Bei meiner Arbeit zum Beitrag Die Ossis und der Holocaust habe ich nach den Weimertagen der FDJ gesucht, weil es da immer einen obligatorischen Besuch der Gedenkstätte Buchenwald gab. Mit großem Erstaunen habe ich festgestellt, dass die Weimartage außer auf einer Seite des Nationaltheaters Weimar nirgendwo im Netz auftauchen. Kein Wikipedia-Eintrag, kein Blog-Eintrag, nichts. Das ist einigermaßen erstaunlich, weil es ein jährlich wiederkehrendes Großereignis war. Für 21 Mark konnte man drei Tage in Schulen übernachten und volle Kanne von früh (7:00 Uhr !!!) bis abends (22:00) alles an Kultur (Theater, Konzerte, Lesungen, Museumsführungen, Parkführungen, Vorträge, …) mitnehmen, was man sich so vorstellen konnte. Hamlet-Vorführungen im Nationaltheater Weimar. Abschlussfest in den Parks Tiefurt oder Belvedere.
Die FDJ hat genervt. Es war eine Jugendorganisation, in der fast alle DDR-Bürger*innen Mitglied waren. Man musste am FDJ-Studienjahr teilnehmen, wo man ein mal im Monat propagandistisch versorgt wurde. Rot-Licht.
Aber eine Sache hat die FDJ wirklich gut gemacht: die Weimartage der FDJ. Ich war sieben Mal dort und es waren wichtige Tage in meinem Leben. Damit das irgendwo dokumentiert ist, stelle ich hier einige Programmhefte, Journale und Informationen für Reiseleiter ins Netz. Habt Spaß damit!
Simone Schmollack, die ich sehr schätze und die viele wichtige und richtige Artikel über den Osten geschrieben hat, hat heute einen Beitrag in der taz über promovierte Stasi-MitarbeiterInnen und über Jahns Vorschlag, Doktortitel, die an der Stasi-Hochschule in Potsdam erworben wurden, statt als Dr. Jur. als Dr. Stas einzuordnen. Ich stimme insgesamt in allem mit Simone Schmollack überein, nur eine kleine Textstelle hat mich geärgert:
Denn so ein Doktortitel verzückt, das hat er schon immer getan, besonders im obrigkeits- und titelorientieren Osten.
Obrigkeitsorientiert? Weiß ich nicht. Viele Menschen haben sich einfach ausgeklinkt und sich ins Private zurückgezogen. Titelorientiert war der Osten sicher nicht. Im Westen hatte und hat ein Professor, Offizier, Arzt viel höheres Ansehen als es diese Berufe im Osten je hatten. Ich würde sogar soweit gehen, den Osten als intellektuellenfeindlich einzustufen. Man hat es tunlichst vermieden, seinen Doktortitel in den Personalausweis zu schreiben, weil einem das bei Kontrollen eher schaden als nützen konnte. Soziale Hierarchien waren in der DDR eher flach. Intellektuelle waren im Alltag zu nichts zu gebrauchen, viel wichtiger waren Beziehungen zu Menschen, die begehrte Waren verkauften oder zu Handwerkern. HandwerkerInnen verdienten viel, viel mehr Geld als WissenschaftlerInnen und waren auch entsprechend angesehen. Zu studieren bedeutete, dass man erst mal zur Armee musste und dann fünf Jahre lang kein Geld verdiente. Irgendwann kam man irgendwo an, aber die Menschen mit Lehrberuf verdienten schon jahrelang. Schön blöd.
Nachtrag vom 26.01.2020: Ich möchte meinen Blogpost mit diesem Zitat aus einem Buch de Soziologen Prof. Dr. Steffen Mau stärken. (Ich weiß, das ist lustig …):
In unserer Klasse blickte die große Mehrheit, die eine Berufsausbildung anstrebte, verächtlich auf die »Streber«, und es war schwer zu vermitteln, warum man weiter die Schulbank drücken sollte, wenn es doch darum ging, schnell Geld zu verdienen und auf eigenen Füßen zu stehen. Ein Hochschulstudium erschien nicht allen als Gipfel des Glücks, was sicherlich auch damit zu tun hatte, dass die damit verbundenen Einkommensgewinne marginal blieben (ein Argument, das noch stärker zu Buche schlägt, wenn man die längere Bildungsphase einrechnet).
Die Behauptung, die Ossis seien nicht demokratiefähig, findet sich immer wieder. In den Print-Medien, im Radio, im Fernsehen, ja, sogar im Internet.1 Aber, und hier stimme ich zum ersten Mal in meinem Leben mit der AfD überein, was haben sie getan: Sie haben bei einer demokratischen Wahl eine im normalen demokratischen Prozess aufgestellte Partei gewählt. In Sachsen hatte diese Partei das mit dem Prozess zwar nicht so richtig gerafft und hat Fehler bei der Aufstellung der KandidatInnen gemacht, aber sonst alles prima. Und wie Kalbitz mit einem süffisanten Lächeln bemerkte, hat die AfD sogar Nicht-Wähler mobilisiert. Und zwar wie die Analyse der Wählerwanderung zeigt: 115.000 in Brandenburg und 246.000 in Sachsen! In Sachsen stieg die Wahlbeteiligung um 17,5 % in Brandenburg um 15,2 %.
Ja, sie haben Nazis gewählt. Vertreter (ohne ‑Innen) des Flügels, der vom Verfassungsschutz jetzt offiziell als kritisch eingestuft wird. Schauen wir uns die Partei, die zur Wahl stand, mal an.
Zusammensetzung des Vorstands / Personal in den Bundesländern / Rechtsextreme
Gründer*innen und Versitzende
Sie wurde 2013 gegründet von neoliberalen Professoren/Akademikern, die den Euro ablehnten.
Prof. Dr. Bernd Lucke (West-Berlin, Austritt 2015 nach Abwahl als Vorsitzender zugunsten von Petry auch wegen ausländer- und islamfeindlicher Tendenzen)
Albrecht Glaser (Worms, persönlicher Referent des Rektors der Uni Heidelberg, noch Mitglied und im Vorstand)
Andreas Kalbitz (Brandenburg, München, am 15.05.2020 mit sieben gegen fünf Stimmen bei einer Enthaltung wegen falscher Angaben bzgl. Unvereinbarkeitsliste ausgeschlossen)
Birgit Bessin (Brandenburg, Worms; ab 09.04.2022 Nachfolger von Kalbitz, gilt als Kalbitz Vertraute)
Man kann also zusammenfassen, dass im Vorstand 2 von 8 Personen aus dem Osten sind. Dazu noch Alice Weidel im Bundestag an prominenter Position. Also 2 von 9. Von den fünf neuen Bundesländern haben zwei einen Ostdeutschen zum Vorsitz. Inzwischen ist Andreas Kalbitz durch den rechtsextremen Hans-Christoph Berndt ersetzt worden, der aus dem Osten ist.
Rechtsextreme in der Presse
Prominente Rechtsextreme/Nazis sind (fortwährend aktualisiert, die Namen verlinken auf die Wikipedia-Seiten, auf denen alles ausführlichst belegt ist):
Doris von Sayn-Wittgenstein (Arolsen, Hessen, rechtsextrem, Kontakt zu Reichsbürgern und Holocaustleugnern, bei laufendem Auschlussverfahren Wiederwahl zur Landesvorsitzenden Schleswig-Holstein)
Marcus Pretzell (Rinteln, Niedersachsen, Rechtsanwalt, Immobilienentwickler, seit 2013 dabei, 2016 Beitritt zur rechtsextremen Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF), Ehemann von Frauke Petry aber immer noch in der AfD)
Dr. Wolfgang Gedeon (Cham, Bayern, Antisemit, Flügel, die AfD-Fraktion in Baden-Würtemberg bekam keine 2/3‑Mehrheit zusammen, die für einen Ausschluss von Gedeon nötig gewesen wäre, nach Spaltung der Fraktion wurde weiter mit ihm zusammengearbeitet, im September 2019 spachen sich über die Hälfte der Landtagsabgeordenten für eine Wiederaufnahme von Gedeon in die Fraktion aus, im Oktober 2019 scheiterte das zweite Ausschlussverfahren)
Joachim Paul (Bendorf, Reihnland-Pfalz, Fraktionsvize Reihnland-Pfalz, hat höchstwahrscheinlich in NPD-Zeitschrift H&J publiziert, mit 107 von 127 Stimmen zum stellvertretenden Landesvorsitzenden gewählt)
Dennis Augustin (Hamburg, Landesvorsitzender Mecklenburg-Vorpomern 2017–2019, NPD-Mitglied, 2019 wegen Verheimlichung der NPD-Mitgliedschaft ausgeschlossen)
Jens Meier (Bremen, 2017 über Landesliste Sachsen (Platz 2) in den Bundestag eingezogen, vom Sächsischen Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft, er war Obman des Flügels)
Ralph Weber (Bad Mergentheim, Baden-Würtemberg, ab 2016 im Landtag Mecklenburg-Vorpommern, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, Kontakte zu NPD, DVU, Tragen von Thor-Steinar-Sachen in der Universität, Einladung von Rechtsextremen zu Vorträgen, Promotion eines klar faschistischen Neonazis, 2021 Austritt)
Thorsten Weiß (Berlin, Steglitz-Zehlendorf, bis zu dessen Selbstauflösung im April 2020 Landesobmann des rechtsnationalen Parteiflügels „Der Flügel“ in Berlin, welcher 2020 vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wurde. Er gilt als Vertrauensmann des thüringischen Landes- und Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke)
Dr. habil. Gottfried Curio (Berlin, Gymnasium in Schmargendorf, kommt im Bericht des Bundesamtes für Verfassungschutz mit ausländerfeindlichen Äußerungen vor, die „die Grenze der verfassungsschutzrechtlich zulässigen Kritik“ überschreiten und gegen diverse Artikel des Grundgesetzes verstoßen)
Carl-Wolfgang Holzapfel (Berlin-Zehlendorf, von der Berliner AfD 2022 in die Bundesversammlung entsandt hat 1973 die Entführung einer British-European Airways-Maschine von Stuttgart nach Moskau angekündigt, um die Freilassung von Rudolf Heß zu erreichen)
Stephan Protschka (Dingolfing, Bayern, beschäftigte Identitäre und stiftete im November 2019 mit anderen verfassungsfeindlichen Organisationen in Polen ein Kriegerdenkmal, auf dem auch Organisationen geehrt werden, die Polen und Juden ermordeten. Darüber wurde in tagesschau und Presse ausführlich berichtet, aber Protschka wurde im Dezember 2019 auf dem AfD-Bundesparteitag zum Beisitzer im AfD-Bundesvorstand wiedergewählt.)
