In dem Beitrag Geheimplan gegen Deutschland berichtet Correctiv über ein Geheimtreffen von Nazis und Firmeninhabern zum Thema Remigration. Es geht um die Deportation von 20 Millionen Deutschen. Deutsche mit Migrationshintergrund und auch Andersdenkenden. Ich habe mir, wie immer (siehe Der Ossi ist nicht demokratiefähig? Merkt Ihr’s noch?) , den Spaß gemacht, nachzuschauen, wo die Akteure herkommen.
Correctiv gibt folgende Übersicht über die beim Geheimtreffen anwesenden Personen:
AfD
Roland Hartwig (geb. Berlin, 1973 Abitur in Heilbronn), rechte Hand der Parteichefin Alice Weidel
Manche ihrer Überzeugungen habe Mathilda Huss aber nicht einmal in diesen Videos geteilt, sagten mehrere Zeugen ZEIT ONLINE. So soll Huss vergangenes Jahr im kleinen Kreis behauptet haben, dass sich die industrielle Revolution negativ auf den Menschen ausgewirkt habe. Durch die stark gesunkene Kindersterblichkeit würden seither zu viele schwache Kinder überleben, was den Genpool der Menschheit belaste.
Zeit über Huss
Mathilda Huss und Dr. Wilhelm Wilderink sind ein paar und in der Familie gibt es „das eine oder andere Schlößchen“. Das ist bei Ossis eher nicht der Fall, woraus man wohl schließen kann, dass sie auch aus dem Westen ist.
Die Wissenschaftlerin Mathilda Huss und ihr Ehemann, der Jurist Wilhelm Wilderink, sind die neuen Besitzer der Villa Adlon. Sie haben das Haus, das Louis Adlon 1925 für sich und seine zweite Frau Hedda am Lehnitzsee bauen ließ, im März 2011 gekauft und wollen es so detailgetreu wie möglich rekonstruieren. „Wir haben ein Faible für geschichtsträchtige Gemäuer“, sagt Mathilda Huss. „Mein Mann ist in einer alten Klosteranlage aufgewachsen. In meiner Familie gibt es das eine oder andere Schlösschen – wir sind mit dem Thema groß geworden und wissen, dass es eine Herausforderung ist, in alter Bausubstanz so zu leben, dass es funktioniert.“
Henning Pless (Kiel, rechtsextremer Heilpraktiker und Esoteriker)
Ein IT-Unternehmer und Blut-und-Boden-Nazi
Ein Neurochirurg aus Österreich
Zwei Angestellte des Hotels
Nachträge
In diversen späteren Publikationen werden noch folgende Personen genannt:
Hans-Ulrich Kopp (Stuttgart, Funktionär in rechtsextremen Organisationen, rechter Publizist, Verleger von rechtsextremer Literatur und Werken von Papst Benedikt und Bauunternehmer, Artikel taz, 26.01.2024)
Von den 22 genannten Personen (ohne Personal) sind 17 aus dem Westen/Österreich und einer aus dem Osten. Bei zweien sind die Angaben ungenau, so dass man die Herkunft nicht ermitteln kann. Bei zweien ist die Herkunft noch unklar, aber es sind wahrscheinlich auch Wessis (Immobilienmaklerin).
Dieses Dokument von Marianne Meyer-Krahmer beschreibt die letzten Stunden in Sippenhaft im Konzentrationslager und ihre Erfahrungen in der Zeit danach. Marianne Meyer-Krahmer war eins der Kinder von Carl Goerdeler, Oberbürgermeister von Leipzig. Gördeler war am Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt und wurde hingerichtet. Frau Meyer-Krahmer hat dieses Dokument Bekannten von mir gegeben und es ist schließlich zu mir gelangt. Ich denke, sie hat sich die Mühe gemacht, diese Erinnerungen aufzuschreiben, damit sie verbreitet werden und die Veröffentlichung hier ist in ihrem Sinne. Stefan Müller, 27.09.2023
Es gibt einen ähnlichen Beitrag bei der Stiftung 20. Juli. Dort finden sich weitere Details aus der Zeit vor dem Attentat und von der Verhaftung und noch ein Zitat von Gördeler zu Plänen für ein Nachkriegseuropa und zum Thema Optimismus. Hier gibt es Details zum Unterricht (Goethe gegen ein Nazi-Männlichkeitsbild). 04.10.2023
Als Angehörige von Carl Goerdeler waren wir unmittelbar nach dem 20. Juli 1944 in Sippenhaft genommen worden: zunächst in Strafgefängnissen, dann in verschiedenen Konzentrationslagern in Haft gehalten, die Kinder meines älteren Bruders, (neun Monate und drei Jahre alt), ihrer Mutter weggenommen, an einen unbekannten Ort gebracht. – Ich selbst war damals 24 Jahre alt, also erwachsen und bewußt genug, um mich mit dem Kampf meines Vaters gegen Hitler voll identifizieren zu können. Im Sinne der Gestapo haben wir, meine Mutter und meine drei überlebenden Geschwister, uns nie als unschuldige Opfer gefühlt.
Wir waren zunächst im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. Als die Russen sich im Januar 1945 näherten, wurden wir nach Buchenwald transportiert. Als sich dort die Amerikaner näherten, nach Dachau. Und als sie im April in Bayern einzudringen begannen, brachte man uns in die Dolomiten.
Dachau – Abtransport
Wir wurden nicht wie andere KZ-Häftlinge zur Arbeit gezwungen, hatten es dadurch physisch zweifellos leichter. Durch die streng mit vier bewaffneten Wachmännern besetzten Ecktürme unseres Zaunes um die Sonderbaracke waren wir jedoch völlig von jeder menschlich mit uns fühlenden Umwelt abgeschlossen; keine Nachricht von außen über die Kinder, unsere alte Großmutter, den bedrohten Onkel Fritz, von dessen Hinrichtung wir erst nach unserer Befreiung erfahren sollten. Ihn und meinen Vater sollte während der monatelangen Haft nie ein Zeichen der ihnen liebsten Menschen erreichen.
Jede, auch nur zaghafte, Frage an die Wachmannschaften unterließen wir bald, denn nur ein zynisches Achselzucken wäre die Antwort gewesen. Sie hatte uns schon zu oft in neue Ängste gestürzt. Auch das barsche Wort „Abtransport“ kannten wir nur zu gut, um noch nach dem Wohin oder etwa unserer ferneren Zukunft zu fragen. Wir waren rechtlos und vogelfrei.
Heute, nachdem wir so viel von dem erlittenen Leid der geschundenen und in den Tod getriebenen Häftlinge und der Todesmaschine von Auschwitz wissen, stellen sich unsere Ängste und Demütigungen anders, bescheidener dar. Aber mitten in der Ausgesetztheit unserer damaligen Existenz vermochten wir nicht zu relativieren.
Am 30. April 1945, laut war die amerikanische Artillerie zu hören, wurden wir aus dem Konzentrationslager Dachau abtransportiert. – Unvergeßlich hat sich mir dieser Abend eingeprägt. Heute erscheint er mir stellvertretend für alle Not jener Tage.
Diesmal waren die Fenster des Busses nicht verhängt und die Wachmannschaften spürbar nervös. – Wir fuhren in den sinkenden Tag. Die schräg einfallende Sonne beleuchtete mit scharfen Strahlen eine gespenstische Szene: Wir fuhren eine Stunde lang, kilometerlang, vorbei an marschierenden, nein, sich hinschleppenden Häftlingskolonnen. Zahllos schienen diese abgemagerten Elendsgestalten, zu Nummern entwürdigt mit ihren kahl geschorenen Köpfen und in der graugestreiften Häftlingskleidung. Bis in den Bus hörten wir den harten Tritt ihrer Holzschuhe, halb schlurfend, halb marschierend.
Ein grausamer Widersinn lag in dem Bild: Mitten im Chaos des Zusammenbruchs und der Auflösung waren sie noch unter dem Kommando ihrer Bewacher in Reihen und Blocks organisiert und geordnet. Am Straßenrand lagen tote Häftlinge, erschossen oder vor Schwäche umgekommen. – Wohin ging der Weg für die anderen?
War es ein Marsch in die Freiheit? Oder — im Angesicht der Freiheit — zum Erschießen: in den Tod? Todesfurcht und Hoffnung auf Freiheit hielten auch uns in äußerster Spannung. Und diese Spannung wird die Seelen vieler Menschen damals fast zerrissen haben. Auf der Flucht, im sinnlosen Kampf, in der Angst der Bombennächte.
Unser Bus fuhr diesmal in einem Konvoi mit drei anderen, deren Insassen uns unbekannt waren. (Nach der Befreiung erfuhren wir, daß es prominente Häftlinge wie Niemöller, General Halder, der Prinz von Hessen u.a. waren.) Ein Führungswagen mit SS-Offizieren war an der Spitze des Konvois. So sicher wir uns für den Augenblick in unserem Bus fühlen konnten, so gab es die Sicherheit und Gewißheit, am Leben zu sein, nur eben für den Augenblick – wie so oft in dieser Haftzeit.
