Das leidige Thema: Diskussion

Prof. Dr. Hei­de Wege­ner hat auf mei­nen Kom­men­tar zu ihrem WeLT-Arti­kel geant­wor­tet und ich dis­ku­tie­re hier eini­ge Punkte. 

Ost-Frau­en erklä­ren mir, sie hät­ten „das nicht nötig“, das = die For­men der Gen­der­spra­che, und ich den­ke, sie haben recht. Ich bewun­de­re sie dafür, dass sie viel frü­her als die im Wes­ten nicht nur Fri­seur, son­dern auch Mecha­ni­ker lern­ten und nicht nur Päd­ago­gik und Kunst­ge­schich­te stu­dier­ten, son­dern auch Maschi­nen­bau und Phy­sik. Und anstatt den Kin­dern For­men wie dem/*der Patient*in bei­zu­brin­gen, soll­ten die Leh­rer sie bes­ser dazu ani­mie­ren, auch die MINT-Fächer zu studieren.

Ja, ganz genau so habe ich auch Jahr­zen­te lang gedacht. Das ist ja auch in mei­nem ers­ten Blog-Post zu dem The­ma (Gen­dern, arbei­ten und der Osten) beschrie­ben. Nach der Wen­de haben die Ost­frau­en die West­frau­en über­haupt nicht ver­stan­den, weil sie deren Pro­ble­me über­haupt nicht hat­ten. Wie Du sagst, liegt das eigent­li­che Pro­blem viel tie­fer, das bedeu­tet aber nicht, dass man nicht das, was man tun kann, schon machen kann. Ich kann nicht für mehr Kin­der­gar­ten­plät­ze sor­gen, aber ich kann weib­li­chen und diver­sen Student*innen1 signa­li­sie­ren, dass sie wert­ge­schätzt wer­den. (Eini­ge, sehr weni­ge, kann ich auch ein­stel­len. Das habe ich auch getan. Auch fle­xi­ble Lösun­gen mit Kin­der­aus­zei­ten gefun­den usw. Aber dar­über hin­aus kann man eben noch Gendern.)

Der ange­führ­te Test prüft musi­ci­an, also For­men im Sin­gu­lar – und damit ist er völ­lig wert­los, was gene­ri­sche Les­art angeht, denn im Sin­gu­lar sind die Nomen nur in amt­li­chen Tex­ten gene­risch, sonst fast nie (Mit dem Abitur erwirbt der Schü­ler…). Das zei­gen auch die Ergeb­nis­se des ange­führ­ten Tests S. 3 : „Es ergibt sich, dass Sin­gu­lar­for­men bei­der Wort­klas­sen zu 83 Pro­zent als „männ­lich“, Plu­ral­for­men aber zu 97 Pro­zent  als „neu­tral“ bewer­tet wer­den. Im Plu­ral gel­ten Berufs­be­zeich­nun­gen zu 94, Rol­len­be­zeich­nun­gen sogar zu 99 Pro­zent als „neu­tral““.  Kon­se­quenz: Im Sin­gu­lar muss man die movier­te Form benut­zen. Des­halb lässt sich auch der Chir­ur­gen­text nicht aufs Deut­sche über­tra­gen. Nie­mand wür­de eine Chir­ur­gin (im refe­ren­zi­el­len Modus!) mit Chir­urg bezeich­nen, nicht mal Ost­frau­en.  Die unter­schei­den sehr genau zwi­schen refe­ren­zi­el­ler und gene­ri­scher Les­art: „Ich bin / sie ist Arzt – aber: Mei­ne Ärz­tin meint

Man kann den Text über­tra­gen: „Einer der Chir­ur­gen soll ope­rie­ren, sagt aber: ‚Ich kann nicht, das Kind ist mein Sohn.’“ Ja, aber dann ist es Plu­ral, wie Du sagst.

