Ich dachte, ich sei fertig mit Anne Rabe (siehe Posts in Kategorie Anne Rabe), aber ich wollte die Sendung Zwischentöne mit ihr noch mal komplett hören. Es ist wirklich erschütternd, wie wenig Anne Rabe über die DDR weiß. Da ihre Gesprächspartner*innen meist aus dem Westen sind, bleiben ihre Aussagen auch unwidersprochen und werden weiterverbreitet.
Waschmaschinen
Anne Rabe behauptet, in der DDR hätte es keine Waschmaschinen gegeben.
Tatsächlich auf jeden Fall weiß ich, dass meine Mutter zu der Zeit allein gelebt hat mit uns, weil mein Vater noch woanders studieren war und das ist was, worüber ich manchmal so nachdenke, weil tatsächlich, also diese tatsächliche materielle Armut besonders für die Frauen so in den 80er Jahren ein ziemlich hartes Leben bedeutete, so ohne Waschmaschinen, ohne Badezimmer, also dieses Windeln auskochen, ohne das, was wir heute alles so haben und die Kinder eben sehr früh morgens in den Kindergarten bringen und dann weiter zur Arbeit. Also das ist was, worüber ich manchmal nachdenke, dass das doch ein sehr, sehr anstrengendes Leben gerade für junge Mütter war.
Anne Rabe im Interview in den Zwischentönen
Wikipedia schreibt zum Thema Waschmaschinen:
Die WM 66 war eine Waschmaschine, die in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ab 1966 gebaut und verkauft wurde. Die Bezeichnung WM stand für Wellenradwaschmaschine. Aufgrund der einfachen technischen Konstruktion war sie vergleichsweise preiswert und gekennzeichnet durch leichte Bedienbarkeit, eine kompakte Bauform, sehr geringe Stör- und Fehleranfälligkeit sowie eine lange Lebensdauer. Dies trug dazu bei, dass sie sowohl für den DDR-Markt als auch für den Export millionenfach produziert wurde. Die weite Verbreitung der WM 66 machte sie zu einem der bekanntesten Elektrohaushaltsgeräte in der DDR und zum Symbol für den Anstieg des Lebensstandards, der ab dem Ende der 1960er und dem Beginn der 1970er Jahre die soziale Entwicklung in der DDR kennzeichnete. Hersteller war der VEB Waschgerätewerk Schwarzenberg – Betrieb des Kombinates Haushaltsgeräte.
Wikipedia-Artikel zur WM 66.
Und so sah sie aus:
Meine Eltern hatten auch eine Waschmaschine. Sogar einen Waschvollautomat. Meine Mutter hat damit meine Hosen geschrumpft, weshalb ich mich genau daran erinnern kann. Die Waschmaschine stand im Bad. Eine Trommelwaschmaschine. Ein Toploader. Wir sind 1976 in die Wohnung gezogen. Da war sie schon da. Nach Auskunft meiner Mutter war es eine WVA66. Meine Mutter hatte sie zu meiner Geburt (1968) von meinem Großvater bekommen. Die hatte 2800 Mark gekostet, was viel, viel Geld war, aber mein Opa war Ingenieur bei Zeiss. Wikipedia schreibt zu diesem Gerät:
1966 wurde ein Waschvollautomat ohne Bodenbefestigung in Schmalbauweise mit der Typbezeichnung WVA 66 (Nachfolgegerät WVA 68) vorgestellt. Die Beschickung der Waschtrommel mit Wäsche erfolgte von oben (Toplader). Die Behälterbaugruppe mit Antriebssystem war schwingbeweglich in Federn zur Kompensation der Unwuchtkräfte während des Schleuderganges aufgehängt, sodass das Gerät ohne Bodenbefestigung betrieben werden konnte. Die Schleuderdrehzahl betrug 850/min. Das Gerät war auf ausfahrbaren Laufrollen ortsbeweglich.