Niederndorf – Befreiung
Da wir von Beginn unserer Haft an von jeder verläßlichen Nachricht abgeschnitten waren, wußten wir nicht, wie nahe das Kriegsende schon war. Es mag Mitternacht gewesen sein, als uns Stimmengewirr aus dem Dahindämmern aufrüttelte: Lichtstrahlen großer Stablampen fuhren über unsere Gesichter. Soldaten waren zu erkennen. Verdutzt, fast fröhlich riefen sie zu uns herein: „Was machen hier Frauen und Kinder? Wollt ihr etwa noch über den Paß nach Süden? Von da kommen wir doch! Zurück! Es geht zurück in die Heimat.“ – Es waren deutsche Soldaten, die von der italienischen Front über den Brenner zurückfluteten.
Die Rufe verstummten schnell, als die Soldaten unsere strenge Bewachung wahrnahmen. Für uns war es aber die erste Begegnung mit freien Menschen, wenn auch kein Zwiegespräch. (Wir hatten Sprechverbot.) Nun, wir wurden nicht in den Süden gefahren, sondern in scharfem Bogen nach Osten; wie wir später erfahren sollten, ins österreichische Pustertal. Es war schon Tag geworden, als unser Konvoi in einem Waldstück zum Stehen kam. Wir waren gewohnt, langes Warten hinzunehmen. Hatten uns die frischen Stimmen aus der Außenwelt da oben auf dem Brennerpaß nicht Mut gemacht, eben nicht mehr alles hinzunehmen? Jedenfalls bestürmten wir die beiden jungen volksdeutschen Wachmänner, uns wenigstens kurz einmal herauszulassen. Sie fühlten sich wohl schon recht hilflos uns gegenüber, verstanden sie doch kaum ihren Wachtbefehl bei diesen Frauen und jungen Menschen, die ihnen völlig ungefährlich erschienen sein müssen. So gaben sie nach. Zunächst suchte sich jeder von uns nur ganz rasch ein privates Fleckchen. Doch als wir uns wieder zum Einsteigen versammelt hatten, wurden wir plötzlich widerspenstig. Irgendjemand hatte entdeckt, daß der SS-Führungswagen fehlte. Auch aus den anderen Wagen war man ausgestiegen; doch wir zögerten, Verbindung aufzunehmen, nun doch noch im Gehorsam gegenüber dem Verbot der Wachmänner. Nur wollten wir nicht sofort wieder in den Bus. Wir „maulten“, wir hätten Hunger, hätten seit unserer Abfahrt aus Dachau nichts mehr zu essen gehabt. Unser Eigen-Sinn wurde desto heftiger, je zögerlicher und verlegener die Wachleute antworteten.
Heute – im Rückblick – würde ich es eine Etappe auf dem Weg zur Stunde Null nennen. daß sich spontan ein kleiner Trupp von etwa fünfzehn jungen Häftlingen zusammenfand und trotzig erklärte, wir würden uns nun selbst um etwas zu essen kümmern. Wir konnten sehen, daß die Straße am Ende aus dem Waldstück hinausführte; dorthin wollten wir gehen. Wir brachen auf, kein Wachmann hob das Gewehr. Diesmal hinderte uns niemand, fortzugehen, aus eigenem Willen, mit eigenem Ziel. Das Finale dieser Etappe ist rasch erzählt: nach etwa einer Viertelstunde schon begrüßte uns das Ortsschild „Niederndorf“. Jetzt waren wir nicht mehr – wie bisher – im Irgendwo; jetzt kannten wir sogar den Ort, in dem wir waren. Nach all den Geheimniskrämereien der Haftmonate gab es für uns wieder ein Zeichen selbst erfahrener Außenwelt.
Rechts, gleich am Eingang des Dorfes, ein Wirtshaus. Wir öffnen die Tür zum Gastzimmer – da waren sie schon alle versammelt, „unsere“ SS-Offiziere. „Wir wollen etwas zu essen haben!“ Trotzig und doch noch im Bewußtsein der Abhängigkeit begehrten wir auf. Erstaunen. Bestürzung, beinahe Entsetzen und zugleich eine merkwürdige Gefügigkeit zeichnete die Gesichter unserer obersten Bewacher. Die Busse wurden in das Dorf geholt, Brote und Getränke verteilt. In der Schule erhielten wir Quartier. Nur haben wir dort keine Nacht verbracht: Als es Abend wurde, kam mein ältester Bruder, Ulrich, leise eine Hintertreppe heraufgeschlichen, Brote unter dem Mantel versteckt, und flüsterte, wir sollten ihm rasch folgen, es gäbe einen unbewachten Hinterausgang. In kleinen Gruppen fanden wir Unterkommen bei Nachbarn, die erstaunlich spontan bereit waren, uns aufzunehmen. Anders als uns muß ihnen das nahe Kriegsende bewußt gewesen sein, und sie waren nicht mehr bereit, sich auf die Seite der SS zu stellen.
Eigentümlich undramatisch verlief so das Ende unserer Haftzeit. Doch markierte dieses unvermutete Ende keineswegs die „Stunde Null“. Wir waren zwar „frei“, unabhängig aber noch nicht; unsere Situation, rechtlich, praktisch, war völlig undurchsichtig, Zukunft, nah oder fern, unerkennbar. Auf unerklärliche Weise waren die SS-Bewacher am nächsten Morgen verschwunden. Oberst Bonin, der aus Dachau zu uns gestoßen war, bewirkte, daß wir unter die Obhut deutscher Soldaten gestellt wurden. Nicht sofort begriffen wir, daß wir noch Schutz brauchten: der Krieg war an diesem 4. Mai nicht endgültig beendet, das Dorf weitgehend in der Hand von Partisanen, unsere Versorgung keineswegs gesichert. So fuhren uns die Soldaten in ein nahegelegenes, von Truppen gerade geräumtes Hotel am Pragser Wildsee.
Ein paar Tage später erlebten wir die Kapitulation dieser deutschen Wehrmachtseinheit. Die Erinnerung hat sich mir eingeprägt wie ein Standbild: Im Hof uneres Hotels standen die Soldaten im Kreis um die von ihnen in der Mitte aufgeschichteten Gewehre. Nun waren auch sie offensichtlich wehrlos – eine Wehrlosigkeit hilfsbereiter Männer, die uns trotz allem rührte –, und die Amerikaner übernahmen das Kommando. Wir, vordem Häftlinge, vielleicht auch Geiseln, waren unter neuer Aufsicht.
Warteschleife: Capri, Paris, Frankfurt
Unbeschwert waren diese jungen Amerikaner, die nun unsere Betreuer waren! Sie haben wohl gewußt, daß wir dem KZ entkommen waren, verwöhnten uns, schafften wärmere Kleidung herbei, sorgten für reichliche und allerbeste Kost. Ab und an ruderte uns ein freundlicher GI über den Wildsee … Das Glück , freundliche, arglose Menschen um uns zu haben, uns frei bewegen zu können, lockerte die eisernen Reifen, die sich nach vielen Ängsten um unsere Herzen gezogen hatten. Keine Wachtürme, keine Zäune – wir waren wirklich frei. Glücklichsein als schwereloses Gefühl, das wir mit der Vorstellung von „Befreiung“ verbinden, aber hat sich nicht gleich einstellen können. Eher eine Benommenheit, in der unsere Freude sich nur zaghaft vorwagte. Fast brutal überfiel uns die Gewißheit, daß mein Vater und sein Bruder Fritz nicht überlebt hatten – entgegen unseren geheimsten Hoffnungen. Das Leben war nun ohne sie zu bestehen, und es war ein Leben unter dem Vorzeichen gescheiterter Hoffnungen.
Nach zwei Wochen wurde uns – gewohnt freundlich – mitgeteilt, daß wir noch nicht nach Hause kämen, sondern „in die Nähe von Neapel“. Wieder war es schwierig, Gründe oder Zusammenhänge zu verstehen, die über unser Dasein entschieden; wenn wir auch spürten, daß die Amerikaner uns nicht wissentlich quälen wollten. Es verlautete, wir sollten befragt werden, man wolle Näheres über die Konzentrationslager erfahren. Die buntgemischte Gesellschaft, zu der sich unser Gefangenenkorps seit Dachau vergrößert hatte, mußte ja Interesse wecken: ein englischer Oberst vom Secret Service, Mitglieder der Horthy-Familie, Schuschnigg, General Halder und Pastor Niemöller. Wir selbst waren aber nicht im geringsten neugierig, wir wollten nur an den Ort, an den wir wirklich gehörten. In Italiens Süden kämen wir – mit welcher Vorfreude würde ich heute die Botschaft hören! Damals machte uns die Nachricht nur traurig und auch zornig. Capri, die Trauminsel, wieder nur ein Asyl.
