In Der Ossi und der Holocaust habe ich die Behauptungen von Anetta Kahane und Ines Geipel zum Umgang der DDR mit dem Holocaust untersucht und bin zum Schluss gekommen, dass beide Autorinnen entweder keine Ahnung haben oder lügen.
Die West-Gesellschaft des direkten Nachkriegs, die sich manisch schönputzte, die schier märchengleich Kohle machte und sich in ihrer Unfähigkeit zu trauern verpuppte. Die postfaschistische DDR der fünfziger Jahre dagegen wurde zur Synthese zwischen eingekapseltem Hitler und neuer Stalin-Diktatur, planiert durch einen roten Antifaschismus, der einzig eine Heldensorte zuließ: den deutschen Kommunisten als Überwinder Hitlers. Mit dieser instrumentellen Vergessenspolitik wurde im selben Atemzug der Holocaust für 40 Jahre in den Ost-Eisschrank geschoben. Er kam öffentlich nicht vor.
Ines Geipel, Das Ding mit dem Osten, Frankfurter Allgemeine, 14.08.2019
Im Blog-Post zeige ich recht deutlich, dass die Verbrechen an den Juden überall thematisiert wurden. In den Geschichtsbüchern der neunten Klasse, im Literaturunterricht, in Büchern, Filmen, Straßennahmen usw.
Beim taz-Lab gab es eine Podiumsdiskussion mit der Historikerin Katja Hoyer und dem Schriftsteller Marco Martin, bei der letzterer sagte, das mit der Geschichtsschreibung durch die Sieger im Vereinigungsprozess sei doch eine Mär, denn es gäbe doch auch ostdeutsche Stimmen wie Ines Geipel und Anne Rabe. Ich habe dann im Diskussionsteil darauf hingewiesen, dass Anetta Kahane und Ines Geipel keine glaubwürdigen Quellen seien, da sie entweder keine Ahnung hätten oder lügen würden, was zu großer Entrüstung führte. Leider kannte ich zu diesem Zeitpunkt eine Dokumentation des MDRs noch nicht, denn aus dieser geht hervor, dass Ines Geipel erhebliche Probleme mit der Wahrheit in Bezug auf ihr eigenes Leben hat. Auch die Zahlen der Dopingbetroffenen, die sie als Chefin der Dopingopferhilfe vertreten hat, hielten einer Überprüfung nicht stand.
Das ist der MDR-Beitrag:
Ines Geipel hat behauptet, dass die Stasi bei einer Blinddarm-Operation ihre Bauchmuskulatur und all ihre Organe zerschnitten habe.
Eine Unterleibsoperation 1984 bot die Gelegenheit, „sie zumindest für längere Zeit auf Eis zu legen“, wie sie aus den Akten zitierte. Ein Chirurg der Virchow-Klinik in Berlin stellte 2004, zwanzig Jahre nach der perfiden Tat, fest, was die Ärzte in der DDR ihr angetan hatten. „Mein gesamter Bauch war samt Muskulatur durchschnitten worden“, erfuhr sie. „Alle inneren Organe waren verletzt.“
Reinsch, Michael. 12.04.2011. Ines Geipel: Der Schrecken steht mitten im Raum. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Frankfurt/Main.
In der Dokumentation wurde sie bei einem Sprint-Wettbewerb zwei Monate nach der OP gezeigt. Mit verletzten Organen läuft man keine 100m, weil man auch vor dem Wettkampf trainieren muss.
Den kompletten Bauch aufschneiden, wer glaubt in so einen Unsinn? Da könnte man nicht mehr laufen. Ich habe ja erst vor ein paar Tagen wieder gelesen, dass alle innere inneren Organe wurden verletzt. Das ist ein Unding. Das geht nicht und da kann man vor allen Dingen nicht sechs Wochen oder acht Wochen später laufen. Schlecht wie immer – aber gelaufen ist sie.
Uwe Trömer im MDR-Beitrag Doping und Dichtung
Bezüglich ihrer Blinddarmoperation gibt sie an, dass sie als Folge der durch die Stasi durchgeführten Operation keine Kinder mehr bekommen konnte (Einzelkämpfer bei 1:24:15). Laut MDR-Faktencheck (2023: 60) steht im OP-Bericht vom 17.01.2003 nichts von Verletzungen anderer Organe oder Verletzungen, die Kinderlosigkeit hätten verursacht haben können.