Wellenradwaschmaschinen gab es ab 640 Mark. Ich hatte auch selbst so eine Wellenradwaschmaschine, als ich eine eigene Wohnung hatte (1989). Das Rad am Boden riss alle Knöpfe ab. Wikipedia: „Nachteil des Wellenradsystems ist der relativ hohe Wäscheverschleiß, da die Wäsche teilweise auch vom rotierenden Wellenrad erfasst wird.“ Aber Windeln und Karate-Anzüge haben keine Knöpfe, dafür waren sie auf alle Fälle geeignet. Die Schleuder war extra. Als Student hatte ich das Geld, was ich als Stipendium bekam. Das waren 300 Mark, weil ich bei der Armee gewesen war. Sonst lag es bei 200 Mark. Ich weiß nicht, wo ich die Waschmaschine her hatte. Kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass Geld ein Problem gewesen wäre. Vielleicht habe ich sie gebraucht gekauft oder geschenkt bekommen von jemandem, der sich eine bessere gekauft hat.
Das DDR-Designmuseum schreibt zum Thema Waschmaschinen:
Welcher DDR-Bürger kennt diese Waschmaschinen nicht. Der Name Schwarzenberg war ein Begriff.
1961 entstand der Waschvollautomat WVA 61. 1966 die WVA 66 mit Schleudergang, 1987 der Waschvollautomat VA 68‑E.
Die erste Waschmaschine vom Typ „WM 66“ wurde ab 1966 hergestellt. Die Maschine konnte weder spülen noch schleudern. Die Bezeichnung WM steht für Wellenradwaschmaschine. Die Hausfrau benötigte zum Schleudern eine Tischschleuder.
Auf der Museumsseite gibt es Bilder der verschiedenen Modelle und der Schleudern. Auf der Wikipedia-Seite des Waschgerätewerks Schwarzenberg findet man Information zu den verkauften Stückzahlen. Anne Rabe scheint die einzige DDR-Bürgerin zu sein, die diese Waschmaschinen nicht kennt. Vielleicht hatte ihre Mutter die Maschine im Keller und hat das vor ihrer Tochter geheim gehalten. Anders ist das nicht zu erklären. Vielleicht hatten sie auch wirklich keine, obwohl es eine Funktionärsfamilie mit zwei arbeitenden Erwachsenen und einem Funktionärsgroßvater waren, aber dann müssen sie das Geld irgendwie anders verplämpert haben.
Übrigens: Es gab in der DDR Ehekredite, die man „abkindern“ konnte. Die waren genau für solche Dinge wie Waschmaschinen gedacht.
Zwischen 1972 und 1988 wurden 1.371.649 Ehekredite mit einem Gesamtvolumen von 9,3 Milliarden Mark vergeben, von denen etwa ein Viertel „abgekindert“ wurde.
Wikipedia: Ehekredit
Die Ehekredite gab es für Paare, „deren gemeinsames Einkommen bei Eheschließung nicht über 1.400 Mark lag“. Rabe sagt, dass ihre Mutter gearbeitet hat. Ihr Vater hat vielleicht ein Stipendium bekommen. Entweder, sie haben über 1400 Mark verdient, dann konnten sie eine Waschmaschine kaufen oder sie haben weniger verdient, dann hätten sie einen Kredit über 5000 Mark bekommen, von dem sie nur 2500 Mark hätten zurückzahlen müssen. Das wäre praktisch ein geschenkter Waschvollautomat gewesen.
(Nachtrag: 09.04.2024 Peer hat mich auf folgende Information zur Verbreitung von Waschmaschinen hingewiesen:
1986 befanden sich in 94,4 Prozent aller DDR-Haushalte Waschmaschinen, davon ca. 13 Prozent Waschvollautomaten, ca. 40 Prozent Waschautomaten und ca. 47 Prozent Bottichwaschmaschinen; Hans-Joachim Scheithauer u. Michael Laue, Moderne Waschmaschinen – sparsame Helfer im Haushalt, in: Energieanwendung 37, 1988, H. 6, S. 229ff., hier S. 229; Statistisches Amt der DDR (Hg.), Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990, Berlin 1990, S. 324f.