Auch die abenteuerliche Fahrt in den amerikanischen Jeeps bergab in die Geröllfelder der Po-Ebene konnte uns nicht fesseln; der Generalbaß brummte nur, „es geht immer weiter weg von zuhaus.“ Dann tat sich wie ein Theaterprospekt die Schönheit dieser Insel vor uns auf. Die Amerikaner hatten uns an einen ihrer schönsten Flecken gebracht, nach Anacapri, der Spitze der damals stillen Insel. Bewundernd sahen wir abends die dunklen Konturen der Bergküste, den ungewohnt hellen Sternenhimmel; die bunt flackernden Positionslichter der Fischerboote grüßten zu uns herauf. Der metallene Glanz des Meeres schimmerte besänftigend im Dunkel der Nacht.
Der Tag bescherte unschuldige Urlaubsfreuden. Praktisch und zupackend, wie Amerikaner nun einmal sind, hatten unsere Befreier binnen 24 Stunden Bikinis aus Armee-Handtüchern nähen lassen und ließen es sich nicht nehmen, uns im Jeep ans Meer zu chauffieren. Freundliche Gastgeber auch die italienischen Bauern, die uns geradezu einluden, in ihre Kirschbäume zu klettern und uns gütlich zu tun. Abends aber, wenn wir vergeblich Schlaf suchten und unsere Gedanken sich selbständig machten konnten der Frohsinn, das unbeschwerte Gelächter aus dem Innenhof des Hotels zum Disakkord werden. Unsere enge, letztlich erzwungene Schicksalsgemeinschaft bekam Risse. Ganz zu Recht freuten sich viele ihrer Freiheit, der Aussicht auf das Wiedersehen mit den Ihren. Wenige aber mußten sich auf die Endgültigkeit eines Verlustes vorbereiten, auf eine Zukunft, die im Schatten lag.
Fast vier Wochen dauerte es, bis wir die ersehnte Nachricht erhielten, wir „Sippenhäftlinge“ würden nach Deutschland geflogen. – Von unserem Gedächtnis erwarten wir, daß es Fakten speichert, die wir abgleichen und überprüfen können; Erinnerung als Vergegenwärtigung aber hat ihre eigenen Gesetze: Sie sammelt Erlebnisse und Eindrücke, andere überläßt sie dem Vergessen. So habe ich keine Einzelheiten unseres Aufbruchs und Rückflugs von Capri gespeichert, wohl aber die Erinnerung an eine kurze, wenngleich wesentliche Begegnung in Paris. Es war gegen Abend; ich stand am Ende eines Ganges vor meinem Hotelzimmer und schaute durch ein großes Fenster auf einen Platz, der schon im Halbdunkel lag. Ein britischer Offizier trat neben mich, wohl, um auch hinauszuschauen. „Bonjour, Madame“ – die Stimme klang höflich, doch etwas verhalten. Ich wandte mich ihm zu und erkannte an einem Abzeichen, er müsse zur polnischen Division innerhalb der britischen Truppen gehören. Spontan beglückwünschte ich ihn: „Nun ist auch Ihr Land frei!“ „Sie irren sich, Madame“, kam es zurück, „Jetzt herrschen bei uns die Bolschewisten.“ Es klang tieftraurig und resigniert und signalisierte mir, einem Menetekel gleich, daß Kriegsende und Freiheit noch lange nicht miteinander identisch waren.
Am folgenden Vormittag landeten wir in Frankfurt am Main und wurden mit der lang ersehnten Nachricht begrüßt: „Tomorrow we shall bring everybody home.“ Seltsam, wie Stimmungen umkippen, welche Macht Gefühle haben können! Als die ersehnte Heimkehr greifbar nahe war. spürten wir plötzlich den Schmerz, gar keinen Ort zu wissen, der H e i m a t war. – Heimat der Familie war und blieb Ostpreußen, seelischer Ort das geliebte großelterliche Haus am Meer, mit dem wir alles Glück unserer behüteten Kinder- und Jugendzeit verbanden. Ostpreußen aber war längst an die Sowjetunion verloren. – Leipzig hätte Wahlheimat sein können, die Stadt unserer Schul- und Studienjahre, der wir viel verdankten. Aber das Haus in er ehemaligen Rathenaustraße, das unsere Eltern 1930 gemietet hatten, war jetzt merkwürdig beziehungslos für uns: All unser Hab und Gut war durch das Volksgerichtshofsurteil gegen meinen Vater weggenommen und abtransportiert war uns durch das Volksgerichtsurteil gegen meinen V~ter weggenommen und abtransportiert worden. Es gab dort also kein gemütliches Wohnzimmer mehr mit den alten Mahagoni-Möbeln, keinen runden Tisch, an dem wir fröhlich mit dem Vater Karten gespielt hatten, keine vertrauten „Kinder“-Zimmer. Wir würden uns mit dem zufrieden geben müssen, was der Auktionator noch nicht versteigert hatte. Auch die Diele zum Empfang hatte ihren Sinn verloren. Das Verhältnis unseres Elternhauses zu den meisten seiner ursprünglichen Gäste hatte sich schon in der NS-Zeit durch Anpassung und Opportunismus der führenden Schichten aufzulösen begonnen. Selbst in der Notzeit hatte es nur eine Handvoll treuer Freunde gegeben. Aber würden wir sie überhaupt vorfinden?
Ein amerikanischer Offizier gesellte sich zu unserer kleinen Familiengruppe. „Vielleicht wissen Sie noch nicht, daß wir Amerikaner nur noch kurze Zeit in Leipzig sind. Wir können Sie dorthin bringen, aber Sie müssen damit rechnen, daß uns Ende Juni die sowjetische Armee in Leipzig ablösen wird.“ – So zart und leicht verletzlich meine Mutter war, in schwierigen Situationen konnte sie bewundernswert gelassen sein und ihren klaren Verstand bewahren: Nur war sie bisher gewohnt gewesen, wichtige Entscheidungen zunächst mit meinem Vater zu überlegen. Jetzt übernahm sie ganz selbstverständlich und ruhig die Verantwortung für die Familie: Auf jeden Fall würde sie selbst nach Leipzig fahren; dort warteten auf sie ihre alte Mutter, Juttas Schwestern und vielleicht auch mein Bruder Reinhard (er hatte Dachau mit vier anderen jungen Sippenhäftlingen zu Fuß verlassen müssen). Darüberhinaus war meine Mutter fest entschlossen, sich von dort aus für die Rehabilitierung ihres Mannes und unsere Rechte einzusetzen. Uns drei jungen „Mädels“ aber riet sie, nach Süddeutschland auf „den Hof“ zu gehen, den mein Vater als Refugium für die Familie erworben hatte. „Unter den Kommunisten werdet ihr keine Chance haben, euch ein neues Leben aufzubauen!“ (Wie recht meine Mutter mit ihrer Voraussage hatte, zeigte sich bereits ein halbes Jahr später, als mein Bruder Remhard auf Anraten eines alten Sozialdemokraten Leipzig verließ, um in Heidelberg sein Jurastudium wieder aufzunehmen.) –
Nach den Monaten der Haft und des tröstlichen Zusammenseins mußten wir uns nun unvermittelt trennen, eine wenig überschaubare Zukunft vor Augen. Meine Schwägerin Irma wollte zu ihrer Mutter in Hamburg, um von dort aus ihre beiden von der Gestapo nach Bad Sachsa verschleppten kleinen Kinder heimzuholen. Mein ältester Bruder Ulrich, schon fertiger Jurist, sollte uns für ein paar Tage nach Süddeutschland begleiten, um dort unsere Wohn- und Eigentumsrechte durchzusetzen. Für den Augenblick waren wir ja arm wie Kirchenmäuse und mußten sehen, irgendwie und irgendwo zu existieren.
Die „Stunde Null“ könnte nur eine Kurzformel für Geschichtsbücher sein. Weder das kollektive noch das individuelle Bewußtsein kennen diese Zäsur. Wohl mag es Tage geben, an denen wir eine neue Seite im Buch unseres Lebens aufschlagen, wenn wir an einem neuen Ort, mit einem neuen Berufsabschnitt beginnen. Immer aber begleitet uns unsere Vergangenheit. Sie begleitet uns nicht wie ein sanft dahinfließender Strom, naturgegeben, unabhängig von unserem Dasein. Oft kann sie sperrig sein, diese Vergangenheit, dem naiven Sich-Erinnern widerstehen. Erinnerungen an Unwiederholbares können plötzlich aufsteigen, Sehnsüchte nach Unwiederbringlichem wecken. Die Furcht vor der Wiederkehr erlebter Schrecken aber hat in meinem Gedächtnis auch Luftlöcher des Vergessens entstehen lassen. Dies möge der Leser bedenken, der mit mir die Länge meines Weges zur „Stunde Null“ durchmißt, in diesen Monaten noch immer bedrohter Freude an der Freiheit.
