Lieber Markus Liske,
Sie schreiben heute in der taz über einen Rant von Kurt Tucholsky, der seine Mitbürger*innen dazu aufruft, nicht mehr nach Bayern zu reisen. Wegen nationalistischer Tendenzen dort. Sie fordern Ihre Leser*innenschaft im Titel auf: Reisende, meidet Sachsen! und dehnen das im Artikel auf den gesamten Osten aus. Satire und solche Rants funktionieren, wenn sich Schwächere gegen Stärkere oder Gleichstarke wenden. Wenn der kleine Wadenbeißer sich im Bein des viel größeren Gegners festbeißt und einfach nicht abzuschütteln ist. Sie funktionieren nicht aus der Position des Stärkeren. Hier nun mein Rant: Ich habe mich über diesen Artikel sehr geärgert. Sie schlagen vor, nicht mehr in den Osten zu fahren, weil dort die Nazis sind. Erstens beleidigen Sie mit solchen Pauschalisierungen 18% der Einwohner*innen der Bundesrepublik. Zweitens treffen Sie damit eine wichtige verbleibende Einnahmequelle. Nach der Wende wurde die DDR-Industrie bewusst plattgemacht (MDR: 2020. D‑Mark, Einheit, Vaterland: Das schwierige Erbe der Treuhand), weite Teile des Landes sind deindustrialisiert und es blieben nur die blühenden Landschaften, die man bereisen kann. Was wir statt Industrie bekommen haben, sind Typen wie Hoffmann von der Wehrsportgruppe Hoffmann, den Ihr gut für uns im Knast aufbewahrt und dann wegen guter Führung eher wieder rausgelassen habt. Er hat dann nach der Wende in Kahla/Thüringen das gemacht, was zu erwarten war. Eure Professoren (weibliche Endung lass ich mal weg) haben die AfD aufgebaut. Fast die gesamte Führungsriege dieser Partei ist aus dem Westen. (hier eine Zusammenstellung) Die Chefs der Ost-Landesverbände allemal: Kalbitz, Höcke, Tillschneider, Reichardt. Die AfDler mit Kontakten zu Reichsbprgern und Holocaustleugner*innen kommen aus Hessen: Doris von Sayn-Wittgenstein. Sie wurde bei laufendem Ausschlussverfahren als Landesvorsitzende Schleswig-Holsteins wieder gewählt. Ihr habt über die rassistischen Ansichten des Chefs des Reservistenverbandes Sachsen geschrieben. Was fehlte: der ist aus dem Westen. Der Verfassungsschutz wurde von Maaßen geleitet, der AfD-nah ist und nirgendwo Rechtsextremismus sehen konnte. Der Verfassungsschutz war bei den NSU-Morden anwesend. Es gibt rechte Netzwerke in Polizei, KSK und Armee. Quellen muss ich hier nicht aufführen, denn alles, was ich darüber weiß, weiß ich aus der taz. Ihr müsstet es also auch wissen. (Vielen Dank übrigens für die tollen Artikel!). Verfassungsschutz, Justiz und Polizei wurden nach der Wende vom Westen in der ehemaligen DDR installiert. In den Leitungspositionen gibt es noch heute keine oder sehr wenige Ossis (laut Steffen Mau, Lütten Klein sind nur 13,3% der Richter*innen im Osten Ossis.). Wie Ihr selbst schreibt, wurden die Täter von Connewitz, Neo-Nazis, die zu Hunderten kamen und einen (linken) Stadtteil platt gemacht haben, auch fünf Jahre nach dem Vorfall nicht bestraft (taz: 11.01.2021, Schleppende Aufklärung). Einer der Täter macht gerade sein Jura-Referendariat … Kürzlich hattet Ihr einen Artikel über einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsheim in Lübeck 1995 (taz: Hoyerswerda, Solingen, Lübeck!). Die mutmaßlichen Täter sind bekannt, die Beweise erdrückend, angeklagt wurde ein Geflüchteter. Ein Justizskandal ohnegleichen. Die Vertuschenden in Polizei und Gerichten sind aus dem Westen. Das Fazit, das man ziehen kann und muss, ist, dass das ganze Land ein einziger brauner Sumpf ist. Entsprechend besetzte Stellen in Polizei und Justiz im Osten bereiten den Boden für die Saat der AfD und der Neonazi-Netzwerke.