Thomas Seitz (Ettenheim, Baden-Württemberg, Flügel, wegen rassistischer Äußerungen Richteramt für 8 Jahre abgesprochen, Verfassungstreue nicht gegeben)
Johannes Huber (Moosburg an der Isar, Bayern, Flügelnähe, beschäftigte Rechtextreme Mitarbeiter*innen im Bundestag, antisemitische und rechtsextreme Verschwörungtheorien)
Matthias Helferich (Dortmund-Hombruch, Kontakte zu Dortmunder Neo-Nazis, bezeichnet sich selbst als „das freundliche Gesicht des NS“, trägt Nazisymbole, Meuthen hat Ausschlussverfahren beantragt, dafür fand sich aber keine Mehrheit im Vorstand und Tino Chrupalla und Alice Weidel stimmten für Helferichs Verbleib in der Partei!)
Josef Dörr (Illiingen, Saarland, sollte vom Bundespartei wegen „allzu enge Kontakte zu rechten und neonazistischen Kreisen“ aus der AfD ausgeschlossen werden. Hat im Jahr 2015 Mitgliedern der Freien Bürger Union satzungswidrig Doppelmitgliedschaften angeboten. taz, 12.03.2022)
Andreas Winhart (out of Rosenheim, Bayern, seit 2021 Vorstand der AfD-Landtagsfraktion, durch rassistische und antisemtsiche Äußerungen bekannt. Mit Mordaufrufen gegen Seenotrettung 2018. Bis 2019 unter Beobachtung des Verfassungsschutzes.)
Emil Sänze (Beuren, Baden-Württemberg, Landtagsabgeordneter und Co-Vorsitzender des AfD-Landesverbandes Baden-Württemberg, fand die antisemitischen Äußerungen von Gedeon (siehe oben) nicht so schlimm … Gehört zum Stuttgarter Aufruf, studierte Betriebswirtschaft in Konstanz, arbeitete bei der Deutschen Bank und für die BMW Bank GmbH)
Roland Ulbrich (Düsseldorf, NRW, Jurist, studiert in Bonn, Marburg und Köln, Mitglied in diversen schlagenden Verbindungen, Angehöriger des Flügels, fand Parteiausschluss von Kalbitz falsch, hat versprochen, dass es mit ihm im Schiedsgericht keine Parteiausschlussverfahrensorgien mehr geben würde und wurde dafür gewählt. 2024 hat er ein Urteil mit Bezug auf Gesetze aus der Nazi-Zeit begründet.)
Andreas Lichert (Bad Homburg vor der Höhe, Hessen, Vorstandssprecher AfD Hessen, bei Landtagswahl 2018 im Wahlkreis Wetterau II 17,4 % der Erststimmen, bis 2018 Vorstandsmitglied des Trägervereins des rechtsextremen Instituts für Staatspolitik, war Hausverwalter einer Immobilie in Halle, die von der Identitären Bewegung als „identitäres Zentrum“ genutzt wurde)
Jürgen Elsässer (Pforzheim, Baden-Würtemberg, Rechtsextremist, Leiter des 2024 verbotenen Compact)
Oliver Janich (München, Bayern, vom Bayrischen Verfassungsschutz als Rechtsextremist und Antisemit eingeordnet)
Rechtsextreme, die verurteilt wurden laut Volksverpetzer:
Marie-Thérèse Kaiser (Sottrum, Niedersachsen, Fotomodell und Influencerin wegen Volksverhetzung verurteilt, arbeitet für rechtsextremen Verein „Ein Prozent“)
Hier noch eine Liste von Wikipedia-Seiten von AfD-Politiker*innen, auf denen nicht steht, dass die betreffenden Personen rechtsextrem sind, aber stattdessen ausländerfeindliche, anti-demokratisch oder sonst wie geartete Meinungen bekundet werden, die normalerweise Ossis vorgeworfen werden:
Nicolaus Fest (Hamburg, islamfeindlich und grundgesetzwidrig, weil er entgegen der Religionsfreiheit alle Moscheen schließen will, unter Merkel drohe Ent-Parlamentarisierung parallel zum Ermächtigungsgesetz der Nazis, will völkischen Flügel in AfD-Berlin integrieren, siehe auch taz, 15.02.22)
Ostler
Es folgt eine Liste von rechtsextremen AfD-Politiker*innen aus dem Osten:
Stefan Möller (Erfurt, Thüringen, einer der beiden Landessprecher der AfD Thüringen neben Höcke, Unterzeichner der Erfurter Resolution)
Man kann also zusammenfassend sagen: Die AfD wurde von West-Professoren gegründet und sie wird von Westdeutschen geleitet. Prominente Rechtsextreme bzw. Nazis kommen aus dem Westen und wurden zum Teil auch nach angelaufenen Ausschlussverfahren in ihren Ämtern bestätigt.
Demokratieversagen?
Was ist passiert? 25 % der sächsischen und brandenburgischen WählerInnen haben eine Nazi-Partei gewählt. Haben sie sich undemokratisch verhalten? Nein. Siehe oben. Wie konnte das überhaupt passieren? Wieso gab es das früher nicht? Es gab im Westen immer schon solche Parteien wie die NPD, die DVU, die Republikaner. Das Gute war: Die waren zu doof. Sobald sie irgendwie nennenswerte Stimmenanteile bekamen und Positionen besetzen konnten, brach alles zusammen, weil die nötige Strukturiertheit und der Durchhaltewille fehlten. Das ist nun anders. Neoliberale Professoren haben diese Partei gegründet und auf einen rechtskonservativen Weg gebracht. Die Partei wurde dann schrittweise von Nazis übernommen, bei den Machtspielchen von Lucke, Petry und Gauland ist eben einiges schief gelaufen.
Wer hat versagt? Wir alle. Ja, unsere Demokratie hat versagt. Spätestens seit Maaßen ist das klar. Verfassungsschutzchef Maaßen (CDU, Mönchengladbach, Nordrhein-Westfalen) konnte in Chemnitz keine Hetzjagden erkennen und es hat ein Jahr gebraucht, bis dann irgendwie doch klar war, dass es Hetzjagden gab. Seehofer (CSU) hat Monate gebraucht, bis er Maaßen endlich gefeuert hat. Kurt „Die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus.“ Biedenkopf konnte in Sachsen keine rechtsextremen Tendenzen feststellen. Der sächsische Verfassungsschutz war ihm offensichtlich keine große Hilfe. Kleine gemeine Frage: Wer hat den Verfassungsschutz im Osten aufgebaut? Wer die Polizei? Die Ostdeutschen? Nee. Wie war das mit dem NSU? Nix gemerkt? Oder vielleicht doch sogar einer vom Verfassungsschutz beim Mord dabei gewesen? Wir haben riesige rechtsextreme Netzwerke mit Todeslisten (Hannibal), rechtsextreme Vorfälle in Armee und Polizei. Gar einen Mord mit rechtsextremen Hintergrund in Hessen (wurde leider bei der Meldung der Straftaten mit rechtsextremen Hintergrund vergessen, upsi).
Und nun? Verbieten? Ist nicht so einfach, wenn die Partei bereits 25 % der Stimmen bekommen hat.
Sind die Ostdeutschen nicht demokratiefähig?
Eine Studie der Universität Leipzig hat ergeben, dass die Ostdeutschen Demokratie grundsätzlich befürworten und zwar zu 95 % (im Westen nur 93 %). Ein Teil der WählerInnen hat eine rechtsextreme Partei gewählt. Diese wurde von Westdeutschen Professoren gegründet und etabliert und wird immer noch überwiegend von Westdeutschen geleitet. Aufgrund der spezifischen Situation im Osten sind Menschen dort für rassistische und nationalistische Positionen und den Quatsch, den die AfD von der Wende erzählt, empfänglich. Insgesamt ist es aber so, dass dieses Land, das gesamte Land, ein Rechtsextremismusproblem hat. Dieses kann man nur gemeinsam lösen und man löst es nicht durch Fingerzeigen und Bemerkungen von oben nach unten. Das Positive ist, dass die jüngsten Ereignisse zu einer Politisierung und auch zu einem Umdenken in der Politik geführt haben:
Dennoch geben die Wahlen für allzu apokalyptische Deutungen keinen Anlass. In dem Schlamassel stecken Geschichten, die Mut machen. Sie spielen jenseits der klassischen Parteienarithmetik und klingen nach Aufbruch und Erneuerung. Da wäre zum Beispiel eine umfassende Politisierung der Gesellschaft, die bei Wahlveranstaltungen von CDU, SPD, Grünen oder Linken zu spüren war. Die Menschen kamen, sie waren viele, und sie redeten ernsthaft über Politik. Über schrumpfende Dörfer, über Züge, die nicht mehr fahren, über die Braunkohle – und über Konzepte, die es besser machen. Was selten vorkam, war das imaginierte Zuviel an Migration. Es fand eine Erdung statt, die vor einem Jahr undenkbar schien, als Neonazis durch Chemnitz marodierten. Die demokratische Mehrheit hat sich diskursive Räume zurückerkämpft und mit Leben gefüllt. Von Desinteresse der BürgerInnen kann keine Rede sein, es gibt ein Bedürfnis nach Teilhabe und Engagement. Das, was Ost- und Westdeutschland 30 Jahre nach der Wende trennt, liegt jetzt auf dem Tisch, für alle sichtbar. Auch die Parteien haben viel richtig gemacht. Oben auf der Bühne steht einer, belehrt die anderen und wird gewählt – so funktioniert es nicht mehr. CDU-Mann Kretschmer hat im Wahlkampf gefühlt jedem Sachsen persönlich die Hand geschüttelt, der Grüne Habeck in seinen Town Halls auch dem kritischsten Atomkraftfan minutenlang geantwortet.
Ernsthaft ins Gespräch kommen, Zugewandtheit zeigen, das ist ein Anfang, aus dem etwas entstehen kann. Die Zivilgesellschaft und die demokratischen Parteien befinden sich in einer Suchbewegung – aufeinander zu.
Ich bin Antifaschist, habe für #unteilbar gearbeitet und bin zutiefst erschüttert über das Wahlergebnis der AfD in Brandenburg und in Sachsen. Es ist umso schlimmer, weil klar ist, dass Kalbitz ein Nazi ist (taz, Spiegel, Jung&Naiv). Mit tiefer Verwurzelung im rechtsextremen Milieu.
