt worden war, auf ihn, den führenden Gegner des Hitler-Regimes. Was wir als Befreiung erlebten, empfanden viele Menschen, die uns umgaben, als demütigende Niederlage. Und unter dem Schutz „der Feinde“ waren wir in das Dorf gekommen! Nun waren wir nicht mehr getragen von der Schicksalsgemeinschaft der politisch Verfemten des Konzentrationslagers. Nun begriffen wir, daß uns diese Gemeinschaft vor einer Außenwelt geschützt hatte, die mit dem Selbstopfer unseres Vaters und seiner Freunde nichts im Sinne hatte.
Nur eine junge Frau half uns, wenigstens einigermaßen Ordnung in das Tohuwabohu zu bringen, daß die Gestapo bei der Durchsuchung unserer drei Wohnräume hinterlassen hatte. Jedoch sollte sie die einzige bleiben, der wir etwas von der Trauer, unsrer Verstörtheit mitteilen konnten. Sollte dies die „Stunde Null“ gewesen sein, so war sie es – bitter noch heute – als ein Tiefpunkt unseres seelischen Lebens. Erwartet hatten wir, tröstend für erduldetes Leid empfangen zu werden, gehofft auf Dankbarkeit und Verehrung für den Vater und alle Menschen, die Deutschland hatten retten wollen.
Noch waren wir mit den eigenen Verletzungen beschäftigt, denke ich heute; sahen kaum, daß wir die fremden Großstädter im kleinen Bauerndorf waren; fremd mit unserem distanziert klingenden Hochdeutsch mitten im herzlich-derben Schwäbischen. Fremd und fern für die Dorfbewohner war die Welt der Konzentrationslager, aus der wir kamen. Von ihr zu sprechen, von ihr zu hören – das hätte wohl noch zu viele Schatten auf eine Zeit geworfen, deren Glanz man sich noch in der Erinnerung bewahren wollte. Aber wir steckten nicht nur in seelischen Nöten, wir hatten auch die schon geschilderten materiellen Sorgen. Alles, was wir besaßen, war an den Staat gefallen. (Es sollte noch fünf Jahre dauern, bis meine Mutter eine Pensionszahlung und meine Schwester Nina eine Waisenrente erhielt.) Zwar hatten die amerikanischen Behörden jeden von uns mit 150 Reichsmark ausgestattet, als sie uns in ein selbständiges Leben entließen: angesichts des Wertverfalls baren Geldes konnten wir davon unseren Lebensunterhalt aber nicht bestreiten, geschweige Hilfskräfte auf dem Bauernhof entlohnen.
Wie schwierig das Verhältnis zu dem Verwalterehepaar auch war, das mit unserer Rückkehr nicht gerechnet hatte, wir mußten mit ihnen auskommen – und voll mitarbeiten, wenn wir mitessen wollten. Aus den Pflichtzeiten im Arbeitsdienst und während der Semesterferien war ich mit StaIIarbeit vertraut und konnte sogar einigermaßen melken … Beim Füttern von Schweinen, Kühen und Hühnern und bei der vielen Feldarbeit mußten meine 16jährige Schwester Nina und die 17jährige Kusine Jutta hart mitarbeiten. Sicher stellten wir alle drei uns nicht allzu geschickt an, hatten auch nicht Kraft genug nach Monaten der Haft. So sanken wir abends immer todmüde ins Bett. Die große Beanspruchung, möchte man meinen, hätte uns gut tun sollen, helfen, lastendes Wissen zu vergessen. Aber wir sehnten uns gerade nach Besinnung, nach Stille, wollten wieder zu uns kommen, dem Geschehenen einen Sinn abgewinnen. Ja, wir wollten trauern dürfeh.
Stuttgart – Neubeginn
Als ein Lichtstrahl in die noch dunkle Welt des Kummers und der Plagen brach die erste Nachricht von meinem Verlobten. Er lebte, war gesund und hoffte, bald aus der britischen Gefangenschaft entlassen zu werden. So gab es wieder eine Zukunft; eine Zukunft mit einem vertrauten Menschen, der uns allen in der Haftzeit unermüdlich beigestanden, Sorgen und Trauer geteilt und Erleichterung verschafft hatte. Aber diese Zukunft schien noch endlos fern. –
Ein weiteres Tor zur Zukunft öffnete sich erst, als einer der alten Freunde meines Vaters uns auf dem Hof besuchte: Theodor Bäuerle, meinem Vater menschlich und politisch eng verbunden. Ich hatte ihn schon 1942 kennengelernt, als ich meine Eltern einmal nach Stuttgart begleitete. Bäuerle war ein Mensch, mit dem wir über alles sprechen konnten, was uns bedrückte; gemeinsame Trauer verband uns, sein warmherziger Trost besänftigte, sein Mitgefühl ließ uns ruhiger werden. Dann erzählte er von seiner Arbeit. Da er unbelastet war, hatte man ihn mit der Position als Ministerialdirektor in der Kultusverwaltung betraut. Er hatte den Auftrag, für ein baldige Öffnung der Schulen zu sorgen, die in den letzten Kriegsmonate geschlossen worden waren. Er berichtete, wie schwierig es sei, den Auftrag zu erfüllen. Ein Problem was der Mangel an Räumen: Etwa ein Drittel der Schulen war zerstört oder schwer beschädigt. Während die Raumnot noch annähernd überbrückbar schien, war jedoch der Fehlbestand an Lehrern einschneidend. Viele waren gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft. Für die übrigen – das waren vor allem Frauen – galten die strengen Auflagen der amerikanischen (bzw. französischen) Besatzungsverwaltung: Kein ehemaliges NSDAP-Mitglied durfte vorerst eingestellt werden. Überprüfungen waren im Laufe der Zeit vorzunehmen.
