Holocaust nicht thematisiert oder relativiert?
Vor sieben Jahren behauptete Anetta Kahane, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der DDR weder auf systemischer noch auf individueller Ebene gewollt gewesen sei.
Im Osten war eine systemische und individuelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah nicht gewollt. Dies hätte zu Fragen nach Menschenrechten oder Minderheitenschutz geführt, die nur bei Strafe des Untergangs der DDR zu beantworten gewesen wären.
Anetta Kahane, Debatte Ostdeutsche und Migranten: Nicht in die Fallen tappen, taz, 12.06.2018
Sieben Jahre später weist ihr Neffe in einem Interview in Monopol darauf hin, dass es einen Universalismus gegeben habe, in dem der Holocaust mit den Morden an Kommunist*innen, Homosexuellen usw. gemeinsam behandelt wurde. Immerhin wird die Existenz des Gedenkens nicht ganz geleugnet, wie das bei Ines Geipel der Fall war. Ich habe Anetta Kahanes und Ines Geipels Aussagen von 2018 und 2019 im Blog-Post Der Ossi und der Holocaust diskutiert. Was will man gegen den Universalismus-Vorwurf sagen? Universalismus ist ein schönes Schlagwort dafür, dass sich die Kommunist*innen selbst gefeiert haben. Da war viel Propaganda dabei, aber letztendlich hatten die Menschen, die im Widerstand waren, auch das Recht dazu, stolz zu sein. Und es war nicht der Fall, dass der Völkermord an den Juden unter den Tisch gekehrt wurde, wie Anetta Kahane behauptet hat. Leo Kahane war an einer Ausstellung über jüdisches Leben in der DDR beteiligt. Er weiß, dass es über 1000 Bücher zum jüdischen Leben, zum Holocaust und zum Widerstand gab, dass es über 1000 Filme gab (zu den Details siehe Der Ossi und der Holocaust). Ausschnitte aus den Filmen konnte man in der Ausstellung sehen.

Es gab dort auch ein Regal mit Büchern.

Ich habe über die Ausstellung in Ausstellung: „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR.“ geschrieben. All die Aufarbeitung und Auseinandersetzung und das Gedenken wird ignoriert und abgetan, indem man behauptet, die Kommunist*innen hätten sich nur selbst gefeiert.
Das Interview mit Leo Kahane ist in einer Interviewreihe der Zeitschrift Monopol erschienen, zu der auf der Seite steht:
Es ist Teil der Reihe „Osten vom Westen“, für die Kage als in Westdeutschland Aufgewachsener Gespräche mit Kulturschaffenden führt, die ihre Karrieren noch in der DDR begonnen haben.
Diese Aussage ist lustig, denn Kahane war zum Fall der Mauer 4 Jahre alt. Er wird damals noch im Buddelkasten Sandförmchen gebastelt haben. Aber vielleicht waren die von besonderem künstlerischen Wert. Kahane ist also in derselben Generation wie Anne Rabe und die Aussagen auch von ähnlicher Qualität. Ich gehe einfach mal einige Statements durch.
In der DDR hatte man den Faschismus in Gänze überwunden. Die neuen Faschisten verortete man in Israel und in Amerika und hat so relativ nahtlos an zentrale ideologische Elemente des Nationalsozialismus anknüpfen können und sie insofern auch nicht aufarbeiten müssen.
Leo Kahane. 2025. Künstler Leon Kahane „In der DDR gab es im Grunde keine Erinnerungskultur“, Monopol. 20.06.2025
Also die USA waren ganz klar der Klassenfeind. Sie waren Kapitalisten und Imperialisten. Das wurde uns so vermittelt. Faschismus war etwas anderes, jedenfalls habe ich nie von solch einer Gleichsetzung gehört. Die Sache mit Israel ist komplex. Es war nicht von Anfang an klar, welchem Block sich Israel anschließen würde. Es gab auch Sympathien für den Ostblock, letztendlich schlug das Pendel aber in Richtung Kapitalismus aus und die Blocklogik ergab dann, dass Israel auch Klassenfeind war. Das hat erst mal nichts mit Antisemitismus zu tun, auch wenn das gern in einen Topf geworfen wird. Ein lustiges Gedankenexperiment ist es, sich auszumalen, was passiert wäre, wenn Israel sich dem Ostblock angeschlossen hätte. Würde man dann alle, die das kritisieren, als Antisemiten bezeichnen? Oder nicht? Wenn nicht, warum nicht?