Anatol Stefanowitsch ist ein guter Kollege von mir. Wir haben jahrelang zusammen in Bremen gearbeitet und uns zur Freude unserer MitarbeiterInnen jeden Tag beim Mittagessen über alles Mögliche gestritten. Meistens Grammatik.
Ich teile viele seiner Ansichten und liebe seine pointierten Tweets. Sie sind oft auf den Punkt.
Klischees und wilde Behauptungen
In seinem Tweet vom 02.09.2019 direkt nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg schreibt Anatol Stefanowitsch folgendes: Wahlstatistiker: „Warum haben Sie AfD gewählt?“ Wähler: „Aus Protest gegen Ausländer, Juden, Muslime, Schwule, Frauen und Greta.“ Wahlstatistiker: *kreuzt “Protestwähler” an.
Damit tut Anatol (ich nehm’ mal den Vornamen) zwei Dinge: Erstens er bezweifelt die Wissenschaftlichkeit von Wahlforschung. Und er beleidigt die Protestwähler, denn er unterstellt, dass ein großer Teil der ProtestwählerInnen Ausländer, Juden, Muslime, Schwule, Frauen oder Greta Thunberg ablehnt.
Infragestellung von Forschungsergebnissen: eine rechte Strategie, oder?
Der erste Punkt ist schlimm, denn er entspricht genau dem, was Rechte und Rechtsextreme tun: Sie ziehen wissenschaftliche Ergebnisse in Zweifel. OK, wir alle wissen, dass mit Umfrageergebnissen auch Politik gemacht wird. Aber es gibt ja mehrere Meinungsforschungsinstitute und man kann die Prognosen vor Wahlen sehr gut mit den Wahl-Ergebnissen abgleichen und kann dann das Institut entsprechend einordnen. Je nach Institut schwanken die Zahlen um einige Prozent. Bei der Wahlberichterstattung in der ARD wurde aber gesagt, dass nur 39 % der AfD-WählerInnen in Sachsen sie wegen der Inhalte gewählt haben, 52 % dagegen aus Enttäuschung. Von 8–9% wissen wir es nicht.
Selbst wenn man hier eine Verfälschung des Ergebnisses in eine bestimmte Richtung unterstellen wollte, bekäme man immer noch einen Wert um die 50% von Wählern, die sich nicht mit den Inhalten der Partei identifizieren.
Protestwähler
Noch mal: Ich bin zutiefst erschüttert ob des Wahlergebnisses. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, eine Partei mit Nazi-Personal an der Spitze zu wählen.
Aber: Es gibt Leute, die aus Protest keine der demokratischen Parteien mehr wählen. Man sieht in Sachsen sehr deutlich, dass WählerInnen der Linken zur AfD gewechselt sind.
Man kann sich die Deutschlandkarten ansehen und stellt fest, dass sozioökonomischer Status stark mit dem Wahlverhalten korreliert ist. Guckt man nach Bayern (19,2% Deggendorf) oder Baden-Würtemberg (16,3% Pforzheim) so findet man in einigen Wahlkreisen einen 15–20%-Anteil an AfD-Wählern, ohne dass es in diesen Orten irgendwelche Probleme der Art gibt, mit der der Osten kämpft. Ähnlich gelagert dürfte es im Osten sein: Es gibt einen Anteil derjenigen, die AfD-Positionen teilt (die 39% der WählerInnen). Oben drauf kommen dann die Abghängten und Frustrierten. Das ist keine Entschuldigung für irgendwas, aber wir müssen uns damit auseinandersetzen, damit wir etwas ändern können.
Arroganz
Auf meine Kritik an Anatols ursprünglichem Post kam die Antwort von einem Nutzer aus NRW: „Niveau sieht nur von unten wie Arroganz aus.“ Netterweise hat er noch dazugeschrieben, dass NRW in Westdeutschland liegt. Ich hätte sonst erst nachgucken müssen.
Das zeigt recht deutlich, wo das Problem liegt: Man bewegt sich niveauvoll in seiner Blase und spricht von oben nach unten. Das löst aber das Problem nicht. Leider verstärkt es das Problem nur. Ja, das Von-oben-nach-unten-Reden ist ein Problem. Der Westen ist immer noch wirtschaftlich stärker. Im Osten gibt es die Tarife nicht, die es im Westen gibt. Schon über Jahrzehnte (z.B. seit 2003 35-Stunden-Woche bei der IG Metall im Westen, 38 Stunden im Osten für gleiches Geld).
Keine Toleranz für Nazis und Mitläufer
Es gibt ganz viele Antworten auf den Tweet, die ihre Abgrenzung zum Ausdruck bringen. Kann ich voll verstehen. Nur was folgt daraus? Dass wir mit 18 % der Bevölkerung (18,6 % in Sachsen, 14,4 % in Brandenburg bei Berücksichtigung der Nichtwähler) nicht mehr reden? Es ist zu einfach zu sagen, ich bin gut und ihr seid Nazis. Das ist selbstgefällig. Man macht es sich bequem auf seinem Sessel/Bürodrehstuhl und guckt mit Schaudern gen Osten und zeigt mit dem Finger. Davon ändert sich aber nichts. Im Gegenteil. Die anderen Reden mit ihnen. Und sie hören das wahnsinnige Gefasel von der Wende 2.0. Von Leuten, die damals noch ganz klein waren und in Westfalen oder München zur Schule gegangen sind.
Hier noch mal für den Geschichtslehrer: Das haben die Bürgerbewegungen damals gewollt. Der ganze andere Scheiß kam später.
Schlussfolgerung
Wir müssen miteinander reden. Wohl eher nicht mit den Nazis, obwohl Thilo von Jung auch das sehr gut hinbekommen hat (Interview mit Kalbitz). Aber wenn wirklich 61 % von 25 % nicht mit den Ansichten der AfD übereinstimmen, dann sind das doch sehr viele Menschen. Und selbst bei den 39 % ist noch nicht alles verloren. Da sind sicher Menschen dabei, die wegen „Greta“ die AfD gewählt haben, denn die Klimawandelleugner haben sich recht klar für Kohle positioniert und das ist für einige BrandenburgerInnen existenziell.
Also, versuchen wir mit ihnen zu reden. Bitte versucht Ihr Wessis mit uns Ossis auf Augenhöhe zu reden. Es ist Eure einzige Chance. Es ist unsere einzige Chance.
Nachtrag 04.09.2019
Leider muss ich mir hier gleich widersprechen. Den oben angesprochenen Erkenntnissen von infratest dimap, wonach nur 39% der WählerInnen in Sachsen die AfD aus Überzeugung gewählt haben, widerspricht eine Studie der Forschungsgruppe Wahlen, derzufolge 28 % das Motiv „Denkzettel“ nannten und 70% die AfD „wegen ihrer politischen Forderungen“ wählten (Telefonbefragung unter 1071 zufällig ausgewählten Wahlberechtigten in der Woche vor der Wahl und Befragung von 18 411 Wählern am Wahltag). Ein Unterschied von 31% in den Ergebnissen ist doch ziemlich groß. Ich werde mich bemühen, Näheres über die erste Befragung herauszufinden. Immerhin ist die Zahl 28% auch nicht klein. In Brandenburg lag die Zahl der Protestwählerinnnen bei über 50%.
Dieser Text wurde am 01.09.2019 begonnen und ist leider immer noch nicht ganz fertig, aber er soll jetzt mal sichtbar werden.
Einleitung
Die Wessis versuchen jetzt, den Osten zu verstehen. Ein bisschen spät, denn das Kind ist in den Brunnen gefallen. Dazu gibt es verschiedene Analysen in Zeitungen, die für die Meinungsbildung relevant sind. Einen wichtigen Punkt aus zwei dieser Analysen möchte ich in diesem Beitrag besprechen: DDR und Holocaust. Die AutorInnen der besprochenen Beiträge sind jeweils aus dem Osten: Ines Geipel und Anetta Kahane. Das macht ihre Aussagen um so verwunderlicher. Sehen wir uns die Aussagen von Ines Geipel und Anetta Kahane im Detail an:
Die West-Gesellschaft des direkten Nachkriegs, die sich manisch schönputzte, die schier märchengleich Kohle machte und sich in ihrer Unfähigkeit zu trauern verpuppte. Die postfaschistische DDR der fünfziger Jahre dagegen wurde zur Synthese zwischen eingekapseltem Hitler und neuer Stalin-Diktatur, planiert durch einen roten Antifaschismus, der einzig eine Heldensorte zuließ: den deutschen Kommunisten als Überwinder Hitlers. Mit dieser instrumentellen Vergessenspolitik wurde im selben Atemzug der Holocaust für 40 Jahre in den Ost-Eisschrank geschoben. Er kam öffentlich nicht vor.
Im Osten war eine systemische und individuelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah nicht gewollt. Dies hätte zu Fragen nach Menschenrechten oder Minderheitenschutz geführt, die nur bei Strafe des Untergangs der DDR zu beantworten gewesen wären.
Die krasseste Behauptung ist die von Geipel, der Holocaust sei öffentlich nicht vorgekommen.1 Diese Behauptung ist leicht zu widerlegen und Matthias Krauß hat das bereits 2007 getan.2 Für die Behauptung von Kahane muss man etwas weiter ausholen.
Schulbildung: Geschichts- und Literaturunterricht
Die Beschäftigung mit dem Holocaust zog sich durch die gesamte Schulbildung. Die Schulbildung war in der DDR zentral geregelt, d.h. alle Schülerinnen und Schüler wurden nach demselben Lehrplan und mit denselben Lehrmaterialien unterrichtet.
Geschichtsunterricht
Die Nazizeit wurde in der 9. Klasse behandelt. Im Geschichtsbuch der 9. Klasse findet man mehrere Seiten, auf denen Verbrechen an Juden thematisiert werden: Antisemitische Hetze, Rassengesetze, Boykottaufrufe, Berufsverbote, zerstörte Synagogen, Enteignungen. Es folgen Seiten aus dem Geschichtsbuch von 1977 (8. Auflage der Ausgabe von 1970):
Das Warschauer Ghetto wird thematisiert, die Deportation von Juden in die Todeslager von Auschwitz und Majdanek.
Zusammen mit einem Bild von Auschwitz-Birkenau wird auf die acht Millionen Menschen hingewiesen, die in Konzentrationslagern ermordet wurden: „in erster Linie Arbeiter, Kommunisten, Sowjetbürger, progressive Angehörige der Intelligenz und Juden“.