Geipel gibt mit Weltrekorden an und damit Olympionikin gewesen zu sein, sie hat aber nie eine gewonnen, ja, sie hat nicht einmal an einer Olympiade teilgenommen. Bei Sprint-Wettkämpfen landete sie trotz hoher Dopingwerte auf hinteren Plätzen. In die nationale Auswahl der Sprintstaffel kam sie nicht, weil es bessere Läuferinnen gab.
Nach Ausstrahlung der MDR-Doku legte Ines Geipel eine Programmbeschwerde ein (dokumentiert auf ihrer Web-Seite: Programmbeschwerde Doping und Dichtung). Diese ist eigentlich noch schlimmer, als das, was man aus der Doku erfährt, denn sie zeigt, wie Ines Geipel arbeitet. Mit bewussten Auslassungen, Verdrehungen und Manipulationen. Der MDR hat die Programmbeschwerde durch zwei renommierte Sportjournalist*innen prüfen lassen und auf 101 Seiten ist die ganze Ungeheuerlichkeit des Vorgangs dokumentiert. Die Autor*innen nennen Geipel darin eine Lügnerin und Hochstaplerin, die Wörter Unverfrorenheit und Dreistigkeit kommen vor. Nur ein Beispiel: In Geipels Stasi-Akte steht:
Dieser Darmverschluss ergab sich jedoch, da dies bei jungen Menschen noch der Fall ist oder möglich ist; ansonsten wäre eine weitere Operation nötig gewesen. Danach sollte Geipel wieder in ein Krankenhaus wegen ihrer .… Geschichte. Dies wäre die Chance gewesen, sie für längere Zeit auf Eis zu legen. Sie ist jetzt z.Z. in einer Phase der Rehabilitation …
BStU, nach Screenshot aus MDR-Doku.
Diese Aussage belegt, dass das eine Chance gewesen wäre, d.h. das Auf-Eis-Legen ist nicht erfolgt. Geipel lässt in ihren Zitaten das Wort gewesen einfach weg: „Das ist die Chance, sie für längere Zeit auf Eis zu legen.“ (In Einzelkämpfer, 2013: 1:26:15 kann man sehen, wie sie die Passage „vorliest“).
Man kann also schließen, dass Ines Geipel keine glaubwürdige Zeugin in Bezug auf die DDR-Geschichte ist.
Denn der verantwortungsvolle Umgang mit der Wahrheit gehört augenscheinlich nicht zu den Stärken der 62 Jahre alten Berlinerin.
Ludwig, Udo & Neumann, Thilo & Purschke, Thomas. 2023. Verleihung des Erich-Loest-Preises: Ines Geipel und der schwierige Umgang mit der Wahrheit. Der Spiegel. 23.02.2023
Ich hatte ja in der Auseinandersetzung über den Umgang mit dem Holocaust in der DDR als Ergebnis die beiden Möglichkeiten „keine Ahnung“ und „lügen“. Theoretisch ist es immer noch möglich, dass Ines Geipel keine Ahnung in Bezug auf das Thema Holocaust hatte bzw. hat, aber die Lügen-Möglichkeit erhält mit dieser Information über Ines Geipel mehr Plausibilität.
Nachtrag
Die Dokumente auf Ines Geipels Web-Seite sind mir bekannt. Sie werden im Faktencheck in der Erwiderung auf die Programmbeschwerde gegen den MDR besprochen. Die von Geipel beigebrachten Dokumente widerlegen nichts von dem, was oben aus den Dokumentationen zitiert wurde.
