Sorry, ich komme erst jetzt dazu. Im Januar schlug ein Bericht des Ostbeauftragten Wellen. Er wurde, wie üblich verdreht.
Die taz schreibt zum Beispiel, dass nur noch 39% der Ostdeutschen mit der Demokratie zufrieden wären:
Das Konzept des Ostbeauftragten verweist auf die gesunkene Zufriedenheit mit der Demokratie besonders in den östlichen Bundesländern. Sie lag zuletzt nur noch bei 39 Prozent.
Das ist mal wieder einer dieser Hiebe in die Kerbe „Die Ossis lehnen die Demokratie ab / sind nicht demokratiefähig / sind komisch / sind anders als wir / saßen zusammen im Kindergarten auf dem Töpfchen und lieben deshalb Diktaturen.“
Dem „Deutschland-Monitor“ zufolge sind nur noch 39 Prozent der Ostdeutschen zufrieden mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert. Gerade einmal 32 Prozent von ihnen glauben, dass Politikerinnen und Politiker das Wohl unseres Landes wichtig sei. Und zwei Drittel sind der Meinung, Ostdeutsche würden häufig als Menschen zweiter Klasse behandelt.
Manche Medien bringen die Einschränkung „so wie sie in Deutschland funktioniert“, manche weisen darauf hin, dass die Zustimmung auch im Westen sinkt. Manche unterlassen das aber.
Als Ossi frage ich mich, wie kann man mit dem, was in diesem Land läuft denn zufrieden sein? Eigentlich geht das nur, wenn man materiell abgesichert und politisch uninteressiert ist. Ansonsten habe ich hier ein paar Punkte, die man komisch finden könnte:
Maskenaffäre: Veruntreuung von Millionen ohne rechtliche Konsequenzen
Korruption im Öl und Gasgeschäft bei CDU/CSU und SPD
Scheuers Versenkungen von Millionen Euros im Mautdesaster ohne rechtliche Konsequnezen
Scheuers Umlenkung von Geldern in seinen Wahlkreis
Giffeys plagierte Doktorarbeit und Masterarbeit. Giffey tritt nach Aberkennung ihres Doktortitls als Familienministerin der Bundesregierung zurück, macht aber dann als Regierende Bürgermeisterin von Berlin nahtlos weiter. What? Eine Diebin und Betrügerin gut genug für Berlin?
Giffey wurde 2022 mit 58,9% zur Parteivorsitzenden in Berlin gewählt. Trotz Rot-Grün-Roter Mehrheit wurde 2023 RGR nicht weitergeführt, sondern nach einer Mitgliederbefragung, die mit einer millimeterdünnen Mehrheit von 54% für Schwarz-Rot ausging, dann die Koalition mit der CDU begonnen. Das ganze Giffey-Paket hätte früher mehrfach für einen Rücktritt gereicht.
Plagiate und Titelbetrug bei diversen anderen Politiker*innen
Lobby-Zugang für den Bundestag zum Beispiel von Waffenhändlern
Der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes, der von der Politik festgelegt wird, ist ein Nazi.
Der Ministerpräsident eines Bundeslandes, der früher beim Öffentlich-rechtlichen Rundfunk gearbeitet hat, fordert die Streichung der Rundfunkgebühren und ansonsten alle drei Wochen das Gegenteil von dem, was er früher gefordert hat.
Porsche ist life dabei bei der Aushandlung des Koalitionsvertrags
Döpfner, Verlagschef des Springer-Konzerns, weist seine Blätter an, die FDP hochzuschreiben, damit diese dann die Koalition platzen lassen kann.
Wie von Döpfner geplant, kann eine Partei, die für 11% der Wähler*innen steht, die Politik der restlichen Regierung sabotieren, wobei dazu natürlich ein Machen-Sie-sich-keine-Sorgen-Klimakanzler gehört, der das mit sich machen lässt.
Verhinderung eines aussagekräftigen Ergebnisses beim Volksentscheid durch die Trennung von Wahltermin und Volksentscheid in Berlin durch die SPD-Innensenatorin.
Vielleicht sind wir Ossis alle etwas naiv. Wir waren geschockt, als wir sahen, was die Funktionäre in Wandlitz alles hatten, obwohl das unter dem Niveau westdeutscher Arbeiter*innen lag. Vielleicht sind unsere Ansprüche an Politiker*innen einfach zu hoch. Höher als die der Wessis.
Vielleicht geht es den Wessis auch einfach zu gut und/oder sie interessieren sich nicht so für die Korruption und Bereicherung. Ist ja normal, machen ja alle.
Also: Es ist nicht so, dass Ossis Demokratie als politisches System ablehnen. Im Gegenteil, die Zustimmung zur Demokratie an sich war zumindest 2018 sogar noch höher als im Westen 95% vs. 93% (Studie der Universität Leipzig). Was abgelehnt wird, ist die Art und Weise, in der Dinge gerade laufen. Und hier ist die Frage an die 59% der Wessis, die mit der Demokratie, wie sie gerade in Deutschland funktioniert, zufrieden sind: What’s wrong with you?
Ost-Frauen erklären mir, sie hätten „das nicht nötig“, das = die Formen der Gendersprache, und ich denke, sie haben recht. Ich bewundere sie dafür, dass sie viel früher als die im Westen nicht nur Friseur, sondern auch Mechaniker lernten und nicht nur Pädagogik und Kunstgeschichte studierten, sondern auch Maschinenbau und Physik. Und anstatt den Kindern Formen wie dem/*der Patient*in beizubringen, sollten die Lehrer sie besser dazu animieren, auch die MINT-Fächer zu studieren.
Ja, ganz genau so habe ich auch Jahrzente lang gedacht. Das ist ja auch in meinem ersten Blog-Post zu dem Thema (Gendern, arbeiten und der Osten) beschrieben. Nach der Wende haben die Ostfrauen die Westfrauen überhaupt nicht verstanden, weil sie deren Probleme überhaupt nicht hatten. Wie Du sagst, liegt das eigentliche Problem viel tiefer, das bedeutet aber nicht, dass man nicht das, was man tun kann, schon machen kann. Ich kann nicht für mehr Kindergartenplätze sorgen, aber ich kann weiblichen und diversen Student*innen1 signalisieren, dass sie wertgeschätzt werden. (Einige, sehr wenige, kann ich auch einstellen. Das habe ich auch getan. Auch flexible Lösungen mit Kinderauszeiten gefunden usw. Aber darüber hinaus kann man eben noch Gendern.)
Der angeführte Test prüft musician, also Formen im Singular – und damit ist er völlig wertlos, was generische Lesart angeht, denn im Singular sind die Nomen nur in amtlichen Texten generisch, sonst fast nie (Mit dem Abitur erwirbt der Schüler…). Das zeigen auch die Ergebnisse des angeführten Tests S. 3 : „Es ergibt sich, dass Singularformen beider Wortklassen zu 83 Prozent als „männlich“, Pluralformen aber zu 97 Prozent als „neutral“ bewertet werden. Im Plural gelten Berufsbezeichnungen zu 94, Rollenbezeichnungen sogar zu 99 Prozent als „neutral““. Konsequenz: Im Singular muss man die movierte Form benutzen. Deshalb lässt sich auch der Chirurgentext nicht aufs Deutsche übertragen. Niemand würde eine Chirurgin (im referenziellen Modus!) mit Chirurg bezeichnen, nicht mal Ostfrauen. Die unterscheiden sehr genau zwischen referenzieller und generischer Lesart: „Ich bin / sie ist Arzt – aber: Meine Ärztin meint…
Man kann den Text übertragen: „Einer der Chirurgen soll operieren, sagt aber: ‚Ich kann nicht, das Kind ist mein Sohn.’“ Ja, aber dann ist es Plural, wie Du sagst.
Aber auch die Tests mit Pluralformen bestätigen nicht die Behauptung von Feministen, generische Maskulina würden eher spezifisch als ‚männlich‘ verstanden, weder die originalen Tests von 2001 oder 2008 noch die von Schunack/Binanzer durchgeführten Untersuchungen, s. ZS 2022. Es gibt keinen Grund, das GM zu meiden. Im Gegenteil: Die beste Art, die Kernbedeutung von Berufs-und Rollenbezeichnungen auszudrücken, ist die unmarkierte Grundform, Freund, Arzt, Virologe. Da diese Formen kein Merkmal für Geschlecht enthalten, unterspezifiziert also sind, schließen sie alle Geschlechter ein und sind dadurch inklusiv. Auch das Suffix der Nomina agentis -er ist kein Merkmal für ‚männlich‘, sondern für den Agens, im Gegensatz zu -ling für den Patiens, Lehrer — Lehrling. Wäre es anders, dann hätten wir in Lehr-er-in zwei sich gegenseitig ausschließende Morpheme hintereinander, etwas, was es m.W. in natürlichen Sprachen nicht gibt.
Das sind alles kluge Gedanken. Du und andere Linguist*innen können sich jetzt bis an ihr Lebensende damit beschäftigen, Laien zu erklären, warum die ungegenderten Formen perfekt funktioniert haben. Es wird aber dennoch Menschen geben, die gendern, weil sie einen Bedarf dafür haben. Siehe unten zur Pragmatik.