Judenverfolgung und Wannseekonferenz werden explizit thematisiert. Die rassisch begründeten Morde werden klar angesprochen:
Errichtung weiterer Konzentrationslager. Die Faschisten pferchten weitere Millionen Häftlinge — Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Antifaschisten verschiedenster Klassenzugehörigkeit, rassisch verfolgte, vor allem Juden, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und andere Häftlinge — in unzähligen Konzentrationslagern zusammen (vgl. Karte). Auf polnischem Boden entstanden die KZ Auschwitz, Bełżec, Kulmhof, Majdanek, Sobibor und Treblinka. In diesen größten Vernichtungslagern wurden mehr als sieben Millionen Menschen unter entsetzlichen Qualen umgebracht.
Geschichtslehrbuch 9. Klasse von 1988. S. 168–169
In der Zusammenfassung findet sich auch noch mal explizit folgendes:
durch sogenannte ‘Straf- und Vergeltungsaktionen’ begannen die Faschisten den Massenmord an Millionen Hitlergegnern und Angehörigen verschiedener Völker, insbesondere von Bürgern der Sowjetunion und Polens sowie von Juden vieler europäischer Staaten. […] 20. Januar 1942 ‘Wannsee-Konferenz’ beschließt Massenmord an Juden
Geschichtslehrbuch 9. Klasse von 1988. S. 173
In den Empfehlungen für die außerunterrichtliche Lektüre kamen Romane vor, die auch im Literaturunterricht behandelt wurden:
Literaturunterricht
Wir haben in der 9. Klasse Kinderschuhe aus Lublin von Johannes R. Becher gelernt. Viele haben das aufgesagt (33 Strophen). Die, die es nicht selbst gelernt haben, haben es zumindest viele Male gehört. Bechers Balade von den Dreien war ebenfalls im Lesebuch der DDR 9. Klasse (Ausgabe 1980) enthalten. Dieses Gedicht hatte nur neun Zeilen. Das haben die aufgesagt, denen die Kinderschuhe zu lang waren. Ich habe es oft gehört.
Wir haben Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz gelesen. Im Buch geht es um ein jüdisches Kind, das im KZ Buchenwald versteckt wird. Der Mord an den Juden wird ganz klar thematisiert:
Unter den 6000 jüdischen Häftlingen des Lagers verursachte der Befehl einen Aufruhr der Angst und Verzweiflung. Zuerst war ein Schrei des Entsetzens in ihnen aufgebrochen. Sie wollten die schützenden Blocks nicht verlassen. Sie schrien und weinten, wussten nicht, was sie tun sollten. Wie ein wütender Wolf hatte der furchtbare Befehl sie angesprungen, hatte sich in sie verbissen, und sie konnten ihn nicht mehr abschütteln. Ungeachtet von Weisangks Befehl, die Blocks nicht zu verlassen, stürzten viele der jüdischen Häftlinge fort, kopflos und in höchster Not. Sie rannten in andere Blocks hinein, in die Seuchenbaracke des Kleinen Lagers, ins Häftlingsrevier. »Helft uns! Versteckt uns!«
»Wie euch verstecken? Wir kommen doch selber dran.«
Trotzdem, die Blocks nahmen sie auf. Man riss ihnen die jüdischen Markierungen von den Kleidern, gab ihnen andere dafür. Köhn {und der Kapo vom Revier} steckten die Hilfesuchenden als »Kranke« in die Betten, gab ihnen ebenfalls andere Markierungen und Nummern. Manche der Gehetzten versteckten sich auf eigene Faust und krochen in den Leichenkeller des Reviers. Andere wieder stürzten in die Pferdeställe des Kleinen Lagers, in der Masse untertauchend. Und doch war diese Flucht die sinnloseste, denn gerade hier steckten viele jüdische Angehörige fremder Nationen. Aber wer überlegte, wer dachte klar, wenn er vom Wolf gehetzt wurde … Was in den Blocks der jüdischen Häftlinge zurückblieb, unterlag schließlich der Lähmung des mörderischen Befehls. Verstört sahen sie dem Kommenden entgegen. Die Blockältesten, selbst jüdische Häftlinge, hatten nicht den Mut, zum Marsch nach dem Tor antreten zu lassen. Dort wartete der Tod! Konnte man ihn nicht auch hier erwarten?
Bruno Apitz. 1958. Nackt unter Wölfen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale). Zitiert nach Ausgabe vom Aufbauverlag, 2012, S. 274–275
Zum Buch gab es 1963 eine Verfilmung von Frank Beyer für die DEFA (siehe Filme). Nackt unter Wölfen erschien in 30 Sprachen und erreichte eine Gesamtauflage von mehr als zwei Millionen. (Nachtrag 19.06.2024: Ines Geipel spricht in ihrem 2019 erschienenen Buch Umkämpfte Zone auf S. 36 des Ebooks selbst von Nackt unter Wölfen.)
Professor Mamlock (ein Theaterstück von 1934) wurde 1961 verfilmt und in Schulen gezeigt. Der Film handelt von einem jüdischen Klinikleiter und dessen Familie. Arbeitsverbot, Inhaftierung. Ein Sohn flieht. Professor Mamlock begeht Selbstmord.
Edu und Unku wurde ebenfalls im Literaturunterricht behandelt. Unku ist ein Sinti-Mädchen, das in Auschwitz ermordet wurde.
Die erstmals 1958 veröffentlichte Erzählung Frühlingssonate von Willi Bredel befand sich im Lesebuch der 9./10. Klasse.3 Es ging um einen jüdischen Politoffizier, der mit der Roten Armee nach Deutschland gekommen war. Er hört die Musik, die eine Familie mit Klavier und Fagott spielt, kommt in deren Wohnung, immer wieder, bringt Essen mit. Sie werden vertraut. Eines Tages fragt die Familie ihn nach seinem Lieblingsstück und er nennt Beethovens Frühlingssonate. Die Familie studiert das Stück ein, spielt es vor dem Offizier und dieser bricht zusammen und verwüstet die Wohnung. Daraufhin wird er verhaftet und eingesperrt und von seinen Vorgesetzten verprügelt. Der Familienvater – ein deutscher Professor – entschuldigt ihn. Hier Auszüge aus dem Text, der aus seiner Perspektive geschrieben ist:
Der Familienvater:
Ich beobachtete Ruthilde, sie spielte vortrefflich. Plötzlich aber sah ich sie erschrecken: Hauptmann Pritzker wankte an den Tisch und goss den Inhalt der Wodka-Karaffe in ein Bierglas. Der Hauptmann goss in einem einzigen Zug den Wodka in sich hinein. Aufhören! Um Gottes Willen aufhören, dachte ich. Ruthilde aber spielte weiter – und wie sie spielte. Meine Frau musste einsetzen. Der Hauptmann hatte beide Hände vors Gesicht gepresst, als litte er Qualen. Was bedeutete das alles nur? „Warum spielten sie noch?
Plötzlich geschah es. Ein Schrei dem unverständliche Worte folgten – und plötzlich riss der Hauptmann mit einem Ruck die Tischdecke samt allem, was darauf stand herunter. Meine Frau schlug mit dem Kopf auf die Tasten des Flügels – wie ohnmächtig. Irmgart und Hänschen, zu Tode erschrocken, rannten aus dem Zimmer. Der Hauptmann zog mit seinem ganzen Gewicht an dem Schrank, in dem unsere Gläser und etwas Geschirr standen, so dass er über den Tisch fiel. Er zerrte mit einem Griff Vorhänge und Gardinen vom Fenster. Einem Stuhl gab er einen Tritt. Und ununterbrochen schrie er Flüche oder Drohungen in seiner Muttersprache heraus. Ruthilde, Geige und Bogen noch in der Hand, stand da und rührte sich nicht. Gleich wird er über sie herfallen, dachte ich, bereit, mich ihm entgegenzuwerfen. Statt dessen aber hockte er sich plötzlich in den Sessel, legte den Kopf auf die Lehne und weinte, schluchzte herzzerreißend. Ich hatte meine Frau auf das Sofa gebettet, jetzt trat ich zu meiner Tochter und legte den Arm um ihre Schulter. So blickten wir auf den Unglücklichen, der den Kopf hin und her warf und wie ein Kind wimmerte. Endlich kamen Soldaten der Militärpolizei und führten ihn ab.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 164–165. (Zitat mit freundlicher Genehmigung der Willi-Bredel-Gesellschaft-Geschichtswerkstatt e. V., Hamburg)
Die Erklärung für das Verhalten wird am nächsten Tag von einem anderen Offizier geliefert:
Heute mittag nämlich hat mich ein junger Offizier von der Kommandantur aufgesucht. Er bat für seinen Landsmann um Entschuldigung und erbot sich, den Schaden zu ersetzen. Dann erzählte er mir das Schicksal des Hauptmanns. Es ist noch tragischer, als wir vermuten konnten. Hören Sie nur:
Hauptmann Pritzker war vor seiner Einberufung zur Sowjetarmee Musikpädagoge am Konservatorium in Kiew. Er war verheiratet, hatte eine Tochter und einen Sohn, beide noch schulpflichtig. Im Jahre 1942 haben deutsche Soldaten der Hitler-Wehrmacht in Kiew Zehntausende Juden, Männer, Frauen und Kinder, zusammengetrieben wie Vieh und unweit der Stadt vor ihren Gräbern erschossen. Unter den Opfern befanden sich des Hauptmanns Frau und Kinder. Die Familie hatte am Abend, bevor Pritzker einberufen wurde, die Frühlingssonate von Beethoven gespielt.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 165.
An einer anderen, aus der Sicht des Oberst der sowjetischen Militärkommandanturer, der den Hauptmann verhört und geschalgen hat, erzählten Stelle heißt es:
Der Oberst überlegte … Da liest man in den Zeitungen, hört in Rundfunksendungen, auch in Gesprächen: Bei Worowschilwograd zwölftausend Juden massakriert. In Kertsch Tausende Einwohner vor der Stadt füsiliert. In Kiew zehntausende Juden und Kommunisten gemeuchelt und in Massengräber verscharrt. Man liest es, ist entsetzt, aber es dringt nicht mehr richtig ins Bewusstsein; der Verstand wehrt sich diese Häufung von Verbrechen aufzunehmen.
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 168.