Nachtrag 2: Manipulative Darstellung Nazis vs. Neulehrer
In ihrem Buch Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass schreibt Geipel auf S. 33 der e‑Book-Ausgabe: „Anfangs waren 80 Prozent der Lehrer im #Osten ehemalige Mitglieder der NSDAP.“ Diese Aussage ist eventuell wahr, wenn man die Zeit direkt nach dem Krieg betrachtet. Sie ist jedoch hochgradig manipulativ, da nichts weiter zu den Leher*innen gesagt wird. Es gab jedoch nach dem Krieg ein umfangreiches Neulehrer-Programm. Die Nazi-Lehrer*innen wurde entlassen. Manche durften nie wieder, andere erst erst Jahre später wieder als Lehrer*innen arbeiten. In Wikipedia steht unter Angabe von Quellen das Folgende zu Neulehrern:
Wurden im ersten Schuljahr noch einige Lehrer mit nationalsozialistischer Vergangenheit geduldet, so wurden die Richtlinien für den Verbleib im Schuldienst schrittweise verschärft. In den westlichen Besatzungszonen konnten einige Lehrer mit zweifelhaftem Hintergrund nach sogenannten „Entbräunungskursen“ ab 1947 wieder in den Schuldienst eintreten, während in der sowjetischen Besatzungszone das Neulehrerprogramm so umfangreich gestaltet wurde, dass große Teile der bisherigen Lehrerschaft von den rund 40.000 Neulehrern ersetzt wurden. Obschon die alte Lehrerschaft die Qualität einer höchstens einjährigen Umschulung anzweifelte, war aufgrund des zumeist akademischen Hintergrundes der Neulehrer das Ergebnis hinreichend gut und ermöglichte den sonst im Nachkriegsdeutschland aufgabenlosen Berufen eine feste Anstellung. Die große Mehrzahl der Neulehrer blieb auf Dauer im Schuldienst tätig.
In der sowjetischen Besatzungszone diente die Einstellung der Neulehrer auch dazu, die Kontrolle der SED über die Schulausbildung sicherzustellen. 1949 waren bereits 67,8 Prozent aller Lehrerstellen mit Neulehrern besetzt. 47,7 Prozent dieser Neulehrer gehörten der SED an, 13 Prozent der LDPD und 10 Prozent der CDU, die zu Blockparteien gleichgeschaltet waren. Damit war die Kontrolle der SED über das Schulwesen weitgehend erreicht.
Wikipediaeintrag zu Neulehrer, abgerufen am 11.11.2024.
Geipel schickt Ihre Leser*innen also bewusst auf den Holzweg.
Quellen
Geipel, Ines. 2019. Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass. Stuttgart: Klett-Cotta.
Karte, Uwe. 2023. Doping und Dichtung: Das schwierige Erbe des DDR-Sports. 2023. mdr. (https://www.youtube.com/watch?v=FUInTLwH4fI)
Kaudelka, Sandra. 2013. Einzelkämpfer. ZDF. (https://youtu.be/Vdhu-cNkWcc?t=5054)
Kowalczuk, Ilko-Sascha. 2022. Getrübte Erinnerungen? Über ein Buch, das nicht erschienen ist. Deutschland Archiv. (https://www.bpb.de/513987)
Kowalczuk, Ilko-Sascha. 2023. Der Fall Geipel und Gesinnungskämpfe: Doping und Prawda. taz 16.12.2023. Berlin. (https://taz.de/Der-Fall-Geipel-und-Gesinnungskaempfe/!5977524/)
Ludwig, Udo & Neumann, Thilo & Purschke, Thomas. 2022. Wirbel um Vertreterin von Doping-Opfern: Lügen, betrügen, täuschen. Der Spiegel 21. (https://www.spiegel.de/sport/ines-geipel-vertreterin-von-doping-opfern-luegen-betruegen-taeuschen-a-4f0bebfd-c8f3-4eda-bc21-0baf6ecaf7ea)
Ludwig, Udo & Neumann, Thilo & Purschke, Thomas. 2023. Verleihung des Erich-Loest-Preises: Ines Geipel und der schwierige Umgang mit der Wahrheit. Der Spiegel. (https://www.spiegel.de/sport/ddr-dopingsystem-ines-geipel-und-der-schwierige-umgang-mit-der-wahrheit-a-7e209638-b5ce-4ad7-b35f-9d096b33e04b)
MDR Hauptredaktion Sport. 2023. MDR-Dokumentation „Doping und Dichtung“ Faktencheck. Leipzig. 24.08.2023.
Reinsch, Michael. 2011. Ines Geipel: Der Schrecken steht mitten im Raum. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 12.04.2011. Frankfurt/Main. (https://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/doping/ines-geipel-der-schrecken-steht-mitten-im-raum-1621434.html)