Ich bezweifle auch, ob nicht-binäre oder homosexuelle oder Trans-Menschen wirklich den ständigen Hinweis auf ihr Anderssein wollen. Wollen die nicht vielleicht lieber einfach nur dazugehören? Mit *Formen im Singular (die Autorin A und die Regisseur*in B) werden (nicht)binäre Menschen geradezu geoutet. Wollen die das überhaupt?
Das ist ein interessanter Punkt. Ich denke, dass auch gerade in der queeren Szene viel gegendert wird. Prof. Horst Simon, soweit ich weiß, ein glücklich verpartnerter cis-Mann, spricht von sich als Linguist*in. Mit dieser etwas extremen Art wäre es dann „die Autor*in A und die Regisseur*in B“. Junge Menschen stellen sich in Gesprächsrunden immer vor und geben zusätzlich zu ihrem Namen ihr bevorzugtes Pronomen an. Ich war neulich bei einem Treffen älterer Menschen (50–70) und eine männlich gelesene Person stellte sich mit Namen und Pronomen sie vor. Damit wussten alle Bescheid. Auf alle anderen männlich gelesenen Personen wird mit er verwiesen. Es ist ihre Wahl, wie offen sie leben wollen.
Es geht nicht nur um „Unterbrechung und minimale Verzögerung“, die massive Ablehnung durch die sprechende Mehrheit beruht u.a. auf der übertriebenen, da inhaltlich nicht gerechtfertigten Explizität der Genderformen. Etwa stellt die Paarform Schüler und Schülerinnen für Sprecher, für die ‚Schule‘ ganz selbstverständlich Jungen und Mädchen einschließt (in Deutschland, nicht in Afghanistan), keinen kommunikativen Nutzen, sondern eine Zumutung dar. Für sie ist die Information, dass neben Schülern auch Schülerinnen …, überinformativ und führt deshalb zu Verdruss. Sie verstößt gegen die Gricesche Konversationsmaxime der Relevanz, vgl. Grice (1975:45): „Do not make your contribution more informative than is required.“ Geglückte Kommunikation setzt voraus, dass die Information eine Informationslücke schließt, dass beim Gesprächspartner eine Lücke, Unwissenheit also besteht. Eine Information, die keine Lücke schließt, ist nicht nur überflüssig, sie ist beleidigend. Denn so dumm ist der Hörer nicht und will auch nicht so behandelt werden.
Ja, Verdruss. Das hatte ich ja gesagt (Das leidige Thema: Gendern). Das Gendern verstößt nicht gegen die Maxime der Relevanz, denn es geht den Sprecher*innen genau um diesen Effekt. Mit dem Umweg, der längeren Form wird etwas ausgesagt. Nämlich: „Ich, die Sprecher*in, gendere, weil ich möchte, dass Frauen und Trans-Personen explizit erwähnt werden.“ Es ist ein klassisches Form-Bedeutungspaar mit einer erweiterten Bedeutung und diese, dieses Das-immer-wieder-unter-die-Nase-gerieben-Bekommen nervt.
Wenn es darum geht, alle anzusprechen, wie oft behauptet, so tun wir das doch schon lange, indem wir Sehr geehrte Damen und Herren oder liebe Zuschauer und Zuschauerinnen sagen.
Ja. Wenn wir es sagen. Ich sage es manchmal in Lehrveranstaltungen statt Glottalverschluss. Dann fehlen die Transpersonen.
Wer so argumentiert und damit „geschlechtergerechte“ Sprache allgemein rechtfertigt, verkennt den Unterschied der drei Funktionen des Sprachzeichens (Organonmodell):
In der Anrede ist das Sprachzeichen Signal und erfüllt die Appellfunktion. Weit überwiegend, wenn wir über jn reden, ist es aber Symbol und erfüllt die Darstellungsfunktion. Schließlich ist es Symptom und erfüllt dann die Ausdrucksfunktion, sagt etwas über den Sprecher aus. Und in den meisten Fällen scheint mir das die eigentliche Motivation zu sein: Gendern dient der Imagepflege, es soll den Sprecher als woke, als progressiv ausweisen. Es ist eine Mode, und Moden sind endlich. Wer erinnert sich noch an das Pronomen “frau”?
Das ist ein Aspekt. Natürlich sagt meine Sprache auch etwas über mich aus.
Ich erinnere mich noch an „frau“. In der taz kommt es noch ab und zu vor. Auch sehr schön ist „maus“. Da gibt es aber nur eine Autorin, die das benutzt. Bzw. eine Autor*in. =:-)
Natürlicher Sprachwandel geht anders und hat andere Ziele, noch nie haben kompliziertere Formen die einfacheren verdrängt. Hier liegt Sprachlenkung, der Versuch einer Sprachlenkung vor.
Was ist, wenn Sprachlenkung von vielen Menschen angenommen wird und dann einfach Eingang in die Sprache findet? Esperanto war eine Plansprache. Künstlich. Inzwischen ist es eine lebendige Sprache. Und ich finde „Lehrer“ in Deinem ersten Zitat inzwischen schon komisch. Man gewöhnt sich an „Lehrer*innen“ und dann sind die „Lehrer“ eben nur noch männliche Personen. Das ist Sprachwandel.
Ob er dauert, bis die Frauen gleichberechtigt sind? In anderen Sprachen hat man die Suffixe längst abgeschafft, schon M. Thatcher wollte Prime Minister sein, nicht Ministress.
Oh, je. Thatcher als Beispiel für irgendwas zu benutzen, ist so, als würde man in der WeLT veröffentlichen.
Sind die Briten frauenfeindlich, sind sie noch stärker als wir unterdrückt vom Patriarchat? Oder sind sie im Gegenteil emanzipierter als wir?
Ich habe 1992 in Edinburgh studiert. Ein Dozent, den ich irgendwas zur Verwendung der Pronomina gefragt hatte, hat mir erklärt, dass manche auch das Pronomen ‘they’ verwenden. Ich habe das damals nicht verstanden, wusste es nicht einzuordnen. Aber diese Diskussionen gibt es auch in Großbritannien schon sehr lange. Insgesamt fällt das nicht so auf, weil das Englische eben viel weniger relevante grammatisch markierte Unterschiede hat.
Die „geschlechtergerechten“ Formen werden als diskriminierend empfunden: W. Goldberg „I’m an actor , I can play anything“, Cate Blanchett lehnt actress ab und besteht sogar als Dirigentin im Film auf der Anrede Maestro, nicht Maestra. Nele Pollatschek und Sophie Rois lehnen die deutschen Formen ab.
Ich denke, das sollte jede*r machen wie er/sie will. Horst ist eben Linguist*in, ich bin Linguist und Du Linguistin. Prima. Es gibt nur dann ein Problem, wenn jemand etwas vorschreiben will. Das sollte es nicht geben.
In der Schweiz, in der zunächst mehr gegendert wurde als in Deutschland, was verständlich ist, hatten dort die Frauen doch erst 1971 das Wahlrecht erlangt, wird jetzt eine “Renaissance des Generischen Maskulinums“ beobachtet, bei Studentinnen unter 25 (s. J. Schröter, A. Linke, N. Bubenhofer 2012: „Ich als Linguist“. Eine empirische Studie zur Einschätzung und Verwendung des Generischen Maskulinums, in: Susanne Günthner u.a. Genderlinguistik, Sprachliche Konstruktion von Geschlechtsidentität, Berlin: de Gruyter, 359–379, DOI :10.1515/9783110272901.359
OK. Siehe oben. Soll jeder machen, wie sie will. (Das war jetzt lustig, oder? =;-)
Ich habe keinen Zugang zu Studentinnen mehr, kann das aber durch einzelne Teenager bestätigen. Die finden Gendern doof und karikieren es durch die Kürzel die SuS und die LuL und dann weiter zu die Sus und die Lul.
Nun ja. SuS wird von Lehrer*innen bzw. an den Universitäten in der Lehramtsausbildung auch verwendet. Ist eine übliche Abkürzung. Ich habe auch noch mal bei Prof. Beate Lütke nachgefragt, die in der Lehrer*innenausbildung arbeitet. Hier ihre Antwort zu SuS und LuL und ihrer Sicht auf das Gendern:
SuS und LuL verwenden zumeist Studierende in Unterrichtsentwürfen, weil sie in den Planungstabellen wenig Platz fürs Ausschreiben haben. Diese Abkürzungen tauchen also eher im Rahmen schulpraktischer Materialien für den Einsatz in Schulen auf. In der wissenschaftlichen Kommunikation werden sie nicht verwendet, bei den Grundschulkolleginnen ist mir das bisher auch nicht aufgefallen. Als Referendarin habe ich ‘SuS’ auch in meinen tabellarischen Unterrichtsentwürfen verwendet, weil es darin so vorgegeben war; das ist aber 20 Jahre her.
Ich selbst gendere flexibel und verwende Genderformen wie Lehrkräfte, Schüler*innen und setze in der Doppelform in die Kasus (‘bei Schülern und Schülerinnen’). Ich mache mir keine Sorgen, dass die deutsche Sprache durchs Gendern beschädigt wird. Mein Lesefluss wird dadurch nicht gestört :). Mir ist wichtig, dass sich in meinen Uni-Kursen alle einbezogen und angesprochen fühlen. Eine queere Person sagte mir einmal in meiner Sprachbildungsvorlesung, dass sie sich durch das Gender-* erstmalig in Lehrveranstaltungen einbezogen und angesprochen fühle. Das hat mich veranlasst, dazu eine Umfrage zu machen. Die große Mehrheit der Gruppe hat sich für das * ausgesprochen.