Aber auch die Tests mit Plu­ral­for­men bestä­ti­gen nicht die Behaup­tung von Femi­nis­ten, gene­ri­sche Mas­ku­li­na wür­den eher spe­zi­fisch als ‚männ­lich‘ ver­stan­den, weder die ori­gi­na­len Tests von 2001 oder 2008 noch die von Schunack/Binanzer durch­ge­führ­ten Unter­su­chun­gen, s. ZS 2022. Es gibt kei­nen Grund, das GM zu mei­den. Im Gegen­teil: Die bes­te Art, die Kern­be­deu­tung von Berufs-und Rol­len­be­zeich­nun­gen aus­zu­drü­cken, ist die unmar­kier­te Grund­form, Freund, Arzt, Viro­lo­ge. Da die­se For­men kein Merk­mal für Geschlecht ent­hal­ten, unter­spe­zi­fi­ziert also sind, schlie­ßen sie alle Geschlech­ter ein und sind dadurch inklu­siv. Auch das Suf­fix der Nomi­na agen­tis -er ist kein Merk­mal für ‚männ­lich‘, son­dern für den Agens, im Gegen­satz zu -ling für den Pati­ens, Leh­rer — Lehr­ling. Wäre es anders, dann hät­ten wir in  Lehr-er-in  zwei sich gegen­sei­tig aus­schlie­ßen­de Mor­phe­me hin­ter­ein­an­der, etwas, was es m.W. in natür­li­chen Spra­chen nicht gibt.

Das sind alles klu­ge Gedan­ken. Du und ande­re Linguist*innen kön­nen sich jetzt bis an ihr Lebens­en­de damit beschäf­ti­gen, Lai­en zu erklä­ren, war­um die unge­gen­der­ten For­men per­fekt funk­tio­niert haben. Es wird aber den­noch Men­schen geben, die gen­dern, weil sie einen Bedarf dafür haben. Sie­he unten zur Pragmatik.

Ich bezweif­le auch, ob nicht-binä­re oder homo­se­xu­el­le oder Trans-Men­schen wirk­lich den stän­di­gen Hin­weis auf ihr Anders­sein wol­len. Wol­len die nicht viel­leicht lie­ber ein­fach nur dazu­ge­hö­ren? Mit *For­men im Sin­gu­lar (die Autorin A und die Regisseur*in B)  wer­den (nicht)binäre Men­schen gera­de­zu geoutet. Wol­len die das überhaupt?

Das ist ein inter­es­san­ter Punkt. Ich den­ke, dass auch gera­de in der quee­ren Sze­ne viel gegen­dert wird. Prof. Horst Simon, soweit ich weiß, ein glück­lich ver­part­ner­ter cis-Mann, spricht von sich als Linguist*in. Mit die­ser etwas extre­men Art wäre es dann „die Autor*in A und die Regisseur*in B“. Jun­ge Men­schen stel­len sich in Gesprächs­run­den immer vor und geben zusätz­lich zu ihrem Namen ihr bevor­zug­tes Pro­no­men an. Ich war neu­lich bei einem Tref­fen älte­rer Men­schen (50–70) und eine männ­lich gele­se­ne Per­son stell­te sich mit Namen und Pro­no­men sie vor. Damit wuss­ten alle Bescheid. Auf alle ande­ren männ­lich gele­se­nen Per­so­nen wird mit er ver­wie­sen. Es ist ihre Wahl, wie offen sie leben wollen.

Es geht nicht nur um „Unter­bre­chung und mini­ma­le Ver­zö­ge­rung“, die mas­si­ve Ableh­nung durch die spre­chen­de Mehr­heit beruht u.a. auf der über­trie­be­nen, da inhalt­lich nicht gerecht­fer­tig­ten Expli­zi­tät der Gen­der­for­men. Etwa stellt die Paar­form Schü­ler und Schü­le­rin­nen für Spre­cher, für die ‚Schu­le‘ ganz selbst­ver­ständ­lich Jun­gen und Mäd­chen ein­schließt (in Deutsch­land, nicht in Afgha­ni­stan), kei­nen kom­mu­ni­ka­ti­ven Nut­zen, son­dern eine Zumu­tung dar. Für sie ist die Infor­ma­ti­on, dass neben Schü­lern auch Schü­le­rin­nen …, über­in­for­ma­tiv und führt des­halb zu Ver­druss. Sie ver­stößt gegen die Gri­ce­sche Kon­ver­sa­ti­ons­ma­xi­me der Rele­vanz, vgl. Gri­ce (1975:45): „Do not make your con­tri­bu­ti­on more infor­ma­ti­ve than is requi­red.“ Geglück­te Kom­mu­ni­ka­ti­on setzt vor­aus, dass die Infor­ma­ti­on eine Infor­ma­ti­ons­lü­cke schließt, dass beim Gesprächs­part­ner eine Lücke, Unwis­sen­heit also besteht. Eine Infor­ma­ti­on, die kei­ne Lücke schließt, ist nicht nur über­flüs­sig, sie ist belei­di­gend. Denn so dumm ist der Hörer nicht und will auch nicht so behan­delt werden.