Die Lager, die auf dem Gebiet der späteren DDR waren, haben eine Universalisierungs-Erzählung, die den Fokus ganz stark auf die kommunistischen Widerständler legt, auf die Selbstbefreiung und so weiter. Die Juden hatten dort, über die ganze DDR hinweg, eigentlich keinen Raum. Und das ist etwas, was gerade wieder Konjunktur hat.
Diese Aussage ist falsch. Die Morde an den Juden kamen im Film vor, der in Buchenwald allen Besucher*innen gezeigt wurde. Siehe dazu den Wikipedia-Eintrag zum Film O Buchenwald bzw. den Blog-Post Der Ossi und der Holocaust. Während viele Westdeutsche noch nie ein KZ gesehen haben, war der Besuch eines KZs in der DDR für Schüler*innen Pflicht. Der Buchenwald-Film wurde den Besucher*innen der Gedenkstätte gezeigt. Er ist noch heute gelegentlich bei kommentierten Vorführungen zu sehen.
Der Interviewer Jan Kage behauptet in einer Frage über die Zeit nach der Wende:
Und gleichzeitig gab es ein neues jüdisches Leben, auch eine jüdische Immigration, darunter viele, die aus Osteuropa hier nach Berlin kamen. Die Synagoge wurde wieder in alter Pracht aufgebaut. Es gab einen Aufbruch.
Was dabei unerwähnt bleibt, ist, dass die Grundsteinlegung für den Wiederaufbau der Synagoge am 10. November 1988 stattfand. Einen Tag nach dem Jahrestag der Reichsprogromnacht. Ein Jahr vor dem Fall der Mauer. Kahane war da drei Jahre alt.
Kahane sagt zu den Wahlerfolgen der AfD in den neuen Bundesländern:
Warum wird in den sogenannten „neuen Bundesländern“ so viel AfD gewählt? Meines Erachtens hat das mehr mit der versäumten Aufarbeitung zu tun als mit der Transformationserfahrung der Wende.
Ja, lieber Leo Kahane. Das ist Deine Geschichte und auch die von Anne Rabe. Und die von Ines Geipel und von Deiner Tante. Sie wird von West-Medien gerne gedruckt, weil sie so schön entlastend ist. Denn, wenn es die Transformationserfahrungen wären, dann wäre der Westen mitschuldig. Wäre es aber eine mangelnde Aufarbeitung oder, wie bei Anne Rabe behauptet, irgendwelche Gewalterfahrungen oder bei Pfeiffer das gemeinsame Sitzen auf dem Töpfchen im Kindergarten, dann könnte man die Ossis irgendwie pathologisieren, als anders abtun und das Problem externalisieren. Man braucht dann noch ein bisschen Hufeisentheorie dazu, damit man erklären kann, warum so viele Ossis erst Die Linke gewählt haben und nun AfD wählen. Das macht leider aber keinen Sinn, weil Bodo Ramelow ein lieber Sozialdemokrat ist (Thüringen hatte einen Ministerpräsidenten von Der Linken) und seine Ansichten absolut inkompatibel mit denen des hessischen Nazis Björn Höcke sind.
Kage fragt:
In der jüdischen Community der DDR waren viele Kommunisten und Sozialisten. Sie waren also säkular. Zur kognitiven Dissonanz gibt es eine Anekdote von Gregor Gysi, dessen Vater Klaus ein paar Jahre Kulturminister der DDR war, und der auch aus einer jüdischen Familie stammt. Als Ägypten und Syrien 1973 Israel überfielen, der Jom-Kippur-Krieg, gab es ein Statement der SED, in dem die israelische Aggression verurteilt wurde. Dieses sollten alle jüdischen Personen des öffentlichen Lebens in der DDR unterschreiben. Und der Sohn fragte den Vater, der die Shoah überlebt hatte und der von diesem Staat überzeugt war, woher die denn wüssten, dass sie jüdisch sind. “Haben die Listen?” Wie war das jüdische Leben in der DDR organisiert?