Wenn Sie nun vorschlagen, nicht mehr in den Osten zu reisen, ist das selbstgerecht und billig. Und es würde nicht zur Lösung des Problems beitragen, sondern es verschärfen. Nach der Wende wurden alle Printmedien vom Westen übernommen, Wessis schreiben über Ossis. Von oben herab, pauschalisierend, so wie Sie in diesem Artikel. Oft ohne Sachkenntnis. Das hat dazu geführt, dass viele sich einfach abgewendet haben und die West-Medien (#Lügenpresse) nicht mehr rezipieren. Diese Lücke kann dann die AfD mit entsprechenden Alternativangeboten nutzen und das hat sie auch getan. Ihr (die Westmedien) habt die Ossis verloren (jedenfalls den AfD-wählenden Teil der Ostdeutschen). Es nützt nichts, wenn die Tagesschau oder irgendwelche Printmedien über die Corona-Pandemie berichten, denn das kommt an den entsprechenden Stellen nicht mehr an. Mit Verschwörungsthesen, Populismus und Rassismus finden AfD und friends offene Ohren. In der Wikipedia gibt es eine interessante Seite zur Diskriminierung von Ostdeutschen, auf der entsprechende Studien zum White-Trash in den USA und zu den Entsprechungen im Osten verlinkt sind. Menschen, denen es nicht gut geht, treten nach unten. Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlen, begehren auf. Ihr Artikel trägt da nicht zu einer Lösung bei. Im Gegenteil.
Stellen Sie sich einfach vor, es würde jemand einen Artikel mit der Überschrift Reisende, meidet Nordrhein-Westfalen! schreiben, weil es in NRW ganze Stadtteile gibt, in denen nur Nazis wohnen (Dokumentation: 28.09.2020. pro sieben spezial: Rechts.Deutsch.Radikal, wikipedia: Dortmund Dorstfeld). Lächerlich, oder? Es funktioniert nicht. Es funktioniert nur andersrum, aus einer Position der Stärke.
Ihr Artikel ist von derselben Art wie der vor einigen Jahrzehnten ebenfalls in der taz erschienene von Eberhard Seidel-Pielen, in dem er vorschlug, dem Osten die Mittel zu streichen, bis die Ossis Demokratie verstanden hätten: pauschalisierdend, verletzend, arrogant und mies. Lieber Herr Liske, wenn Sie sich in den vergangen Tagen wie Tucholsky gefühlt haben sollten, kann ich Ihnen nur sagen: Sie sind ganz weit weg davon. Ganz weit.
PS: Beim Schreiben von E‑Mails gibt es ja mitunter Probleme, weil diese viel härter ausfallen als das, was man Personen ins Gesicht sagen würde. Bei Zeitungsartikeln ist das wahrscheinlich so ähnlich. Vielleicht stellen Sie sich ja bei Ihrem nächsten Artikel vor, dass Sie mit einem 50jährigen Ossi in einer Kneipe sitzen und diesem erzählen, was Sie demnächst über ihn schreiben werden. Ich würde mich auch als Testperson zur Verfügung stellen. Das Angebot gilt auch für andere taz-Autor*innen.
Nee? Wollen Sie nicht? Und ist Ihnen auch egal, was die Ossis so denken? Dann weiß ich nicht mehr weiter, dann ist dieses Land verloren.
Quellen
Klopfer, Inge & Jobst Knigge, 2020. D‑Mark, Einheit, Vaterland: Das schwierige Erbe der Treuhand. mdr. (https://www.youtube.com/watch?v=6Ws4rfCBF4c)