Beate Lütke, p. M. 2023.
Außerdem gibt es Kollateralschäden. Die schon erwähnten Formen dem*der Arzt*in (in Papieren der Charité massenhaft) machen die deutsche Sprache nun wirklich nicht leichter für die (DaF)Lerner.
Ja. Ich schreibe immer die Ärzt*in. Dann hat man sich die Disjunktion beim Artikel gespart. Formal ist das für Grammatiker*innen natürlich die Hölle, weil es keine Kongruenz zwischen Artikel und Nomen mehr gibt, aber dann müssen sich diejenigen, die das modellieren wollen, eben etwas dafür ausdenken.
Und dieselben Leute, die so viel von Differenzierung reden, opfern die durchaus sinnvolle Differenzierung zwischen der Bezeichnung für eine aktuelle Tätigkeit und der für die Rolle: wie kann ich, ohne Generisches Maskulinum, sagen, dass “nicht alle Zuhörer auch Zuhörende waren“? Gilt das Schild “Radfahrer absteigen” nicht auch für mich? Radfahrer bin ich auch dann, wenn ich mein Rad schiebe, aber Radfahrende eben nicht mehr. Aber nach dem adfc Berlin sind sogar Getötete noch Radfahrende, nicht nur an Ostern, dem Fest der Auferstehung! Es ist grotesk. Und wenn Linguisten solche Formen empfehlen, ist das beschämend.
Ja. Das finde ich nicht gut und mache ich auch nicht. Das Beispiel ist schon älter und von Max Goldt: „In der Lobby lagen tote Studierende.“ Damit macht man das Partizip mehrdeutig. Das würde ich nicht so machen, aber wenn es sich durchsetzen würde, dann wäre es eben so. Ich muss es ja nicht aktiv so verwenden, denn die Form „Student*innen“ gibt es ja auch noch. Andererseits wird Lehrer dann eben eindeutig mit Bezug auf männlich gelesene Personen.
Beate Lütke hat mich auf einen Text von Helmuth Feilke (2022) aufmerksam gemacht, der im Wesentlichen genau die Punkte bringt, die ich hier auch vertreten habe, nur besser formuliert. Der Text weist im Vorübergehen auch auf ein lustiges neues Problem hin, das sich aus der Verwendung der Partizipformen ergibt: Im Singular gibt es einen Unterschied in der Flexion: ein Studierender vs. eine Studierende.
Soll jetzt dieser Pro-Gendern-Text mit einer Kritik an einer der verwendeten Formen enden? Nein. Er endet mit einem Ja. Ja, zum flexiblen Gendern. Wie das genau geht, hat Helmut Feilke gut beschrieben.
Heute Nacht habe ich von Prof. Dr. Heide Wegener eine Mail mit dem Betreff „Das leidige Thema“ bekommen. Heide Wegener schreibt immer wieder in der WeLT zu diesem leidigen Thema. Sie hat mir ein PDF eines WeLT-Artikels (paywall) geschickt, der eine kürzere Version eines Aufsatzes ist, der in einem linguistischen Sammelband erscheinen wird.
Ich gendere und habe das in einem Blogpost hier schon erklärt (Gendern, arbeiten und der Osten). Wie ich da geschrieben habe, bin ich der Meinung, dass die Frage der Gleichstellung eine ökonomische ist und dass es deshalb wichtig ist, die Infrastruktur, die Familien brauchen, damit alle arbeiten können, auszubauen und zu finanzieren.
Hier einige kurze Kommentare zu Heide Wegeners Artikel:
Wegener beschäftigt sich mit dem generischen Maskulinum und mit Studien, die zeigen sollen, dass es sich nur auf Maskulina beziehen würde. Ich habe das Gendern selbst lange abgelehnt und dann aber, weil ich durch Prof. Dr. Henning Lobin (Leiter des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim) auf folgende Studie aufmerksam geworden bin, mit dem Gendern begonnen:
Stahlberg, Dagmar, Sabine Sczesny & Friederike Braun. 2001. Name your favorite musician: Effects of masculine generics and of their alternatives in German. Journal of Language and Social Psychology 20(4). 464–469. DOI: 10.1177/0261927X01020004004.
Ich weiß noch genau, wie ich mich im DFG-Fachkollegium mit Prof. Helmuth Feilke über die Experimente unterhalten habe und er meinte, dass das nicht so einfach wäre, denn, was man experimentell nachweisen würde, wären Klischees. Das würde auch im Englischen funktionieren, wo es die entsprechenden Endungen ja gar nicht gibt. Hier ist das entsprechende Beispiel, das auf die Psychologinnen Mikaela Wapman und Deborah Belle zurückgeht.
Heide Wegener diskutiert nun einige Beispiele, die genau das auch für das Deutsche zeigen.
Eins der Experimente, die betrachtet werden, bestand darin, dass Proband*innen Schauspieler*innen, Politiker*innen und Superheld*innen nennen sollten. Dabei wurde die Aufgabe immer mit generischem Maskulinum, als Paarform (Politiker und Politikerinnen) und mit großem I gestellt.
Dies Ergebnis ist von grundsätzlicher Bedeutung, zeigt es doch: Real existierende Vertreter, zumal in Spitzenpositionen, mit Bildschirmpräsenz (Kanzlerin, Fußballstar), wirken prägend, beeinflussen Bedeutung und Veränderung von Berufs- und Rollenbildern stärker als sprachliche Änderungen. Die Grundannahme der Feministischen Linguistik, Sprache determiniere das Denken und dieses dann die soziale Realität, wird hier vom Kopf auf die Füße gestellt.
Dass die Wirklichkeit unsere Klischees formt, hat wohl niemand jemals wirklich in Frage gestellt. Dass die Art, wie wir über Personen und Dinge reden, die Welt beeinflusst, wird wohl aber auch keine Sprachwissenschaftler*in ernsthaft abstreiten wollen. Das Stichwort ist Framing und jede Linguist*in sollte das Buch LTI von Victor Klemperer kennen, der sich mit der Sprache der Nazis auseinandersetzt. Auch heute wird bewusst von Flüchtlingsströmen, Messermännern und so weiter gesprochen. Sprache beeinflusst unser Denken, das lässt sich nicht von der Hand weisen, auch wenn es einem beim Gendern gerade nicht passt.
Setzt man den Ost-West-Unterschied im Gebrauch von Gendersprache, die nach Entstehung und Verbreitung ein eher westdeutsches Phänomen ist, in Relation zu den Zahlen für den Gender Pay Gap in den alten und neuen Bundesländern, so zeigt sich: Wo gegendert wird, ist die Lohnlücke größer (alte Bundesländer 19 Prozent, neue Bundesländer 6 Prozent, unbereinigt). Der behauptete emanzipatorische Effekt von Gendersprache erscheint als fromme Schimäre.
Diese Aussage ist interessant, nur dass das Eine nichts mit dem Anderen zu tun hat. Ein Ziel des Genderns ist es, Wertschätzung für Frauen und Trans-Menschen auszudrücken, sie sichtbar zu machen. Gerade auch dort, wo sie entsprechend der Klischees nicht erwartet sind. Der Gender Pay Gap ist die unterschiedliche Entlohnung für dieselbe Arbeit. Eine Frau bekommt auf derselben Stelle weniger als ein gleich qualifizierter Mann. Professorinnen bekommen oft weniger als Professoren, auch weil sie das selbst anders verhandeln.
Schaut man sich den geographical pay gap, den Unterschied in der Bezahlung zwischen West und Ost für gleiche Arbeit an, so liegt der bei 22,5%. Dirk Oschmann schreibt Folgendes zu den Details:
Bei Textilfirmen sind die ungeheuerlichen Unterschiede mit 69,5 Prozent am größten, aber auch die beliebte Autoindustrie kann sich mit 41,3 Prozent noch sehen lassen, gefolgt von Maschinenbau mit 40,4 Prozent, der Herstellung von IT-Gütern mit 39,8 Prozent und der Schifffahrt mit 38,9 Prozent. Und natürlich bekommt der Osten signifikant weniger oder gar kein Weihnachtsgeld, wie der Spiegel im November 2022 meldet.
Dirk Oschmann, 2022, Der Osten – Eine Westdeutsche Erfindung, S. 66
Das bedeutet, das Frauen und Männer ohnehin schon weit unter dem West-Niveau bezahlt werden. Am größten ist der Unterschied übrigens in einem klassischen Frauenberuf: im Textilbereich bei den Näher*innen. Dass ein Mann in diesem Bereich dann nur unwesentlich mehr verdient … Tja. Vielleicht ist die Ausbeutung im Osten dann insgesamt so groß, dass man die Frauen schlecht noch schlechter bezahlen kann. Ein konkretes Beispiel aus meiner Verwandtschaft: Eine Frau arbeitet als Verkäuferin und fährt mit dem Fleischwagen übers Land. Wenn sie das Renteneintrittsalter erreicht haben wird, wird sie die Mindestrente bekommen, denn das Geld, das sie in die Rentenversicherung eingezahlt hat, reicht nicht für mehr und das, obwohl sie ihr Ganzes Leben Vollzeit gearbeitet hat. Wenn man vor diesem Hintergrund einen Artikel mit dem Titel Wo gegendert wird, ist die Lohnlücke größer in der Springer-Presse veröffentlicht, ist das an Zynismus eigentlich nicht zu überbieten. Aber wahrscheinlich ist es einfach nur Unwissenheit: Der Osten ist so weit weg, selbst für Professor*innen, die mitten drin wohnen.