Wölfel, Sylvia. 2012. „Planmäßige Verringerung des Bedarfs“ Die Entwicklung verbrauchsarmer Haushaltsgeräte in der DDR. Technikgeschichte 79(1). 45–60. (doi:10.5771/0040–117X-2012–1‑45)
Diese Verbreitung entspricht in etwa der heutigen Verbreitung in der Bundesrepublik, die bei 96,2% liegt.
Das bedeutet, so die Aussage über „tatsächliche materielle Armut“ und die fehlende Waschmaschine in der Familie Rabe denn korrekt ist, dass diese Familie sehr speziell war. Aber diesen Verdacht hatte ich ja schon mehrfach und Rabe selbst äußert sich ja auch so bzgl. der Gewalt in ihrer Familie.)
Homosexualität
Im Interview in den Zwischentönen beschreibt Anne Rabe, wie sie festgestellt hat, dass der Sozialismus der DDR ganz schrecklich war:
Rabe: Eigentlich gab es einen Moment, einen Auslöser, an den ich mich sehr gut erinnere und zwar war ich so mit 18, Silvester in Hamburg und war dann mit meinem Freund damals im Kino und wir haben den Film geguckt von Julian Schnabel, Before Night Falls. Ein ganz toller Film, den ich sehr empfehlen kann, über den kubanischen Schriftsteller Reynaldo Arenas, einen homosexuellen Schriftsteller, der deshalb auf Kuba verfolgt wurde für seine Homosexualität. Und das war ein sehr berührender Film, da gibt es dann auch so Verschnitte mit vielen Castro-Reden über Homosexualität und das war der Moment, ich konnte hinterher gar nicht aufstehen aus dem Kinosessel, wo mir so bewusst wurde, dass das, ich bin mit einem sehr positiven DDR-Bild, einem sehr positiven Bild vom Sozialismus und auch so sehr naiv damals noch so im Sinne von „Das wäre eigentlich die Lösung für die Probleme unserer Zeit jetzt.“ aufgewachsen, hatte nicht viel gehört über die Abgründe dieses Systems und das war für mich dann klar, ach so, das ist alles ganz, ganz anders und ich selbst wusste damals auch schon eben, ich bin nicht heterosexuell, ich bin selber queer, für mich gäbe es da keinen Platz vielleicht oder das wäre infrage gestellt und das war so ein ganz, ganz berührender Moment, der mich richtig geschockt hat und da war mir klar, ach nee, hier stimmt eigentlich gar nichts.
Schwarz: Mit 18, im Jahr 2002, nee 2004.
Rabe: Genau und dann habe ich tatsächlich angefangen auch darüber zu lesen und mir selbst ein Bild zu machen über die DDR, über das, was da so alles so los war und dann gerät man ja relativ schnell, kommt man da auf ziemlich finstere Angelegenheiten sozusagen. Ja doch, wenn man sucht schon, also das geht schon.
Nun ist es aber so, dass die Einstellung zur Homosexualität im katholisch geprägten Kuba sicher eine andere war als in der DDR der 80er Jahre. Die DDR hatte 1968 den Paragraph 175 gegen Homosexualität lange vor der BRD (1994) abgeschafft und in den 80er Jahren gab es Schwulengruppen in der FDJ und der SED, die versuchten, den kirchlichen Gruppen, die es schon seit den 70ern gab, Konkurrenz zu machen bzw. mit denen zu kooperieren.