Ich weiß nicht, warum Gysi die Geschichte erzählt, aber die Antwort war ganz klar: Ja, es gab Listen, denn die Menschen, die KZs oder sonst wie Verfolgung durch die Nazis überlebt hatten, waren als Verfolgte des Naziregimes registriert (auch mein Großonkel) und bekamen eine höhere Rente, konnten früher in Rente gehen und so weiter.
Dies gilt im Prinzip auch für die von der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) am 5. Oktober 1949, d.h. zwei Tage vor der Gründung der DDR, erlassenen »Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes«, die künftig den Eckpfeiler der Wiedergutmachung in der DDR bildete: Sie gewährte anerkannten Opfern des Faschismus Alters- und Arbeitsunfähigkeitsrenten, besondere Berücksichtigung bei der Wohn- und Gewerberaumvergabe, ausreichende Versorgung mit Hausrat, umfassende Leistungen zur gesundheitlichen Rehabilitierung sowie besondere Studienbeihilfen für ihre Kinder. Im Februar 1950 erlassene Richtlinien regelten den Kreis der Berechtigten. In der detaillierten Auflistung standen zwar die politisch Verfolgten, insbesondere diejenigen, die aktiv gegen das NS-Regime gekämpft hatten, an der Spitze, doch waren die an zwölfter Stelle genannten rassisch Verfolgten dabei materiell-rechtlich nicht diskriminiert. Allerdings waren die Ansprüche auf solche anerkannten Opfer des Faschismus beschränkt, die auf dem Territorium der SBZ/DDR lebten – 1949 sollen es etwa 50 000 gewesen sein.
Goschler, Constantin. 1993. Paternalismus und Verweigerung — Die DDR und die Wiedergutmachung für jüdische Verfolgte des Nationalsozialismus. In Benz, Wolfgang (ed.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, vol. 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.
Aber unabhängig davon hatte der Staat Listen über alles Mögliche. Die DDR war ein Überwachungsstaat mit einem enorm aufgeblähten Geheimdienst und Netz von inoffiziellen Mitarbeitern (ehm, hüstl vielleicht auch IM Gregor und ganz sicher IM Victoria, SCNR).
Letztendlich waren die Personen, die zu Stellungnahmen gedrängt wurden, Personen des öffentlichen Lebens, die sich untereinander gekannt haben dürften und die sicher voneinander wussten, warum sie im KZ gewesen waren oder wo sie in der Emigration gewesen waren.
Die Erklärung, die jüdische Bürger der DDR zu einem Krieg in der Region abgegeben haben, bezog sich auf den Sechstagekrieg. Ich habe sie in der Ausstellung fotografiert, an der auch Leo Kahane beteiligt war (siehe unten). Der Sechstagekrieg fand 1967 statt. Der Jom-Kippur-Krieg dann 1973. Jan Kage sagt richtig über den Jom-Kippur-Krieg, dass Ägypten und Syrien Israel angegriffen haben. Aber um diesen Krieg ging es überhaupt nicht, sondern eben um den Sechstagekrieg von 1967. Ägypten war mit 1000 Panzern und 100.000 Soldaten an den israelischen Grenzen aufmarschiert. Israel hatte dann in einem Präventivschlag die ägyptische Luftwaffe am Boden zerstört und danach, da die Gegner ohne Absicherung aus der Luft waren, große Gebiete eingenommen. Darunter die Golanhöhen, den Gaza-Streifen, die Sinai-Halbinsel und das West-Jordanland. Die folgende Karte gibt einen Überblick über die eroberten Gebiete:

Die Frage von Jan Kage war falsch gestellt. Sie enthält mehrere Fehler. Leo Kahane hätte das auffallen müssen und er hätte den Interviewer auf den Fehler hinweisen müssen. Der hätte das leicht korrigieren können, ohne dass wir es gemerkt hätten, denn es war ja kein Fernsehinterview. Die Frage macht historisch betrachtet überhaupt keinen Sinn: Warum sollte die SED Jüd*innen zu einem Brief anregen, wenn andere Länder Israel überfallen? Beim Sechstagekrieg war die Lage dagegen anders: Israel hatte einen Präventivschlag geführt und im Ergebnis des Krieges große Gebiete neu besetzt. Ein Land, das zum anderen Block gehörte. Das konnte man schon mal verurteilen. So funktionierte das Blockdenken damals.
