Ich lese gerade das Buch von Katja Hoyer Diesseits der Mauer. Sehr interessant und vieles wird mir so klarer. Warum der Strauß fast ganz zum Schluss noch mal ein paar Milliarden in die DDR gebracht hat, die Aufs und Abs in der Wirtschaftsentwicklung usw. Ein paar Sachen sind aber auch einfach falsch. Das Kapitel über den Wehrdienst enthält grobe Fehler.
Der verpflichtende Grundwehrdienst dauerte normalerweise 18 Monate. Ihn zu verweigern war ausschließlich aus religiösen Gründen möglich. In diesem Fall musste die Zeit ebenfalls abgeleistet werden, und zwar als sogenannter Bausoldat im nichtkämpfenden Dienst. Männer, die studieren wollten, sollten sich zuvor unter Beweis stellen, wie der Staat ab 1970 offen argumentierte. Sie hatten keine Chance, dem Militär zu entgehen, sondern waren obendrein angehalten, sich zu einer dreijährigen Offizierslaufbahn zu verpflichten.
Das ist im Prinzip richtig. Auf Totalverweigerung stand Gefängnis. Wenn man Bausoldat wurde, baute man in Uniform Raketenstellungen. Nicht unbedingt das, was man sich als Pazifist so erträumt. Bausoldaten hatten keine rosige Perspektive in der DDR, es sei denn, sie wollten Theologie studieren. Ansonsten enthält das Zitat einen bedauerlichen Fehler, denn für das Studium musste man nicht Offizier werden, sondern Unteroffizier. Ich werde die verschiedenen Laufbahnen im Folgenden genauer erklären.
Militärische Laufbahnen in der DDR
Es gab in der NVA verschiedene Laufbahnen:
- Soldat, 1,5 Jahre Grundwehrdienst
- Unteroffizier, 3 Jahre (ein halbes Jahr Ausbildung, dann zweieinhalb Jahre Dienst)
- Offizier auf Zeit, bis 1983 drei Jahre, danach 4 Jahre (ein Jahr Studium, dann zwei bzw. drei Jahre Dienst)
- Berufsunteroffizier auf Zeit, 10 Jahre endete mit Meisterabschluss
- Fähnrich, 15 Jahre Fachschulingenieursausbildung
- Offizier, 25 Jahre (vier Jahre Studium, 21 Jahre Dienst)
Der dreijährige Wehrdienst bestand aus einer halbjährigen Ausbildung zum Unteroffizier und 2 1/2 Jahren Dienst in der entsprechenden Waffengattung. Eine Ausbildung zum Offizier erfolgte an einer Offiziershochschule und dauerte vier Jahre. Dreijährige Offizierslaufbahnen gab es nur bis 1983.
Selbst die klügsten und vielversprechendsten künftigen Akademiker und Wissenschaftler waren so gezwungen, eine langwierige Militärausbildung zu absolvieren, bevor sie einen Studienplatz bekamen.
Das ist korrekt. 1981–1986 wurde von uns erwartet, dass wir uns für drei Jahre zur Armee verpflichteten. Nicht als Offiziere sondern als Unteroffiziere. Aus meiner EOS-Klasse gingen alle bis auf einen Jungen für drei Jahre zur Armee. Ich wäre beinahe nicht für meine Schule (EOS Heinrich Hertz) zugelassen worden, weil ich einen von zwei Aufnahmetests nicht bestanden hatte. Es gab einen Mathetest mit Knobelaufgaben, den ich mit voller Punktzahl abschloss und ein politisches Aufnahmegespräch, in dem ich als Dreizehnjähriger gefragt wurde, ob ich gern drei Jahre zur Armee gehen würde. Ich hielt das spontan für keine gute Idee und war somit leider raus. Nur dem unglaublichen Einsatz meiner Eltern ist es zu verdanken, dass ich doch noch auf die Matheschule gekommen bin. Ich musste vorher noch mit dem Direktor meiner POS ein Gespräch führen, in dem ich ihm versicherte, dass es mein größter Wunsch sei, drei Jahre meines Lebens in einer militärischen Einrichtung zu verplämpern. Ich habe in meinem Klimablog darüber geschrieben: Der moralische Druck der Öko-Gutmenschen ist ja wie in der DDR.
Schummeln bei den Verpflichtungen?
Hoyer schreibt:
Manche von ihnen waren so mutig wie Thoralf und tricksten das System aus, indem sie sich zunächst zu einer »freiwilligen Verlängerung« verpflichteten, um einen Platz an der Erweiterten Oberschule zu erhalten, und später angaben, sie hätten es sich doch anders überlegt. Auf diese Weise gelang es Thoralf, lediglich 18 Monate abzuleisten anstelle der vollen drei Jahre, für die er sich ursprünglich gemeldet hatte.