Man kann dazu bei der Bundeszentrale politischer Bildung nachlesen:
1988/89 kam es zur Gründung von schwul-lesbischen Gruppen bei der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und in Klubhäusern. In Leipzig nannte man sich „RosaLinde“, in Dresden „Gerede“. Ziel war es, ein schwul-lesbisches Engagement außerhalb der Kirche zu initiieren. Man versuchte auch, Parteimitglieder in bestehende Organisationen einzuschleusen oder dort angeschlossene Genossen für die SED-Ziele zu instrumentalisieren, beispielsweise im Sonntags-Club. Nachdem dieser Versuch gescheitert war, wurde – als Konkurrenz – die Gruppe „Courage“ gegründet. Die FDJ gab allen Jugendklubs vor, einmal im Monat eine Veranstaltung zum Thema Homosexualität zu organisieren. Die unter dem Dach der SED in verschiedenen Städten gegründeten Gruppen bildeten die „Interessengruppe Theorie“, die schwul-lesbische Politik auf marxistisch-leninistischer Basis, aber auch eine Vernetzung mit den kirchlichen Arbeitskreisen anstrebte.
Könne, Christian. 2018. Schwule und Lesben in der DDR und der Umgang des SED-Staates mit Homosexualität. Bundeszentrale für politische Bildung.
Ich hatte einen schwulen Klassenkameraden, der mir Infomaterial kirchlicher Gruppen zu Homosexualität gegeben hat (ca. 1985). Jörg ist jetzt Pfarrer und hat es sich erkämpft, dass er mit seinem Mann im Pfarrhaus wohnen darf (Mayer, 2015).
John Zinner hat sich in Lauscha, einer kleinen Stadt in Thüringen, geoutet. Er ist stadtbekannt. Das Outing war wegen seines homophoben Stiefvaters nicht einfach, aber er hat es nach einer abgebrochenen Republikflucht doch durchgezogen. Das kann man in einem Artikel in der Zeit von 2016 nachlesen.
Kneipen
Wir wussten von Schwulentreffs in der DDR. Von einem Lokal an der Schönhauser Allee Ecke Kastanienallee hat mir mein Mathelehrer erzählt. Den Namen habe ich leider vergessen. Wahrscheinlich war es das Cafe Schönhauser. Es gab die Offenbachstuben. Die Prenzlauer-Berg-Nachrichten schreiben über schwule Treffpunkte:
Nach der Zeit vor der Wende befragt, fallen Patrick mehrere legendäre Locations für schwules Publikum ein: „Es gab das Café Schönhauser, die Schoppenstube und den Burgfrieden“, zählt er auf. „Der Film Coming Out wurde in diesen Kneipen gedreht“, weiß Walter zu berichten. Und das war ein wahrer Meilenstein: Coming Out (Regie: Heiner Carow) war der einzige Film mit zentral schwuler Thematik, der in der DDR je produziert wurde – im November 1989 kam er in die Kinos. Auch (Ost-)Berlins bekannteste Trans*-Person, Charlotte von Mahlsdorf, ein Name, der im Laufe des Abends häufiger fällt, hatte eine Rolle in Coming Out.
Caldart, Isabella. 2018. Verschwinden die schwulen Kneipen? Prenzlauer Berg Nachrichten.
In Könne (2018) wird angemerkt, dass es in Ost-Berlin viel weniger Schwulen-Kneipen gab als vor dem Krieg. Dazu muss man allerdings wissen, dass es in Ost-Berlin insgesamt eine Unterversorgung mit Kneipen gab. Man müsste das also ins Verhältnis zur Gesamtkneipendichte setzen, wenn man irgendetwas daraus ableiten will.
Papier
Könne (2018) schreibt zu Papierkontingenten:
Selbst Papierkontingente für Flugblätter wurden staatlicherseits nicht genehmigt.
Das hört sich für Nicht-Ossis oder Nachgebohrene sicher nach schlimmer Unterdrückung an. Die fehlende Hintergrundinformation ist, dass es einen extremen Mangel an Papier gab. Die meisten Druckerzeugnisse waren so genannte Bückware. Man konnte nicht ohne weiteres Abos für Periodika abschließen. Ich habe jahrelang für meine Mutter auf dem Schulweg am Bahnhofskiosk versucht, die Für Dich und die NBI zu ergattern. Ich war früh um 7:00 dort und es hat meistens geklappt. Wenn ich es verbaselt hatte, war meine Mutter sauer.