Die Unterschiede zwischen West- und Ost-Gesellschaft sind so gewaltig, dass Wegeners Vergleich des Gender Pay Gaps ohne weitere Aufschlüsselung relevanter Faktoren einfach unzulässig ist. Im Osten kriegen die Frauen seit der Wende weniger Kinder, was vielleicht der Karriere förderlich ist. Die Kinderversorgung allgemein ist besser. In Bayern kann Mutti das Kind in der Kita abgeben und dann den Einkauf erledigen. Mittags kommen die Kinder zurück. Im Osten sind Einrichtungen mit Ganztagsbetreuung die Norm (Krippe, Kindergarten, Schule+Hort). Dass Frauen Vollzeit arbeiten, ist normal. All das müsste man in Überlegungen einbeziehen. Was Wegener vergleichen müsste, ist eine Westdeutsche Gesellschaft mit und ohne Gendern. Das ist nicht so einfach, aber vielleicht gibt es gesellschaftliche Bereiche, in denen man die Auswirkung von inklusiver Sprache experimentell nachweisen kann.
(Nachtrag vom 20.05.2023: Der MDR hat erklärt, wodurch der geringere unbereinigte Gender-Pay-Gap im Osten zustande kommt: Deutschlandkarte zum Gender Pay Gap: Lohnlücke im Osten kleiner. Es liegt daran, dass Männer im Osten in schlechter bezahlten Berufen arbeiten. Die gut bezahlten Industrie-Jobs sind im Westen. Ossis arbeiten z.B. bei Lagerwirtschaft, Post und Zustellung, Frauen in vergleichsweise besser bezahlten Berufen wie in der Verwaltung. Der bereinigte Gender-Pay-Gap [gleicher Beruf, gleiche Qualifikation] liegt bei 10,8 % im Osten und 15,3 % im Westen, ein Unterschied von nur 4,5%, der sich vielleicht über die von mir oben angesprochenen Faktoren erklären lässt.)
Das wirft die Frage auf, ob generische und gegenderte Sprachformen gleichwertig sind. Für diese Annahme spricht das derzeitige Nebeneinander beider Formen: Die meisten Deutschsprecher wechseln heute problemlos zwischen dem generischen Maskulinum und geschlechtergerechter Sprache hin und her, sie gebrauchen passiv in den Medien Genderformen, aktiv aber weiter das generische Maskulinum – ohne Verständigungsprobleme.
Dass es beim generischen Maskulinum Verständigungsprobleme geben würde, hat niemand behauptet, die Kommunikation funktionierte in den letzten Jahrhunderten auch. Es ist eine Frage der Inklusion, eine Frage der Höflichkeit, ob man eine umständlichere Form wählt und damit Frauen und Trans-Personen explizit mitnennt und explizit anspricht.
Vielleicht kann man das am besten mit einem Beispiel verdeutlichen: Wenn wir Behörden anschreiben oder Mails an Empfänger*innen, bei denen wir nicht wissen, wer die Mail letztendlich lesen wird, schreiben wir „Sehr geehrte Damen und Herren“. Ich habe 2021 eine Konferenz organisiert und eine Mail an den allgemeinen Konferenzaccount bekommen, die mit „Dear Sirs“ begann. Der Schreiber der Mail ist wohl davon ausgegangen, dass nur Männer diese Konferenz organisieren würden/könnten, was unangebracht und beleidigend für Frauen auf der Empfängerseite ist. Man kann andere Anreden wählen. „To whom it may concern“ oder „Hi“. Im Deutschen „Hallo“, „Liebes Globetrotter-Team“ oder eben die explizite Form „Sehr geehrte Damen und Herren“. Alles wird verstanden, aber es gibt Unterschiede im Stil und im Register.
Ein Abschnitt in Heide Wegeners Text trägt die Überschrift „Die Welt prägt die Sprache, nicht die Sprache die Welt“. Ich möchte behaupten, dass Sprache und Welt in einer Wechselwirkung zueinander stehen. Der Ton macht die Musik, wie oben bei den Anreden gezeigt. Ein weiteres Beispiel: Es gibt sehr viele Wörter, mit denen man sich auf Menschen mit Behinderung beziehen kann. Alle werden verstanden. Manche sind wertschätzend, manche verletzend. Ich möchte in einer inklusiven Welt leben, die es allen erlaubt, ihren Möglichkeiten entsprechend teilzuhaben, sich verstanden zu fühlen und mitgenommen zu werden.
Gendern und Klimakleber
Beim Nachdenken über das Gendern und die Aktionen der Letzten Generation, Extinction Rebellion und Scientist Rebellion ist mir klar geworden, dass die Ablehnung und der Hass wahrscheinlich Ergebnis ähnlicher Prozesse sind. Die Klimakleber gehen nicht weg. Das hört einfach nicht auf. So wie die Klimakrise auch nicht aufhört. Die Klimabürger*innen erinnern uns täglich daran, das wir als Gesellschaft, als der Norden eigentlich auf einem ganz anderen Kurs sein müssten und dass unsere Regierungen versagen. Genauso erinnern Menschen, die gendern, Menschen, die nicht gendern, in jedem Satz an ein strukturelles Unrecht, an Ungleichbehandlung, daran, dass mann Privilegien aufgeben muss. Es stört, es nervt. In etwas so Schönem wie der Sprache. Es stört, es nervt. Bei etwas so Schönem Notwendigem wie dem Weg zur Arbeit.
Die Unterbrechung und minimale Verzögerung durch den Glotalverschluss ist dabei nicht gegen die Kommunikationspartner gerichtet. Selbiges gilt auch für die Vergrößerung der ohnehin schon vorhandenen Staus. Diese Unterbrechungen markieren einfach Ungerechtigkeiten und Probleme, die sich aus unserem Weiter-So ergeben.
Weil beides nervt, gibt es schlaue (und auch dumme) Menschen, die Gründe finden, warum das Gendern nicht „funktionieren“ würde, was daran falsch sei, einfach übersehend, dass Menschen es tun und verstanden werden. Und so gibt es schlaue (und dumme) Menschen, die der Letzten Generation erklären, was die doch gefälligst tun sollten, oft verkennend, dass sie all das auch tun oder schon getan haben.
Also: All das wird so lange bleiben, bis Frauen gleichberechtigt sind (oder länger, weil das Gendern dann normal geworden ist) und bis wir als Gesellschaften Wege gefunden haben, mit der Klimakatastrophe adäquat umzugehen und noch Schlimmeres zu verhindern (und hoffentlich nicht länger, weil die Störungen nicht normal werden).
Quellen
Wegener, Heide. 2023. Wo gegendert wird, ist die Lohnlücke größer. In Meinunger, André & Trutkowski, Ewa (eds.), Gendern – auf Teufel*in komm raus? Berlin: Kulturverlag Kadmos.
Oschmann, Dirk. 2023. Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Berlin: Ullstein Buchverlage.
Ich freue mich wie Bolle, dass jetzt viele Leute Twitter verlassen und zu Mastodon wechseln. Und die Blogs kann man auch vernetzen dank ActivityPub-Plugin für WordPress.
Also: Wenn Ihr Euch für den Osten aus Sicht eines eingeschnappten [=:-)] Ossis interessiert, folgt Stefan@so-isser-der-ossi.de.
Nochmal ohne Quatsch: Ossis sind in den Redaktionen unterrepräsentiert, sie haben in Firmen und öffentlichen Einrichtungen keine Stimme und ich kommentiere hier ab und zu grobe Falschdarstellungen. Zum Teil auch von Ossis selber. Es geht viel um Nazis, aber auch um Gendern, Gleichberechtigung, Kinderverschickungen/Kuren usw.
In der letzten Zeit gab es mehrfach Artikel in der taz zur Kinderverschickung (siehe Quellen). Berichtet wurde über Grausamkeiten, die in den Heimen stattfanden. Zum Beispiel, dass Schlafsäle nachts verschlossen wurden, so dass die Kinder nicht auf die Toilette gehen konnten (taz, 14.12.21).
Fast alle berichten von: Esszwang, nächtlichem Toilettenverbot, haarsträubenden hygienischen Zuständen, Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, Kontaktverbot zur Familie, Einschüchterung, die zu Angst- und Schuldgefühlen führten: Haben mich meine Eltern verstoßen, sehe ich sie je wieder, was habe ich falsch gemacht? Eine Atmosphäre, in der „seelische Grausamkeit“ gedieh. Aber auch Fälle von Prügel, Eisduschen, Strafmaßnahmen wie nächtlichem Wegsperren in dunkle, kalte Kammern oder Dachböden, also physischem – aber auch sexuellem – Missbrauch sind bekannt.