Zabergäu — Sackgasse
Wie froh waren wir, daß unser großer Bruder bei uns war, als wir zwei Tage später dem Verwalter und seiner Frau gegenüberstanden! Zuerst glaubten sie wohl an Geister, als Jutta und Nina leibhaftig vor ihnen standen; war doch kein Jahr vergangen, daß die Gestapo die beiden mit meiner Schwägerin auf dem Hof verhaftet und weggeschafft hatte. Dann aber wechselte ihre Haltung zwischen ängstlicher Unsicherheit und Unwillen. Schnell aber wich die bestürzte Fassungslosigkeit widerwilliger Abwehr, ja Feindseligkeit. Nur dem energischen Auftreten meines Bruders verdankten wir den Einlaß in das große Haus, in dem über der Verwalter-Wohnung dre Räume für unsere Familie bereitstanden. Wir sollten nur ja keine Ansprüche an Essensvorräte stellen. Die seien sämtlich von den einrückenden Franzosen beschlagnahmt worden. Man habe ja mit unserer Rückkehr nicht rechnen können, deshalb seien die Wohnräume noch in dem Zustand, wie die Gestapo sie hinterlassen habe. (Daß sie einige wertvolle Besitztümer meiner Schwägerin schon dem ihren einverleibt hatten, stellte mein Bruder wenig später fest.)
In diesem schwäbischen Dorf sollten wir nun endlich, nach zehn Monaten Gefängnis- und KZ-Haft, wieder unser eigenes, aber auch ein neues Alltagsleben beginnen. Für diesen Ort einer ersten Zuflucht hatte, wie erwähnt, noch mein Vater gesorgt. Mitten im Krieg hatte er ein kleines Anwesen in Süddeutschland gesucht; er wußte, Ostpreußen, unsere ursprüngliche Heimat, würde an die Sowjetunion abzutreten sein, und was von Leipzig nach den Bombenangriffen übrig bleiben würde, war im Ungewissen. – Nie hatte mein Vater daran gezweifelt, daß der Krieg, hatte er erst einmal begonnen, mit einer Katastrophe enden würde, wenn Hitler nicht aufgehalten würde. Ja, für ihn, den eher liberalen Christen, konnte ein gerechter Gott die Verbrechen des deutschen Volkes nicht ungestraft lassen. Großer Gnade würde es bedürfen, wenn die Völker Deutschland einmal seine Untaten vergeben würden. – Nahezu prophetisch hatte unser sonst so realistischer Vater vorausgesehen, wie flüchtende Menschen zu Fuß auf den Autobahnen dahinströmen würden; auf Autobahnen, die Hitler für angriffsstarke Panzer und Armeekolonnen in imperialer Hybris hatte ausbauen lassen.
Immer wieder hatte meinen Vater die Sorge verfolgt, uns in Deutschlands Zusammenbruch nicht mehr helfen und beschützen zu können; dann sollte uns im – weitgehend vom Krieg verschonten – Südwesten auf dem Lande ein Dach über dem Kopf gesichert sein und, wenn wir selbst tüchtig zupackten, die nötige Nahrung und Wärme. Was er nicht vorausgesehen hatte, waren das Mißtrauen und die Ablehnung, die uns an diesem kleinen Ort, an dem es noch viele Nazi-Freunde gab, begegnen würden. „Was hatten die Kinder eines Vaterlandsverräters bei ihnen zu suchen?“ Noch kein Jahr war seit dem mißglückten Attentat vergangen, diesem verzweifelten Versuch, den Krieg und die Verbrechen zu beenden; noch kein Jahr, daß auf den Kopf Carl Goerdelers eine Million Reichsmark ausgesetzt worden war, auf ihn, den führenden Gegner des Hitler-Regimes. Was wir als Befreiung erlebten, empfanden viele Menschen, die uns umgaben, als demütigende Niederlage. Und unter dem Schutz „der Feinde“ waren wir in das Dorf gekommen! Nun waren wir nicht mehr getragen von der Schicksalsgemeinschaft der politisch Verfemten des Konzentrationslagers. Nun begriffen wir, daß uns diese Gemeinschaft vor einer Außenwelt geschützt hatte, die mit dem Selbstopfer unseres Vaters und seiner Freunde nichts im Sinne hatte.
Nur eine junge Frau half uns, wenigstens einigermaßen Ordnung in das Tohuwabohu zu bringen, daß die Gestapo bei der Durchsuchung unserer drei Wohnräume hinterlassen hatte. Jedoch sollte sie die einzige bleiben, der wir etwas von der Trauer, unsrer Verstörtheit mitteilen konnten. Sollte dies die „Stunde Null“ gewesen sein, so war sie es – bitter noch heute – als ein Tiefpunkt unseres seelischen Lebens. Erwartet hatten wir, tröstend für erduldetes Leid empfangen zu werden, gehofft auf Dankbarkeit und Verehrung für den Vater und alle Menschen, die Deutschland hatten retten wollen.
Noch waren wir mit den eigenen Verletzungen beschäftigt, denke ich heute; sahen kaum, daß wir die fremden Großstädter im kleinen Bauerndorf waren; fremd mit unserem distanziert klingenden Hochdeutsch mitten im herzlich-derben Schwäbischen. Fremd und fern für die Dorfbewohner war die Welt der Konzentrationslager, aus der wir kamen. Von ihr zu sprechen, von ihr zu hören – das hätte wohl noch zu viele Schatten auf eine Zeit geworfen, deren Glanz man sich noch in der Erinnerung bewahren wollte. Aber wir steckten nicht nur in seelischen Nöten, wir hatten auch die schon geschilderten materiellen Sorgen. Alles, was wir besaßen, war an den Staat gefallen. (Es sollte noch fünf Jahre dauern, bis meine Mutter eine Pensionszahlung und meine Schwester Nina eine Waisenrente erhielt.) Zwar hatten die amerikanischen Behörden jeden von uns mit 150 Reichsmark ausgestattet, als sie uns in ein selbständiges Leben entließen: angesichts des Wertverfalls baren Geldes konnten wir davon unseren Lebensunterhalt aber nicht bestreiten, geschweige Hilfskräfte auf dem Bauernhof entlohnen.
Wie schwierig das Verhältnis zu dem Verwalterehepaar auch war, das mit unserer Rückkehr nicht gerechnet hatte, wir mußten mit ihnen auskommen – und voll mitarbeiten, wenn wir mitessen wollten. Aus den Pflichtzeiten im Arbeitsdienst und während der Semesterferien war ich mit StaIIarbeit vertraut und konnte sogar einigermaßen melken … Beim Füttern von Schweinen, Kühen und Hühnern und bei der vielen Feldarbeit mußten meine 16jährige Schwester Nina und die 17jährige Kusine Jutta hart mitarbeiten. Sicher stellten wir alle drei uns nicht allzu geschickt an, hatten auch nicht Kraft genug nach Monaten der Haft. So sanken wir abends immer todmüde ins Bett. Die große Beanspruchung, möchte man meinen, hätte uns gut tun sollen, helfen, lastendes Wissen zu vergessen. Aber wir sehnten uns gerade nach Besinnung, nach Stille, wollten wieder zu uns kommen, dem Geschehenen einen Sinn abgewinnen. Ja, wir wollten trauern dürfeh.
Stuttgart – Neubeginn
Als ein Lichtstrahl in die noch dunkle Welt des Kummers und der Plagen brach die erste Nachricht von meinem Verlobten. Er lebte, war gesund und hoffte, bald aus der britischen Gefangenschaft entlassen zu werden. So gab es wieder eine Zukunft; eine Zukunft mit einem vertrauten Menschen, der uns allen in der Haftzeit unermüdlich beigestanden, Sorgen und Trauer geteilt und Erleichterung verschafft hatte. Aber diese Zukunft schien noch endlos fern. –
Ein weiteres Tor zur Zukunft öffnete sich erst, als einer der alten Freunde meines Vaters uns auf dem Hof besuchte: Theodor Bäuerle, meinem Vater menschlich und politisch eng verbunden. Ich hatte ihn schon 1942 kennengelernt, als ich meine Eltern einmal nach Stuttgart begleitete. Bäuerle war ein Mensch, mit dem wir über alles sprechen konnten, was uns bedrückte; gemeinsame Trauer verband uns, sein warmherziger Trost besänftigte, sein Mitgefühl ließ uns ruhiger werden. Dann erzählte er von seiner Arbeit. Da er unbelastet war, hatte man ihn mit der Position als Ministerialdirektor in der Kultusverwaltung betraut. Er hatte den Auftrag, für ein baldige Öffnung der Schulen zu sorgen, die in den letzten Kriegsmonate geschlossen worden waren. Er berichtete, wie schwierig es sei, den Auftrag zu erfüllen. Ein Problem was der Mangel an Räumen: Etwa ein Drittel der Schulen war zerstört oder schwer beschädigt. Während die Raumnot noch annähernd überbrückbar schien, war jedoch der Fehlbestand an Lehrern einschneidend. Viele waren gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft. Für die übrigen – das waren vor allem Frauen – galten die strengen Auflagen der amerikanischen (bzw. französischen) Besatzungsverwaltung: Kein ehemaliges NSDAP-Mitglied durfte vorerst eingestellt werden. Überprüfungen waren im Laufe der Zeit vorzunehmen.