Es bleibt leider nur der Schluss, dass weder Interviewer noch Interviewter sich mit der zugegebenermaßen komplexen Materie auskennen.
Mythos Antifaschismus?
Leo Kahane antwortet:
Was ich zu diesem „Sich-Verhalten“ sagen kann: Es gab tatsächlich eine Unterschriftenliste, ein Statement jüdischer Bürger der DDR, das viele Künstler, Journalisten und Schriftsteller verweigert haben zu unterschreiben. Einer davon war mein Großvater. Dieses Statement war in seiner ganzen Sprache hochgradig antisemitisch. Auch, dass man das im Namen der jüdischen Bürger verfasst hat, erinnert mich an einige offene Briefe der Gegenwart. Das Verständnis des Judentums war in der DDR extrem verkümmert. Auf der anderen Seite waren Biografien wie die meiner Großeltern unheimlich wichtig für den Mythos der DDR als antifaschistischem Staat. Und somit auch, um nicht über das Verhältnis zur NS-Nachfolgegesellschaft nachdenken zu müssen. Dieser Missbrauch hat sicherlich auch für Privilegien gesorgt. Aber diese Privilegien waren vergiftet und hatten einen Preis. Man kann sich vielleicht vorstellen, wie prekär das jüdische Leben war und wie sehr es an eine politische Botschaft der DDR gebunden war. Sowas kann immer sehr schnell kippen.
Leo Kahane
Also: Leo Kahane war der Meinung, dass in der DDR von den USA als faschistischem Staat gesprochen wurde. Andererseits spricht er vom „Mythos der DDR als antifaschistischem Staat“. Das heißt, er ist der Meinung, dass die DDR nicht antifaschistisch war. Was denn dann? Ich bin verwirrt. Ich bin mein ganzes Leben antifaschistisch erzogen worden. Alle Kinder der DDR waren in KZs. Ich war acht Mal in Buchenwald (bei den Weimartage der FDJ, bei einer Klassenfahrt), ich war in Auschwitz (im Rahmen eines Schulaustauschs mit einer Partnerschule in Polen), ich war in Sachsenhausen (im Rahmen der Jugendstunden meiner POS). Straßen, Schulen waren nach Antifaschist*innen benannt, wir hatten antifaschistischen Stoff in Musik, in Geschichte, in Literatur (z.B. haben wir Nackt unter Wölfen gelesen. Ein Buch über Buchenwald, in dem auch der Mord an den Juden thematisiert wurde und Die Frühlingssonate, eine Erzählung, in der es um die Morde von SS und Wehrmacht an den Kiewer Juden in Babyn Jar ging (33.000 Menschen in 48 Stunden). Zu den Details siehe Der Ossi und der Holocaust). Nur ein Mythos? In Wirklichkeit waren doch alle Faschisten? Wohl kaum. Die Herrschenden (Nicht-Juden und im Gegensatz zum Westen auch Juden) hatten auch im KZ gesessen oder waren gerade noch rechtzeitig Richtung Osten oder Westen geflohen. Man kann bzw. muss die Kommunisten schrecklich finden, den Überwachungsstaat, die Zersetzungsmaßnahmen gegen die Opposition usw. aber man kann nicht behaupten, dass sie keine Antifaschisten gewesen seien.
Prekäres jüdisches Leben?