Betroffene organisieren sich in Vereinigungen, um die Vergangenheit aufzuarbeiten.
Heute wird in der taz wieder berichtet. Der Artikel enthält einen kleinen vergifteten Satz:
Vorsichtig geschätzt sind zwischen sechs und acht Millionen Kinder in der alten Bundesrepublik zur Kur geschickt worden, zum Gesundwerden oder zur Vorbeugung. Auch in der DDR gab es Kinderkuren. Viele Kinder – nicht alle – haben in den Kurheimen Lieblosigkeit, Schikanen, Misshandlungen oder sogar sexualisierte Gewalt erlebt.
Rein logisch wird nur mitgeteilt, dass es in der DDR Kinderkuren gab. Suggeriert wird aber, dass es in der DDR „Lieblosigkeit, Schikanen, Misshandlungen oder sogar sexualisierte Gewalt“ gab und zwar von der Art, wie sie in den vorangegangenen Veröffentlichungen thematisiert wurde. Zum Beispiel berichten Kinder davon, dass sie Essen aufessen mussten, egal, was es gab. Erbrochenes musste auch aufgegessen werden (taz, 14.12.21).
Frau Seifert verlinkt dann auf die Seite https://verschickungsheime.de/ und wenn man sich dort umsieht, findet man zum Thema DDR folgendes:
Ab 1945 sagte man „Verschickung“, in der DDR war der Begriff „Kurkinder“ gebräuchlicher. DDR-Kurkinder haben sich bisher bei uns nur wenige gemeldet. Die Kurbäder auf dem Gebiet der DDR erlitten nach 45 einen Niedergang, daher gab es in der DDR nicht annähernd so viele Kurorte wie im Westen (BRD 1964: ca. 1200 Heime in 350 Kurorten). Es können sich aber auch DDR-Kurkinder melden und bei uns mitmachen, sich gern auch als Heimortverantwortliche für ihre Heime einsetzen lassen.
verschickungsheime.de, 16.01.20??
Auf der Seite gibt es Logos von Bundesländern und bei den Ost-Bundesländern gibt es keine Einträge.
Kein Trauma!
Ich war als Kind zweimal zur Kur: einmal für drei Monate in Graal-Müritz und einmal für 6 Wochen in Ahlbeck. Laut https://verschickungsheime.de/ddr-kurkinder/ muss es sich um die Kurheime Kliniksanatorium „Richard Aßmann“ Graal-Müritz und die Kureinrichtung Insel Usedom, Betriebsteil IV: Kindersanatorium „Klaus Störtebeker“ Seebad Ahlbeck gehandelt haben. In den Einrichtungen wurden Kinder mit Asthma und/oder Neurodermitis behandelt. Ich war jeweils im Winter dort. Ich kann mich noch erinnern, dass in Graal-Müritz die Ostsee kurz vor dem Zufrieren war. Das Wasser sah aus wie Tapetenkleister und machte interessante Geräusche. Wir waren viel draußen, sind an der Ostsee spazieren gegangen und ich habe noch immer Bernsteine aus der Usedom-Zeit. Wir haben in kleinen Gruppen Unterricht gehabt, der auch so gut war, dass ich – zurück in Berlin – meiner Klasse weit voraus war. Das Essen war vernünftig. Kein Esszwang. (Später bei der Armee hatte ich Probleme, weil die Zeit zum Essen nicht reichte.) Wir haben in größeren Schlafsälen geschlafen. Die Betreuerinnen waren nicht übermäßig streng. Ich erinnere mich noch daran, wie wir immer lustige Furzgeräusche in der Armbeuge erzeugt haben. Das ging eben so lange, bis uns die Augen zugefallen sind. Mittags gab es Mittagsruhe. Wir lagen in unseren Betten, durften aber lesen. Es gab einen kleinen Laden auf dem Gelände, in dem ich mir ein Buch gekauft habe. Ich habe es immer noch. Bibliotheken gab es sicher auch.
Wir sind einmal in der Woche in die Sauna gegangen. Danach gab es eine Liegekur. Draußen. Wir sind zu Liegen durch den Schnee gestapft und Frauen haben uns ganz fest in dicke Decken eingewickelt. Es war sehr schön.
Ab und zu gab es Untersuchungen durch Ärzt*innen. Die waren auch sehr freundlich.
Meine Mutter hat mir ein Päckchen mit einer kleinen Woll-Handfigur geschickt: Stülpner-Karle.
Woll-Figur Stülpner-Karle
Wie man im Bild sieht, hatte die Figur keine Beine. Ich habe meiner Mutter einen Brief geschrieben, der ging so:
Liebe Mutti,
Ich habe mir beide Beine gebrochen.
Herzliche Grüße
Dein Stülpner-Karle.
Ich bin heute noch froh, dass sie nicht schon nach dem ersten Satz einen Herzinfarkt bekommen hat. Die Episode zeigt zwei Dinge: 1) Gab es – anders als im Westen – keine Zensur und wir – bzw. unsere Puppen – haben unsere Karten/Briefe selbst geschrieben. 2) War der kleine Stefan zu Scherzen aufgelegt. Auch wenn der Brief sonst nicht viel enthielt, war er doch eine positive Nachricht.
Beim zweiten Kuraufenthalt habe ich zwei Kinder vom ersten Mal wiedergetroffen. Einen mochte ich beim ersten Mal gar nicht, aber da wir uns schon kannten, haben wir uns dann gleich angefreundet. Wir hatten eine gute Zeit und den Beatels- und Hardcore-Fan habe ich dann später auch noch in Markleeberg besucht und er war zu Besuch bei mir in Berlin. Wir waren keine traumatisierten Kinder. Wir sind freiwillig zum zweiten Mal zur Kur gefahren.
Kirche und Kontinuitäten
Im Westen wurden viele Heime durch kirchliche Träger bewirtschaftet. Diese spielten in der DDR eine untergeordnete Rolle und ich bin mir ziemlich sicher, dass die Saatsmacht ihre Freude an der Verfolgung und Bestrafung von Sexualdelikten oder Sonstigem in der Kirche gehabt hätte. Die Ausgangslage ist hier völlig anders als in der westdeutschen Gesellschaft, wo es die katholische Kirche auch jetzt noch nicht richtig hinbekommt, die Straftaten ihrer Würdenträger aufzuklären.
Auch in der Pädagogik gab es nach 1945 einen Bruch. Es wurden Neulehrer*innen eingestellt. Die hatten zwar keine Ahnung und waren den Schüler*innen immer höchstens zwei Seiten im Buch voraus, aber wenigstens waren es keine Nazis. Ich habe darüber im Beitrag über Holocaust und Osten genauer geschrieben.
Gesundheit und Kommerz
Frau Seifert schreibt in einem früheren Artikel über die West-Kinderverschickungen:
Statt gesund, wurden sie oft krank, krank gemacht. Weil an diesen Orten ein pädagogisches Regime herrschte, das sie schikanierte, misshandelte, ihre gesundheitliche Verfassung und ihre natürliche Schwäche ausnutzte. Ein Regime, das nicht das Kind und seine physische und psychische Gesundheit in den Mittelpunkt stellte, sondern mit dessen Konstitution und den Sorgen der Eltern Geld verdiente.
Das war ein wesentlicher Unterschied zur DDR. Das Gesundheitssystem war staatlich finanziert und konnte an niemandem Geld verdienen.
Schluss
Also: Vielleicht war in der DDR auch mal etwas besser. Ich fände es gut, wenn solche tendenziöse Sätze wie der heute in der taz einfach unterbleiben könnten.
Nachtrag: Gar nichts Negatives?
Ich habe den Fragebogen des Forschungsprojekts zur Kinderverschickung ausgefüllt, denn wenn Menschen, die kein Problem hatten, die Bögen nicht ausfüllen, gibt es eine Verzerrung. Eine Frage war „Gab es Geschehnisse in den Heimen, die problematisch für Sie waren?“ und es gab in der Tat eine Sache, die ich mir gemerkt habe und die ich auch heute noch in der Logik-Einführung benutze: Sonntags um 19:00 kamen im Fernsehen die Lottozahlen (Tele-Lotto). Die Betreuerin versprach uns: „Wenn ich im Lotto gewinne, dürft ihr länger aufbleiben.“ Wir erwarteten höchst gespannt die Ziehung der letzten Zahl und fragten sie: „Und?“ Die Antwort: „Ich spiele gar kein Lotto.“ In der Logik-Einführung verwende ich das Beispiel, um zu erklären, dass sie nicht gelogen hat: Wenn der Vorsatz falsch ist, kann man danach alles behaupten. Das war die schlimmste „seelische Grausamkeit“, an die ich mich erinnern kann. Im besten Fall ein grober Scherz.
Nachtrag 14.11.2024: Ups, she did it again
In ihrem Beitrag Den Machtmissbrauch aufarbeiten vom 04.11.2024 schreibt Sabine Seifert bezogen auf Kinderkurheime im Osten: „Mit der Lebensfreude war es in den Kinderkurheimen nicht weit her.“. Der definite Artikel im Plural wird für Allaussagen verwendet. Vor solch pauschalen Allaussagen sollte man sich als Journalist*in generell hüten. Insbesondere, wenn einem klar ist, dass sie falsch sind. Ich hatte mit Sabine Seifert 2022 einen Email-Wechsel zu meinen Erfahrungen und habe ihr diesen Blog-Post geschickt. Sie hat das wohl vergessen. Vielleicht hat es nicht in ihre Ansichten über die DDR gepasst.
