Während der Arbeit am Beitrag Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück habe ich mir den Wikipedia-Eintrag zum KZ Lichtenburg angesehen. Mein Großonkel war dort ein Jahr und neun Monate eingesperrt. Es gibt dort Listen mit den Lagerkomandanten und den Schutzhaftlagerführern. Die Schutzhaftlagerführer waren die, die die Häftlinge bewachten. Sie unterstanden dem Lagerkommandanten. Ich habe mir dann den Spaß gemacht, nachzuschauen, wer die Nazis waren, die in der Zeit verantwortlich waren, als mein Großonkel dort eingesessen hat, und was aus ihnen geworden ist. Wikipedia ist ein fantastische Ressource! Hier ist das Ergebnis:
Lagerkommandanten
Die Lagerkommandanten waren:
- SS-Standardtenführer Otto Reich. Wikipedia sagt: „Reich wurde nach Kriegsende juristisch nicht belangt.“ Reich ist 1955 in Düsseldorf gestorben.
- SS-Standartenführer Hermann Baranowski, gestorben 1940 in Aue
- SS-Standartenführer Hans Helwig, gestorben 1952 in Hemsbach, Baden-Württemberg. „Helwig starb 1952, ohne dass es zu einer strafrechtlichen Verfolgung seiner Tätigkeit in den Konzentrationslagern gekommen war.“
Schutzlagerführer
Die Schutzhaftlagerführer waren:
- SS-Standartenführer Karl Otto Koch
Der wurde wenige Tage vor der Befreiung Buchenwalds durch die Nazis selbst hingerichtet. Das wusste ich bisher nicht. Es gab ein Korruptionsverfahren gegen ihn. Himmler hatte ihn erst geschützt, aber dann war es doch zu viel. Er hat Zeugen ermordet.
- SS-Sturmbannführer Heinrich Remmert, gestorben 1994 in Braunschweig.
Remmert wurde verurteilt: „wegen Körperverletzung im Amt“. 1934!
Wikipedia schreibt: „In der zeitgenössischen Presse wurde über das Verfahren nicht berichtet. Es handelte sich um ein weitestgehend nach rechtsstaatlichen Grundsätzen ablaufendes Verfahren. In der Folge befahl Adolf Hitler, dass weitere zu den Misshandlungen im KZ Esterwegen laufende Ermittlungen eingestellt werden sollten.“
„Von 1946 bis 1948 war er interniert; anschließend wurde er wegen seiner SS-Zugehörigkeit zu einem Jahr Gefängnis verurteilt; seine Internierung wurde jedoch angerechnet, sodass er freikam. 1950 wurde er wegen der Misshandlung weiterer Häftlinge zu drei Jahren Haft verurteilt; er kam im April 1954 frei.“
- Egon Zill, gestorben 1974 in Dachau, Bayern.
„1955 fällte das Schwurgericht des Landgericht München II am 14. Januar ein Urteil: lebenslängliche Haft wegen „Anstiftung zum Mord im KZ Dachau“.“
Auswertung des Schnelltests
Das Ergebnis dieser Kurzüberprüfung aus privatem Interesse ist:
1) Die Nazis, die mit Lichtenburg zu tun hatten, sind nach Kriegsende alle (!) in den Westen gegangen.
2) Viele von ihnen haben dort fröhlich bis an ihr Lebensende gelebt. Sie wurden nicht angeklagt und nicht verurteilt oder bekamen Haftstrafen von wenigen Jahren.
Das entspricht dem, was Ossis in der Schule gelernt haben, und ist irgendwie auch nicht verwunderlich. Als Nazi hätte ich auch Angst vor den Russen gehabt.
Nazis in der SED
In der Diskussion auf Mastodon über Anne Rabes Buch „Die Möglichkeit von Glück“ gibt es einen Nutzer, der meine Argumentation nicht versteht. Er hat mich auf eine Publikation des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags von 2019 hingewiesen, in der der Anteil der NSDAP-Mitglieder in der SED diskutiert wird. In dieser Kurzmitteilung findet man Folgendes:
Einen ersten repräsentativen Überblick über die frühere Zugehörigkeit der Parteimitglieder zur NSDAP und deren Gliederungen verschaffte sich die Parteizentrale Anfang 1954. Demnach hatten zu diesem Zeitpunkt 96844 Mitglieder (= 8,6%) und 9533 Kandidaten(= 9,3%) früher der NSDAP angehört.