Bäuerle erzählte, er habe, um mehr Lehrer einstellen zu können, auf den großen Druck hingewiesen, dem vor allem die Beamten durch die Partei ausgesetzt gewesen seien, habe aber dafür noch kein Verständnis gefunden. Eher sollte der Unterricht ganz ausfallen, als daß die Besatzungsmächte auf ihr Planziel der Reeducation, insbesondere der Jugend, verzichtet hätten. Ich bedauerte, daß ich außer Promotion und erstem Staatsexamen pädagogisch weder Ausbildung noch Prüfung vorweisen könnte. „Wir können Sie trotzdem brauchen!“, war Vater Bäuerles ermutigende Antwort. Und wirklich, ein paar Tage später rief er an und sagte, am 1. Oktober könne ich in Stuttgart zu unterrichten anfangen!!
Wo aber sollten wir drei Mädchen wohnen? Denn daß wir zu dritt nach Stuttgart gehen würden, war ausgemachte Sache. Ich könnte verdienen, und unsere beiden Jüngsten, Jutta und Nina, konnten dort endlich wieder zur Schule gehen – seit der Verhaftung am 21. Juli 1944. Nun liefen die Drähte nach Stuttgart heiß. Die alten Bosch-Freunde traten in Aktion und verwandten sich für uns bei der Stadtverwaltung. Innerhalb von zwei Wochen erhielten wir die begehrte Zuzugsgenehmigung und ein Zimmer in Feuerbach. Was machte es da, daß wir drei uns in nur zwei Betten zu teilen hatten! Mit solchen Einschränkungen fertigzuwerden, hatte uns die Haftzeit gelehrt.
Am 1. Oktober 1945 fuhr ich von unserem Feuerbacher Qμartier zu meiner ersten Dienststelle in Stuttgart, dem Königin-Charlotte-Gymnasiwn. Die Straßenbahn fuhr die große Heilbronner Einfallstraße nach Stuttgart entlang. Rechts und links der Trasse wurden schmale Fahrbahnen von Schutt freigeräumt. Große und kleine Trümmerbrocken zerstörter Häuser und Fabrikhallen lagen hochgetürmt am Rande. Unübersehbar waren die Folgen des Krieges und seiner zerstörerischen Bombennächte. Nun waren die Menschen dabei, mit Karren, Schippen und Kränen das Chaos zu ordnen; endlich konnten sie den Aufbau beginnen, der wieder eine Zukunft hatte.
Auch das Gebäude des Königin-Charlotte-Gymnasiums war nicht unversehrt. In einem Seitentrakt waren für die Oberstufenschüler einige Räume notdürftig hergerichtet. Wenigstens die älteren Schüler sollten mit dem Lernen beginnen. (Jutta und Nina waren erst vierzehn Tage später an der Reihe.) In dieser Übergangszeit zwischen dem Ende des Dritten Reiches und staatlichem Neubeginn war auch die Schulleiterin vorerst nur provisorisch eingesetzt. Sie brachte mich in einen großen hellen Dachraum; vorsorglich stand dort schon ein kleiner eiserner Ofen für den Winter bereit – das Ofenrohr führte durch ein Fenster. Etwa zwanzig 18jährige Mädchen erwarteten uns bereits. Brav, wie es damals zur Schulsitte gehörte, waren sie aufgestanden. Sie waren voller Tatendrang und Neugier nach der erzwungenen Lern-Abstinenz, auch wenn kaum eine von ihnen wohl wissen konnte, wie es einmal mit ihr, mit der Erfüllung von Berufswünschen, gar mit einem Studium, weitergehen würde. Deutschland war ein besetztes Land. Die Alliierten würden über seine weitere Entwicklung entscheiden.
Offene. freundliche Gesiebter begrüßten uns. Die Direktorin stellte mich als die neue Deutsch- und Geschichtslehrerin mit meinem Mädchennamen vor (ich war ja noch nicht verheiratet). Vielleicht war sie genau so wenig darauf vorbereitet wie ich, daß die Mienen der Mädchen sich plötzlich skeptisch verschlossen. Einige Mädchen schauten verlegen zu Boden, während andere sich strafften, um mit einer leichten Bewegung des Kopfes Abstand von uns zu nehmen. Nur schockierte mich diese Geste der unausgesprochenen Zurückweisung einer Goerdeler-Tochter nicht, wie sie mich noch bei den Dorfbewohnern schockiert hatte. Diesen jungen Menschen gegenüber spürte ich auf einmal Kraft und Mut, sie gewinnen zu können. Ich war jung, kaum acht Jahre älter als meine zukünftigen Schülerinnen, und traute mir zu, eine Brücke zu ihnen zu finden. Ich war sicher, daß meine Eltern im Kampf gegen Hitler den richtigen Weg gegangen waren, hatte als junge Schülerin selbst die Verführungskünste des Hitler-Reiches erlebt und war mir dessen gewiß, daß ich ihnen helfen könnte und mußte, einen Weg in die Nach-Hitler-Zeit zu finden.
Die anfängliche Mißstimmung begann sich ganz allmählich zu lösen, als ich mit den Mädchen allein war und sie ruhig bat, mir zu erzählen. wie sie die letzten Monate des Krieges und die ersten Monate der Friedenszeit erlebt hätten. Dabei erwähnte ich, daß ich diese für uns alle so bedeutsame Zeit gewiß völlig anders durchlebt hätte und ich ihnen davon auch erzählen wolle. So wären die nächsten Schultage vom Zuhören bestimmt. Ich erfuhr, daß fast alle Mädchen BDM-Führerinnen gewesen seien, meist die letzten Monate auf dem Land verbracht hatten. Mehrere von ihnen hatten den Vater, Brüder oder Freunde verloren. Jedoch trauerten sie nicht nur um die verlorenen Menschen. Sie betrauerten einen noch umfassenderen Verlust: Die meisten von ihnen hatten an den Nationalsozialismus geglaubt, daran geglaubt, daß es notwendig sei, sich mit aller Kraft für die Größe des deutschen Volkes und Reiches einzusetzen. Nun waren sie nicht nur in ihren Hoffnungen getäuscht, sie mußten auch an den Menschen zweifeln, die sie ihnen vermittelt hatten.
„Es war eine furchtbare Leere in uns“, erinnerte sich noch nach vielen Jahren eine meiner Schülerinnen. In diese Leere galt es, ein wenig Wärme und menschliches Mitgefühl zu bringen. Das war damals für mich – zum Glück – nicht bewußte Planung, sondern etwas Selbstverständliches. Vielleicht deshalb selbstverständlich und kein kunstvolles Mich-Hineinversetzen, weil ich mich – bei aller äußeren Ruhe – immer wieder von dem gleichen Gefühl umfassenden Welt-Verlustes bedroht wußte: An jenem 20. Juli vor einem Jahr hatte Gott nicht denen beigestanden, die unsere Welt vom Bösen hatten befreien wollen.
Es war gewiß kein Zufall, daß ich als erste Lektüre für meine jungen Schülerinnen „Die Leiden des jungen Werther“ aussuchte. Ich wußte nur zu genau, daß sie jahrelang gelehrt wurden, jene martialischen Lieder von stets kampfbereiten Männern zu singen, die sich trotzig und mit aller physischen Kraft Schicksal und Feinden entgegenzustellen oder stolz unterzugehen hatten. Der verzweifelnde junge Werther sollte nicht zum neuen Vorbild werden, aber das Tor zu einer anderen Sprach- und Gefühlswelt öffnen. Allmählich wich die Leere aus den Gemütern; junge Menschen erlaubten sich nun Empfindungen, die sie auch aussprechen durften. Sie spürten den lyrischen Zauber der Sprache überschwenglichen Glücks, das Verstummen des Worts in Zweifel und Trauer.
Heute. im Rückblick, ziehen sich diese ersten Wochen pädagogischer Tätigkeit zu meiner „Stunde Null zusammen. Zum Beginn eines nun selbstbestimmten Lebens und selbstbestimmter Ziele. Es erschloß sich mir ein Beruf, der mich ein Leben lang ausfüllte, in dem mich die Hoffnung nie verließ. In meinem kleinen, begrenzten Umfeld etwas bewirken zu können. War ich auch nach dem Krieg in eine im doppelten Sinne kaputte Welt entlassen – hatte die nachwirkende Hitler-Verehrung in einem Dorf erlebt, war durch Trümmer zu meiner Schule gefahren – mit dieser kaputten Welt brauchte ich mich nicht abzufinden. – Es galt, Leid und Ängste junger Menschen, ihre Verluste und Scmerzen wahr- und ernstzunehmen, Ermutigung den Zaghaften zu geben, Freuden mit den Glücklichen zu teilen. Es galt aber auch, auf der Hut zu sein, die Macht als Lehrer nicht zu mißbrauchen, Einfluß nur zu üben, um auf dem Weg zum Erwachsen-Werden zu helfen Meine sperrige Vergangenheit hat mir geholfen, meine Schüler ansprechen und verstehen zu können.