Bäuerle erzählte, er habe, um mehr Lehrer einstellen zu können, auf den großen Druck hingewiesen, dem vor allem die Beamten durch die Partei ausgesetzt gewesen seien, habe aber dafür noch kein Verständnis gefunden. Eher sollte der Unterricht ganz ausfallen, als daß die Besatzungsmächte auf ihr Planziel der Reeducation, insbesondere der Jugend, verzichtet hätten. Ich bedauerte, daß ich außer Promotion und erstem Staatsexamen pädagogisch weder Ausbildung noch Prüfung vorweisen könnte. „Wir können Sie trotzdem brauchen!“, war Vater Bäuerles ermutigende Antwort. Und wirklich, ein paar Tage später rief er an und sagte, am 1. Oktober könne ich in Stuttgart zu unterrichten anfangen!!
Wo aber sollten wir drei Mädchen wohnen? Denn daß wir zu dritt nach Stuttgart gehen würden, war ausgemachte Sache. Ich könnte verdienen, und unsere beiden Jüngsten, Jutta und Nina, konnten dort endlich wieder zur Schule gehen – seit der Verhaftung am 21. Juli 1944. Nun liefen die Drähte nach Stuttgart heiß. Die alten Bosch-Freunde traten in Aktion und verwandten sich für uns bei der Stadtverwaltung. Innerhalb von zwei Wochen erhielten wir die begehrte Zuzugsgenehmigung und ein Zimmer in Feuerbach. Was machte es da, daß wir drei uns in nur zwei Betten zu teilen hatten! Mit solchen Einschränkungen fertigzuwerden, hatte uns die Haftzeit gelehrt.
Am 1. Oktober 1945 fuhr ich von unserem Feuerbacher Qμartier zu meiner ersten Dienststelle in Stuttgart, dem Königin-Charlotte-Gymnasiwn. Die Straßenbahn fuhr die große Heilbronner Einfallstraße nach Stuttgart entlang. Rechts und links der Trasse wurden schmale Fahrbahnen von Schutt freigeräumt. Große und kleine Trümmerbrocken zerstörter Häuser und Fabrikhallen lagen hochgetürmt am Rande. Unübersehbar waren die Folgen des Krieges und seiner zerstörerischen Bombennächte. Nun waren die Menschen dabei, mit Karren, Schippen und Kränen das Chaos zu ordnen; endlich konnten sie den Aufbau beginnen, der wieder eine Zukunft hatte.
Auch das Gebäude des Königin-Charlotte-Gymnasiums war nicht unversehrt. In einem Seitentrakt waren für die Oberstufenschüler einige Räume notdürftig hergerichtet. Wenigstens die älteren Schüler sollten mit dem Lernen beginnen. (Jutta und Nina waren erst vierzehn Tage später an der Reihe.) In dieser Übergangszeit zwischen dem Ende des Dritten Reiches und staatlichem Neubeginn war auch die Schulleiterin vorerst nur provisorisch eingesetzt. Sie brachte mich in einen großen hellen Dachraum; vorsorglich stand dort schon ein kleiner eiserner Ofen für den Winter bereit – das Ofenrohr führte durch ein Fenster. Etwa zwanzig 18jährige Mädchen erwarteten uns bereits. Brav, wie es damals zur Schulsitte gehörte, waren sie aufgestanden. Sie waren voller Tatendrang und Neugier nach der erzwungenen Lern-Abstinenz, auch wenn kaum eine von ihnen wohl wissen konnte, wie es einmal mit ihr, mit der Erfüllung von Berufswünschen, gar mit einem Studium, weitergehen würde. Deutschland war ein besetztes Land. Die Alliierten würden über seine weitere Entwicklung entscheiden.
Offene. freundliche Gesiebter begrüßten uns. Die Direktorin stellte mich als die neue Deutsch- und Geschichtslehrerin mit meinem Mädchennamen vor (ich war ja noch nicht verheiratet). Vielleicht war sie genau so wenig darauf vorbereitet wie ich, daß die Mienen der Mädchen sich plötzlich skeptisch verschlossen. Einige Mädchen schauten verlegen zu Boden, während andere sich strafften, um mit einer leichten Bewegung des Kopfes Abstand von uns zu nehmen. Nur schockierte mich diese Geste der unausgesprochenen Zurückweisung einer Goerdeler-Tochter nicht, wie sie mich noch bei den Dorfbewohnern schockiert hatte. Diesen jungen Menschen gegenüber spürte ich auf einmal Kraft und Mut, sie gewinnen zu können. Ich war jung, kaum acht Jahre älter als meine zukünftigen Schülerinnen, und traute mir zu, eine Brücke zu ihnen zu finden. Ich war sicher, daß meine Eltern im Kampf gegen Hitler den richtigen Weg gegangen waren, hatte als junge Schülerin selbst die Verführungskünste des Hitler-Reiches erlebt und war mir dessen gewiß, daß ich ihnen helfen könnte und mußte, einen Weg in die Nach-Hitler-Zeit zu finden.