Der Bericht des Professors endet damit, dass er den Hauptmann entschuldigt:
„Die Schuldigen sind doch eigentlich wir“: sagte der Professor, „ich meine, wir Deutschen. ” Er blickte auf und fuhr fort: „Man stelle sich vor: Ein Offizier befindet sich als Sieger in dem Land, aus dem die Menschen kamen, die in seiner Heimat seine Frau und seine beiden Kinder umgebracht haben. Die Mörder sind besiegt, aber die Menschen dieses Landes sind den Mördern nicht in den Arm gefallen, sie haben sie gewähren, das heißt morden lassen. Und einsam geht er durch die Stadt der Besiegten. Da sitzt in ihrem Haus eine Familie – nicht einer fehlt: Mann, Frau, Töchter, Sohn – sie musizieren, spielen Schumann, Brahms und Mozart. Er steht auf der Straße und lauscht. Jeden Akkord kennt er, er ist ja Musiklehrer, ein Freund der Hausmusik. Musik ist stärker als Hass. Gleich einem Bittsteller klopft er an die Tür der Besiegten und — ja, der Mitschuldigen an seinem und seines Landes Unglück. Er darf zuhören und ist glücklich. Bei Deutschen, den Landsleuten derer, die seine Frau und Kinder und ungezählte Tausende anderer Frauen und Kinder in seiner Heimat ermordet haben. Er denkt daran, er muss immer wieder daran denken, und ihn packt, ihn überwältigt das ihm zugefügte Leid. Er will es betäuben, er will nicht, dass seine deutschen Bekannten etwas davon merken. Er trinkt, um zu vergessen. Und gerade das Stück, das sie nichtsahnend ihm zur Freude spielen, wird ihm zur größten Qual … ja, wir sind die Schuldigen. Die Schuldigen sind wir.”
Willi Bredel. 1971. Frühlingssonate, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag. S. 166.
Man beachte, dass bei Bredel 1958 auch schon ganz klar auf die Rolle der Wehrmacht bei der Massenvernichtung der Juden hingewiesen wird. Die ganze Ungeheuerlichkeit ist im Artikel über Babyn Jar in Wikipedia ausführlich dokumentiert. SS und Wehrmacht haben gemeinsam 33.771 Juden in einer Schlucht bei Kiew ermordet und dann vor Kriegsende noch versucht, die Spuren zu beseitigen. Menschen aus dem Osten waren sehr erstaunt, was die Wehrmachtsausstellung noch 1995–1999 für einen Aufruhr erzeugen konnte. Wir wussten Bescheid. Wir hatten es spätestens in der 10. Klasse gelernt.
Wikipedia schreibt zur Wehrmachtsausstellung:
Die breite Öffentlichkeit nahm so erstmals historisch gut erforschte, aber damals allgemein noch wenig bekannte Sachverhalte zur Kenntnis:
den Beginn des Holocaust in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, den die Wehrmachtsführung mit plante und dann arbeitsteilig mit durchführte,
die Beteiligung ganzer Truppenteile an diesen Verbrechen, wobei Widerstand bis auf wenige Ausnahmen ausblieb,
den in Wehrmachtsführung wie einfachen Truppen weit verbreiteten Antisemitismus und Rassismus,
die verbrecherischen Befehle (zum Beispiel den Kommissarbefehl) und ihre weithin widerspruchslose Ausführung und
die als Kriegsziel beabsichtigte millionenfache Vernichtung der osteuropäischen Zivilbevölkerung.
In aktuellen politischen Diskussionen wird immer wieder behauptet, dass es in der DDR keine systematische Aufarbeitung des Faschismus gegeben habe, wohingegen das in der BRD nach 1968 geschehen sei. Wie das Wikipedia-Zitat nahelegt, waren die Fakten Experten bekannt, jedoch kein Allgemeinwissen. In der DDR kam niemand an diesen Fakten vorbei. Die Großnichte von Hermann Göring begann sich 1968 für ihren Großonkel zu interessieren und suchte nach Literatur. Sie hat in einem Interview im Jahre 2024 gesagt, dass die besten Geschichtsbücher zum Thema aus der DDR kamen (Reich, 2024).
Überlebende wurden in die Schulen eingeladen. Schulen wurden nach Widerstandskämpfern benannt z.B. nach Herbert Baum (jüdischer Widerstandskämpfer). Nach der Wende zog das Heinrich-Hertz Gymnasium in die Gebäude der POS Herbert Baum. Es gibt jetzt keine Schule mehr, die nach ihm benannt ist.
Neulehrer
Bei der ganzen Sache mit der Schulbildung sollte man auch bedenken, dass Nazis nach dem Krieg im Bildungssystem der DDR systematisch durch sogenannte Neulehrer ersetzt wurden. 40.000 Neulehrer. Laut Wikipedia waren 1949 67,8 Prozent aller Lehrerstellen mit Neulehrern besetzt. Es war somit sichergestellt, dass die Personen auch das in den Lehrplänen Vorgegebene unterrichten würden, insbesondere dann, wenn es sich um antifaschistischen Lehrstoff handelte. LehrerInnen hätten den entsprechenden Stoff schon allein deshalb nicht weglassen können, weil in jeder Klasse Kinder mit Genosseneltern waren und es sicher Probleme mit der Schulleitung gegeben hätte. Das kann man finden, wie man will, aber daraus folgt, dass alle Kinder in der DDR die Materialien, die sich mit dem Faschismus beschäftigt haben, auch behandelt haben. Im Gegensatz dazu hatte Bettina Göring in den 60ern einen Nazi als Geschichtslehrer (Reich, 2024) und es gibt auch heute noch Geschichtslehrer, wie Björn Höcke (aus NRW, studiert in Bonn, Gießen und Marburg, von 2001–2014 hat er Geschichte unterrichtet), den man laut Gerichtsbeschluss Nazi nennen darf.
Bücher
LTI – Notizbuch eines Philologen von Victor Klemperer erschien 1947 im Aufbau Verlag und wurde dann 1966 in Reclams Universal-Bibliothek in Leipzig wiederveröffentlicht. 1990 wurde die 10. Auflage gedruckt. Papier war in der DDR knapp. Populäre Zeitschriften wie das Magazin waren deshalb Bückware. Es muss also erstens einen Bedarf für LTI gegeben haben und zweitens auch den politischen Willen der Staatsmacht, dieses Buch in großen Stückzahlen unters Volk zu bringen. Klemperer selbst war jüdischer Abstammung und hat sich dafür entschieden, in der DDR zu bleiben.
Martin Riesenburger. 1960. Das Licht verlöschte nicht. Ein Zeugnis aus der Nacht des Faschismus, Berlin: Union Verlag. weiter Auflagen in den 1980ern.
Arnold Zweig. 1960. „Beginn und ‚Endlösung‘“. In: Programmheft zu „Affäre Blum“, Volksbühne Berlin, Spielzeit 1960/61, S. 4–7., weitere Artikel im Neuen Deutschland etc.
Kurt Pätzold. 1983. Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942. Berlin: Reclam.
Diese Aufzählung aus dem Hut wirkt geradezu lächerlich gegenüber der Liste von 1086 Titeln, die die einstige Leiterin der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in Ost-Berlin, Renate Kirchner, zusammengestellt hat (Kirchner, 2010).
Daniela Dahn schreibt in ihrem Buch von 2019 (siehe unten) zu dieser Liste:
Die Bibliographie umfasst alle Themen – jüdische Geschichte, Religion, Philosophie, Kultus und Brauchtum, Lebens- und Werkbetrachtungen bekannter Juden, Antisemitismus und Rassismus, jüdisches Leben in anderen Ländern, insbesondere die Welt der Ostjuden, auch Palästina und Israel. Fast genau die Hälfte aller Bücher aber widmet sich dem Thema: Nationalsozialismus und Judenverfolgung. Die meisten davon, nämlich 302, waren Sachbücher, Biographien, Tagebücher, Briefbände, auch einzelne Diplomarbeiten und Dissertationen, die der Jüdischen Bibliothek zum Dank für Unterstützung übergeben wurden. Viele davon waren sachliche Faktensammlungen, andere unverkennbar der Systemauseinandersetzung und dem Legitimationsbedürfnis der DDR untergeordnet. So unterschiedlich sie waren, kann man ihnen eine verinnerlichte, humanistische Grundhaltung und einen tiefempfundenen Antifaschismus schwerlich absprechen.
Ohne den im Raum stehenden, monströsen Vorwurf der Unterdrückung jüdischer Themen in der DDR könnte ich mir den nun vielleicht schon pedantisch wirkenden Hinweis sparen, dass zu dem auch ästhetisch heiklen Thema Holocaust, für das erst eine Sprache gefunden werden musste, außerdem 238 DDR-Autoren wie Anna Seghers, Bruno Apitz, Jurek Becker, Johannes Bobrowski, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Walter Kaufmann, Günter Kunert, Fred Wander, Arnold Zweig. Westdeutsche Autoren wie Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Paul Celan, Peter Härtling, Heinar Kipphardt, Wolfgang Koeppen, Luise Rinser und Peter Weiss wurden in DDR-Verlagen genauso verlegt wie die Generation davor: Lion Feuchtwanger, Frank Leonhard, Klaus Mann, Erich Mühsam, Erich Maria Remarque, Nelly Sachs, Franz Werfel. Schließlich wurde auch viel übersetzt, besonders aus Osteuropa: Josef Bor, Tibor Déry, Ladislav Grosman, Imre Kertész, Anatoli Kusnezow, Stanislaw Lem, Icchokas Meras, aber auch Natalia Ginzburg, Primo Levi, Elie Wiesel oder Jorge Semprún.)
Dahn, Daniela (2019) Der Schnee von gestern ist die Sintflut von morgen.
Meine Schwiegereltern hatten in ihrer Mannheimer Wohnung am Esstisch extra ein Regal mit Judaika platziert, damit die West-Kollegen dieses bei Einladungen sehen konnten, denn auch ihre Kolleg*innen hatten merkwürdige Vorstellungen über den Umgang mit Juden und dem Völkermord in der DDR.
Filme
Es gab diverse Filme, die die Judenverfolgung thematisierten oder in denen sie vorkam. Es gab in der DDR in vielen kleinen Orten Kinos und die Filme sind oft jahrelang durch die DDR getourt. Folgende Filme sind mir bekannt:
Ich bin klein, aber wichtig, 1988, Walther Petri und Konrad Weiß, DEFA Studio für Dokumentarfilme, biographischer Filmessay über Janusz Korczak
Zur Premiere des Anne-Frank-Films gibt es einen interessanten Beitrag in der ZEIT von 1959:
Vor der Uraufführung des Films „Ein Tagebuch für Anne Frank“ im Ostsektor Berlins betrat der greise Arnold Zweig die Bühne im „Haus der Presse“ am Bahnhof Friedrichstraße. Er sprach davon, daß mit diesem Film ein Beitrag zur moralischen Wiedergutmachung geleistet werden solle.