Ja, Ver­druss. Das hat­te ich ja gesagt (Das lei­di­ge The­ma: Gen­dern). Das Gen­dern ver­stößt nicht gegen die Maxi­me der Rele­vanz, denn es geht den Sprecher*innen genau um die­sen Effekt. Mit dem Umweg, der län­ge­ren Form wird etwas aus­ge­sagt. Näm­lich: „Ich, die Sprecher*in, gen­de­re, weil ich möch­te, dass Frau­en und Trans-Per­so­nen expli­zit erwähnt wer­den.“ Es ist ein klas­si­sches Form-Bedeu­tungs­paar mit einer erwei­ter­ten Bedeu­tung und die­se, die­ses Das-immer-wie­der-unter-die-Nase-gerie­ben-Bekom­men nervt.

Wenn es dar­um geht, alle anzu­spre­chen, wie oft behaup­tet, so tun wir das doch schon lan­ge, indem wir Sehr geehr­te Damen und Her­ren oder lie­be Zuschau­er und Zuschaue­rin­nen sagen.

Ja. Wenn wir es sagen. Ich sage es manch­mal in Lehr­ver­an­stal­tun­gen statt Glot­tal­ver­schluss. Dann feh­len die Transpersonen.

Wer so argu­men­tiert und damit „geschlech­ter­ge­rech­te“ Spra­che all­ge­mein recht­fer­tigt, ver­kennt den Unter­schied der drei Funk­tio­nen des Sprach­zei­chens (Orga­non­mo­dell): 

In der Anre­de ist das Sprach­zei­chen Signal und erfüllt die Appell­funk­ti­on. Weit über­wie­gend, wenn wir über jn reden, ist es aber Sym­bol und erfüllt die Dar­stel­lungs­funk­ti­on. Schließ­lich ist es Sym­ptom und erfüllt dann die Aus­drucks­funk­ti­on, sagt etwas über den Spre­cher aus. Und in den meis­ten Fäl­len scheint mir das die eigent­li­che Moti­va­ti­on zu sein: Gen­dern dient der Image­pfle­ge, es soll den Spre­cher als woke, als pro­gres­siv aus­wei­sen. Es ist eine Mode, und Moden sind end­lich. Wer erin­nert sich noch an das Pro­no­men “frau”?

Das ist ein Aspekt. Natür­lich sagt mei­ne Spra­che auch etwas über mich aus. 

Ich erin­ne­re mich noch an „frau“. In der taz kommt es noch ab und zu vor. Auch sehr schön ist „maus“. Da gibt es aber nur eine Autorin, die das benutzt. Bzw. eine Autor*in. =:-)

Natür­li­cher Sprach­wan­del geht anders und hat ande­re Zie­le, noch nie haben kom­pli­zier­te­re For­men die ein­fa­che­ren ver­drängt. Hier liegt Sprach­len­kung, der Ver­such einer Sprach­len­kung vor.

Was ist, wenn Sprach­len­kung von vie­len Men­schen ange­nom­men wird und dann ein­fach Ein­gang in die Spra­che fin­det? Espe­ran­to war eine Plan­spra­che. Künst­lich. Inzwi­schen ist es eine leben­di­ge Spra­che. Und ich fin­de „Leh­rer“ in Dei­nem ers­ten Zitat inzwi­schen schon komisch. Man gewöhnt sich an „Lehrer*innen“ und dann sind die „Leh­rer“ eben nur noch männ­li­che Per­so­nen. Das ist Sprachwandel.

Ob er dau­ert, bis die Frau­en gleich­be­rech­tigt sind? In ande­ren Spra­chen hat man die Suf­fi­xe längst abge­schafft, schon M. That­cher woll­te Prime Minis­ter sein, nicht Ministress.