In den Monaten der Haft hatte ich selbst erfahren, was es heißt, gedemütigt und mit zynischer Freude geängstigt zu werden. Im Elternhaus war mein Sinn gegen die Erbärmlichkeit von Opportunismus, vorauseilender Anpassung und konventioneller Glätte geschärft worden. Mit ihrer Liebe und Fürsorge hatten die Eltern uns immer beschützt, Maßstäbe und Werte mitgegeben, an denen wir auch als selbständige Menschen festhalten konnten.
Ich freue mich wie Bolle, dass jetzt viele Leute Twitter verlassen und zu Mastodon wechseln. Und die Blogs kann man auch vernetzen dank ActivityPub-Plugin für WordPress.
Also: Wenn Ihr Euch für den Osten aus Sicht eines eingeschnappten [=:-)] Ossis interessiert, folgt Stefan@so-isser-der-ossi.de.
Nochmal ohne Quatsch: Ossis sind in den Redaktionen unterrepräsentiert, sie haben in Firmen und öffentlichen Einrichtungen keine Stimme und ich kommentiere hier ab und zu grobe Falschdarstellungen. Zum Teil auch von Ossis selber. Es geht viel um Nazis, aber auch um Gendern, Gleichberechtigung, Kinderverschickungen/Kuren usw.
Die Behauptung, die Ossis seien nicht demokratiefähig, findet sich immer wieder. In den Print-Medien, im Radio, im Fernsehen, ja, sogar im Internet.1 Aber, und hier stimme ich zum ersten Mal in meinem Leben mit der AfD überein, was haben sie getan: Sie haben bei einer demokratischen Wahl eine im normalen demokratischen Prozess aufgestellte Partei gewählt. In Sachsen hatte diese Partei das mit dem Prozess zwar nicht so richtig gerafft und hat Fehler bei der Aufstellung der KandidatInnen gemacht, aber sonst alles prima. Und wie Kalbitz mit einem süffisanten Lächeln bemerkte, hat die AfD sogar Nicht-Wähler mobilisiert. Und zwar wie die Analyse der Wählerwanderung zeigt: 115.000 in Brandenburg und 246.000 in Sachsen! In Sachsen stieg die Wahlbeteiligung um 17,5 % in Brandenburg um 15,2 %.
Ja, sie haben Nazis gewählt. Vertreter (ohne ‑Innen) des Flügels, der vom Verfassungsschutz jetzt offiziell als kritisch eingestuft wird. Schauen wir uns die Partei, die zur Wahl stand, mal an.
Zusammensetzung des Vorstands / Personal in den Bundesländern / Rechtsextreme
Gründer*innen und Versitzende
Sie wurde 2013 gegründet von neoliberalen Professoren/Akademikern, die den Euro ablehnten.
Prof. Dr. Bernd Lucke (West-Berlin, Austritt 2015 nach Abwahl als Vorsitzender zugunsten von Petry auch wegen ausländer- und islamfeindlicher Tendenzen)
Albrecht Glaser (Worms, persönlicher Referent des Rektors der Uni Heidelberg, noch Mitglied und im Vorstand)
Andreas Kalbitz (Brandenburg, München, am 15.05.2020 mit sieben gegen fünf Stimmen bei einer Enthaltung wegen falscher Angaben bzgl. Unvereinbarkeitsliste ausgeschlossen)
Birgit Bessin (Brandenburg, Worms; ab 09.04.2022 Nachfolger von Kalbitz, gilt als Kalbitz Vertraute)
Man kann also zusammenfassen, dass im Vorstand 2 von 8 Personen aus dem Osten sind. Dazu noch Alice Weidel im Bundestag an prominenter Position. Also 2 von 9. Von den fünf neuen Bundesländern haben zwei einen Ostdeutschen zum Vorsitz. Inzwischen ist Andreas Kalbitz durch den rechtsextremen Hans-Christoph Berndt ersetzt worden, der aus dem Osten ist.
Rechtsextreme in der Presse
Prominente Rechtsextreme/Nazis sind (fortwährend aktualisiert, die Namen verlinken auf die Wikipedia-Seiten, auf denen alles ausführlichst belegt ist):
Doris von Sayn-Wittgenstein (Arolsen, Hessen, rechtsextrem, Kontakt zu Reichsbürgern und Holocaustleugnern, bei laufendem Auschlussverfahren Wiederwahl zur Landesvorsitzenden Schleswig-Holstein)
Marcus Pretzell (Rinteln, Niedersachsen, Rechtsanwalt, Immobilienentwickler, seit 2013 dabei, 2016 Beitritt zur rechtsextremen Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF), Ehemann von Frauke Petry aber immer noch in der AfD)
Dr. Wolfgang Gedeon (Cham, Bayern, Antisemit, Flügel, die AfD-Fraktion in Baden-Würtemberg bekam keine 2/3‑Mehrheit zusammen, die für einen Ausschluss von Gedeon nötig gewesen wäre, nach Spaltung der Fraktion wurde weiter mit ihm zusammengearbeitet, im September 2019 spachen sich über die Hälfte der Landtagsabgeordenten für eine Wiederaufnahme von Gedeon in die Fraktion aus, im Oktober 2019 scheiterte das zweite Ausschlussverfahren)
Joachim Paul (Bendorf, Reihnland-Pfalz, Fraktionsvize Reihnland-Pfalz, hat höchstwahrscheinlich in NPD-Zeitschrift H&J publiziert, mit 107 von 127 Stimmen zum stellvertretenden Landesvorsitzenden gewählt)
Dennis Augustin (Hamburg, Landesvorsitzender Mecklenburg-Vorpomern 2017–2019, NPD-Mitglied, 2019 wegen Verheimlichung der NPD-Mitgliedschaft ausgeschlossen)
Jens Meier (Bremen, 2017 über Landesliste Sachsen (Platz 2) in den Bundestag eingezogen, vom Sächsischen Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft, er war Obman des Flügels)
Ralph Weber (Bad Mergentheim, Baden-Würtemberg, ab 2016 im Landtag Mecklenburg-Vorpommern, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, Kontakte zu NPD, DVU, Tragen von Thor-Steinar-Sachen in der Universität, Einladung von Rechtsextremen zu Vorträgen, Promotion eines klar faschistischen Neonazis, 2021 Austritt)
Thorsten Weiß (Berlin, Steglitz-Zehlendorf, bis zu dessen Selbstauflösung im April 2020 Landesobmann des rechtsnationalen Parteiflügels „Der Flügel“ in Berlin, welcher 2020 vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wurde. Er gilt als Vertrauensmann des thüringischen Landes- und Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke)
Dr. habil. Gottfried Curio (Berlin, Gymnasium in Schmargendorf, kommt im Bericht des Bundesamtes für Verfassungschutz mit ausländerfeindlichen Äußerungen vor, die „die Grenze der verfassungsschutzrechtlich zulässigen Kritik“ überschreiten und gegen diverse Artikel des Grundgesetzes verstoßen)
Carl-Wolfgang Holzapfel (Berlin-Zehlendorf, von der Berliner AfD 2022 in die Bundesversammlung entsandt hat 1973 die Entführung einer British-European Airways-Maschine von Stuttgart nach Moskau angekündigt, um die Freilassung von Rudolf Heß zu erreichen)
Stephan Protschka (Dingolfing, Bayern, beschäftigte Identitäre und stiftete im November 2019 mit anderen verfassungsfeindlichen Organisationen in Polen ein Kriegerdenkmal, auf dem auch Organisationen geehrt werden, die Polen und Juden ermordeten. Darüber wurde in tagesschau und Presse ausführlich berichtet, aber Protschka wurde im Dezember 2019 auf dem AfD-Bundesparteitag zum Beisitzer im AfD-Bundesvorstand wiedergewählt.)
Thomas Seitz (Ettenheim, Baden-Württemberg, Flügel, wegen rassistischer Äußerungen Richteramt für 8 Jahre abgesprochen, Verfassungstreue nicht gegeben)
Johannes Huber (Moosburg an der Isar, Bayern, Flügelnähe, beschäftigte Rechtextreme Mitarbeiter*innen im Bundestag, antisemitische und rechtsextreme Verschwörungtheorien)
Matthias Helferich (Dortmund-Hombruch, Kontakte zu Dortmunder Neo-Nazis, bezeichnet sich selbst als „das freundliche Gesicht des NS“, trägt Nazisymbole, Meuthen hat Ausschlussverfahren beantragt, dafür fand sich aber keine Mehrheit im Vorstand und Tino Chrupalla und Alice Weidel stimmten für Helferichs Verbleib in der Partei!)