Zu Ich bin klein aber wichtig gibt es einen Text von Konrad Weiß, der 1988 in Film und Fernsehen veröffentlicht wurde.
Fernsehserien
Nach der ersten Veröffentlichung dieses Textes erschien am 17.09.2019 ein Buch von Daniela Dahn (aus einer jüdischen Familie) zum Thema Wiedervereinigung. Dieses Buch enthält auch eine erhellende Diskussion der Behauptung, der Holocaust sei in der DDR nicht vorgekommen. Ich habe das Buch leider erst 2023 gelesen. Dahn weist darauf hin, dass es mehrere Jahre vor der Holocaust-Serie in der DDR eine vierteilige Serie zum Völkermord an den Juden gab: Die Bilder des Zeugen Schattmann.
Die Serie war nach dem autobiografischen Roman von Peter Edel konzipert und es spielten mehrere Jüd*innen in den Hauptrollen:
Was gab es doch unlängst für einen Hype um den 40. Jahrestag der Sendung der US-Serie Holocaust, durch die 1979 das deutsche Publikum, und zwar das gesamtdeutsche, angeblich erstmalig eine Ahnung vom Ausmaß des den Juden zugefügten Leids bekommen habe. Was für ein Armutszeugnis! Nirgends war ein Hinweis darauf zu hören, dass im DDR-Fernsehen bereits sieben Jahre [fünf Jahre, St. Mü.] vor der Hollywood-Serie eine vierteilige Folge über eine jüdische Familie gesendet wurde, die nach Auschwitz deportiert wird. Erstmalig durfte dafür ein deutscher Filmstab im Lager Auschwitz drehen. Die Authentizität des Films rührte aber nicht nur vom schwer zu verkraftenden Originalschauplatz, sondern von dem Wissen, dass es sich hier um die Verfilmung des autobiographischen Romans des Juden Peter Edel handelt, der all diese Schrecken in Auschwitz selbst erlebt hat. Und nicht nur er, auch einige der Hauptdarsteller hatten die fürchterliche Hürde zu nehmen, an die Stätte ihres grauenvollen Traumas zurückzukehren. In der Rolle des Stubenältesten Tadeusz spielte August Kowalczyk ein Stück seines eigenen Lebens. Er war zwei Jahre Häftling in Auschwitz gewesen und hatte sich eigentlich geschworen, nie wieder an diesen Ort zurückzukehren. Peter Sturm, im Film der Elias, stammte aus einer sehr frommen, armen jüdischen Familie aus Wien. Er hatte das Martyrium der Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und ebenfalls Auschwitz hinter sich. Und die Schauspielerin Marga Legal, im Film Frau Müller, bekam 1933 wegen ihrer jüdischen Vorfahren ein Arbeitsverbot und konnte sich nur durch eine sogenannte «privilegierte Ehe» vor Verfolgung retten.
Dahn, Daniela (2019) Der Schnee von gestern ist die Sintflut von morgen.
Der Film wurde im Westberliner Tagesspiegel positiv besprochen (25.05.1972).
Zu dieser Serie und dem Roman, der die Grundlage bildet, sollte man noch folgendes insbesondere über die Verbreitung wissen:
Dieser Peter Edel, aus einer bürgerlichen Berliner Familie stammend, konnte wegen der Rassengesetze das Gymnasium nicht beenden und nahm illegal Zeichenunterricht bei Käthe Kollwitz. Versuche, ins Exil zu gehen, misslangen, ein Großteil seiner Verwandten und seine erste Frau wurden in Auschwitz umgebracht. Er selbst überlebt dieses Vernichtungslager nur, weil er als bildender Künstler nach Sachsenhausen zum Geldfälschen verlegt wird. Noch im Lager beschließt er, Kommunist zu werden, als Konsequenz des Erlittenen. Nach der Befreiung versucht er es in Österreich als Journalist und Graphiker, später in Westberlin, ab 1947 in Ostberlin. Häufig suchen ihn Fieberanfälle heim, die einige Tage andauern. Im Fieberwahn durchleidet er immer wieder Auschwitz. Danach kann er sich an nichts erinnern. Davon befreit hat er sich mit seinem autobiographischen Roman, der 1969 erschien. Bis 1989 erlebte der Schattmann 12 Auflagen, danach keine mehr. Die vierteilige Verfilmung lief im Fernsehen alle drei, vier Jahre erneut, auch nachmittags im Schulprogramm, sonst zur besten Sendezeit, mit Wiederholung am nächsten Morgen, zuletzt 1988. Man kam an diesem Film eigentlich nicht vorbei, wer ihn nicht gesehen hat, wollte ihn nicht sehen.
Dahn, Daniela (2019) Der Schnee von gestern ist die Sintflut von morgen.
Ich kannte diese Serie nicht, weil wir keinen Fernseher hatten.
Durch Dahn bin ich auch auf die Arbeit Elke Schieber aufmerksam geworden. Sie hat alle Filme aufgelistet, die in der SBZ/DDR zwischen 1946 und 1990 zu den Themen Antisemitismus vor 1933, jüdisches Leben, Judenverfolgung im Nationalsozialismus, jüdische Vergangenheit in der Gegenwart, Palästina-Israel-Naher Osten produziert wurden. 700 Seiten. 1000 Filme. Wie Dahn richtig feststellt, sagt das allein noch nichts über die Qualität der Filme aus, aber die schiere Masse dieser Dokumente reicht wohl dazu aus, die Falschdarstellung, in der DDR sei Jüdisches nicht vorgekommen oder der Holocaust sei ignoriert worden, zu widerlegen.
Theaterstücke
Der DEFA-Film Affäre Blum, 1948, Erich Engel, hatte zu DDR-Zeiten über 4 Mio Zuschauer. Es geht um einen antisemitischen Justizsakndal im Jahre 1925. Zum Film gab es auch ein Theaterstück und im Programmheft von 1960/1961 gab es einen Beitrag von Arnold Zweig: Beginn und ‚Endlösung‘. In: Programmheft zu „Affäre Blum“, Volksbühne Berlin, Spielzeit 1960/61, S. 4–7.
Skulpturen und Denkmäler
Ingeborg Hunzinger. 1970. Stürzende, Sandstein; für die Opfer des Todesmarsches des KZ Sachsenhausen vom April 1945 in Parchim in einer Parkanlage zwischen Goetheschule und Krankenhaus.
Der Bildhauer Will Lambert war mit einer jüdischen Frau verheiratet und floh 1933 aus Deutschland. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil und der Verbannung arbeitete er hauptsächlich an der Gestaltung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Die Jüdin Olga Benario war das Vorbild für die Skulptur Tragende (1957). Diese Skulptur wurde 1959 in Ravensbrück aufgestellt.
13 Figuren, die eigentlich mit der Tragenden kombiniert werden sollten (siehe auch Briefmarken), stehen seit 1985 zum Gedenken an die jüdischen Opfer des Faschismus am Alten Jüdischen Friedhof in Berlin-Mitte.
Briefmarken
Es gab eine Reihe von Sondermarken, die in der Zeit von 1955–1964 herausgegeben wurden. Mit einem Aufschlag konnten sich die KäuferInnen am Aufbau und der Erhaltung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück beteiligen. Die gesamten Marken inklusive Auflagenhöhe sind ausführlich in Wikipedia dokumentiert: Aufbau und Erhaltung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten. Laut dem Wikipediartikel zur Gedenkstätte Sachsenhausen sind allein 1955 2 Millionen Mark auf diese Weise gespendet worden. Zum Vergleich: Das Durchschnittseinkommen (brutto) betrug damals 432 Mark (Statistisches Jahrbuch der DDR, 1990, S. 52).
1963 wurde eine Briefmarke „Niemals wieder Kristallnacht“ in einer Auflage von 5 Millionen Stück herausgegeben.
Straßen, Schulen, Plätze
Im Abschnitt über Schulen wurde schon erwähnt, dass es Schulen gab, die nach Juden benannt waren, die in KZs ermordet wurden. Nach Herbert Baum wurde auch eine Straße benannt: Eine Gedenktafel für die Getöteten der Herbert-Baum-Gruppe und das Grab Baums befinden sich auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee. Das Grab ist als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet. Die auf das Hauptportal des Friedhofs führende Straße heißt seit 1951 Herbert-Baum-Straße.
Rudi Arndt (in Buchenwald ermordet) ist ein weiterer Jude, nach dem viele Straßen, Plätze, Theater und Jugendherbergen benannt wurden. Zu den Details siehe Ehrungen in seinem Wikipediaeintrag. Wie auch Herbert Baum war Rudi Arndt im kommunistischen Widerstand, aber bei einer Auseinandersetzung mit seiner Person stieß man auch auf seine Religionszugehörigkeit:
1938 wurde er als „politischer Jude“ ins KZ Buchenwald deportiert. Nach seiner Ankunft war Arndt zunächst kurze Zeit in einem Baukommando tätig. 1938/1939 arbeitete er als Krankenpfleger für jüdische Häftlinge und war Blockältester im Block 22. Er setzte sich sehr für die jüdischen Patienten ein, was der SS außerordentlich missfiel. Nach einer Denunziation durch kriminelle Häftlinge im Steinbruch wurde er von der SS vorgeblich „auf der Flucht“ erschossen.
Wikipediaeintrag von Rudi Arndt, 03.03.2020
Nach Olga Benario waren Schulen, Kindergärten und Straßen benannt.
Ich selbst bin in der Georg-Benjamin-Straße aufgewachsen, einer Straße, die 1974 in einem Neubaugebiet nach dem jüdischen Arzt und Widerstandskämpfer Georg Benjamin benannt wurde. Zu weiteren Ehrungen siehe Wikipedia. In Wikipedia steht übrigens auch, dass eine im Sommer 1951 am Weddinger Nettelbeckplatz aufgestellte Gedenktafel für „Hingerichtete und ermordete Weddinger Antifaschisten“, die Georg Benjamins Namen enthielt, von Unbekannten recht schnell entfernt wurde.