Diese Information ist interessant. In Wikipedia steht noch ein bisschen mehr dazu:
Nach dem 17. Juni 1953, in dessen Folge es bis zum März 1954 zu 23.173 Parteiausschlüssen kam,[43] wurde von der Abteilung Parteiorgane des Zentralkomitees einmalig auch der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder an der SED-Mitgliedschaft ermittelt.[44] Demnach hatten zu diesem Zeitpunkt 8,7 % (106.377) der SED-Mitglieder und ‑Kandidaten vor 1945 der NSDAP angehört. Regional war dieser Anteil aus bislang nicht abschließend geklärten Gründen sehr ungleichmäßig verteilt; in Berlin lag er bei lediglich 4 Prozent, in Thüringen in einzelnen Kreisorganisationen dagegen bei bis zu 25 Prozent. Diese SED-Mitglieder mit NS-Vergangenheit lassen sich nach dem Forschungsstand von 2021 in der Hauptsache zwei Gruppen mit unterschiedlichen Profilen zuordnen. Zum einen handelte es sich um jüngere Männer, die nach einer Vergangenheit in der Hitlerjugend während des Zweiten Weltkrieges Mitglieder der NSDAP geworden waren, zum anderen um Leitungspersonal in Betrieben und Verwaltungen, das von der Entnazifizierung nicht erfasst worden war. Die Integration der zuletzt genannten Gruppe war mit erheblichen Spannungen verbunden; vor allem während der 1950er Jahre kam es immer wieder zu „Konflikten zwischen Altkommunisten und Wirtschaftsfunktionären“, die „als ehemalige NSDAP-Mitglieder der SED beigetreten waren und weiterhin wie lokale Honoratioren auftraten“.
Man kann die Zahl der Mitglieder nun mit der Anzahl der NSDAP-Mitglieder in Gesamtdeutschland vergleichen. Im Mai 43 waren 7.700.000 Menschen in dieser Partei. Das waren 11% der Deutschen. Wenn 8,6% der SED-Mitglieder in der NSDAP waren, dann muss die Gesamtzahl der Mitglieder bei 1.126.093 gelegen haben. 1954 lag die Einwohnerzahl bei 18.002.000. Geht man davon aus, dass die NSDAP-Mitgliedschaft gleichmäßig über das Deutsche Reich verteilt ist, müssten 1.980.220 Menschen auf DDR-Gebiet in der NSDAP gewesen sein. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Zahl nicht korrekt ist, denn in den Jahren vor 1954 haben schon Hunderttausende die DDR bzw. die SBZ verlassen. Darunter sicher auch viele Nazis. Wahrscheinlich überproportional viele Nazis. Wenn man jetzt trotzdem mit 1.980.220 weiterrechnet, kommt man darauf, dass 5,4% der NSDAP-Mitglieder in die SED aufgenommen wurden.
Am 15. Juni 1946 fasste das Zentralsekretariat den grundlegenden Beschluss zur Öffnung der Partei für „nominelle Pgs“ und hob damit einen Unvereinbarkeitsbeschluss auf. Die Aufnahme konnte nun nach „individueller Beurteilung in den Parteiorganisationen“ erfolgen; bei der Entscheidung berücksichtigt werden sollten insbesondere Jugendliche und „die aktive Betätigung des Betreffenden gegen Hitler“.
Wie weit jetzt die individuellen Beurteilungen in den Parteiorganisationen der SED korrekt waren, kann ich nicht wissen, aber dass es in Betrieben vor 1945 Leitungspersonal gab, das in die NSDAP eingetreten war, um dort präsent zu sein, weiß ich aus dem familiären Umfeld einer antifaschistischen Familie. Der Hintergedanke war, dass man frühzeitig über eventuell für die Firma bedrohliche Entwicklungen informiert war. Aus der entsprechenden Fabrikleitung ging eine von drei Personen ungern in die Partei.