Josef Dörr (Illiingen, Saarland, sollte vom Bundespartei wegen „allzu enge Kontakte zu rechten und neonazistischen Kreisen“ aus der AfD ausgeschlossen werden. Hat im Jahr 2015 Mitgliedern der Freien Bürger Union satzungswidrig Doppelmitgliedschaften angeboten. taz, 12.03.2022)
Andreas Winhart (out of Rosenheim, Bayern, seit 2021 Vorstand der AfD-Landtagsfraktion, durch rassistische und antisemtsiche Äußerungen bekannt. Mit Mordaufrufen gegen Seenotrettung 2018. Bis 2019 unter Beobachtung des Verfassungsschutzes.)
Emil Sänze (Beuren, Baden-Württemberg, Landtagsabgeordneter und Co-Vorsitzender des AfD-Landesverbandes Baden-Württemberg, fand die antisemitischen Äußerungen von Gedeon (siehe oben) nicht so schlimm … Gehört zum Stuttgarter Aufruf, studierte Betriebswirtschaft in Konstanz, arbeitete bei der Deutschen Bank und für die BMW Bank GmbH)
Roland Ulbrich (Düsseldorf, NRW, Jurist, studiert in Bonn, Marburg und Köln, Mitglied in diversen schlagenden Verbindungen, Angehöriger des Flügels, fand Parteiausschluss von Kalbitz falsch, hat versprochen, dass es mit ihm im Schiedsgericht keine Parteiausschlussverfahrensorgien mehr geben würde und wurde dafür gewählt. 2024 hat er ein Urteil mit Bezug auf Gesetze aus der Nazi-Zeit begründet.)
Andreas Lichert (Bad Homburg vor der Höhe, Hessen, Vorstandssprecher AfD Hessen, bei Landtagswahl 2018 im Wahlkreis Wetterau II 17,4 % der Erststimmen, bis 2018 Vorstandsmitglied des Trägervereins des rechtsextremen Instituts für Staatspolitik, war Hausverwalter einer Immobilie in Halle, die von der Identitären Bewegung als „identitäres Zentrum“ genutzt wurde)
Jürgen Elsässer (Pforzheim, Baden-Würtemberg, Rechtsextremist, Leiter des 2024 verbotenen Compact)
Oliver Janich (München, Bayern, vom Bayrischen Verfassungsschutz als Rechtsextremist und Antisemit eingeordnet)
Hier noch eine Liste von Wikipedia-Seiten von AfD-Politiker*innen, auf denen nicht steht, dass die betreffenden Personen rechtsextrem sind, aber stattdessen ausländerfeindliche, anti-demokratisch oder sonst wie geartete Meinungen bekundet werden, die normalerweise Ossis vorgeworfen werden:
Nicolaus Fest (Hamburg, islamfeindlich und grundgesetzwidrig, weil er entgegen der Religionsfreiheit alle Moscheen schließen will, unter Merkel drohe Ent-Parlamentarisierung parallel zum Ermächtigungsgesetz der Nazis, will völkischen Flügel in AfD-Berlin integrieren, siehe auch taz, 15.02.22)
Ostler
Es folgt eine Liste von rechtsextremen AfD-Politiker*innen aus dem Osten:
Stefan Möller (Erfurt, Thüringen, einer der beiden Landessprecher der AfD Thüringen neben Höcke, Unterzeichner der Erfurter Resolution)
Man kann also zusammenfassend sagen: Die AfD wurde von West-Professoren gegründet und sie wird von Westdeutschen geleitet. Prominente Rechtsextreme bzw. Nazis kommen aus dem Westen und wurden zum Teil auch nach angelaufenen Ausschlussverfahren in ihren Ämtern bestätigt.
Demokratieversagen?
Was ist passiert? 25 % der sächsischen und brandenburgischen WählerInnen haben eine Nazi-Partei gewählt. Haben sie sich undemokratisch verhalten? Nein. Siehe oben. Wie konnte das überhaupt passieren? Wieso gab es das früher nicht? Es gab im Westen immer schon solche Parteien wie die NPD, die DVU, die Republikaner. Das Gute war: Die waren zu doof. Sobald sie irgendwie nennenswerte Stimmenanteile bekamen und Positionen besetzen konnten, brach alles zusammen, weil die nötige Strukturiertheit und der Durchhaltewille fehlten. Das ist nun anders. Neoliberale Professoren haben diese Partei gegründet und auf einen rechtskonservativen Weg gebracht. Die Partei wurde dann schrittweise von Nazis übernommen, bei den Machtspielchen von Lucke, Petry und Gauland ist eben einiges schief gelaufen.
Wer hat versagt? Wir alle. Ja, unsere Demokratie hat versagt. Spätestens seit Maaßen ist das klar. Verfassungsschutzchef Maaßen (CDU, Mönchengladbach, Nordrhein-Westfalen) konnte in Chemnitz keine Hetzjagden erkennen und es hat ein Jahr gebraucht, bis dann irgendwie doch klar war, dass es Hetzjagden gab. Seehofer (CSU) hat Monate gebraucht, bis er Maaßen endlich gefeuert hat. Kurt „Die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus.“ Biedenkopf konnte in Sachsen keine rechtsextremen Tendenzen feststellen. Der sächsische Verfassungsschutz war ihm offensichtlich keine große Hilfe. Kleine gemeine Frage: Wer hat den Verfassungsschutz im Osten aufgebaut? Wer die Polizei? Die Ostdeutschen? Nee. Wie war das mit dem NSU? Nix gemerkt? Oder vielleicht doch sogar einer vom Verfassungsschutz beim Mord dabei gewesen? Wir haben riesige rechtsextreme Netzwerke mit Todeslisten (Hannibal), rechtsextreme Vorfälle in Armee und Polizei. Gar einen Mord mit rechtsextremen Hintergrund in Hessen (wurde leider bei der Meldung der Straftaten mit rechtsextremen Hintergrund vergessen, upsi).
Und nun? Verbieten? Ist nicht so einfach, wenn die Partei bereits 25 % der Stimmen bekommen hat.
Sind die Ostdeutschen nicht demokratiefähig?
Eine Studie der Universität Leipzig hat ergeben, dass die Ostdeutschen Demokratie grundsätzlich befürworten und zwar zu 95 % (im Westen nur 93 %). Ein Teil der WählerInnen hat eine rechtsextreme Partei gewählt. Diese wurde von Westdeutschen Professoren gegründet und etabliert und wird immer noch überwiegend von Westdeutschen geleitet. Aufgrund der spezifischen Situation im Osten sind Menschen dort für rassistische und nationalistische Positionen und den Quatsch, den die AfD von der Wende erzählt, empfänglich. Insgesamt ist es aber so, dass dieses Land, das gesamte Land, ein Rechtsextremismusproblem hat. Dieses kann man nur gemeinsam lösen und man löst es nicht durch Fingerzeigen und Bemerkungen von oben nach unten. Das Positive ist, dass die jüngsten Ereignisse zu einer Politisierung und auch zu einem Umdenken in der Politik geführt haben:
Dennoch geben die Wahlen für allzu apokalyptische Deutungen keinen Anlass. In dem Schlamassel stecken Geschichten, die Mut machen. Sie spielen jenseits der klassischen Parteienarithmetik und klingen nach Aufbruch und Erneuerung. Da wäre zum Beispiel eine umfassende Politisierung der Gesellschaft, die bei Wahlveranstaltungen von CDU, SPD, Grünen oder Linken zu spüren war. Die Menschen kamen, sie waren viele, und sie redeten ernsthaft über Politik. Über schrumpfende Dörfer, über Züge, die nicht mehr fahren, über die Braunkohle – und über Konzepte, die es besser machen. Was selten vorkam, war das imaginierte Zuviel an Migration. Es fand eine Erdung statt, die vor einem Jahr undenkbar schien, als Neonazis durch Chemnitz marodierten. Die demokratische Mehrheit hat sich diskursive Räume zurückerkämpft und mit Leben gefüllt. Von Desinteresse der BürgerInnen kann keine Rede sein, es gibt ein Bedürfnis nach Teilhabe und Engagement. Das, was Ost- und Westdeutschland 30 Jahre nach der Wende trennt, liegt jetzt auf dem Tisch, für alle sichtbar. Auch die Parteien haben viel richtig gemacht. Oben auf der Bühne steht einer, belehrt die anderen und wird gewählt – so funktioniert es nicht mehr. CDU-Mann Kretschmer hat im Wahlkampf gefühlt jedem Sachsen persönlich die Hand geschüttelt, der Grüne Habeck in seinen Town Halls auch dem kritischsten Atomkraftfan minutenlang geantwortet.
Ernsthaft ins Gespräch kommen, Zugewandtheit zeigen, das ist ein Anfang, aus dem etwas entstehen kann. Die Zivilgesellschaft und die demokratischen Parteien befinden sich in einer Suchbewegung – aufeinander zu.
Ich bin Antifaschist, habe für #unteilbar gearbeitet und bin zutiefst erschüttert über das Wahlergebnis der AfD in Brandenburg und in Sachsen. Es ist umso schlimmer, weil klar ist, dass Kalbitz ein Nazi ist (taz, Spiegel, Jung&Naiv). Mit tiefer Verwurzelung im rechtsextremen Milieu.