Das Mosaik habe ich auch meistens bekommen, aber meine Sammlung hatte auch Lücken.
- Mosaik (Comic für Kinder und Jugendliche)
- Neues Leben (Jugendzeitschrift)
- Für Dich (Wochenzeitschrift für die Frau)
- NBI (Neue Berliner Illustrierte, Wochenzeitschrift)
- Das Magazin (monatlich erscheinende Zeitschrift mit Geschichten und Akt-Bildern)
Wenn also der Staat den Schwulen- und Lesben-Verbänden Papier genehmigt hätte, dann hätte das bedeutet, dass er Homosexualität nicht nur nicht behindert, sondern auch fördert. Das passte nun aber gar nicht ins System. Wieso sollte der Staat etwas fördern, das er nicht unter Kontrolle hatte und das ihm eventuell Schwierigkeiten bereiten würde? Gefördert wurden eigene Massenorganisation oder Gruppen, die die eigene Ideologie propagierten.
Vervielfältigungsmaschinen und Papier gab es nicht. Ich habe eine Zeitschrift, die ich mit einem Freund gemacht habe, auf NVA-Druckern ausgedruckt. Der Telegraph wurde mit Uralt-Druckwalzen vervielfältigt.
Stasi
Könne (2018) schreibt, dass die Stasi Schwulen- und Lesbenverbände bespitzelt hat. Das hört sich schlimm an und es war auch schlimm, aber als Hintergrundinformation muss man wissen, dass alle Gruppierungen, die sich gebildet haben, von der Stasi unterwandert und beobachtet wurden. Allen war klar, dass bei einem Treffen von drei Leuten, einer bei der Stasi war. Manche, wie zum Beispiel Vera Wollenberger, hatten die Stasi mit im Bett. Da war sie sogar in Zweiergruppen dabei. Das war die DDR. Ein Staat, der seiner Bevölkerung nicht traute und sie lückenlos überwacht hat.
Die Schwulen- und Lesbenverbände haben das einzig Richtige getan: Sie haben die Stasi mit offenen Armen empfangen.
Einstellung zu Homosexualität in Aufklärungsbüchern und der Wissenschaft
Im Aufklärungsbuch „Mann und Frau intim“ gibt es ein Kapitel zur Homosexualität, das im Wesentlichen dem entspricht, was fortschrittliche Menschen heute über Homosexualität denken. Das Buch ist 1971 erschienen und wurde wiederholt unverändert nachgedruckt. Mir liegt die 12. unveränderte Auflage von 1979 vor. Meine Ausgabe ist aus dem Verlag Volk und Gesundheit, Berlin. Nach Wikipediaeintrag des Autors Schnabl ist es vorher 1969 in Rudolstadt und auch als geringfügig gekürzte Lizenzausgabe 1969 in der BRD veröffentlicht worden. Das Buch wurde ins Tschechische (1972), Bulgarische (1979) und Russische (1982) übersetzt. Bis 1990 hatte das Buch 18 Auflagen.
Da in der DDR nicht einfach irgendwer irgendwelche Bücher veröffentlichen konnte, kann man davon ausgehen, dass das die offizielle Meinung zum Thema war. Können (2018) schreibt:
Dies zeigte sich in den Ratgebern zur Sexualität für Erwachsene. So wurde 1977 Homosexualität im Aufklärungsbuch „Mann und Frau intim“ als eine von mehreren Möglichkeiten menschlicher Sexualität dargestellt. 1984 fand sich in „Liebe und Sexualität bis 30“ erstmals ein Kapitel zur Homosexualität, das diese positiv darstellte. Es ist nicht belegt, dass eine solche Änderung auch in den Unterrichtshilfen erfolgte. Im selben Jahr wurde vom Berliner Magistrat, der Ost-Berliner Stadtverwaltung, eine Gruppe von Wissenschaftlern an der Humboldt Universität eingesetzt, die Konzepte erarbeiten sollte, um die Lebensumstände und Lebensbedingungen von Schwulen und Lesben zu verbessern.