Quellen
Knödler, Gernot. 2024. Verschickungskinder beim Roten Kreuz: Wer weint, wird eingesperrt. taz. Bremen. (https://www.taz.de/!6000563)
Die taz berichtet heute über Polizist*innen, die durch Rechtsextremismus, Rassismus oder Antisemitismus aufgefallen sind (taz, 21.10.2021). Interessanterweise sind alle Vorfälle bis auf einen mit einer Polizistin aus Dessau aus dem Westen (Berlin zähle ich großzügig auch zum Westen. Es geht wohl auch um Neukölln.):
Oktober 2020 26 Polizeischüler*innen, Nachrichten mit Hakenkreuzen
5 Polizist*innen versenden menschenverachtende Inhalte in Chatgruppen, Volksverhetzung, verfassungsfeindliche Symbole (Detlef M. Neukölln)
Frankfurt/Main:
6 Polizist*innen, rechtsradikale Bilder, einer mit Waffen
20 Beamte des SEK: volksverhetzender Chatnachrichten, 19 suspendiert, 3 Vorgesetzte
Spezialeinheit aufgelöst
Mindestens 29 weitere hessische Polizeibeamt*innen gehörten zur Chatgruppe, 9 mit Disziplinarverfahren, jedoch nicht strafbar, weil private Kommunikation
Polizeipräsident des Präsidiums Westhessen äußert sich rassistisch
Mühlheim an der Ruhr/NRW:
Chat mit rechtsextremen und rassistischen Inhalten, 20 Polizist*innen suspendiert, Strafbefehle gegen 6
alle Aspekte von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, nämlich Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie, Sexismus und Homophobie.
gegen 29 Polizeibeamt:innen ermittelt, Mülheimer Dienstgruppe A samt Dienstgruppenleiter komplett suspendiert
Insgesamt in NRW 53 bestätigte rechtsextreme Fälle, 138 noch offen. Bei 59 Verdachtsfällen noch andauernde strafrechtliche Prüfungen und arbeits‑, disziplinar- oder beamtenrechtlichen Prüfungen, von 2017 bis Ende September 2021 275 Verdachtsfälle, 6 entlassene Kommissaranwärter
Alsfeld/Hessen:
Hitler-Bild auf WhatsApp geteilt, über das Auskunftssystem der Polizei Abfragen ohne dienstlichen Anlass vorgenommen und Informationen weitergegeben, unerlaubte Schusswaffen und Munition
Geldstrafe 7000€, Justiz fand Hitlerbild aber nicht relevant, weil war ja privat
Osnabrück/Niedersachsen:
Ermittlungen gegen 6 Beamte, verfassungsfeindliche Symbole über whatsapp verschickt, 4 suspendiert
So. Wat sagt uns ditte? Ich schreibe jetzt mal eine Einordnung, so wie man sie mitunter andersrum in Zeitungen findet:
<sarcasm>Dieser ganze Neofaschismus ist sehr schwer erträglich und nicht zu verstehen. Die Menschen im Westen sind irgendwie ganz anders als wir lieben Linken aus dem Osten. Wir haben in der Schule aufgepasst, haben alle mehrfach Konzentrationslager besucht und wissen, dass Faschismus unglaubliches Leid über viele Menschen gebracht hat. Wie kann man diese Entgleisungen nur erklären? Mir fallen mehrere Erklärungen ein:
Nach dem Krieg gab es keine wirkliche Aufarbeitung des Faschismus.
Opa/Oma bzw. Uropa/Uroma der kleinen Hitlers in der Polizei sind in einer Diktatur aufgewachsen. Die entsprechenden Deformierungen wurden in der Familie weitergegeben.
Die Nazi-Polizisten sind nie in einen Kindergarten gegangen, saßen stundenlang alleine auf dem Topf, weil Mama sie nicht weiterspielen ließ, bis die wichtigen Sachen erledigt waren, und haben wegen fehlendem Kontakt zu anderen Kindern kein vernünftiges Sozialverhalten erlernt.
Die Nazi-Mütter (Mütter der Nazis) waren frustriert, weil sie ökonomisch abhängig waren und sich deshalb nicht von den Vätern trennen konnten.
</sarcasm>
Ist bescheuert? Ja. Aber solches Zeug müssen Ostdeutsche immer wieder in der Zeitung lesen (Zeitungen sind bis auf das Neue Deutschland und die Berliner Zeitung alles West-Zeitungen). Zum Beispiel, dass Kinder Neonazis geworden seien, weil sie im Kindergarten nebeneinander auf dem Töpfchen gesessen hätten (gute Besprechung der Pfeifferschen These von Kerstin Decker im tagesspiegel, 11.05.1999). Oder dass die Tatsache, dass die AfD im Osten erfolgreich ist, an der Diktatursozialisierung läge. Die DDR ist schon über 30 Jahre Geschichte. Junge AfD-Wähler*innen kennen die DDR nur noch aus Erzählungen.
Zusammenfassung
Dieses Land hat ein Nazi-Problem. Oder mehrere. Verschiedene. Es ist zu einfach, angeekelt auf den jeweils anderen zu blicken und zu sagen: Ih, die sind so anders. Die Nazis. Da drüben. Es wird nicht besser, wenn man von oben herab über Minderheiten schreibt. Man kann sich zwar schön selbst vergewissern und die Leser*innen finden es auch dufte, aber man schließt eben ein Fünftel der Bevölkerung des Landes weiterhin aus (Die taz hat mit 6% ostdeutschen Leser*innen den höchsten Ossi-Anteil. Bei Spiegel und Süddeutscher liegt er bei 4% und 2,5%. Siehe taz, 09.03.2021). Dieses Fünftel wird die Zeitungen weiterhin nicht lesen und sind somit für normale Medien mit journalistischen Qualitätsstandards verloren. Dieser Teil der Bevölkerung kriegt seine Information und Unterhaltung eben auf rechten Schwurbelkanälen. Wie gefährlich das ist, haben wir während der Corona-Krise gesehen und das gilt genauso für die Klimakrise.
In diesem Beitrag bespreche ich die Voraussetzungen für eine Wahl in den Bundestag, das Problem, das die gegenwärtigen Krisen für die Demokratie darstellen und Möglichkeiten zur Erweiterung derselben. Ein abschließender Abschnitt ist den Menschheitskrisen und sich daraus ergebenden neuen Anforderungen an Politiker*innen gewidmet.
Voraussetzungen für die Wahl
Als ich mit meinen Eltern über meine Bundestagskandidatur für Die PARTEI Erlangen gesprochen habe, waren sie skeptisch. Mein Vater war der Meinung, dass das doch Menschen machen sollten, die etwas entsprechendes studiert haben. Politikwissenschaften, oder so. Tja, so sind wir, wir Ossis. Wir fragen uns, ob wir Dinge können, und im Zweifelsfall lassen wir die Blender vor (hatte ich Andreas Scheuer, MA mit seinem Fake-Doktortitel schon erwähnt?), die einfach selbstbewusst auftreten. Es gibt dazu einen schönen Witz aus Nachwendezeiten: Frage: „Warum dauert das Abitur im Westen 13 Jahre, aber im Osten nur 12 Jahre?“ Anwort: „Weil im Westen noch ein Jahr Schauspielunterricht dabei ist!“ Regine Hildebrandt (1990 Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen in Brandenburg) erzählt ihn sehr gut zum Anfang einer MDR-Dokumentation über Ost-Frauen:
https://youtu.be/dVX-XUYgAxM
Regine Hildebrandt erzählt den Abitur-Witz. 2. Teil einer dreiteiligen Dokumentation über Ostfrauen, MDR
Ich persönlich kann mich über mangelndes Selbstvertrauen nicht beklagen. Das liegt allerdings daran, dass ich Wissenschaftler bin und da ist die Sachlage oft sehr klar. Ich hatte einfach immer Recht. Also meistens. Also ausreichend oft.2
Was qualifiziert einen dazu, in den Bundestag zu gehen? Muss man Politikwissenschaftler*in sein? Nein, 2013 kandidierte ein Kollege, ebenfalls Sprachwissenschaftler, für eine damals gerade neu gegründete Partei. Das fand niemand lustig. Nun kandidiere ich für Die PARTEI. Das finden hoffentlich einige lustig. Der Hufeisen-Stefan Müller von der CSU, gegen den ich antrete, ist Bankfachwirt, viele CSU-Mitglieder sind Bauern. Julia Klöckner ist Weinkönigin. Sie kann sehr gut lächeln. Das ist genau die Qualifikation, die sie braucht. Zum Beispiel zum Kuscheln mit Nestlé:
Julia Klöckner sagt in ihrem Beitrag, dass sie in ihrem Gespräch mit Nestlé viel Neues erfahren hat. Über Nestlé hätte sie schon vorher viel erfahren können. Zum Beispiel aus dem Film We feed the world – Essen global. Ich will das hier nicht zusammenfassen, da bekomme ich nur schlechte Laune. Guckt Euch den Film einfach an.