Oh, je. That­cher als Bei­spiel für irgend­was zu benut­zen, ist so, als wür­de man in der WeLT veröffentlichen.

Sind die Bri­ten frau­en­feind­lich, sind sie noch stär­ker als wir unter­drückt vom Patri­ar­chat? Oder sind sie im Gegen­teil eman­zi­pier­ter als wir? 

Ich habe 1992 in Edin­burgh stu­diert. Ein Dozent, den ich irgend­was zur Ver­wen­dung der Pro­no­mi­na gefragt hat­te, hat mir erklärt, dass man­che auch das Pro­no­men ‘they’ ver­wen­den. Ich habe das damals nicht ver­stan­den, wuss­te es nicht ein­zu­ord­nen. Aber die­se Dis­kus­sio­nen gibt es auch in Groß­bri­tan­ni­en schon sehr lan­ge. Ins­ge­samt fällt das nicht so auf, weil das Eng­li­sche eben viel weni­ger rele­van­te gram­ma­tisch mar­kier­te Unter­schie­de hat.

Die „geschlech­ter­ge­rech­ten“ For­men wer­den als dis­kri­mi­nie­rend emp­fun­den: W. Gold­berg „I’m an actor , I can play any­thing“, Cate Blan­chett lehnt actress ab und besteht sogar als Diri­gen­tin im Film auf der Anre­de Maes­tro, nicht Maes­tra. Nele Pol­lat­schek und Sophie Rois leh­nen die deut­schen For­men ab.

Ich den­ke, das soll­te jede*r machen wie er/sie will. Horst ist eben Linguist*in, ich bin Lin­gu­ist und Du Lin­gu­is­tin. Pri­ma. Es gibt nur dann ein Pro­blem, wenn jemand etwas vor­schrei­ben will. Das soll­te es nicht geben.

In der Schweiz, in der zunächst mehr gegen­dert wur­de als in Deutsch­land, was ver­ständ­lich ist, hat­ten dort die Frau­en doch erst 1971 das Wahl­recht erlangt, wird jetzt eine “Renais­sance des Gene­ri­schen Mas­ku­li­nums“ beob­ach­tet, bei Stu­den­tin­nen unter 25 (s. J. Schrö­ter, A.  Lin­ke, N. Buben­ho­fer 2012: „Ich als Lin­gu­ist“. Eine empi­ri­sche Stu­die zur Ein­schät­zung und Ver­wen­dung des Gene­ri­schen Mas­ku­li­nums, in: Susan­ne Günth­ner u.a. Gen­der­lin­gu­is­tik, Sprach­li­che Kon­struk­ti­on von Geschlechts­iden­ti­tät, Ber­lin: de Gruy­ter, 359–379, DOI :10.1515/9783110272901.359

OK. Sie­he oben. Soll jeder machen, wie sie will. (Das war jetzt lus­tig, oder? =;-)

Ich habe kei­nen Zugang zu Stu­den­tin­nen mehr, kann das aber durch ein­zel­ne Teen­ager bestä­ti­gen. Die fin­den Gen­dern doof und kari­kie­ren es durch die Kür­zel die SuS und die LuL und dann wei­ter zu  die Sus und die Lul.

Nun ja. SuS wird von Lehrer*innen bzw. an den Uni­ver­si­tä­ten in der Lehr­amts­aus­bil­dung auch ver­wen­det. Ist eine übli­che Abkür­zung. Ich habe auch noch mal bei Prof. Bea­te Lüt­ke nach­ge­fragt, die in der Lehrer*innenausbildung arbei­tet. Hier ihre Ant­wort zu SuS und LuL und ihrer Sicht auf das Gendern:

SuS und LuL ver­wen­den zumeist Stu­die­ren­de in Unter­richts­ent­wür­fen, weil sie in den Pla­nungs­ta­bel­len wenig Platz fürs Aus­schrei­ben haben. Die­se Abkür­zun­gen tau­chen also eher im Rah­men schul­prak­ti­scher Mate­ria­li­en für den Ein­satz in Schu­len auf. In der wis­sen­schaft­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on wer­den sie nicht ver­wen­det, bei den Grund­schul­kol­le­gin­nen ist mir das bis­her auch nicht auf­ge­fal­len. Als Refe­ren­da­rin habe ich ‘SuS’ auch in mei­nen tabel­la­ri­schen Unter­richts­ent­wür­fen ver­wen­det, weil es dar­in so vor­ge­ge­ben war; das ist aber 20 Jah­re her.