DDR-weit gab es von 1985 bis 1990 drei interdisziplinäre Workshops an verschiedenen Universitäten mit dem Fokus auf homosexuellen Emanzipationsbewegungen. 1987 erschien mit „Homosexualität“ die erste populärwissenschaftliche Publikation in der DDR. 1988 produzierte das Deutsche Hygiene-Museum Dresden den Aufklärungsfilm „Die andere Liebe“. Die Broschüre zum Film informierte über die Geschichte und das aktuelle Leben Homosexueller sowie über die Kenntnisse der Wissenschaft und gab Tipps für den Alltag des Einzelnen – und speziell für Eltern und Erzieher.
Könne, Christian. 2018. Schwule und Lesben in der DDR und der Umgang des SED-Staates mit Homosexualität. Bundeszentrale für politische Bildung.
Es gab ein Aufklärungsbuch für Jugendliche ab 12 Jahren: Denkst Du schon an Liebe von Heinrich Brückner.
Zu DDR-Zeiten habe ich es gelesen, es stand bei meinen Eltern im Schrank. Ich habe es mir extra jetzt noch einmal gekauft (4. Auflage von 1976). Es gibt auch in diesem Buch ein Kapitel über Homosexualität und diese wird als normale Variante dargestellt. Ich denke, dass das auch den Ansichten entspricht, die heute Stand der medizinischen Forschung sind. Einziger Unterschied ist wahrscheinlich das Schutzalter (§151), das in dem Buch noch gerechtfertigt wird, aber in der DDR auch 1988 abgeschafft wurde.
Kuba und Homosexualität
Kuba war nach der Revolution bis zu Fidel Castros Tod von diesem kontrolliert und gelenkt. Wie Rabe schreibt, gab es Reden von Castro mit homosexuellefeindlichen Äußerungen. Nach dessen Tod wurden wichtige Ämter von Raúl Castro übernommen. Interessanterweise leitete ab 1980 Raúl Castros Tochter Mariela Castro Espín das Zentrum für Sexuelle Bildung. Seit 1990 ist sie Direktorin des Centro Nacional de Educación Sexual (Nationales Zentrum für sexuelle Aufklärung – CENESEX). Sie ist LGBTQ-Aktivistin und setzt sich sehr stark für die Rechte der Homosexuellen ein. Der Cuba-Buddy, eine Tourismus-Seite mit Spezialisierung auf Kuba, schreibt:
In den letzten Jahren hat sich die Situation der LGBTQ-Gemeinschaft auf Kuba deutlich verbessert. Im Jahr 2008 wurden Gesetze eingeführt, die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung verbieten. Die Geschlechtsumwandlung wurde legalisiert und ist für jede Kubanerin und für jeden Kubaner kostenfrei und wird vollständig von den Krankenkassen übernommen.
Im September 2022 stimmte eine große Mehrheit der Bevölkerung außerdem bei einem Referendum für eine Reform des Familiengesetzes. Damit ist die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe, die Möglichkeit der Leihmutterschaft für homosexuelle Paare sowie Adoption und härteres Vorgehen gegen geschlechterspezifische Gewalt beschlossen worden.
Vor genau zehn Jahren, 2013 fand die erste offizielle Pride-Woche in Havanna statt, an der Tausende von Menschen teilnahmen. Seitdem erstrahlt die Hauptstadt jedes Jahr für eine Woche in den Farben der Community.
Der Cuba buddy: Geschichte der LGBTQIAS+-Gemeinschaft in Kuba
Aus wirtschaftlichen Gründen intensivierte Kuba ab den 80er Jahren den Tourismus und war deshalb auch an einer fortschrittlicheren Sicht auf Homosexualität interessiert. 2022, also ein Jahr vor dem Interview mit Rabe, wurden die Familiengesetze in Kuba modernisiert, so dass man jetzt gleichgeschlechtlich heiraten kann. Kuba hat jetzt eins der liberalsten Familiengesetze weltweit.
