In der Bahn saß ein Mann hinter mir und erklärte einer Frau, die zufällig neben ihm saß, die Welt. Er war ein Öko, hatte schon diverse Petitionen und Klagen gestartet, aber es drangen auch immer wieder merkwürdige Dinge an mein Ohr (Ich versuchte, ein Buch zu begutachten und das auszublenden .…). Jedenfalls hatte er die DDR mit dem Iran verglichen und von Folter gesprochen. Mein Wissensstand war so, dass es zum Ende der DDR fast keine physische Folter gab, dafür aber ausgeklügelte psychische Zersetzung. Bis in Familien hinein.
Das kann man hier nachlesen:
https://www.demokratie-statt-diktatur.de/stasi-und-die-menschenrechte/wuerde-des-menschen/
Es gab in Potsdam eine Stasi-Hochschule mit entsprechenden Abschlussarbeiten.
Ich habe ihm das gesagt und er meinte: Ja, aber die Stasi habe Röntgenstrahlung eingesetzt!
Irgendwann hat er dann auch seiner Sitznachbarin erzählt, wie toll das doch mit dem Internet sei, da könne man das alles nachlesen. Dummerweise wollte ich mein Buch weiterlesen. Ich hätte gleich mal nachgucken sollen. Es gibt höchst interessante historische Untersuchungen aus den 90ern zu den Röntgengeräten und dem Einsatz radioaktiver Materialien durch die Stasi (Eisenfeld et. al. 2002).
Kurz: Das mit den Röntgengeräten ist Quatsch. Zerrüttung findet man auch in diesem Bericht und es gibt noch ganz viele interessante Sachen zu Spionage, Einsatz von Strahlung an der Grenze, Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Institutionen usw.
Die Stasi hat zum Beispiel Westgeld radioaktiv markiert, weil sie rausfinden wollte, wer die Scheine aus den Briefen klaut. Ich dachte ja immer, dass Post und Stasi praktisch eins waren und dass die eben ab und zu Sachen aus Briefen und Paketen genommen haben.
Den Postler haben sie geschnappt, aber 12 Scheine blieben verschwunden. Wahrscheinlich hatte die in Wirklichkeit der Chef und das konnte ja nicht in den Akten dokumentiert werden. =:-)
Die radioaktive Markierung von Geldscheinen und deren Ergebnis ist in einem
Eisenfeld et al. 2002, Projektbericht »Strahlen« Einsatz von Röntgenstrahlen und radioaktiven Stoffen durch das MfS gegen Oppositionelle – Fiktion oder Realität
weiteren Fall belegt.124 Er dokumentiert einen geradezu kriminell fahrlässigen Umgang des MfS mit radioaktiven Substanzen. Aufgedeckt und nachgewiesen werden sollte der Diebstahl von Westgeld aus Postsendungen. Dazu präparierten Mitarbeiter des OTS am 4. Mai 1988 20 5 DM-Scheine mit dem »Wolke«-Mittel 113 (jeweils belastet mit einer Aktivität von 60 uCI), steckten sie in Briefkuverts und schickten sie einen Tag später, wie es heißt, »operativ in den Postkanal«. Tatsächlich konnte ein Mitarbeiter der Post des Diebstahls überführt und festgenommen werden. Es konnten bei ihm aber nur acht der zwanzig präparierten Geldscheine sichergestellt ‑werden. Zwölf der kontaminierten 5 DM-Scheine blieben verschwunden und gaben den beteiligten MfS-Mitarbeitern Anlaß zu einigem Kopfzerbrechen. Ihren Berechnungen zufolge verursachte das Tragen auch nur eines dieser Scheine am Körper über einen Zeitraum von drei Monaten eine Belastung von 200 rem, »was insbesondere im Gonadenbereich spätere Wirkungen bei Jugendlichen verursachen könnte«.125 Diese Dosis würde jedoch, so heißt es, innerhalb eines Jahres infolge der Zerfallszeit auf 16 rem sinken und wäre da nach »aus unserer Sicht ungefährlich«.126 Andererseits mußte eingeräumt wer den, daß alles auch davon abhing, wie die betreffenden Personen mit den Scheinen umgingen. Würde eine Person mehrere dieser Scheine am Körper tragen, so bestünde die Gefahr einer »vervielfachten« Belastung und »von Spätschäden an begrenzten Körperteilen«.127 Wenn man in Rechnung stellt, daß die radioaktiv markierten Geldscheine möglicherweise auch in die Hände von Kleinkindern oder schwangeren Frauen fallen konnten, so muß diesem Markierungsverfahren ein gemeingefährlicher Charakter bescheinigt werden. Ob die Bemühungen des MfS, die zwölf fehlenden radioaktiv präparierten Geldscheine wieder aufzufinden, Erfolg hatten, ist nicht dokumentiert – und das spricht eher für ein negatives Ergebnis.