Ich selbst gen­de­re fle­xi­bel und ver­wen­de Gen­der­for­men wie Lehr­kräf­te, Schüler*innen und set­ze in der Dop­pel­form in die Kasus (‘bei Schü­lern und Schü­le­rin­nen’). Ich mache mir kei­ne Sor­gen, dass die deut­sche Spra­che durchs Gen­dern beschä­digt wird. Mein Lese­fluss wird dadurch nicht gestört :). Mir ist wich­tig, dass sich in mei­nen Uni-Kur­sen alle ein­be­zo­gen und ange­spro­chen füh­len. Eine que­e­re Per­son sag­te mir ein­mal in mei­ner Sprach­bil­dungs­vor­le­sung, dass sie sich durch das Gen­der-* erst­ma­lig in Lehr­ver­an­stal­tun­gen ein­be­zo­gen und ange­spro­chen füh­le. Das hat mich ver­an­lasst, dazu eine Umfra­ge zu machen. Die gro­ße Mehr­heit der Grup­pe hat sich für das * ausgesprochen.

Bea­te Lüt­ke, p. M. 2023.

Außer­dem gibt es Kol­la­te­ral­schä­den. Die schon erwähn­ten For­men  dem*der Arzt*in  (in Papie­ren der Cha­ri­té mas­sen­haft) machen die deut­sche Spra­che nun wirk­lich nicht leich­ter für die (DaF)Lerner.

Ja. Ich schrei­be immer die Ärzt*in. Dann hat man sich die Dis­junk­ti­on beim Arti­kel gespart. For­mal ist das für Grammatiker*innen natür­lich die Höl­le, weil es kei­ne Kon­gru­enz zwi­schen Arti­kel und Nomen mehr gibt, aber dann müs­sen sich die­je­ni­gen, die das model­lie­ren wol­len, eben etwas dafür ausdenken.

Und die­sel­ben Leu­te, die so viel von Dif­fe­ren­zie­rung reden, opfern die durch­aus sinn­vol­le Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen der Bezeich­nung für eine aktu­el­le Tätig­keit und der für die Rol­le: wie kann ich, ohne Gene­ri­sches Mas­ku­li­num, sagen, dass “nicht alle Zuhö­rer auch Zuhö­ren­de waren“? Gilt das Schild  “Rad­fah­rer abstei­gen” nicht auch für mich? Rad­fah­rer bin ich auch dann, wenn ich mein Rad schie­be, aber Rad­fah­ren­de eben nicht mehr. Aber nach dem adfc Ber­lin sind sogar Getö­te­te noch Rad­fah­ren­de, nicht nur an Ostern, dem Fest der Auf­er­ste­hung! Es ist gro­tesk. Und wenn Lin­gu­is­ten sol­che For­men emp­feh­len, ist das beschämend. 

Ja. Das fin­de ich nicht gut und mache ich auch nicht. Das Bei­spiel ist schon älter und von Max Goldt: „In der Lob­by lagen tote Stu­die­ren­de.“ Damit macht man das Par­ti­zip mehr­deu­tig. Das wür­de ich nicht so machen, aber wenn es sich durch­set­zen wür­de, dann wäre es eben so. Ich muss es ja nicht aktiv so ver­wen­den, denn die Form „Student*innen“ gibt es ja auch noch. Ande­rer­seits wird Leh­rer dann eben ein­deu­tig mit Bezug auf männ­lich gele­se­ne Personen.

Bea­te Lüt­ke hat mich auf einen Text von Hel­muth Feil­ke (2022) auf­merk­sam gemacht, der im Wesent­li­chen genau die Punk­te bringt, die ich hier auch ver­tre­ten habe, nur bes­ser for­mu­liert. Der Text weist im Vor­über­ge­hen auch auf ein lus­ti­ges neu­es Pro­blem hin, das sich aus der Ver­wen­dung der Par­ti­zip­for­men ergibt: Im Sin­gu­lar gibt es einen Unter­schied in der Fle­xi­on: ein Stu­die­ren­der vs. eine Stu­die­ren­de.