Lobbyismus und Repräsentativität
Aber jetzt ganz im Ernst: Der Bundestag besteht aus vom Volk gewählten Vertreter*innen, die die Interessen der Wähler*innen bzw. von Gruppen von Wähler*innen vertreten sollen. Also eigentlich Lobbyismus. Viele CDU/CSU-Abgeordnete sind (Groß-)Bauern und sitzen auch im Agrarausschuss des Bundestages (62% der CSU/CDU, 25% der Grünen, 0% bei den anderen, taz, 17.03.2021). Außer ihrer Parteimitgliedschaft haben sie keine besondere Qualifikation. Auch das ist in Ordnung (aber siehe unten). Das einzige Problem ist, dass Lobbyismus in CDU/CSU und leider auch der SPD bisher intransparent geblieben ist und dass die CDU/CSU sich gegen entsprechende Gesetze gewehrt hat.
Marco Bülow (Ex-SPD, jetzt Die PARTEI) spricht beim Klimamontag von Berlin4Future über Korruption und Lobbyismus, Berlin, Alexanderplatz, 07.09.20, Bild: Stefan Müller, CC-BY
Es muss transparent sein, wer was im Bundestag macht und was dabei die Interessen der jeweiligen Person sind oder sein könnten. Dann können Wähler*innen frei entscheiden, ob sie jemanden wählen wollen oder nicht.
Grob vereinfacht kann man also als Grundvoraussetzung für ein Bundestagsmandat eine Parteizugehörigkeit, die Fähigkeit zu lächeln3 und Menschen zu begeistern und für gewisse Positionen die Fähigkeit zu führen annehmen. Reicht das für eine funktionierende Demokratie? Leider nicht, denn der Bundestag ist nicht divers genug. Küppersbusch fasst zusammen:
„Von der Idee, alle Stände und Berufe im Parlament vertreten zu sehen ist wenig übrig. Im Bundestag sitzen 203 Abgeordnete aus dem Öffentlichen Dienst und zwei, die privat Hausmannfrau sind. 101 arbeiten bei „gesellschaftlichen Organisationen“ wie etwa Parteien, vier sind arbeitslos oder ohne Beruf. Das Parlament bildet die Gesellschaft nicht mehr ab, und das schaffte auch Fallhöhe für eine Rabulistenfraktion rechtsaußen.“
Friedrich Küpersbusch: Corona, CDU und Grüne: Impfparty mit Scheibe.(taz, 06.04.2021)
Für das Problem, dass sich Teile der Bevölkerung nicht repräsentiert fühlen, gibt es eine Lösung. Repräsentativ zusammengestellte, geloste Bürger*innenräte. Diese würden auch das Lobbyismus-Problem abmildern und sie sind wichtig für Problemfelder, die Politiker*innen systembedingt nicht bearbeiten können. Wie funktioniert das im Detail und warum?
Gewisse Probleme können bzw. wollen Politiker*innen nicht angehen, weil sie das je nach Problemlage 5–10% ihrer Wähler*innen kosten könnte und weil die gesamte gegenwärtige Politik auf Machterhalt und Wiederwahl in vier bzw. fünf Jahren ausgerichtet ist. Ein Beispiel für einen Bürger*innenrat war der, der zum Thema Abtreibung in Irland durchgeführt wurde. Es wäre für Politiker*innen schwer gewesen, sich hinzustellen und zu sagen: „Ich bin für Abtreibung.“ Es wurde also ein Bürger*innenrat zusammengestellt. Dazu wurde eine repräsentative Gruppe von 100 Personen ausgewählt. Repräsentativ heißt, dass die Zusammensetzung der Altersstruktur, der sozio-ökonomischen Struktur usw. des jeweiligen Landes entspricht. Wer letztendlich in diesem Rat sitzt, wird nach der repräsentativen Vorauswahl durch ein Losverfahren entschieden. Der Bürger*innenrat trifft sich dann über mehrere Wochen und bekommt Input von Expert*innen zum jeweiligen Problem (Recht, Gesund, Ökonomie, Klima, Verkeher, whatever), so dass alle Aspekte gut aufgearbeitet sind. (Das unterscheidet die Räte von Volksentscheiden, bei denen einfach jede*r Einzelne aus dem Bauch heraus entscheidet.) Die 100 Personen kommen dann zu einem Schluss, der hoffentlich von einer breiten Mehrheit der Gesellschaft mitgetragen wird. Das folgende Video über das Referendum zur Abtreibung in Irland erklärt alle Punkte sehr gut:
Außer diesem Bürgerrinnen*rat zur Abtreibung gab es auch in Frankreich schon einen zum Thema Klimaschutz. Die Regierung Macron hat Teile der Empfehlungen auch übernommen.
Dass Bürger*innenräte kein Hirngespinst irgendwelcher Revoluzer oder Sozialromantiker sind, sieht man auch daran, dass Wolfgang Schäubele (Bundestagspräsident, CDU) sie unterstützt.
Bürgerrat Demokratie Veranstaltung mit Bundespräsident Wolfgang Schäubele, 15.11.2019
Das Lobbyismusproblem würde duch Bürger*innenräte zwar nicht gelöst, aber zumindest auch abgemildert, weil es nicht möglich ist, langjährige Netzwerke und Abhängigkeiten aufzubauen, wenn die Ratsmitglieder zufällig ausgewählt sind und nur zu wenigen Sitzungen zusammenkommen.
Dass beim Thema Lobbyismus und Korruption dringend etwas passieren muss, zeigt auch das Rezo-Video, um das es im folgenden Abschnitt geht.
Krisentauglichkeit
Rezo hat die gegenwärtige Situation mal wieder schön zusammengefasst: Unsere gegenwärtige Regierung ist korrupt, machomässig unterwegs und inkompetent:
Rezo zerstört die Corona-Politik, 05.04.2021
Was man in der aktuellen Situation braucht, ist die Fähigkeit, eine Bedrohungslage einzuschätzen. Man muss Exponentialkurven verstehen können und man muss einschätzen können, wie eine weitere Entwicklung verlaufen wird. Niemand, der ein Ministerium leitet, versteht alle fachlichen Details. Das muss auch nicht so sein, aber es braucht Selbstbewusstsein und menschliche Größe und ein Urteilsvermögen, um einschätzen zu können, dass man selbst an bestimmten Stellen inkompetent ist und sich auf Expert*innen verlassen muss. Rezo hat die wesentlichen Videoschnipsel der letzten Wochen zusammengeschnitten und belegt, dass unsere Bundesregierung/Ministerpräsidentenkonferenz ein inkompetenter, arroganter Machohaufen ist. Aus der Bezeichnung Machohaufen (klingt irgendwie wie Matschhaufen, vielleicht ist er ja nach dem Corona-Winter weg) folgt auch, dass Angela Merkel nicht eingeschlossen ist. Sie hat Physik studiert und versteht Exponentialkurven. Das ist es, was wir brauchen. Also nicht unbedingt die Phsyik aber die Exponentialkurven (Mein Vater hat mich darauf hingewiesen, dass das Oberstufenschulstoff ist.). Die folgende Kurve zeigt das Infektionsgeschehen in Deutschland. Man sieht sehr schön die erste, zweite und dritte Welle.
Dritte Welle kurz vor dem Rumgeeiere der Ministerpräsidentenkonfernez vor Ostern 2021
Diese Entwicklungen wurden vorhergesagt. Es wurden mathematische Modelle gebaut, die genau das vorhergesagt haben, was eingetreten ist. (Siehe Fußnote 1 zu formalen Modellen in der Sprachwissenschaft.) In vielen Situationen hilft es, einen Phänomenbereich zu modellieren. Man kann dann Vorhersagen einer Theorie bestimmen und ein Abgleich mit der Wirklichkeit hilft einem, Rückschlüsse auf die Qualität der Theorie zu ziehen. Wie das Rezo-Video zeigt, wurden die Gefahren, vor denen unser Land stand und immer noch steht, ignoriert und Politiker (ohne *innen) sind sich nicht zu blöd, sich vorn hinzustellen und das auch noch richtig zu finden.
Exponentieller Zunahme von CO2 in der Atmosphäre in den letzten Jahrzehnten Quelle: CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=694303
Klimawissenschaftler*innen bauen komplexe Modelle zu den Entwicklungen, die uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bevorstehen. Sie sind sehr zurückhaltend und nicht alarmistisch. Das entspricht der Seriosität, die in der Wissenschaft üblich ist. Ein Kollege von der Humboldt-Uni, der wie ich auch bei den Scientists4Future aktiv ist, hat noch vor zwei Jahren den Begriff Klimakrise abgelehnt, weil er ihn für zu alarmistisch hielt. Die Klimawissenschftler*innen sind sich einig: Wir haben ein Problem. Ein großes! Die Klimakrise ist um ein Vielfaches größer als das, was wir jetzt erleben. Corona macht keinen Spaß? Dann kämpft dafür, dass wir nicht Corna++ bekommen!
Angela Merkel versteht das alles, aber leider ist Angela Merkel eine lame duck. Sie konnte sich bei Corona nicht gegen ihre Matsch-Kumpels durchsetzen. Auch die Öko-Bilanz ist finster. Merkel war Umweltministerin und hat auf die Klimaprobleme hingewiesen.