Und obwohl offiziell die radioaktiven Wolken einen Umweg um die DDR gemacht hatten, hat die Stasi für ihre Tracking-Aktionen einen #Tschernobyl-Aufschlag berechnet und die Strahlungsdosis erhöht:
Die Dosis von jeweils 450 uCi (gesamt 1,9 mCi) war so stark, daß auch »von außen […] in der Wohnung gearbeitet« werden konnte.130 Außerdem wurde, wie es heißt, »der infolge der KKW-Havarie [gemeint ist offensichtlich Tschernobyl] erhöhte Strahlungsuntergrund […] rechnerisch berücksichtigt.«131 Am selben Tag wurden der Entwicklungsingenieur und seine Frau in der Wohnung und der Westberliner eine Stunde später an der Grenzübergangsstelle über führt und festgenommen. Der Einsatz der bereitgestellten »Wolke-Mittel« lag in der Regie der Abteilung 26. Der Erfolg brachte Hauptmann Thielemann, der als Mitarbeiter des OTS die praktische Markierung durchführte, noch am selben Tag einen Prämienvorschlag in Höhe von 400 Mark ein.
Eisenfeld et al. 2002, Projektbericht »Strahlen« Einsatz von Röntgenstrahlen und radioaktiven Stoffen durch das MfS gegen Oppositionelle – Fiktion oder Realität
Die haben auch den Boden von Oppositionstreffpunkten präpariert, so dass die Leute das Zeug dann an den Schuhen hatten.
Oder Manuskripte von Oppositionellen radioaktiv markiert und dann geguckt, bei wem das im Westen bzw. im Ostblock angekommen ist.
Schon irre alles. Aber die Untersuchungen haben eben ergeben, dass Röntgenstrahlung nicht gezielt zur Schädigung von Personen eingesetzt wurde.
Quellen
Eisenfeld, Bernd & Auerbach, Thomas & Weber, Gudrun & Pflugbeil, Sebastian. 2002. Projektbericht »Strahlen« Einsatz von Röntgenstrahlen und radioaktiven Stoffen durch das MfS gegen Oppositionelle – Fiktion oder Realität. Berlin: Bundesarchiv/Stasi-Unterlagen-Archiv. (http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292–97839421308513)
Das Recht auf Würde des Menschen. 2023. Demokratie statt Diktatur. (https://www.demokratie-statt-diktatur.de/stasi-und-die-menschenrechte/wuerde-des-menschen/)
Die Legende findet ihren Ursprung in der Tatsache, dass in den späten 90ern mehrere DDR Oppositionelle an Krebs starben, aus der damaligen Berichterstattung ist mir Jürgen Fuchs (https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCrgen_Fuchs_(Schriftsteller)) erinnerlich. Im Wikipedia Eintrag wird der Fall andiskutiert und eine Zeitungsquelle zu den Untersuchungen genannt: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/gauck-stasi-setzte-radioaktive-stecknadeln-ein-a-69457.html
Ja, genau. Das war dann auch die Ursache für den Forschungsbericht. Lies/lesen Sie mal. Ist sehr interessant. Ich kann mir vorstellen, dass man einen großen Schreck bekommt, wenn man selbst evtl. bestrahlt wurde. Und die Häufung von Krebsfällen war schon auffällig, aber Stress ist für Krebs auch nicht gut und Stress hatte man als Oppositioneller ja genug.
Ach, und hier der taz Artikel von damals, der mich — selbst Stasi-Knast Insasse — sehr erschreckt hat.
https://taz.de/Die-Angst-strahlt-noch-bis-heute/!1288593/