In der taz vom 22.04.2024 gibt es einen Artikel über rechte Richter von Gera. Besprochen wird, dass zwei Richter Asylanträge signifikant häufiger ablehnen, als das im bundesweiten Durchschnitt der Fall ist.
In einem „Forderungspapier zur Justiz in Thüringen“ aus dem April 2022 beklagen neun Vereine aus der Flüchtlingshilfe eine „Entscheidungspraxis“ des Verwaltungsgerichts Gera in Asylverfahren, die „mindestens eine tendenziöse Rechtsprechung vermuten lässt“. Unter Rechtsanwälten sei es ein „offenes Geheimnis“, dass es dort fast unmöglich ist, Asylverfahren afrikanischer Kläger zu gewinnen. Im Fadenkreuz der Kritik stehen die Richter Fuchs und Amelung. MDR-Recherchen und eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag bestätigen die Praxiserfahrungen der Anwälte und Flüchtlingshelfer.
Außerdem sind Richter desselben Gerichts für Genehmigungen von Nazi-Veranstaltungen zuständig:
Die Asylrechtssprechung ist aber nicht der einzige Bereich, der in Gera Fragen aufwirft. Auch die Entscheidungspraxis des Präsidenten des Verwaltungsgerichts Gera, Michael Obhues, als Vorsitzender der 1. Kammer ist politisch umstritten. Diese hat einer Neonazi-Gruppe und der NDP (heute „Die Heimat“) über Jahre erstaunlich viel Raum für Demonstrationen, Protestaktionen und rechte Rockkonzerte eröffnet.
In Jena durfte die NPD Märsche im Gedenken an die Reichspogromnacht und an den Tod von Hitlerstellvertreter Rudolf Heß durchführen. Die Neonazi-Gruppe „Thügida/Wir lieben Ostthüringen“ durfte Hitlers Geburtstag am 20. April 2016 mit einem Fackelzug in Jena feiern. Das Gericht kassierte dabei immer wieder zuvor verhängte Versammlungsverbote des damaligen SPD-Oberbürgermeisters Albrecht Schröter.
Typisch für diese Gerichtsbeschlüsse ist, dass die Kammer den Vorträgen der braunen Anmelder eher glaubte als denen des Oberbürgermeisters – wenn sie zum Beispiel vorgaben, mit Demos die Meinungsfreiheit zu verteidigen oder gegen „linken Terror“ zu protestieren, obwohl sie tatsächlich Hitler oder Heß huldigen wollten. Dass die offiziell genannten Demonstrationsziele nur zur Tarnung vorgeschoben waren und die Proteste in Wirklichkeit Tarnversammlungen für braune Anliegen waren, hielten die Verwaltungsrichter in Gera für nicht hinreichend belegt.
Und wie Joachim Wagner feststellt: „Die Folge dieser Spruchpraxis: Zwischen 2006 und 2016 hatte sich Jena zur einem Protesteldorado für NPD und Neonazis entwickelt.“
Dasselbe Gericht hat entschieden, dass die AfD nicht wirklich verfassungsfeindlich sei, obwohl der Verfassungsschutz, der sich ja mit der Einordnung von Parteien als rechtsextrem auch nicht leicht tut, das nach jahrelanger Detailarbeit inzwischen herausgefunden hatte. Ein AfD-Sportschütze durfte seine Waffe behalten:
Hier kam die Kammer im August 2023 nebenbei zum Ergebnis, dass die Verfassungsschützer bislang nicht „tragfähig nachgewiesen“ hätten, dass der Thüringer AfD-Landesverband „erwiesen rechtsextremistisch“ sei. Der AfD-Sportschütze durfte seine Waffenbesitzkarte vorerst behalten.
Sehr guter Artikel. Es fehlten nur einige Details, die im Ost-West-Diskurs aber sehr wichtig sind: Wer sind diese Richter? Wo kommen sie her? Dr. Bengt-Christian Fuchs, Vizepräsident des Verwaltungsgerichts Gera, ist laut linkedIn-Profil Bankkaufmann und hat 1984–1986 in Hannover und London gearbeitet. Er ist außerdem Oberstleutnant der Bundeswehr. Dr. Bernd Amelung hat von 1982–1989 an der Georg-August-Universität Göttingen sein erstes Staatsexamen in Öffentlichem Recht gemacht. Michael Obhues, Präsident des Verwaltungsgerichts Gera, wurde in Erwitte/Westfalen geboren. Er studierte 1986–1992 an der Universität in Münster Rechtswissenschaften. Details zu seiner Karriere als Jurist findet man in den ThürVBl. 8/2006, S. III.