Buchpublikation von Angela Merkel 1997
Sie hat schon 1997 klar aufgezeigt, was getan werden muss. Was passiert ist, ist aber so ziemlich das Gegenteil von dem, was wir gebraucht hätten.
Christian Lindner und mein Vater4 sagen: Die Klimaprobleme und die große Politik sollten doch die Profis regeln. Diese haben aber versagt. Wir können nicht mehr warten (und Lindner hat ja eh keine Lust zu regieren). Und deshalb machen wir das jetzt selbst! Los! Wie Rezo sagt: Besser als die sind wir allemal!
Ein (zukünftiger) Profi demonstriert bei Fridays For Future Demonstration in Berlin, 15.03.2019 Bild: Stefan Müller, CC-BY
Da in Erlangen Stefan Müller von der CSU seit 2002 immer das Direktmandat gewinnt, hat Die PARTEI beschlossen, den Erlanger*innen eine Alternative zu bieten. In einem aufwendigen Casting-Verfahren konnte ich mich gegen Tausende Stefan Müllers und Steffi Müllers durchsetzen und der Vorsitzende der Ortsgruppe hat dann von mir ein Foto bekommen (Pressemitteilung der Partei Die PARTEI).
Gestern nun war unser erstes Treffen, bei dem es um konkrete Wahlkampfmaßnahmen ging. Ich habe dabei sehr viel Wissenswertes über Erlangen erfahren. Schockierende Details. Ich weiß jetzt, dass die Infrastruktur marode ist. Straßenlaternen sind so wackelig, dass man nur ein Wahlplakat pro Laterne aufhängen kann (Ausnahmeregelung zu § 2 Abs. 2 Nr. 16 der Plakatierungsverordnung der Stadt Erlangen). Alle anderen Plakate müssen auf Dreiecksständern aus Metall stehen, die sich aber nur die CSU in großer Anzahl leisten kann.
Diese Zustände sind natürlich unhaltbar und ich frage mich ernsthaft, wie die armen Erlanger*innen das die letzte 40 Jahre lang aushalten konnten. Ich denke, hier muss dringend Abhilfe geschaffen werden. Ich werde mich also im Bundestag für einen Aufbau West einsetzen. Der Osten ist ja jetzt fertig, wir haben überall die versprochenen blühenden Landschaften und können uns nun also strukturschwachen Regionen wie Erlangen zuwenden. Die Ossis sind sehr froh über die blühenden Landschaften und das ganze Geld, das in den Osten geflossen ist, und viele sind sicher bereit, es dem Westen heimzuzahlen zurückzuzahlen. Ich werde mich dafür einsetzen, dass der Soli beibehalten und ausgebaut wird. Der Soli ist übrigens eine Steuer, die alle Steuern zahlenden Personen bezahlt haben, also Ossis und Wessis (Wikipedia: Solidaritätszuschlag). Das wird mitunter übersehen. Also: Für einen Solidaritätszuschlag für strukturschwache Gebiete! Gern einkommensabhängig gestaffelt. Für Straßenbeleuchtung in Erlangen und Umgebung! Gegen Dunkeldeutschland!
Vorweg: 1) Ich gendere. 2) Ich war eins der ersten Mitglieder in Prof. Dr. Gisbert Fanselows Gesellschaft gegen den Erhaltung der deutschen Sprache. Gisbert hatte auf einer Web-Seite „100 gute reasons gegen die preservation von der deutschen Sprache“. Mit irgendwelchen Sprachpfleger*innen habe ich also nichts zu tun.
Da bei der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) eine Satzungsänderung in Richtung gendergerechte Sprache anstand, habe ich im DGfS-Forum einen Beitrag geschrieben, den ich dann auch außerhalb veröffentlichen wollte (Gendern, arbeiten und der Osten). Ich habe erst darüber nachgedacht, den Blog-Bereich der HU dafür zu benutzen, habe den Beitrag aber dann auf diesen Ost-Blog getan, weil die darunterliegenden Fragen auch etwas mit dem Osten zu tun haben. Ich wollte eigentlich gar nicht weiter zum Thema schreiben, aber jetzt muss ich doch noch einmal. Auf Twitter und sonst wo kocht gerade die Diskussion über, ob man denn Prüfungsleistungen von Studierenden anders bewerten kann oder soll, wenn diese nicht gendern.
Bei der Universität Kassel findet man folgende Anleitung:
Hier stellt sich die Frage, wie man mit den Gender-Markern allgemein umgehen soll. Vor dreißig Jahren wurde das Binnen‑I z.B. bei der taz und die gesprochene Variante mit Glottalverschluß bei Radio 100 verwendet. Beides Avantgarde und Nischenangebote. Ansonsten kam es in entsprechenden Zirkeln vor, vereinzelt auch an Universitäten. Ich habe eine Leipziger Hochschulzeitschrift von 1992 mit Binnen-I-Beitrag. Inzwischen ist das Binnen‑I bzw. das Gendersternchen im Mainstream angekommen.
Harald Schmidt gendert im Kommentar zur Landestagswahl in Baden-Würtemberg, 2021
Es wird im Tagespiegel verwendet, von Nachrichtensprecher*innen u.s.w. Forschungsförderungseinrichtungen wie die DFG verwenden es schon mehrere Jahre standardmäßig, Universitäten geben Empfehlungen für gendergerechtes Schreiben. Vor einiger Zeit hat Ulrike Winkelmann, die Chefredakteurin der taz, einen weisen Beitrag dazu verfasst. In der taz gab es immer sone und solche. Manche haben das Gendern abgelehnt5, manche haben dafür gekämpft. Die taz ist ein bunter Haufen und das ist auch gut so. Ulrike Winkelmann hat dafür plädiert, das Gendern nicht vorzuschreiben und nicht zu erzwingen:
In dem Augenblick, da emanzipative Sprachpolitik zu einer von einem „Oben“ gesetzten Norm wird – und vieles sieht aktuell schon danach aus –, wird sie sich genau diesem Vorwurf aussetzen müssen: dass sie Wirklichkeiten konstruiert, die viele nicht als die ihren begreifen.
Ich denke, es ist wichtig, zwei Dinge zu unterscheiden: 1) gibt es Institutionen, die beschlossen haben, Gleichstellungsaspekte adäquat zu berücksichtigen und in der Innenkommunikation und nach außen gendergerechte Sprache zu verwenden. 2) gibt es Bestrebungen oder zumindest die Möglichkeit, gendergerechte Sprache bei anderen zu erzwingen. 1) ist normal und in Ordnung, 2) ist nicht in Ordnung. Warum nicht?
Wenn man versucht, Sprachwandel zu erzwingen, stößt man auf Ablehnung, bei denen, die solche Entwicklungen kritisch sehen oder sich eben einfach nicht umstellen wollen. Soll man sie einfach zwingen? Nein. Ich bin aus dem Osten. Damals war es üblich, zu Prüfungen ein FDJ-Hemd anzuziehen. Das war ein Bekenntnis zum Staat, das von Prüflingen verlangt wurde. Wenn nun gesetzte Gendersternchen in die Bewertung einfließen sollen, dann erinnert mich das sehr stark an diese Zeit. Es war eine widerwärtige Zeit. Die Politik war überall drin. Ich hatte als 13jähriger eine Aufnahmeprüfung für die Erweiterte Oberschule Heinrich-Hertz, eine Matheschule. Die Prüfung bestand aus zwei Teilen: einem Mathetest mit Knobelaufgaben und einem politischen Gespräch mit dem stellvertretenden Direktor. Der Mathetest war kein Problem, aber eine der Fragen im Aufnahmegespräch war, ob ich drei Jahre zur Armee gehen würde. Ich war 13 und hatte noch nie darüber nachgedacht. Spontan fand ich die Vorstellung nicht so prickelnd. Ich bin deswegen abgelehnt worden und nur dem enormen Einsatz meiner Eltern ist es zu verdanken, dass ich dann doch auf diese Schule gehen konnte. Und ich habe zugesagt, drei Jahre zur Armee zu gehen. Wie das im DDR-Bildungssystem lief, kann man sehr gut in Klaus Kordons Buch Krokodil im Nacken nachlesen. Kordon beschreibt ein Paar, das loyal und positiv zum Staat eingestellt ist, was sich in dem Moment ändert, als die Kinder in die Schule kommen und der Widerspruch zwischen Realität und Schulunterricht so groß wird, dass die Familie einen Fluchtversuch unternimmt. Der scheitert. Folgen: Trennung der Familie, Eltern einzeln im Gefängnis, Kinder im Heim. Ich bin sehr froh, dass diese Zeit vorbei ist, dass meine Kinder nicht in der Schule drei Fächer mit demselben Inhalt (Staatsbürgerkunde, Einführung in die sozialistische Produktion, Geschichte) haben, in denen man irgendwelche Grundsätze des Sozialismus auswendig lernen muss.
Ich denke, das Gendersternchen hat sich durchgesetzt oder ist zumindest kurz davor und wir sollten den Rest nicht erzwingen. Zumindest der Osten hatte solchen Zwang schon und wir würden damit nur die noAfD stärken.