Soll jetzt die­ser Pro-Gen­dern-Text mit einer Kri­tik an einer der ver­wen­de­ten For­men enden? Nein. Er endet mit einem Ja. Ja, zum fle­xi­blen Gen­dern. Wie das genau geht, hat Hel­mut Feil­ke gut beschrieben.

Quellen

Feil­ke, Hel­muth. 2022. Gen­dern mit Grips statt Schrei­ben in Gips: Prak­ti­sche Argu­men­te für ein fle­xi­bles Gen­dern. Deutsch. 1–7. https://www.friedrich-verlag.de/fileadmin/fachwelten/deutsch/ blog-downloads/Gendern_Essay-Fassung.pdf.

Das leidige Thema: Gendern

Heu­te Nacht habe ich von Prof. Dr. Hei­de Wege­ner eine Mail mit dem Betreff „Das lei­di­ge The­ma“ bekom­men. Hei­de Wege­ner schreibt immer wie­der in der WeLT zu die­sem lei­di­gen The­ma. Sie hat mir ein PDF eines WeLT-Arti­kels (pay­wall) geschickt, der eine kür­ze­re Ver­si­on eines Auf­sat­zes ist, der in einem lin­gu­is­ti­schen Sam­mel­band erschei­nen wird.

Ich gen­de­re und habe das in einem Blog­post hier schon erklärt (Gen­dern, arbei­ten und der Osten). Wie ich da geschrie­ben habe, bin ich der Mei­nung, dass die Fra­ge der Gleich­stel­lung eine öko­no­mi­sche ist und dass es des­halb wich­tig ist, die Infra­struk­tur, die Fami­li­en brau­chen, damit alle arbei­ten kön­nen, aus­zu­bau­en und zu finanzieren.

Hier eini­ge kur­ze Kom­men­ta­re zu Hei­de Wege­ners Artikel:

Wege­ner beschäf­tigt sich mit dem gene­ri­schen Mas­ku­li­num und mit Stu­di­en, die zei­gen sol­len, dass es sich nur auf Mas­ku­li­na bezie­hen wür­de. Ich habe das Gen­dern selbst lan­ge abge­lehnt und dann aber, weil ich durch Prof. Dr. Hen­ning Lobin (Lei­ter des Insti­tuts für Deut­sche Spra­che in Mann­heim) auf fol­gen­de Stu­die auf­merk­sam gewor­den bin, mit dem Gen­dern begonnen:

Stahl­berg, Dag­mar, Sabi­ne Sczes­ny & Frie­de­ri­ke Braun. 2001. Name your favo­ri­te musi­ci­an: Effects of mas­cu­li­ne gene­rics and of their alter­na­ti­ves in Ger­man. Jour­nal of Lan­guage and Social Psy­cho­lo­gy 20(4). 464–469. DOI: 10.1177/0261927X01020004004.

Ich weiß noch genau, wie ich mich im DFG-Fach­kol­le­gi­um mit Prof. Hel­muth Feil­ke über die Expe­ri­men­te unter­hal­ten habe und er mein­te, dass das nicht so ein­fach wäre, denn, was man expe­ri­men­tell nach­wei­sen wür­de, wären Kli­schees. Das wür­de auch im Eng­li­schen funk­tio­nie­ren, wo es die ent­spre­chen­den Endun­gen ja gar nicht gibt. Hier ist das ent­spre­chen­de Bei­spiel, das auf die Psy­cho­lo­gin­nen Mikae­la Wap­man und Debo­rah Bel­le zurückgeht. 

Hei­de Wege­ner dis­ku­tiert nun eini­ge Bei­spie­le, die genau das auch für das Deut­sche zeigen.

Eins der Expe­ri­men­te, die betrach­tet wer­den, bestand dar­in, dass Proband*innen Schauspieler*innen, Politiker*innen und Superheld*innen nen­nen soll­ten. Dabei wur­de die Auf­ga­be immer mit gene­ri­schem Mas­ku­li­num, als Paar­form (Poli­ti­ker und Poli­ti­ke­rin­nen) und mit gro­ßem I gestellt.

