Manfred Kriener schreibt in der taz einen guten Artikel über den Atomausstieg nach der Reaktorkatastrophe. Er ordnet darin Angela Merkels Handeln ein. An sich ein schöner Artikel, den man schön weitervertwittern könnte, wenn, ja wenn nicht diese eine Passage wäre:
Merkel, die Kanzlerin der schwarz-gelben Laufzeitverlängerung, wird als Kanzlerin des Atomausstiegs in die Geschichtsbücher eingehen. Dabei hatte sie nie verstanden, wie fundamental der Atomkonflikt die westdeutsche Gesellschaft über Jahrzehnte vergiftet hatte. Die blutigen Schlachten an den Bauzäunen Ende der 70er Jahre, die Massenproteste der 80er Jahre, die jahrzehntelangen Kämpfe unzähliger Bürgerinitiativen, die die Grünen erst möglich machten: Merkel kannte die relevanteste Protestbewegung der alten Bundesrepublik nur aus den Kurzmeldungen im Neuen Deutschland.
Manfred Kriener: Die letzten Kurven der Talfahrt, taz, 9.3.2011
Was ist das Problem? Aussagen wie diese sind nicht nur Geätze gegen Merkel sondern eine Beleidigung für jeden politisch interessierten Ostdeutschen. Es gab in der DDR viele Möglichkeiten, sich zu informieren. Als Jugendlicher habe ich Zeitungen ausgetragen, das ND lasen nur die wenigsten. Die, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Die, die statt der DDR-Fahne (oder gar keiner Fahne = Widerstand) zum ersten Mai die rote Fahne aus dem Fenster gehängt haben). Wenn man ein bisschen was über Angela Merkel weiß, dann kann man ahnen, dass sie nicht das ND gelesen hat, jedenfalls nicht als einzige Tageszeitung. Außerdem gab es noch andere Informationsquellen, die auch bis auf kleine Gebiete in Sachsen (dem so genannten Tal der Ahnungslosen) überall verfügbar waren:1 Radio und Fernsehen. Angela Merkel wohnt seit 1978 in Berlin (siehe Wikipedia-Eintrag) und konnte also SFB, Rias und alle West-Fernsehprogramme empfangen. Ab und zu kamen westliche Presseerzeugnisse über die Grenze. Von Verwandten oder Diplomaten rübergebracht. Diese wurden von vielen, vielen Menschen gelesen. Es gab in der DDR ein sehr großes Interesse am Westen und der politischen Entwicklung dort.
Warum schreibe ich das alles auf? In der selben Ausgabe der taz hat Anne Fromm über die Absatzzahlen der Westpresse in Ostdeutschland geschrieben:
2,5 Prozent ihrer Gesamtauflage verkauft die Süddeutsche Zeitung in den Neuen Bundesländern. 3,4 Prozent sind es bei der FAZ, etwa 4 Prozent beim Spiegel. Bei der taz sind es, das steht nicht in der Studie, rund 6 Prozent.
Anne Fromm: Presse in Ostdeutschland: Wer streichelt unsere Seele? taz, 9.3.2021
Woran könnte das nur liegen? Anne Fromm beschreibt es in ihrem Artikel sehr genau.
Statements wie das von Manfred Kriener sind Beleidigungen, wie auch Vorschläge wie der von Markus Liske, der – ebenfalls in der taz – dazu aufrief, nicht mehr in den Osten zu reisen, weil dort alle Nazis seien (siehe Blogbeitrag Reisende, meidet Nordrhein-Westfalen!). Wenn das in ausreichender Frequenz in Presseerzeugnissen vorkommt, hören Menschen auf, das zu lesen. Warum sollten wir den Wessis noch Geld dafür geben, dass sie uns beleidigen? Legendär ist auch das Spiegel-Cover, nach dem dieser Blog benannt ist (siehe Ich will was sagen).
Solche Beiträge kann man bringen, wenn man die Ossis nicht als seine Leser*innen sieht. Wahrscheinlich ist das bei vielen Autor*innen so. Es verstärkt aber das Problem, das wir auf sehr vielen Ebenen haben. Menschen beziehen Informationen aus Facebook-Gruppen, Telegram-Kanälen und anderen lustigen Quellen. Das Ergebnis ist Populismus, sich verstärkende Echokammern mit Fakenews, Hass auf Andersdenkende, die Lügenpresse und den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk. Es ist also auch im eigenen Interesse der klassischen Medien, auf die Ossis zu achten, die Ossis zu achten. Sich zu informieren und zu versuchen, die Position von Minderheiten mitzudenken.
Hier ein Vorschlag: Als die taz noch old-school produziert wurde, gab es Setzer. Diese haben mitunter lustige Kommentare in die Texte der taz-Autor*innen eingebaut. (siehe … die Säzzer-Kommentare) So etwas brauchen wir wieder. Es müsste einen Ossi vom Dienst geben, der das Recht dazu hat, zu allen Belangen, die den Osten betreffen, einen (kurzen) Kommentar einzufügen. Mir hätte es schon gereicht, wenn hinter der oben zitierten Passage gestanden hätte „[Was fürn Quatsch, Ossi vom Dienst]“. Es könnte ein Pool aus Ost-Autor*innen, ‑redakteur*innen gebildet werden, die sich dann Artikel vor der Veröffentlichung noch einmal ansehen. Ich würde dafür 100€ im Monat bezahlen und man könnte das Vorhaben sicher über Crowd-Funding auch noch besser ausstatten. Ich würde auch selbst mitarbeiten, falls das möglich ist. Dann würde ich mich über die Artikel freuen, an denen ich etwas rummeckern kann, ehm, ich meinte, zu denen ich mit meinem Erfahrungsschatz beitragen kann. =:-) Wenn sich das nicht in den mitunter hektischen Pressealltag integrieren lässt, könnte man zumindest ein Kommentarrecht für die Online-Artikel etablieren und zwar für Säzzer-style Einwürfe im Text, nicht in irgendwelchen Kommentarfunktionen. Diese könnten dann auch nach Veröffentlichung eingefügt und sogar mit längeren Begründungen verlinkt werden. So würden alle lernen.
Der größere Wurf wäre die Einrichtung einer Stiftung, die Ossis in der Journalistenausbildung unterstützt und ihnen danach eine Startphase finanziert, denn wie Anne Fromm dargelegt hat, braucht man für Journalismus zur Zeit finanziellen Rückhalt in der Familie und der ist im Osten meistens schlicht nicht gegeben.