Kuba ist immer noch ein sozialistisches Land, ein Einparteiensystem mit einer kommunistischen Partei. Die Frage, die man sich stellen muss, ist, warum es so lange gedauert hat, bis die Gesetze geändert wurden. Und die Antwort ist, dass in solchen Diktaturen des Proletariats, also de facto Einparteiensystemen, je nach Gegebenheiten im jeweiligen Land, viel an Einzelpersonen hängen kann. Die Menschen, die, als Rabe drei Jahre alt war, an den runden Tischen saßen, waren zum Teil für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Mehr Beteiligung, weniger Überwachung. Eine eigenständige, linke, progressive DDR.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass das Familiengesetz aufgrund eines Referendums geändert wurde. Das zeigt, dass es in Kuba heutzutage eine Beteiligung des Volkes gibt. Übrigens setzt sich auch hier Mariela Castro für die Stärkung partizipativer Mechanismen ein.
Schwule und der Sozialismus
Anne Rabe leitete ja aus einem Film über einen Schriftsteller im katholischen Kuba irgendetwas über „den Sozialismus“ ab. Man hätte ja mal gucken können, wie es in der DDR war, um herauszufinden, ob das im Film Gezeigte für den Sozialismus an sich typisch gewesen war. Aber selbst wenn es in der DDR auch so schlimm gewesen wäre, wäre man noch nicht fertig gewesen. Es hätte ja sein können, dass die DDR vielleicht als Nazi-Erbe noch bestimmte spezielle homophobe Einstellungen tradiert hätte, die aber nicht zwangsläufig mit dem Sozialismus gekoppelt gewesen sein müssten. Dazu hätte man überprüfen müssen, wie es in anderen Ländern des Ost-Blocks gewesen ist. Können (2018) schreibt dazu:
Die sich in der DDR formierende Emanzipationsbewegung war durch dieselbe Filmproduktion beeinflusst wie die der Bundesrepublik und suchte sich auch später ihre Vorbilder im Westen. Solche aus der frühen Geschichte der UdSSR, wo die Strafbarkeit für Homosexualität – zwischen 1917 und 1934 – abgeschafft worden war, wurden nicht genutzt. Kontakte mit Homosexuellen aus anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks wie Polen, ČSSR oder Ungarn, in denen Homosexualität teilweise ebenfalls seit den 1960er straffrei war, sind aber ab 1987/88 bezeugt.
Das zeigt, dass die Sowjetunion, wo zumindest die spätere Hälfte des Marxismus-Leninismus herkam, schon vor 1934 eine andere Einstellung zur Homosexualität hatte als die Deutschen, die ihr 1000jähriges finsteres Kapitel da gerade erst begonnen hatten. 1934 wurde Röhm ermordet und dann war der Weg frei für die systematische Verfolgung und Vernichtung Homosexueller (Wikipedia: Homosexualität in der Zeit des Nationalsozialismus). In Polen wurde die Homosexualität sogar 1932 schon straffrei und homosexuelle Prostitution 1968 legalisiert.
Schlussfolgerung
An der DDR gab es viel zu bemängeln und ich war auch im Oktober 1989 in der Gethsemane-Kirche und habe protestiert, aber aus einem Film über das schwere Leben eines schwulen Schriftstellers in Kuba abzuleiten, dass der Sozialismus schlecht ist, halte ich für etwas gewagt. Schlimm ist es dann, wenn eine queere Person 2023, also 19 Jahre später, diese Geschichte völlig unreflektiert erzählt.
Der Sozialismus ist tot, es lebe der Solzialismus!