Weimartage der FDJ und Besuche im KZ Buchenwald
Die FDJ hat jedes Jahr in Weimar ein großes dreitägiges Festival veranstaltet. Theater, Musik, Museen. Man konnte für 21 Mark alles besuchen, bekam Essen und konnte in Weimarer Schulen schlafen. Auf Probebühnen und den Hauptbühnen fanden gleichzeitig mehrere Vorstellungen pro Tag statt. (Merkwürdig, dass man dazu im Netz bis auf eine Seite des Nationaltheaters in Weimar und das Archiv des Neuen Deutschlands nichts, aber auch gar nichts, finden kann.)
Obligatorisch mit im Programm war immer ein Besuch im KZ Buchenwald inklusive Film in der Gedenkstätte. Gezeigt wurde Filmmaterial, das die Amerikaner nach der Befreiung angefertigt haben. Leichenberge, fast verhungerte KZ-Insassen und die Weimarer Bevölkerung, die auf Anordnung der Amerikaner durch das Lager geführt wurde, um zu sehen, was dort passiert war. Der Spiegel hat ein Interview mit einer Frau, die als 17jährige Teil dieses KZ-Besuches war. Ich war sieben Mal bei den Weimartagen. Ich sage immer, dass die Weimartage das einzige Gute sind, was die FDJ zustande gebracht hat. Sechs Mal war ich mit im KZ. Einmal habe ich geschwänzt. Man möge es mir verzeihen. Ich kannte da schon jedes Detail. Ich habe die Öfen gesehen, die Schrumpfköpfe, die Lampenschirme aus Menschenhaut.5
Obligatorische Besuche in KZs
Meine Mutter hat einen großen Teil ihrer Jugend in Jena verbracht. Im Rahmen ihrer Jugendweihe war sie Ende der 50er Jahre auch im KZ Buchenwald. Der Besuch eines Konzentrationslagers war für alle Schülerinnen und Schüler in der DDR obligatorisch. (Siehe Wikipedia-Artikel zu Jugendstunden, die in Vorbereitung auf die Jugendweihe stattfanden.)
Die Berliner und Brandenburger Schüler waren alle im KZ Sachsenhausen. Ich war dort wahrscheinlich in der 8ten Klasse. Es gab (und gibt) in Sachsenhausen Ausstellungsteile, die auf das Leid der jüdischen Bürger hingewiesen haben: Die Baracke 38 war das „Museum des Widerstandskampfes und der Leiden jüdischer Bürger“.
Ich war außerdem noch in Lublin-Maidanek (1984 bei einer Reise im Rahmen einer Schulpartnerschaft in Polen). Ich habe die Baracken mit den deutschen Aufschriften gesehen. Ich habe die Haare und die Schuhe gesehen. Baracken voll damit.
(Nachtrag vom 19.06.2024: Ines Geipel war selbst auch in Buchenwald. 1974 zur Jugendweihe. So steht es in ihrem 2019 erschienenen Buch Umkämpfte Zone.)
Zeitzeugen
Auch Zeitzeugen spielten im Osten eine Rolle. Wie schon gesagt, wurden sie z.B. in Schulen eingeladen. Meine Mutter berichtete mir von einem Konzertabend 1959 im Volkshaus Jena, bei dem die Pianistin ihre eintätowierte KZ-Nummer gezeigt hat. Sie hat nur überlebt, weil sie für die Nazis gespielt hat.
Holocaust im West-Fernsehen
Die amerikanische Mini-Serie Holocaust wurde im Jahr 1979 im West-Fernsehen gezeigt (da sich einige Sendeanstalten der ARD weigerten, die Serie im Hauptprogramm zu zeigen, kam sie dann in den dritten Programmen). Da bis auf die Sachsen im Tal der Ahnungslosen alle DDR-Bürger West-Programme empfangen konnten, dürften einige die Serie gesehen haben. Nein, jetzt bitte keinen Zusammenhang zwischen schlechtem Fernsehempfang und Wahl von Nazi-Parteien herstellen.
Der Begriff Holocaust wurde durch diesen Film sowohl im Osten als auch im Westen bekannt. Im Osten wurde sonst von Völkermord gesprochen.
Wiederaufbau der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin
Eine vollständige Wiederherstellung in den Originalzustand wurde verworfen – sie hätte als Versuch missverstanden werden können, die Leiden der Vergangenheit zu verdrängen und womöglich zu vergessen. Die Absicht war aber, mit dem Gebäude gleichzeitig ein Mahnmal zur ständigen Erinnerung zu erhalten.
Jüdische Personen in einflussreichen/sichtbaren Positionen
Es gab in der DDR viele einflussreiche und bekannte jüdische Familien. Es gab Minister oder ansonsten hochstehende Funktionäre.
Einige Funktionäre sind hier aufgezählt:
Alexander Abusch (Parteivorstandes der SED, Vizepräsident des Kulturbundes und hauptamtlicher Mitarbeiter des Zentralkomitees der SED, Kulturminister, IM)
Helmut Aris (Präsident des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Mitglied des Präsidiums des Nationalrates der Nationalen Front, Verdienstmedaille der DDR, Ernst-Moritz-Arndt-Medaille der Nationalen Front, Vaterländischer Verdienstorden, Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden, Deutsche Friedensmedaille, IM)
Ellen Brombacher (Sekretär für Kultur in der SED-Bezirksleitung Berlin, sie hatte damit wesentlichen Einfluss auf alle Kultureinrichtungen von Ost-Berlin, Banner der Arbeit, Vaterländischer Verdienstorden in Bronze, Dr.-Theodor-Neubauer-Medaille)
Hermann Axen (Sekretär des ZK der SED, Mitglied des Politbüros)
Albert Norden (Professor für neuere Geschichte, Sekretär des ZK der SED, Mitglied des Politbüros, Autor Braunbuch)
Horst Brasch (stellvertretender Minister für Kultur)
Klaus Gysi (Minister für Kultur, Staatssekretär für Kirchenfragen)
Markus Wolf (Generaloberst, Leiter des Auslandsnachrichtendienstes HVA bei der Stasi)
Friedrich Karl Kaul (Anwalt in Ost und West, Professor und Nationalpreisträger, organisierte Zusammenarbeit der RAF-Anwälte mit Stasi)
Hans Rodenberg (Rodenberg war 1952 bis 1956 Hauptdirektor des DEFA-Studios für Spielfilme, 1956–1960 Dekan an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg; ab 1958 Professor, stellvertretender Kulturminister (1960–1963), Mitglied des Staatsrats, der Volkskammer und des Zentralkomitees der SED. 1969–1974 Vizepräsident der Akademie der Künste, Berlin (Ost))
Ich habe hier auch die Zusammenarbeit mit der Stasi als Inoffizieller Mitarbeiter immer mit angegeben, weil das ja auch ein spezielles Vertrauensverhältnis impliziert. Mitunter war die IM-Tätigkeit nur zeitweise. Die Details finden sich in den Wikipedia-Einträgen.
Journalisten:
Max Kahane (Mitgründer des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes (ADN), später Stellvertretender Direktor, stellvertretender Chefredakteur der Berliner Zeitung, Chefkommentator des Neuen Deutschlands)
Andere bekannte und einflussreiche Intellektuelle waren:
Schriftsteller
Peter Edel (Schriftsteller und Grafiker, Mitglied des P.E.N.-Zentrums der DDR und 1978 Vorstandsmitglied des Deutschen Schriftstellerverbandes, Heinrich-Heine-Preis des Ministeriums für Kultur der DDR, Vaterländischer Verdienstorden in Gold, Nationalpreis der DDR, vom MfS beobachtet, dann selbst IM)
1979: Karl-Marx-Orden
Stephan Hermlin (Schriftsteller, Übersetzer, Redakteur Ulenspiegel, Aufbau sowie Sinn und Form, enger Freund von Honecker, Protest gegen Biermann-Ausbürgerung),
Wieland Herzfelde (Professor für Soziologie der modernen Weltliteratur in Leipzig, Präsident des P.E.N.-Zentrums der DDR)
Anna Seghers (Schriftstellerin, Präsidentin des Schriftstellerverbands der DDR, Nationalpreisträgerin),
Maxi Wander (Ihr Porträtband „Guten Morgen, du Schöne“ war eines der erfolgreichsten Bücher in der DDR.)
Max Zimmering (Von 1949 bis 1953 Landesvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) Sachsen, von 1950 bis zu dessen Auflösung 1952 Abgeordneter im Sächsischen Landtag, anschließend bis 1958 Abgeordneter im Bezirkstag des Bezirks Dresden. Von 1952 bis 1956 1. Vorsitzender des Deutschen Schriftstellerverbands im Bezirk Dresden, 1956 bis 1958 1. Sekretär des Deutschen Schriftstellerverbands in Berlin. Von 1958 bis 1964 Direktor des Instituts für Literatur „Johannes R. Becher“ in Leipzig. 1963 Kandidat des ZK der SED. 1968 Kunstpreis der DDR, 1969 den Nationalpreis der DDR)
Arnold Zweig (Schriftsteller, Nationalpreisträger, Präsident der Deutschen Akademie der Künste der DDR, Präsident des Deutschen P.E.N.-Zentrums Ost und West)
Musiker
Wolf Biermann (Liedermacher, lebte ab 1953 in der DDR, sollte für die Stasi angeworben werden, war SED-Kandidat, hat sich dann aber in den 60ern systemkritisch geäußert und wurde nicht in die SED aufgenommen und Ziel von Zersetzungsmaßnahmen der Stasi und letztendlich ausgebürgert, Margot Honecker hatte als Kind mehrere Jahre in Biermanns Familie gelebt.)
