Der 08.10.1989

Ich kann es nicht glau­ben, dass ich zu die­sem Tag noch nichts geschrie­ben habe. Jeden­falls kann ich nichts fin­den. Am 7.10.1989 gab es in Ber­lin die monat­li­che Demons­tra­ti­on, die seit der durch die kirch­lich orga­ni­sier­te Oppo­si­ti­on nach­ge­wie­se­ne Wahl­fäl­schung am 7. Mai 1989 monat­lich statt­fand. Gor­bat­schow war in der Stadt, Hon­ecker woll­te mit ihm und ein paar ran­ge­karr­ten FDJ­lern den 40. Jah­res­tag der Grün­dung der DDR fei­ern. Das miss­lang gründ­lich. Ich habe dar­über bereits in Der Anfang vom Ende (Repu­blik­ge­burts­tag) geschrie­ben. Die Demons­tra­ti­on der Oppo­si­tio­nel­len fand statt. Behelm­te Poli­zis­ten mit Schlag­stö­cken und Räum­pan­zer waren im Ein­satz. Am 8.10. und 9.10. fan­den Got­tes­diens­te in der Geth­se­ma­ne-Kir­che statt. Damals ver­füg­ten nur weni­ge meist pri­vi­le­gier­te Men­schen über Tele­fo­ne (Ärz­te, Funk­tio­nä­re, Sta­si, Men­schen in Neu­bau­vier­teln und sonst wie Glück­li­che). Die Kom­mu­ni­ka­ti­on war in Kri­sen­zei­ten also ein­ge­schränkt. Kir­chen ver­füg­ten über Tele­fo­ne und orga­ni­sier­ten den Aus­tausch und den Wider­stand. Ich war an die­sen Tagen auch bei den Got­tes­diens­ten. Es wur­den Gedächt­nis­pro­to­kol­le von Men­schen ver­le­sen, die von der Sta­si ver­haf­tet wor­den waren. Es wur­den die Zah­len von Men­schen ver­kün­det, die in ande­ren Städ­ten ver­haf­tet wor­den waren. Zu die­sem Zeit­punkt war alles noch unklar. Nie­mand wuss­te, wie es enden wür­de. Ich war im August aus der Armee ent­las­sen wor­den, aber sie hat­ten uns nach dem Mas­sa­ker auf dem Tian’anmen-Platz chi­ne­si­sche Pro­pa­gan­da­fil­me gezeigt. Alle muss­ten teil­neh­men. Es war klar, war­um wir die­sen Film sehen muss­ten: Wir soll­ten auf die Nie­der­schla­gung eines Volks­auf­stan­des vor­be­rei­tet wer­den. Krenz war in Peking und bekun­de­te sei­ne Soli­da­ri­tät (sie­he auch Wiki­pe­dia-Ein­trag zu inter­na­tio­na­len Reak­tio­nen). Mei­ne Freun­de, die noch bei der Armee waren, waren an die­sem Tag vor Dres­den im Ein­satz. Sie hat­ten Schlag­stö­cke und Hel­me bekom­men und stan­den außer­halb der Stadt bereit. Im Roman Der Turm von Uwe Tell­kamp sind ent­spre­chen­de Sze­nen ent­hal­ten. Von die­sen Ein­sät­zen wuss­te ich damals nichts, ich habe das erst spä­ter erfah­ren, aber dass die Lage ernst war, war klar.

Nach der Ver­an­stal­tung woll­te ich die Kir­che ver­las­sen, aber vor dem Ein­gang stau­te sich die Men­ge. Die Kir­che war von Poli­zis­ten umstellt. Kir­chen hat­ten in der DDR einen beson­de­ren Sta­tus: Die Kir­che hat­te in ihren Kir­chen und auf dem umge­ben­den Gelän­de Haus­recht. Die Poli­zei hielt sich dar­an und blieb drau­ßen. Die Sta­si offi­zi­ell auch. Inof­fi­zi­ell war in jeder Grup­pe von drei Oppo­si­tio­nel­len ein Sta­si­spit­zel (zuge­spitzt). Mit­un­ter auch in Ehen, also Zwei­er­grup­pen (sie­he Vera Wollenberger/Lengsfeld). Für uns bedeu­te­te der Son­der­sta­tus der Kir­chen, dass wir auf dem Kir­chen­ge­län­de sicher waren, aber irgend­wann muss­ten wir es ja ver­las­sen. Wir stan­den auf den Kir­chen­stu­fen direkt neben der Jesus-Sta­tue, der Sockel war von Wachs­ber­gen bedeckt.1 Hier fand seit eini­ger Zeit eine Mahn­wa­che statt und es wur­den immer wie­der Ker­zen ent­zün­det. Wir stan­den also direkt neben Jesus und rie­fen: „Kei­ne Gewalt! Kei­ne Gewalt!“. Neben mir stand ein stadt­be­kann­ter Punk, er rief es mit geball­ter Faust.

Der Pfar­rer ver­han­del­te mit der Poli­zei und wir konn­ten das Kir­chen­ge­län­de unge­hin­dert ver­las­sen. Bis zur S‑Bahn-Brü­cke Grei­fen­ha­gner Stra­ße war alles abge­sperrt. Poli­zei­ket­ten. Mein Freund und ich konn­ten ohne Pro­ble­me pas­sie­ren und waren drau­ßen. Wir sind dann zum Kino Colos­se­um gegan­gen, weil wir Kar­ten für Zwei schrä­ge Vögel hat­ten. Einer der letz­ten DEFA-Fil­me vor dem Mau­er­fall. Ein kri­ti­scher. Und wenn man schon Kino­kar­ten hat, dann lässt man die ja wegen der Revo­lu­ti­on nicht ver­fal­len. Als wir aus dem Kino kamen, war die Revo­lu­ti­on auch noch nicht vor­bei. Sie hat­te sich viel­mehr zuge­spitzt: Vor dem Kino stand eine Poli­zei­ket­te mit Poli­zis­ten mit Leder­stie­feln und Hun­den. Auch so etwas hat­te ich vor­her noch nie gese­hen. Die­se Sze­ne ist auch in Jochen Schmidts Roman Hoplo­poi­ia beschrieben.

Mein Freund und ich wohn­ten bei­de im Prenz­lau­er Berg. Wir trie­ben uns noch eine Wei­le auf der Schön­hau­ser Allee her­um, die für den Ver­kehr gesperrt war. Anwohner*innen waren auf der Stra­ße und dis­ku­tier­ten. Gan­ze Züge von Sta­si-Mit­ar­bei­tern in Zivil waren im Ein­satz. Sie waren in der Grup­pe leicht zu erken­nen: kur­ze Fri­su­ren, stone­wa­shed Jeans. Die Jeans waren begehrt und es gab sie nicht in aus­rei­chen­dem Maße zu kau­fen. Wahr­schein­lich hat­ten die Sta­sis eine pri­vi­le­gier­te Ver­sor­gung. Wenn sich irgend­wo eine Dis­kus­si­on inten­si­vier­te, kamen die­se Men­schen und umring­ten die Dis­ku­tie­ren­den. Es war dann wei­se, sich zu ver­drü­cken, wenn man nicht mit­ge­nom­men wer­den woll­te. So wur­den Dis­kus­sio­nen immer wie­der unterbunden.

Mir wur­de das irgend­wann zu heiß und ich zog mich in mei­ne Woh­nung zurück.

  1. Bil­der fin­det man auf https://revolution89.de/revolution/gethsemanekirche-berlin/.

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