Nein. Ich kann mir nicht vorstellen, wie prekär das jüdische Leben war. Ich habe extra noch einmal nachgesehen, was prekär bedeutet: prekär in Wikipedia. Juden waren in der DDR privilegiert. Wie auch die Kahanes (Max Kahane, Doris Kahane). Die rötesten Socken auf der Erde. Staatskünstlerin und ND-Chef. In Der Ossi und der Holocaust liste ich andere Menschen aus Wissenschaft, Kultur und Politik auf. Das schreibt Goschler (1993) zur materiellen Absicherung der Opfer des Faschismus:
Dort gelangte nun die alte Trennung von »Kämpfern« und »Opfern« wieder zu neuen Ehren und wurde nun auch mit materiellen Konsequenzen gewürdigt: Kämpfer, die das um fünf Jahre herabgesetzte Pensionsalter erreicht hatten oder invalide waren, sollten eine Ehrenpension in Höhe von monatlich 800 Mark erhalten, für Opfer waren demgegenüber lediglich 600 Mark vorgesehen. Sofern Juden also nicht Träger der »Medaille für Kämpfer gegen den Faschismus 1933–1945« waren, mußten sie sich mit dem minderen Status und entsprechender Pensionsberechtigung des Opfers begnügen. Mau muß dabei allerdings hervorheben, daß die Höbe der Ehrenpensionen gemessen an DDR-Normalrenten exorbitant hoch war; bis 1989 waren die Ehrenpensionen auf 1800 Mark für »Kämpfer« bzw. 1600 Mark für »Opfer« angestiegen.
Goschler, Constantin. 1993. Paternalismus und Verweigerung — Die DDR und die Wiedergutmachung für jüdische Verfolgte des Nationalsozialismus. In Benz, Wolfgang (ed.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, vol. 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.
Diese Ehrenpension gab es zusätzlich zu der normalen Rente aus er Sozialversicherung. Nur zum Vergleich: 1989 betrug das Stipendium 200 Mark. Man konnte davon bequem leben, denn Grundnahrungsmittel waren sehr billig. Miete kostete 30 Mark. Es wurde den Bezieher*innen dieser Renten nahegelegt, diese nicht in Bankfilialen abzuholen, um keinen Neid zu erregen.
Sicher, wenn man sich zum Staatsfeind entwickelte, dann bekam man Probleme. Da gab es aber keine Unterschiede zwischen Juden und Nicht-Juden. Die Zersetzungsmaßnahmen der Stasi waren für alle gleichermaßen unschön.
Die Erklärung jüdischer DDR-Bürger*innen zum Sechstagekrieg
Das ist die Erklärung der jüdischen DDR-Bürger. Ich habe sie in maximaler Auflösung hochgeladen. Wenn man das Bild anklickt, kann man den Text lesen.

Kahane sagt: „Dieses Statement war in seiner ganzen Sprache hochgradig antisemitisch.“ Die geneigte Leserin möge das Statement selbst lesen. Zu Beginn steht: „Als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik jüdischer Herkunft erheben wir unsere Stimme, um feierlich die Aggression zu verurteilen, der sich die herrschenden Kreise Israels gegen die arabischen Nachbarstaaten schuldig gemacht haben.“ Das Statement bezieht sich auf die Regierung, nicht auf die Israelis oder Jüd*innen an sich. Es stellt auch nicht das Existenzrecht Israels in Frage. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass die Staatsgründung nicht nach dem vorgesehenen UN-Plan erfolgte. Die Behauptung zur Gründung Israels ist nicht korrekt. Israel hatte sich selbst gegründet. Die Palästinenser wollten keinen eigenen Staat gründen und die umgebenden Staaten (Ägypten, Syrien, Jordanien und Irak) griffen Israel an. Das Ergebnis des Palästinakrieges war aber, dass Gebiete, die den Palästinensern zugedacht waren, dann 1949 israelisch besetzt waren.
Also: Dieser Brief richtete sich gegen die Politik Israels und ist auch nach der Definition der IHRA, die ich im Folgenden diskutiere, nicht antisemitisch.
Im weiteren Verlauf des Interviews wiederholt Jan Kage den falschen Bezug auf den Jom-Kippur-Krieg und behauptet ebenfalls, das Statement dazu sei antisemitisch gewesen:
Von hier bis zu der Debatte nach dem Jom-Kippur-Krieg in der DDR: Immer wieder kommen diese antisemitischen Klischees hoch.