Die anfängliche Mißstimmung begann sich ganz allmählich zu lösen, als ich mit den Mädchen allein war und sie ruhig bat, mir zu erzählen. wie sie die letzten Monate des Krieges und die ersten Monate der Friedenszeit erlebt hätten. Dabei erwähnte ich, daß ich diese für uns alle so bedeutsame Zeit gewiß völlig anders durchlebt hätte und ich ihnen davon auch erzählen wolle. So wären die nächsten Schultage vom Zuhören bestimmt. Ich erfuhr, daß fast alle Mädchen BDM-Führerinnen gewesen seien, meist die letzten Monate auf dem Land verbracht hatten. Mehrere von ihnen hatten den Vater, Brüder oder Freunde verloren. Jedoch trauerten sie nicht nur um die verlorenen Menschen. Sie betrauerten einen noch umfassenderen Verlust: Die meisten von ihnen hatten an den Nationalsozialismus geglaubt, daran geglaubt, daß es notwendig sei, sich mit aller Kraft für die Größe des deutschen Volkes und Reiches einzusetzen. Nun waren sie nicht nur in ihren Hoffnungen getäuscht, sie mußten auch an den Menschen zweifeln, die sie ihnen vermittelt hatten.
„Es war eine furchtbare Leere in uns“, erinnerte sich noch nach vielen Jahren eine meiner
Schülerinnen. In diese Leere galt es, ein wenig Wärme und menschliches Mitgefühl zu bringen. Das war damals für mich – zum Glück – nicht bewußte Planung, sondern etwas Selbstverständliches. Vielleicht deshalb selbstverständlich und kein kunstvolles Mich-Hineinversetzen, weil ich mich – bei aller äußeren Ruhe – immer wieder von dem gleichen Gefühl umfassenden Welt-Verlustes bedroht wußte: An jenem 20. Juli vor einem Jahr hatte Gott nicht denen beigestanden, die unsere Welt vom Bösen hatten befreien wollen.
Es war gewiß kein Zufall, daß ich als erste Lektüre für meine jungen Schülerinnen „Die Leiden des jungen Werther“ aussuchte. Ich wußte nur zu genau, daß sie jahrelang gelehrt wurden, jene martialischen Lieder von stets kampfbereiten Männern zu singen, die sich trotzig und mit aller physischen Kraft Schicksal und Feinden entgegenzustellen oder stolz unterzugehen hatten. Der verzweifelnde junge Werther sollte nicht zum neuen Vorbild werden, aber das Tor zu einer anderen Sprach- und Gefühlswelt öffnen. Allmählich wich die Leere aus den Gemütern; junge Menschen erlaubten sich nun Empfindungen, die sie auch aussprechen durften. Sie spürten den lyrischen Zauber der Sprache überschwenglichen Glücks, das Verstummen des Worts in Zweifel und Trauer.
Heute. im Rückblick, ziehen sich diese ersten Wochen pädagogischer Tätigkeit zu meiner „Stunde Null zusammen. Zum Beginn eines nun selbstbestimmten Lebens und selbstbestimmter Ziele. Es erschloß sich mir ein Beruf, der mich ein Leben lang ausfüllte, in dem mich die Hoffnung nie verließ. In meinem kleinen, begrenzten Umfeld etwas bewirken zu können. War ich auch nach dem Krieg in eine im doppelten Sinne kaputte Welt entlassen – hatte die nachwirkende Hitler-Verehrung in einem Dorf erlebt, war durch Trümmer zu meiner Schule gefahren – mit dieser kaputten Welt brauchte ich mich nicht abzufinden. – Es galt, Leid und Ängste junger Menschen, ihre Verluste und Scmerzen wahr- und ernstzunehmen, Ermutigung den Zaghaften zu geben, Freuden mit den Glücklichen zu teilen. Es galt aber auch, auf der Hut zu sein, die Macht als Lehrer nicht zu mißbrauchen, Einfluß nur zu üben, um auf dem Weg zum Erwachsen-Werden zu helfen Meine sperrige Vergangenheit hat mir geholfen, meine Schüler ansprechen und verstehen zu können.
In den Monaten der Haft hatte ich selbst erfahren, was es heißt, gedemütigt und mit zynischer Freude geängstigt zu werden. Im Elternhaus war mein Sinn gegen die Erbärmlichkeit von Opportunismus, vorauseilender Anpassung und konventioneller Glätte geschärft worden. Mit ihrer Liebe und Fürsorge hatten die Eltern uns immer beschützt, Maßstäbe und Werte mitgegeben, an denen wir auch als selbständige Menschen festhalten konnten.