Dies Ergeb­nis ist von grundsätzlicher Bedeu­tung, zeigt es doch: Real exis­tie­ren­de Ver­tre­ter, zumal in Spit­zen­po­si­tio­nen, mit Bildschirmpräsenz (Kanz­le­rin, Fuß­ball­star), wir­ken prägend, beein­flus­sen Bedeu­tung und Veränderung von Berufs- und Rol­len­bil­dern stärker als sprach­li­che Änderungen. Die Grund­an­nah­me der Femi­nis­ti­schen Lin­gu­is­tik, Spra­che deter­mi­nie­re das Den­ken und die­ses dann die sozia­le Realität, wird hier vom Kopf auf die Füße gestellt.

Dass die Wirk­lich­keit unse­re Kli­schees formt, hat wohl nie­mand jemals wirk­lich in Fra­ge gestellt. Dass die Art, wie wir über Per­so­nen und Din­ge reden, die Welt beein­flusst, wird wohl aber auch kei­ne Sprachwissenschaftler*in ernst­haft abstrei­ten wol­len. Das Stich­wort ist Framing und jede Linguist*in soll­te das Buch LTI von Vic­tor Klem­pe­rer ken­nen, der sich mit der Spra­che der Nazis aus­ein­an­der­setzt. Auch heu­te wird bewusst von Flücht­lings­strö­men, Mes­ser­män­nern und so wei­ter gespro­chen. Spra­che beein­flusst unser Den­ken, das lässt sich nicht von der Hand wei­sen, auch wenn es einem beim Gen­dern gera­de nicht passt.

Setzt man den Ost-West-Unter­schied im Gebrauch von Gen­der­spra­che, die nach Ent­ste­hung und Ver­brei­tung ein eher west­deut­sches Phänomen ist, in Rela­ti­on zu den Zah­len für den Gen­der Pay Gap in den alten und neu­en Bundesländern, so zeigt sich: Wo gegen­dert wird, ist die Lohnlücke größer (alte Bundesländer 19 Pro­zent, neue Bundesländer 6 Pro­zent, unbe­rei­nigt). Der behaup­te­te eman­zi­pa­to­ri­sche Effekt von Gen­der­spra­che erscheint als from­me Schimäre.

Die­se Aus­sa­ge ist inter­es­sant, nur dass das Eine nichts mit dem Ande­ren zu tun hat. Ein Ziel des Gen­derns ist es, Wert­schät­zung für Frau­en und Trans-Men­schen aus­zu­drü­cken, sie sicht­bar zu machen. Gera­de auch dort, wo sie ent­spre­chend der Kli­schees nicht erwar­tet sind. Der Gen­der Pay Gap ist die unter­schied­li­che Ent­loh­nung für die­sel­be Arbeit. Eine Frau bekommt auf der­sel­ben Stel­le weni­ger als ein gleich qua­li­fi­zier­ter Mann. Pro­fes­so­rin­nen bekom­men oft weni­ger als Pro­fes­so­ren, auch weil sie das selbst anders verhandeln. 

Schaut man sich den geo­gra­phi­cal pay gap, den Unter­schied in der Bezah­lung zwi­schen West und Ost für glei­che Arbeit an, so liegt der bei 22,5%. Dirk Osch­mann schreibt Fol­gen­des zu den Details:

Bei Tex­til­fir­men sind die unge­heu­er­li­chen Unter­schie­de mit 69,5 Pro­zent am größ­ten, aber auch die belieb­te Auto­in­dus­trie kann sich mit 41,3 Pro­zent noch sehen las­sen, gefolgt von Maschi­nen­bau mit 40,4 Pro­zent, der Her­stel­lung von IT-Gütern mit 39,8 Pro­zent und der Schiff­fahrt mit 38,9 Pro­zent. Und natür­lich bekommt der Osten signi­fi­kant weni­ger oder gar kein Weih­nachts­geld, wie der Spie­gel im Novem­ber 2022 meldet.