Jan Kage
Diese Sache ist schwierig, aber wenn man sich gegen Kriege äußert, ist das noch lange nicht antisemitisch. Es kann antisemitisch sein, auch können an sich nicht antisemitische Äußerungen aus einer antisemitischen Motivation heraus getätigt werden, aber Statements gegen einen Krieg sind nicht automatisch antisemitisch. Man kann sich das anhand der aktuellen Entwicklungen in Gaza klarmachen. Es ist absolut legitim, gegen diesen Krieg zu sein. Ich habe Freunde in Israel, die jede Woche gegen die Netanjahu-Regierung protestieren.

Nurit hat ihre Nichte beim Massaker der Hamas verloren. Sie war 17 und hat in der Wüste getanzt. Dennoch ist Nurit und ihre Familie gegen den Krieg und sie demonstrierte schon vor dem 7. Oktober 2023 jede Woche gegen die rechtsextreme israelische Regierung. Ist sie antisemitisch? Bin ich antisemitisch, wenn ich denke wie sie? Wohl kaum.
Das hier ist die Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die von vielen als zu streng abgelehnt wird:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
Um die IHRA bei ihrer Arbeit zu leiten, können die folgenden Beispiele zur Veranschaulichung dienen:
Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass „die Dinge nicht richtig laufen“. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.
Das ist eine sinnvolle Definition mit einer sinnvollen Erklärung. Es ist nicht so, wie oft behauptet wird, dass diese Definition Kritik an Israel unmöglich machen würde. Jede Kritik an Israel würde aber sofort antisemitisch werden, wenn man behaupten würde, dass Israel Gaza nur deshalb plattgemacht hat, weil die Menschen in Israel Juden sind.
Also nochmal: Die DDR war gegen Israel, weil Israel Teil des kapitalistischen Blocks war. Das steht auch sehr klar in diesem Brief.
Nazis auf den mittleren Ebenen?
Jan Kage fragt:
Auch in der DDR hat man nach 1945 weder Richter noch Staatsanwälte oder Lehrer – diesen ganzen Mittelbau aus Beamten – ausgetauscht. Das ging nicht, weil man nicht schnell genug nachausbilden konnte. Stattdessen tauschte man die Führungsebene aus. Und von hier konnte man dann gut vom Osten auf den Westen zeigen. Wir sind die Guten und da drüben bei Adenauer sitzen die Faschisten. Und in Österreich auch. Waren die jüdischen Leute in der DDR Kronzeugen für diese eigene antifaschistische Erzählung?
Leo Kahane widerspricht dem nicht, aber die Aussage ist einfach falsch. Es gab nach dem Krieg die sogenannten Neulehrer. Ich kenne persönlich einen Latein/Kunst-Lehrer, der Mitglied der NSDAP gewesen war und nach dem Krieg nicht arbeiten durfte. Das steht im Wikipedia-Eintrag zu den Neulehrern:
Wurden im ersten Schuljahr noch einige Lehrer mit nationalsozialistischer Vergangenheit geduldet, so wurden die Richtlinien für den Verbleib im Schuldienst schrittweise verschärft. In den westlichen Besatzungszonen konnten einige Lehrer mit zweifelhaftem Hintergrund nach sogenannten „Entbräunungskursen“ ab 1947 wieder in den Schuldienst eintreten, während in der sowjetischen Besatzungszone das Neulehrerprogramm so umfangreich gestaltet wurde, dass große Teile der bisherigen Lehrerschaft von den rund 40.000 Neulehrern ersetzt wurden. Obschon die alte Lehrerschaft die Qualität einer höchstens einjährigen Umschulung anzweifelte, war aufgrund des zumeist akademischen Hintergrundes der Neulehrer das Ergebnis hinreichend gut und ermöglichte den sonst im Nachkriegsdeutschland aufgabenlosen Berufen eine feste Anstellung. Die große Mehrzahl der Neulehrer blieb auf Dauer im Schuldienst tätig.