Steffen Mau hat in Lütten Klein festgestellt, dass Richter*innen im Osten meistens aus dem Westen sind:
In den wenigen Bereichen, wo die Ostdeutschen aufholen konnten, reden wir von Fortschritten im niedrigen einstelligen Prozentbereich: in der Richterschaft insgesamt von 11,8 auf 13,3 Prozent, bei den Präsidenten und Vizepräsidenten der obersten Gerichte sowie den Vorsitzenden Richtern der einzelnen Senate von 3,4 auf 5,9 Prozent. Jeweils in Ostdeutschland wohlgemerkt, nicht bundesweit.
Mau, Steffen. 2020. Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft (Schriftenreihe 10490). Bonn: Zentrale für Politische Bildung. S. 182
Und so ist es auch in diesem Fall. Was ich mir von der taz wünsche, ist, dass die Herkunft von Nazis oder von Menschen, die Nazi-Aktionen ermöglichen, angegeben wird. Das ist wichtig, weil durch die Berichterstattung ohne diese Information das Klischee verfestigt wird, dass im Osten alles Nazis seien. Hier am konkreten Fall von Jena kann man sehen, dass die Wähler*innen einen SPD-Bürgermeister gewählt haben, der sich redlich mühte, die Nazis aus der Stadt zu halten, was aber durch Richter*innen aus dem Westen torpediert wurde.
Nach der Wende wurde die komplette Justiz und Polizei und auch der Verfassungsschutz von Westlern aufgebaut. Wie wir jetzt wissen, waren viele der involvierten Personen extrem rechts. (Maaßen war der gemäßigte Ersatz für jemanden, der mit dem NSU zu gut klargekommen war, und was Maaßen denkt, wissen wir ja nun ziemlich genau. Seine eigene Behörde stuft ihn als rechtsextrem ein.) Nazi-Parteien sind gezielt in den Osten gegangen, um dort Strukturen aufzubauen (siehe „Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern“: Kommentare zu einem Aufsatz von Patrice G. Poutrus, Jan C. Behrends und Dennis Kuck). Das alles sollte man wissen, wenn man darüber nachdenkt, warum die Machtverhältnisse im Osten jetzt so sind, wie sie sind. Der blühende Faschismus im Osten ist sicher nicht darauf zurückzuführen, dass wir Ossis alle nebeneinander auf dem Töpfchen gesessen hätten (Pfeiffer) und auch Anne Rabes Geschwafel von der Gewalttätigkeit in der DDR ist Unfug, wie ich in vielen Blog-Posts nachgewiesen habe (Sie interpretiert die Kriminalstatistik falsch. Aussagen über Amokläufe in Schulen sind falsch usw. usf.). Auch in Lichtenhagen waren am dritten Tag West-Nazis vor Ort und die gesamte verantwortliche Führung (Regierung und Polizeileitung) war trotz vorheriger Ankündigung der Ausschreitungen in Zeitungen im Wochenende und nicht erreichbar (Post dazu). Zu Anne Rabes Behauptungen siehe die Übersichtsseite mit Blogposts.
Man stelle sich nun die Gefühle eines antifaschistischen Menschen vor, der solche Artikel liest. Sie denkt: Erst kommen sie her und besetzen alle Stellen in der Verwaltung, um uns Ossis zu zeigen, wie es geht. Dann legen sie die komplette Industrie still, weil sie die Treuhand-Anstalt auch übernommen haben (Kahla Thüringen Porzellan wurde für 1 DM an einen windigen Rechtsanwalt verkauft, dessen einzige Qualifikation ein Bruder bei der Treuhand war.). Dann kommen Westler, gründen eine rechte, wirtschaftsliberale Partei, wo auch fast die gesamte Führung der ostdeutschen Landesvorstände in West-Hand sind (siehe Der Ossi ist nicht demokratiefähig. Merkt Ihr’s noch?). Dann radikalisiert sich diese Partei und die Gerichte im Osten, die mit Westler*innen bestückt sind, protegieren das. Den Ossis wird nach erfolgreichem Aufbau der Strukturen durch Westler vorgeworfen, dass sie alle Nazis seien. Und wenn dann über den Osten berichtet wird, werden die relevanten Fakten über die Herkunft der entsprechenden Nazis oder ihre Beschützer*innen nicht genannt und das Klischee weiter vertieft.
Quellen
Decker, Kerstin. 1999. Das Töpfchen und der Haß. tagesspiegel. Berlin. (https://www.tagesspiegel.de/kultur/das-toepfchen-und-der-hass/77844.html)
Mau, Steffen. 2020. Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft (Schriftenreihe 10490). Bonn: Zentrale für Politische Bildung. (https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/303713/luetten-klein)
Guter Text! Schade, dass Sie gendern…
Danke! Ich habe das Gendern lange selbst abgelehnt, bin jetzt aber doch dazu übergegangen. Zum Thema Gendern gibt es ein paar Einträge im Blog. https://so-isser-der-ossi.de/category/gendern/