Da hatte der Thoralf aber Glück. Ich habe neulich die Zulassung zu meinem Studium wiedergefunden und in dieser stand explizit drin, dass die Zulassung vorbehaltlich erfolgt und vom Wohlverhalten während der Armeezeit abhing. Ich habe mich 1985 für einen Studienplatz 1989 beworben, also nach meiner Armeezeit. Hätte ich nach meinem Abitur gesagt: „Hi, hi, April, April, ich mach jetzt doch nur Grundwehrdienst.“, hätte die Humboldt-Uni gesagt: „Hi, hi, dann such Dir mal nen Job mit Abitur aber ohne Studium und mit dem entsprechenden Vermerk in der Kaderakte.“. Ganz so einfach war die Sache also nicht. Wenn es einem gelang, bei der Armee ausgemustert zu werden, dann konnte das wohl funktionieren, dass man früher wieder auftauchte und in einem früheren Studienjahr mitstudieren konnte. Aber ein System auszutricksen, dass den gesamten Lebenslauf in einer personengebundenen Akte (Stichwort: Kaderakte) begleitete, war eben sonst nicht möglich.
Vertrag mit dem Staat: Militärische Ausbildung beim Studium
Das hier ist übrigens die Verpflichtungserklärung für das Studium:
Man verpflichtete sich nach Zuteilung des Studienplatzes an einer Ausbildung zum Offizier der Reserve teilzunehmen und einen zentral zugeteilten Arbeitsplatz für mindestens drei Jahre anzunehmen.
Drei Jahre Pflicht für’s Studium?
Es gab Menschen, die trotz Grundwehrdienst studieren konnten, aber an meiner Schule gab es eben auch einen Jungen, der nicht mit ins GST-Lager zur vormilitärischen Ausbildung gefahren ist und das Schießen verweigert hat. Er war genial und hätte zur internationalen Matheolympiade fahren können, aber das wurde alles nichts und er ist Schäfer geworden. Ich wusste nicht, dass es auch ohne die drei Jahre hätte gehen können und in jedem Fall wäre es nicht ohne Risiko gewesen und da ich außer Mathe nichts konnte, bin ich eben drei Jahre gegangen. Es waren die schlimmsten drei Jahre meines Lebens.
Bindung durch Isolation?
Hoyer schreibt weiter:
Die NVA wollte die jungen Männer möglichst ganz für sich vereinnahmen, um sie militärisch optimal zu indoktrinieren. Deshalb stationierte man Rekruten häufig so weit weg von zu Hause wie möglich und gewährte ihnen kaum Urlaub, damit sie nur selten ihre Familie, Freunde und Freundin in der Heimat besuchen konnten. Sie wurden bewusst isoliert, um sie aneinander und an den Staat zu binden.
Es stimmt, dass man meist so weit weg von zuhause war wie möglich. Ich wurde Anfang November 1986 eingezogen und war Silvester 1986 zum ersten Mal auf Urlaub. Aber wenn das Ziel wirklich war, die Soldaten an den Staat zu binden, denn mussten die, die sich diese Strategie überlegt hatten, über sehr geringe Menschenkenntnis verfügen. Alle, die zum Grundwehrdienst oder für drei Jahre bei der Armee waren, haben die Armee (auch Asche genannt) als Gefängnis empfunden. Na ja, fast alle.
Und übrigens: Das war bei den Offizieren und Offiziersschülern ganz anders. Sie haben außerhalb der Kaserne gewohnt. In den letzten Jahren vor dem Ende der DDR wurden die Offizierswohnheime sogar mit Sattelitenschüsseln ausgestattet, damit die Offiziere West-Fernsehen gucken konnten. Die Fernseher im Fernsehraum der Soldaten und Unteroffiziere waren verplombt. Nix Westvernsehen. Offiziersschüler konnten, glaube ich, im letzten Studienjahr außerhalb der Kaserne wohnen. Ich habe in Kamenz an einer Offiziershochschule gedient und war dann irgendwann mit einem ehemaligen Offiziersschüler befreundet. Er hatte abgekeult (mitten in der Ausbildung seine Verpflichtung für 25 Jahre widerrufen: gesellschaftliches Harakiri) und musste noch die Restzeit des normalen Grundwehrdienstes abdienen. Wir mochten beide Punk und sonstige abseitige Musik, haben uns Abends in dem Büro, in dem ich gearbeitet habe, getroffen und auf dem Kassettenrecorder des Oberleutnants, dem das Büro gehörte, Punk gehört. Das war lustig, denn als normaler Soldat oder Unteroffizier durfte man keine Kassettenrecorder haben und man hatte natürlich auch keinen Platz, an dem man sich mal eben so treffen konnte. Es gab einen Clubraum, aber da gab es natürlich keinen Kassettenrecorder, sondern den Schallplattenspieler und Platten von Silly. Ich war auch mal mit ihm und anderen Offiziersschülern in Dresden im Jugendclub Spirale bei einem Punkkonzert. Einer von denen hatte einen Trabant. Ansonsten, wenn ich allein unterwegs war, bin ich die Strecke immer mit dem Rad gefahren.