Paul Dessau (Musiker, Professor in Dessau, arbeitete mit Brecht am Berliner Ensemble, Vizepräsident Deutschen Akademie der Künste in Berlin (Ost))
Hanns Eisler (Professur für Komposition in Berlin)
Louis Fürnberg (Komponist, Text und Melodie des Lieds der Partei, Erster Botschaftsrat (Kulturattaché) der tschechoslowakischen Botschaft in Ost-Berlin, später Weimar)
Andrej Hermlin (Musiker, am 7.10.1989 zum Konzert bei Feier mit Honecker)
André Herzberg (Sänger und Texter für die Rockband Pankow),
Lin Jaldati (Sängerin, die jiddische Volkslieder sang, Kunstpreis der DDR, Vaterländischer Verdienstorden in Bronze, Silber und Gold, Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden in Gold)
Toni Krahl (Sänger von City, einer der erfolgreichsten Band im Osten und auch international erfolgreich, saß nach 1968 im Gefängnis wegen Protesten gegen den Einmarsch der Russen in Prag, seit 1975 bei City, ab 1988 Vorsitzender der Sektion Rockmusik beim Komitee für Unterhaltungskunst)
Martin Schreier (Sänger bei Stern Meißen, später Stern-Combo Meißen war der Sohn jüdischer Remigranten, die in Belgien im Widerstand gewesen waren)
Maler/Fotografen/Grafiker
Sibylle Boden-Gerstner (Kostümbildnerin, Malerin und Modejournalistin, Gründerin der Modezeitschrift Sibylle, Mutter von Daniela Dahn)
Lea Grundig (Malerin und Grafikerin, Professur für Grafik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, Professur für Grafik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, Mitglied der Akademie der Künste der DDR, von 1964 bis 1970 Präsidentin des Verbandes Bildender Künstler., ab 1967 Mitglied des Zentralkomitees der SED)
John Heartfield (Helmut Herzfeld, Nationalpreis für Kunst und Literatur, Professor)
Filmschaffende
Konrad Wolf (Regisseur u.a. „Solo Suny“, Präsident der Akademie der Künste der DDR)
Wissenschaftler
Ernst Bloch (Philosoph Uni Leipzig, Nationalpreis der DDR)
Victor Klemperer (Professor Dresden, Greifswald, Wittenberg, HU Berlin: Literaturwissenschaftler und Romanist, Ehrendoktor Dresden, Nationalpreisträger, Abgeordneter der Volkskammer, zu LTI siehe oben)
Ingeborg Rapoport (Professorin für Pädiatrie und Inhaberin des ersten europäischen Lehrstuhls für Neonatologie, Verdienter Arzt des Volkes, Vaterländischer Verdienstorden in Bronze und Silber, zusammen mit anderen Ärzten den Nationalpreis der DDR III. Klasse für Wissenschaft und Technik für ihren Beitrag zur Senkung der Säuglingssterblichkeit in der DDR. Sie zählte über die Wissenschaftsgemeinde in der Deutschen Demokratischen Republik hinaus zu den renommiertesten Kinderärzten ihrer Zeit.)
Samuel Mitja Rapoport (Arzt und Biochemiker, Direktor des Instituts für Biologische und Physiologische Chemie an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR gewählt. Er erhielt mehrere Ehrendoktorate. Zahlreiche staatliche Auszeichnungen)
Tom Rapoport (Prof. am Zentralinstitut für Molekularbiologie der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Buch beziehungsweise an dessen Nachfolgeeinrichtung, dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Seit Januar 1995 ist er Professor für Zellbiologie an der Medizinischen Fakultät der Harvard University in Boston.)
die Rapoports (Mediziner, Naturwissenschaftler*innen),
die Herzbergs (Andre Herzberg Sänger und Texter für die Rockband Pankow, Mutter Staatsanwältin, Vater Rundfunkjournalist, Wolfgang Herzberg Autor),
die Simons Hermann Simon (praktizierender Jude und Historiker)
Diskussion
Das war der Osten. Im Osten kam man als Schüler nicht am Holocaust vorbei. Ich war übrigens auch bei Führungen in einer jüdischen Synagoge in Berlin. Ich wusste, dass es in Ost-Berlin noch zweihundert in der jüdischen Gemeinde organisierte Juden gab. Und ich wusste auch, warum das so wenige waren.
Zum Vergleich möchte ich von einem persönlichen Erlebnis in einer süddeutschen Stadt Ende der 90er Jahre berichten. Wir durften bei Nachbarn von Bekannten übernachten. Dort hing an der Wand ein Bild des Vaters in Uniform. Waffen-SS. Mit Totenkopfsymbol. Eine ganz normale nette Nachbarin (Lehrerin), die andere in ihrer Wohnung wohnen lässt. Kein normaler Mensch hätte sich im Osten seinen Vater in SS-Uniform ins Wohnzimmer gehängt. So etwas hätte es im Osten nie gegeben. Nie. [Inzwischen ist mir noch ein weiterer solcher Fall bekannt.]
Kahane schreibt weiter: „Dies [die Auseinandersetzung mit dem Holocaust] hätte zu Fragen nach Menschenrechten oder Minderheitenschutz geführt, die nur bei Strafe des Untergangs der DDR zu beantworten gewesen wären.“ Das ist einigermaßen bizarr, denn damit relativiert sie den Holocaust. In der DDR wäre niemand im Traum darauf gekommen, so ein bisschen Redefreiheit und Publikationsfreiheit, Reisefreiheit mit der systematischen Ermordung von Millionen Menschen zu vergleichen. Solche Einschränkungen zu erklären, war für die Staatsmacht kein Problem. Sie wurden ja sogar auch damit erklärt, dass verhindert werden sollte, dass sich so etwas wiederholt. Damit das ganz klar ist: Ich war 1989 auf der Straße für Redefreiheit, Reisefreiheit und nicht als Stasi-Mitarbeiter. Ich verstehe nicht, warum Kahane schreibt, was sie schreibt. Es entspricht jedenfalls nicht der Wahrheit.
Auch legt ihr Satz nahe, dass es in der DDR keine Diskussionen über Menschenrechte gegeben hätte. Es gab sehr wohl Menschen, die sich mit Fragen der Menschenrechte beschäftigt haben. Die Initiative für Frieden und Menschenrechte wurde 1986 offiziell gegründet. Vorher gab es Gruppen, meist unter dem Dach der Kirche organisiert aber nicht notwendigerweise religiös, die den Einsatz für Menschenrechte als ihr Hauptanliegen sahen. Dafür brauchte es keine Holocaust-Diskussion.
„Lügenpresse“ bzw. Pfuschpresse
Der Westen wundert sich, warum der Osten sich anders benimmt, als man das vielleicht erwarten würde. Ein Grund dafür sind solche Artikel in der Presse. Sieht man vom Neuen Deutschland ab, gibt es keine Ost-Presse mehr. Die West-Medien haben immer nur über den Osten geschrieben. Die Wessis haben über die Ossis geredet, nicht mit ihnen. Das beginnt sich nun gerade zu ändern. Es gibt tolle Artikel von Anja Maier, Simone Schmollack und Sabine am Orde in der taz6, gute Artikel im Spiegel, von Sabine Rennefanz in der Berliner Zeitung und auch die Zeit ist aktiv um Änderungen bemüht. Aber die oben zitierten Beiträge enthalten grobe Unwahrheiten und das macht die, über die geredet wird, wütend. Es verletzt sie, sie wenden sich ab und sind nicht mehr erreichbar. Ein Viertel der Menschen, die in diesem Land leben. Unglaublich, oder?
Es ist ein Armutszeugnis, dass die FAZ einen Artikel wie den von Geipel einfach so veröffentlicht. Wenn sie irgendwas über den Osten wüssten, wüssten sie eben auch, wie die Schulbildung aussah, was die Menschen gemacht und gedacht haben. Ich habe für das Schreiben dieses Artikels einen Sonntag gebraucht. Die Quellen sind im Netz verfügbar. Es gibt sogar ein Buch, das sich mit dem Holocaust im DDR-Unterricht auseinandersetzt. Wenn es der FAZ wichtig wäre, würden sie Menschen einstellen, die das nötige Wissen für entsprechende Diskussionen haben. So ist es einfach nur unterirdisch.
Wenn Ostdeutsche behaupten, der Holocaust wäre in der DDR nicht thematisiert worden, dann gibt es dafür zwei mögliche Gründe: Sie verfolgen politische/persönliche Ziele und lügen bewusst oder sie haben die Behandlung des Holocaust vergessen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.
Nachtrag
Auch Jan Feddersen von der taz versucht in seinem Interview mit Daniel Rapoport immer wieder aus diesem Statements zum angeblichen Antisemitismus in der DDR herauszukitzeln, bekommt aber Antworten, die dem hier Gesagten entsprechen (aber besser formuliert sind). Jakob der Lügner und der Bau der Synagoge werden erwähnt.
Literatur
Bodo von Borries
Dahn, Daniela. 2019. Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute: Die Einheit – eine Abrechnung. Hamburg: Rowohlt Verlag.
Ich habe nach der Erstellung einer Entwurfsfassung dieses Textes mit vielen Menschen gesprochen bzw. Mail ausgetauscht und den Text dann entsprechend angepasst. Dafür danke ich ihnen. Besonderer Dank geht an XY für den Hinweis, mal nach Plastiken und Briefmarken zu suchen. Über die Wikipediaseite zu den Briefmarken bin ich dann auch auf die Plastiken von Will Lambert gestoßen. Ich danke der Willi-Bredel-Gesellschaft für prompte Auskunft zu Erscheinungsdaten der Frühlingssonate.
Johann Niemann, der Lagerkommandant des Vernichtungslagers Sobibor, in dem 180.000 Juden ermordet wurden steht auf dem Kriegerdenkmal im ostfriesischen Völlen mit der Inschrift „Unseren gefallenen Helden“. taz, 26.02.2020
Im ersten Post in diesem Blog geht es um einen Witz. Ich habe ihn zuerst von einem lieben Freund aus Schwaben gehört und fand ihn damals noch ein bisschen lustig.
Frage: „Was macht die Mutter in Brandenburg, wenn sie ins Kinderzimmer geht?“
Antwort: „Mal nach dem Rechten sehn.“
Toller Witz, tolles Klischee. Warum gibt es diesen Witz nicht mit Dortmund? Die taz berichtete über den Kiez Dorstfeld in Dortmund, in dem Hardcore-Nazis wohnen, demonstrieren, Menschen verprügeln. An den Häusern gibt es Nazi-Parolen. Der Vermieter weigert sich, diese entfernen zu lassen. Also:
Frage: „Was macht die Mutter, wenn sie ihren Sohn in Dortmund besucht?”
Antwort: „Mal nach dem Rechten sehn.“
Nicht lustig? In Dortmund gibt es auch noch Menschen, die keine Nazis sind? Echt? Oh, Entschuldigung, da war meine Wahrnehmung wohl etwas einseitig. Immer, wenn ich in der taz was über Dortmund lese, geht es um soziale Probleme im Ruhrgebiet und über die Nazis dort.
Meine Kinder erzählen die Witze, die wir uns als Ostfriesenwitze erzählt haben mit Dummsdorf statt mit Ostfriesland. Ich weiß nicht, ob die Ostfriesen unter den Witzen gelitten haben, aber es ist irgendwie besser mit Dummsdorf. Leider funktioniert der Witz mit Dummsdorf nicht so gut.1 Man sollte ihn wohl deshalb einfach nicht mehr machen.
Vorsicht: Post kann Spuren von Ironie enthalten.