So, davon kann man jetzt halten, was man will. Wichtig ist, welche NSDAP-Mitglieder in Führungspositionen gelangten. Und dafür gibt es glücklicherweise eine Liste in Wikipedia: Liste ehemaliger NSDAP-Mitglieder, die nach Mai 1945 politisch tätig waren. Dieser Liste kann man entnehmen, dass fast ausschließlich in West-Deutschland Nazis in hohe Positionen gekommen sind. Die NSDAP-Mitglieder, die im Osten aktiv waren, waren vorher bei den Russen in Umerziehungsprogrammen gewesen und haben teilweise noch im Krieg aktiv gegen Nazi-Deutschland gekämpft. Im Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD). Leider ist die Liste nicht vollständig, aber Kurt Blecha und Günther Kretzscher, die auf der Liste noch fehlen, waren ebenfalls im NKFD und haben aktiv gegen die Nazis gekämpft. Günter Kertzscher war sogar Gründungsmitglied des NKFD. Auf der anderen Seite gab es Globke, der als Jurist prominent im Nationalsozialismus an Rassengesetzen mitwirkte, und andere hohe Nazis, die auch im Westen wieder hohe Positionen belegten.
Neuere Forschungen in einem Sonderforschungsbereich haben ergeben, dass in Thüringen 14% der SED-Funktionäre in leitender Funktion ihre NSDAP-Mitgliedschaft die gesamte DDR-Zeit geheim halten konnten (Novy, Beatrix. 2009). Die relevante Gruppe bestand aus 262 Personen. 14% davon sind 36. Die Wissenschaftler*innen haben 3 von 15 Bezirken der DDR untersucht und vermuten, dass in Mecklenburg-Vorpommern noch mehr Personen betroffen sein könnten, weil die Vertriebenen dort ohne Papiere ankamen. Multipliziert man also 36 mit 5 und legt noch ein bisschen was drauf für die Vertriebenen im Norden, so kommt man auf 180+20 oder 180+70. Das wären dann 250 NSDAP-Mitglieder, die sich unerkannt durchgemogelt haben. Wie Dietmar Remy sagt, sagt das nichts darüber aus, was sie als NSDAPler gemacht und gedacht haben. Es wurde nur die Tatsache festgestellt, dass sie in der NSDAP waren und das nicht angegeben hatten. Teilweise hatten ihnen wohl ältere Genossen gesagt, dass das ok sei (Novy, Beatrix. 2009). Jedenfalls handelte es sich nicht um Menschen vom Kaliber Globkes. Die hätten das nicht geheim halten können.
Sag mir, wo die Nazis sind! Wo sind sie geblieben?
Als kleines Kind hatte meine Frau gelernt, dass in Deutschland die Nazis geherrscht hatten. Sie hatte dann ihre Mutter gefragt, wo denn die Menschen von früher seien. Nein, die Nazis waren nicht alle weg. Aber die schlimmen Nazis waren weg. Sie lebten entweder im Westen friedlich vor sich hin (siehe oben und Das SS-Lagerpersonal von Buchenwald) oder wanderten über die Rattenlinie, unterstützt von westlichen Geheimdiensten und dem Vatikan, nach Südamerika aus, wo sie bei der Niederschlagung linker Revolutionen gern gesehene Experten für Folter und Zerstörung waren (Harrasser, 2022).
Dieser Mann lebt noch heute:
In Nordstemmen in Niedersachsen. Er wurde in Frankreich wegen seiner Verbrechen zum Tode verurteilt, aber da es kein Auslieferungsabkommen gab, wurde er nicht ausgeliefert und er konnte auch nicht in der Bundesrepublik erneut angeklagt werden, weil es rechtlich nicht möglich ist, für dasselbe Verbrechen zweimal vor Gericht gestellt zu werden. Tja. Jetzt wird er von Neonazis gefeiert und findet das toll: Er bereut nichts.
Wenn es im Osten noch ehemals prominente Nazis gab, dann haben die wenigstens die Hufe stillgehalten. Parteien wie die Sozialistische Reichspartei gegründet haben sie jedenfalls nicht.
To do Anteil der NSDAP-Mitglieder in Parteien der BRD.
Quellen
Novy, Beatrix. 2009. Verschwiegene Lebensläufe in der DDR. 16.12.2009. Deutschlandfunk. (https://www.deutschlandfunk.de/verschwiegene-lebenslaeufe-in-der-ddr-100.html)
Harrasser, Karin. 2022. Surazo: Monika und Hans Ertl: Eine deutsche Geschichte in Bolivien. Berlin: Matthes & Seitz.