Anne Rabe ist Mitglied der SPD. Aus meinen verschiedenen Blog-Beiträgen sollte klar geworden sein, dass Anna Rabes Arbeit sich nicht durch Gründlichkeit auszeichnet. So hat sie wahrscheinlich auch nicht wirklich nachgeschaut, in welche Partei sie eingetreten ist. Die SPD war ursprünglich eine Arbeiterpartei. Mein Opa war drin, sein Bruder war in der SAJ, der Jugendorganisation der SPD. Er hat im KZ gesessen für Flugblätter für eine Einheitsfront aus KPD und SPD (siehe Blog-Post zu Rabes Ideen von Blutschuld). Die SPD war bis 1959, bis zum Godesberger Programm, eine marxistisch-leninistische Partei. Das haben sie dann aus dem Programm geworfen, aber sie wollen immer noch den (demokratischen) Sozialismus aufbauen (siehe Hamburger Programm, 2007). Ob das mit dem aktuellen Personal was wird, ist noch eine andere Frage, aber das ist zumindest das Ziel. Die SPD steht zur Zeit nirgendwo im Osten da, wo sie stehen könnte, in Sachsen bei 6%, und Anne Rabe ist Teil des Problems. Sie hilft dem Westen, wie Oschmann es sagen würde, sich einen Osten zu konstruieren. Mit diesen Menschen möchte im Osten niemand zu tun haben. Damit dieses Problem irgendwann im Westen ankommt, schreibe ich diese Blog-Beiträge.
Zusammenfassung
Liebe Wessis, liebe dritte oder vierte Generation Ossis: Anne Rabe ist keine zuverlässige Quelle für irgendwas. Wenn Ihr sie interviewt, bereitet Euch gut darauf vor. Wenn Ihr über Ihre Aussagen schreibt, recherchiert selbst. Ihr werdet sonst auch Teil der großen Peinlichkeit.
Quellen
Anne Rabe: „In verwirrenden Zeiten sind einfache Narrative verführerisch“. 2023. Deutschlandradio. (Zwischentöne.) (https://www.deutschlandfunk.de/anne-rabe-in-verwirrenden-zeiten-sind-einfache-narrative-verfuehrerisch-dlf-84b94bff-100.html)
Könne, Christian. 2018. Schwule und Lesben in der DDR und der Umgang des SED-Staates mit Homosexualität. Bundeszentrale für politische Bildung. (https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/265466/schwule-und-lesben-in-der-ddr/)
Mayer, Verena. 2015. Homosexualität und Kirche: Der Herr Pfarrer und sein Mann. Süddeutsche Zeitung. München. (https://www.sueddeutsche.de/leben/homosexualitaet-und-kirche-der-herr-pfarrer-und-sein-mann‑1.2218981)
Timtschenko, Maria. 2016. DDR: Ein Mann findet sein Glück. Die Zeit (50/2016). (https://www.zeit.de/2016/50/ddr-thueringen-homosexualitaet-lauscha/)
Wölfel, Sylvia. 2012. „Planmäßige Verringerung des Bedarfs“ Die Entwicklung verbrauchsarmer Haushaltsgeräte in der DDR. Technikgeschichte 79(1). 45–60. (doi:10.5771/0040–117X-2012–1‑45)
Rein zufällig bin ich, Jahrgang 1956, geboren in Leipzig, auf Ihrem Blog gelandet.
Es wird eine sowohl vergnügliche als auch interessante Lektüre.
Zum Thema Waschmaschine: Meine Mutter hatte bereits 1963 eine Romo-Waschmaschine aus der CSSR in der seinerzeit ovalen Ausführung.
Das Bremsgeräusch der Schleuder klang als würde eine Tatra-Straßembahn durch die Küche fahren.
In meinem Freundes- und Bekanntenkreis gab es bereits Ende der 70er Jahre offen homosexuell lebende Männer und Frauen.
Das von Professor Dr. Helmut Kraatz verfasste autobiographische Buch “Zwischen Hörsaal und Klinik”, Ersterscheinung 1977, befasst sich unter anderem mit der Behandlung von intersexuellen und transsexuellen Menschen in der DDR.
Ich bin oftmals erschöpft als “Erklärbärin”.
Danke, Gabi. Ja, es ist manchmal schwierig, gegen diese ganzen Klischees anzustinken. Schlimm, dass jetzt noch unsere Kinder anfangen, Mist zu erzählen.