Wikipediaeintrag Neulehrer, 05.11.2025
Ehm, davon unabhängig bleibt der Rest natürlich wahr: Die Führungsebene war ausgetauscht und die Faschisten saßen im Westen. Hans Globke zum Beispiel. Globke war Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze und rechte Hand Adenauers. Die Organisation Gehlen war der Vorläufer des BND und wurde von Nazis aufgebaut. Alles so Sachen, die man schlecht wegdiskutiert bekommt. Ich habe auch für KZ-Mannschaften Verbleibsstudien angestellt. Die Schwerverbrecher sind bis auf sehr wenige Ausnahmen alle in den Westen oder über die Rattenlinie (von der katholischen Kirche bzw. US-Geheimdiensten organisiert) nach Argentinien oder in die arabische Welt geflohen. Siehe Nazis im Westen, Nazis in der SED und Das SS-Lagerpersonal von Buchenwald.
Antisemitismus?
Ich möchte einen Punkt noch einmal klar machen: Israel begeht Menschenrechsverletzungen. Der Antisemitismusvorwurf ist eine Immunisierungsstrategie: Jede Kritik an Israel wird sofort als Antisemitismus geblockt. Zum besseren Verständnis vielleicht hier ein Beispiel für solche Strategien aus den Materialien der Amadeu-Antonio-Stiftung, die Leo Kahanes Tante Anetta Kahane geleitet hat. In der Erklärung antisemitischer Codes wird neben Rothschild, Rockefeller, George Soros, Mark Zuckerberg und Bill Gates noch Anetta Kahane genannt.

Als bescheidener Mensch würde ich, wenn ich für eine solche Broschüre verantwortlich wäre (Anetta Kahane leitete die Stiftung bis 2022), dafür sorgen, dass man Name aus dieser Liste verschwindet, selbst wenn die Aussage wahr wäre. Davon abgesehen: Anetta Kahane mag sich als Ausländerbeauftragte und auch im Kampf gegen Antisemitismus verdient gemacht haben, sie spielt aber in einer gaaaaaanz anderen Liga als Rockefeller, Soros, Zuckerberg und Gates. In einer ganz anderen. So anders, dass es schon weh tut. Die Aufnahme des eigenen Namens in eine solche Liste ist der Versuch der Immunisierung: Alle die Anetta Kahane kritisieren, handeln antisemitisch, wenn man die Kriterien von Anetta Kahane zugrundelegt.
Zusammenfassung
Zusammengefasst: Auch Israelis können Rassisten sein, auch Israelis können das Völkerrecht brechen und Menschenrechtsverletzungen begehen. Und Anetta Kahane und ihr Neffe können Unfug über den Osten verbreiten. Dass man zu einer diskriminierten Minderheit gehört, bedeutet nicht, dass man unfehlbar ist. Um es mit Funny van Dannen zu sagen: Auch lesbische schwarze Behinderte können ätzend sein!
Das ganze Interview ist mal wieder ein Ärgernis und letztendlich auch ein Beitrag zur Förderung des Faschismus, auch wenn das Jan Kage und Leo Kahane jetzt wehtun mag. Die Berichterstattung über den Osten ist seit über 35 Jahren auf ähnlichem Niveau. Das hat zur Folge, dass die westdeutschen Leitmedien im Osten nicht mehr konsumiert werden (Fromm, 2021), dass weite Teile der ostdeutschen Gesellschaft nicht mehr am Diskurs teilnehmen und dann ihre Informationen aus diversen Schmuddelkanälen auf Telegram und sonstwo bekommen. Warum sollten sie Geld bezahlen, um Falschinformationen über sich zu lesen? Warum sollten sie Menschen aus dem Westen zuschauen, die über sie sprechen? Oder Menschen aus dem Osten, die keine Ahnung haben, wie die DDR war und Thesen verbreiten, die zu dem passen, was Menschen aus dem Westen hören wollen? Diese Menschen zurückzuholen dürfte schwer werden. Vielleicht ist es bereits zu spät.
Quellen
Fromm, Anne. 2021. Presse in Ostdeutschland: Wer streichelt unsere Seele? taz. Berlin. (https://taz.de/Presse-in-Ostdeutschland/!5756271/)
Goschler, Constantin. 1993. Paternalismus und Verweigerung — Die DDR und die Wiedergutmachung für jüdische Verfolgte des Nationalsozialismus. In Benz, Wolfgang (ed.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, vol. 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.