Anatol Stefanowitsch ist ein guter Kollege von mir. Wir haben jahrelang zusammen in Bremen gearbeitet und uns zur Freude unserer MitarbeiterInnen jeden Tag beim Mittagessen über alles Mögliche gestritten. Meistens Grammatik.
Ich teile viele seiner Ansichten und liebe seine pointierten Tweets. Sie sind oft auf den Punkt.
Klischees und wilde Behauptungen
In seinem Tweet vom 02.09.2019 direkt nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg schreibt Anatol Stefanowitsch folgendes: Wahlstatistiker: „Warum haben Sie AfD gewählt?“ Wähler: „Aus Protest gegen Ausländer, Juden, Muslime, Schwule, Frauen und Greta.“ Wahlstatistiker: *kreuzt “Protestwähler” an.
Damit tut Anatol (ich nehm’ mal den Vornamen) zwei Dinge: Erstens er bezweifelt die Wissenschaftlichkeit von Wahlforschung. Und er beleidigt die Protestwähler, denn er unterstellt, dass ein großer Teil der ProtestwählerInnen Ausländer, Juden, Muslime, Schwule, Frauen oder Greta Thunberg ablehnt.
Infragestellung von Forschungsergebnissen: eine rechte Strategie, oder?
Der erste Punkt ist schlimm, denn er entspricht genau dem, was Rechte und Rechtsextreme tun: Sie ziehen wissenschaftliche Ergebnisse in Zweifel. OK, wir alle wissen, dass mit Umfrageergebnissen auch Politik gemacht wird. Aber es gibt ja mehrere Meinungsforschungsinstitute und man kann die Prognosen vor Wahlen sehr gut mit den Wahl-Ergebnissen abgleichen und kann dann das Institut entsprechend einordnen. Je nach Institut schwanken die Zahlen um einige Prozent. Bei der Wahlberichterstattung in der ARD wurde aber gesagt, dass nur 39 % der AfD-WählerInnen in Sachsen sie wegen der Inhalte gewählt haben, 52 % dagegen aus Enttäuschung. Von 8–9% wissen wir es nicht.
Selbst wenn man hier eine Verfälschung des Ergebnisses in eine bestimmte Richtung unterstellen wollte, bekäme man immer noch einen Wert um die 50% von Wählern, die sich nicht mit den Inhalten der Partei identifizieren.
Protestwähler
Noch mal: Ich bin zutiefst erschüttert ob des Wahlergebnisses. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, eine Partei mit Nazi-Personal an der Spitze zu wählen.
Aber: Es gibt Leute, die aus Protest keine der demokratischen Parteien mehr wählen. Man sieht in Sachsen sehr deutlich, dass WählerInnen der Linken zur AfD gewechselt sind.
Man kann sich die Deutschlandkarten ansehen und stellt fest, dass sozioökonomischer Status stark mit dem Wahlverhalten korreliert ist. Guckt man nach Bayern (19,2% Deggendorf) oder Baden-Würtemberg (16,3% Pforzheim) so findet man in einigen Wahlkreisen einen 15–20%-Anteil an AfD-Wählern, ohne dass es in diesen Orten irgendwelche Probleme der Art gibt, mit der der Osten kämpft. Ähnlich gelagert dürfte es im Osten sein: Es gibt einen Anteil derjenigen, die AfD-Positionen teilt (die 39% der WählerInnen). Oben drauf kommen dann die Abghängten und Frustrierten. Das ist keine Entschuldigung für irgendwas, aber wir müssen uns damit auseinandersetzen, damit wir etwas ändern können.
Arroganz
Auf meine Kritik an Anatols ursprünglichem Post kam die Antwort von einem Nutzer aus NRW: „Niveau sieht nur von unten wie Arroganz aus.“ Netterweise hat er noch dazugeschrieben, dass NRW in Westdeutschland liegt. Ich hätte sonst erst nachgucken müssen.
Das zeigt recht deutlich, wo das Problem liegt: Man bewegt sich niveauvoll in seiner Blase und spricht von oben nach unten. Das löst aber das Problem nicht. Leider verstärkt es das Problem nur. Ja, das Von-oben-nach-unten-Reden ist ein Problem. Der Westen ist immer noch wirtschaftlich stärker. Im Osten gibt es die Tarife nicht, die es im Westen gibt. Schon über Jahrzehnte (z.B. seit 2003 35-Stunden-Woche bei der IG Metall im Westen, 38 Stunden im Osten für gleiches Geld).
Keine Toleranz für Nazis und Mitläufer
Es gibt ganz viele Antworten auf den Tweet, die ihre Abgrenzung zum Ausdruck bringen. Kann ich voll verstehen. Nur was folgt daraus? Dass wir mit 18 % der Bevölkerung (18,6 % in Sachsen, 14,4 % in Brandenburg bei Berücksichtigung der Nichtwähler) nicht mehr reden? Es ist zu einfach zu sagen, ich bin gut und ihr seid Nazis. Das ist selbstgefällig. Man macht es sich bequem auf seinem Sessel/Bürodrehstuhl und guckt mit Schaudern gen Osten und zeigt mit dem Finger. Davon ändert sich aber nichts. Im Gegenteil. Die anderen Reden mit ihnen. Und sie hören das wahnsinnige Gefasel von der Wende 2.0. Von Leuten, die damals noch ganz klein waren und in Westfalen oder München zur Schule gegangen sind.
Hier noch mal für den Geschichtslehrer: Das haben die Bürgerbewegungen damals gewollt. Der ganze andere Scheiß kam später.
Schlussfolgerung
Wir müssen miteinander reden. Wohl eher nicht mit den Nazis, obwohl Thilo von Jung auch das sehr gut hinbekommen hat (Interview mit Kalbitz). Aber wenn wirklich 61 % von 25 % nicht mit den Ansichten der AfD übereinstimmen, dann sind das doch sehr viele Menschen. Und selbst bei den 39 % ist noch nicht alles verloren. Da sind sicher Menschen dabei, die wegen „Greta“ die AfD gewählt haben, denn die Klimawandelleugner haben sich recht klar für Kohle positioniert und das ist für einige BrandenburgerInnen existenziell.
Also, versuchen wir mit ihnen zu reden. Bitte versucht Ihr Wessis mit uns Ossis auf Augenhöhe zu reden. Es ist Eure einzige Chance. Es ist unsere einzige Chance.
Nachtrag 04.09.2019
Leider muss ich mir hier gleich widersprechen. Den oben angesprochenen Erkenntnissen von infratest dimap, wonach nur 39% der WählerInnen in Sachsen die AfD aus Überzeugung gewählt haben, widerspricht eine Studie der Forschungsgruppe Wahlen, derzufolge 28 % das Motiv „Denkzettel“ nannten und 70% die AfD „wegen ihrer politischen Forderungen“ wählten (Telefonbefragung unter 1071 zufällig ausgewählten Wahlberechtigten in der Woche vor der Wahl und Befragung von 18 411 Wählern am Wahltag). Ein Unterschied von 31% in den Ergebnissen ist doch ziemlich groß. Ich werde mich bemühen, Näheres über die erste Befragung herauszufinden. Immerhin ist die Zahl 28% auch nicht klein. In Brandenburg lag die Zahl der Protestwählerinnnen bei über 50%.
Im ersten Post in diesem Blog geht es um einen Witz. Ich habe ihn zuerst von einem lieben Freund aus Schwaben gehört und fand ihn damals noch ein bisschen lustig.
Frage: „Was macht die Mutter in Brandenburg, wenn sie ins Kinderzimmer geht?“
Antwort: „Mal nach dem Rechten sehn.“
Toller Witz, tolles Klischee. Warum gibt es diesen Witz nicht mit Dortmund? Die taz berichtete über den Kiez Dorstfeld in Dortmund, in dem Hardcore-Nazis wohnen, demonstrieren, Menschen verprügeln. An den Häusern gibt es Nazi-Parolen. Der Vermieter weigert sich, diese entfernen zu lassen. Also:
Frage: „Was macht die Mutter, wenn sie ihren Sohn in Dortmund besucht?”
Antwort: „Mal nach dem Rechten sehn.“
Nicht lustig? In Dortmund gibt es auch noch Menschen, die keine Nazis sind? Echt? Oh, Entschuldigung, da war meine Wahrnehmung wohl etwas einseitig. Immer, wenn ich in der taz was über Dortmund lese, geht es um soziale Probleme im Ruhrgebiet und über die Nazis dort.
Meine Kinder erzählen die Witze, die wir uns als Ostfriesenwitze erzählt haben mit Dummsdorf statt mit Ostfriesland. Ich weiß nicht, ob die Ostfriesen unter den Witzen gelitten haben, aber es ist irgendwie besser mit Dummsdorf. Leider funktioniert der Witz mit Dummsdorf nicht so gut.2 Man sollte ihn wohl deshalb einfach nicht mehr machen.
Vorsicht: Post kann Spuren von Ironie enthalten.