Ich hatte es nach der Grundausbildung in Bad Düben und anfänglichen Wirren in Kamenz (Ich war erst in der FLA-Rakten-Werkstatt) geschafft, in die Computergruppe zu kommen. Von da bin ich dann einem Oberstleutnant direkt unterstellt worden und landete in dem Büro des Leutnants, der für die FDJ-Arbeit der Kompanie zuständig war. Der ging pünktlich 16:00 oder 16:30 nach Hause und ich hatte meine Ruhe. Das Paradies (inmitten der Hölle). Manchmal schlief ich im Büro mit Schlafsack auf dem Tisch. Ich konnte so ausschlafen und wurde am Morgen nicht von der normalen Routine der Kompanie gestört. Das funktionierte aber eben nur, weil Offiziere etwas ganz anderes waren als Unteroffiziere. Die waren abends bis auf den Offizier vom Dienst weg.
Ungebildete Opportunisten?
Diese Strategie hatte für das Regime jedoch auch einige Nachteile. Denn sie zwang viele gebildete, weniger aktive und eher ablehnend eingestellte Personen dazu, einen Militärdienst zu absolvieren, für den sie nicht sonderlich geeignet waren. Dies stärkte die Opposition gegen den Staat oder erzeugte sie bisweilen regelrecht bei Menschen, die sich ansonsten mit der Realität in der DDR abgefunden hätten. Andererseits ermöglichte sie auch Opportunisten den Zugang zur begehrten höheren Bildung, selbst wenn sie dafür von ihren Leistungen her gar nicht geeignet waren.
Das stimmt im Prinzip, ist aber hochgradig irreführend, weil der Unteroffiziersdienstgrad mit dem Offiziersdienstgrad durcheinandergeworfen wurde. Die Zahl der Abiturplätze war sehr gering. Weder im Westen noch im Osten machten damals so viele Menschen Abitur wie heute. Von einer Klasse mit 32 Schüler*innen wurden zwei zum Abitur weiterempfohlen. Da waren dann auch genügend sehr gut gebildete dabei, die dann auch noch drei Jahre zur Armee „wollten“. Anders war das bei den Offiziersbewerbern. Es gab nicht viele, die sich für 25 Jahre für den Dienst fürs Vaterland verpflichten wollten. Wenn das der Fall war, dann wurden die betreffenden Personen gefördert. So kamen auch leistungsschwächere Schüler auf Erweiterte Oberschulen und Spezialschulen.
Das landläufige Argument, dass sämtliche Offiziersbewerber nur durch die Aussicht auf einen Studienplatz geködert wurden, greift jedoch zu kurz. Das mit Rang und Abschluss verbundene Prestige wäre für die überwiegende Mehrheit von ihnen ansonsten unerreichbar geblieben, sodass viele Arbeiterkinder es weniger als Bürde, sondern eher als Chance begriffen.
Das gesamte Kapitel verliert natürlich an Wert, weil nicht klar ist, ob Unteroffiziere oder Offiziere gemeint sind. Das Offiziersstudium dauerte vier Jahre. Danach hatte man eben ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Wie das mit dem Prestige aus Arbeitersicht aussah, vermag ich nicht zu beurteilen. Offizier war in der DDR etwas anderes als in der BRD. Offiziere waren Teil der Staatsmacht und eben auch, weil jede*r das werden konnte, war es nicht besonders angesehen. Aber wahrscheinlich variierte das auch über die verscheidenen Phasen der DDR hinweg.
Die Unteroffizierslaufbahn war in keinem Fall mit Prestige verbunden. Ich habe das Ganze eher als Schmach empfunden. Ich musste mich dem Druck beugen und haben drei Jahre meiner Jugend in Bad Düben und Kamenz verplämpert.
Es gab übrigens zum Ende der DDR noch einen Spezialwitz: Die DDR brauchte dringend Informatiker. Deshalb war es irgendwie irrsinnig, Männer mit entsprechendem Studienwunsch im Wald rumliegen zu lassen. Ab 1987 konnte man deshalb mit dem Studienwunsch Informatik einen reduzierten Wehrdienst von nur neun Monaten ableisten. Voraussetzung war, dass man sich vorher für drei Jahre verpflichtet hatte. Leider kam diese Reglung für mich zu spät, denn 1987 war ich schon ein Jahr bei der Armee. Die, die ein Jahr jünger waren als ich, kamen so ein Jahr vor mir wieder raus. Tja.