Dirk Osch­mann, 2022, Der Osten – Eine West­deut­sche Erfin­dung, S. 66

Das bedeu­tet, das Frau­en und Män­ner ohne­hin schon weit unter dem West-Niveau bezahlt wer­den. Am größ­ten ist der Unter­schied übri­gens in einem klas­si­schen Frau­en­be­ruf: im Tex­til­be­reich bei den Näher*innen. Dass ein Mann in die­sem Bereich dann nur unwe­sent­lich mehr ver­dient … Tja. Viel­leicht ist die Aus­beu­tung im Osten dann ins­ge­samt so groß, dass man die Frau­en schlecht noch schlech­ter bezah­len kann. Ein kon­kre­tes Bei­spiel aus mei­ner Ver­wandt­schaft: Eine Frau arbei­tet als Ver­käu­fe­rin und fährt mit dem Fleisch­wa­gen übers Land. Wenn sie das Ren­ten­ein­tritts­al­ter erreicht haben wird, wird sie die Min­dest­ren­te bekom­men, denn das Geld, das sie in die Ren­ten­ver­si­che­rung ein­ge­zahlt hat, reicht nicht für mehr und das, obwohl sie ihr Gan­zes Leben Voll­zeit gear­bei­tet hat. Wenn man vor die­sem Hin­ter­grund einen Arti­kel mit dem Titel Wo gegen­dert wird, ist die Lohn­lü­cke grö­ßer in der Sprin­ger-Pres­se ver­öf­fent­licht, ist das an Zynis­mus eigent­lich nicht zu über­bie­ten. Aber wahr­schein­lich ist es ein­fach nur Unwis­sen­heit: Der Osten ist so weit weg, selbst für Professor*innen, die mit­ten drin wohnen.

Die Unter­schie­de zwi­schen West- und Ost-Gesell­schaft sind so gewal­tig, dass Wege­ners Ver­gleich des Gen­der Pay Gaps ohne wei­te­re Auf­schlüs­se­lung rele­van­ter Fak­to­ren ein­fach unzu­läs­sig ist. Im Osten krie­gen die Frau­en seit der Wen­de weni­ger Kin­der, was viel­leicht der Kar­rie­re för­der­lich ist. Die Kin­der­ver­sor­gung all­ge­mein ist bes­ser. In Bay­ern kann Mut­ti das Kind in der Kita abge­ben und dann den Ein­kauf erle­di­gen. Mit­tags kom­men die Kin­der zurück. Im Osten sind Ein­rich­tun­gen mit Ganz­tags­be­treu­ung die Norm (Krip­pe, Kin­der­gar­ten, Schule+Hort). Dass Frau­en Voll­zeit arbei­ten, ist nor­mal. All das müss­te man in Über­le­gun­gen ein­be­zie­hen. Was Wege­ner ver­glei­chen müss­te, ist eine West­deut­sche Gesell­schaft mit und ohne Gen­dern. Das ist nicht so ein­fach, aber viel­leicht gibt es gesell­schaft­li­che Berei­che, in denen man die Aus­wir­kung von inklu­si­ver Spra­che expe­ri­men­tell nach­wei­sen kann.

(Nach­trag vom 20.05.2023: Der MDR hat erklärt, wodurch der gerin­ge­re unbe­rei­nig­te Gen­der-Pay-Gap im Osten zustan­de kommt: Deutsch­land­kar­te zum Gen­der Pay Gap: Lohn­lü­cke im Osten klei­ner. Es liegt dar­an, dass Män­ner im Osten in schlech­ter bezahl­ten Beru­fen arbei­ten. Die gut bezahl­ten Indus­trie-Jobs sind im Wes­ten. Ossis arbei­ten z.B. bei Lager­wirt­schaft, Post und Zustel­lung, Frau­en in ver­gleichs­wei­se bes­ser bezahl­ten Beru­fen wie in der Ver­wal­tung. Der berei­nig­te Gen­der-Pay-Gap [glei­cher Beruf, glei­che Qua­li­fi­ka­ti­on] liegt bei 10,8 % im Osten und 15,3 % im Wes­ten, ein Unter­schied von nur 4,5%, der sich viel­leicht über die von mir oben ange­spro­che­nen Fak­to­ren erklä­ren lässt.)

Das wirft die Fra­ge auf, ob gene­ri­sche und gegen­der­te Sprach­for­men gleich­wer­tig sind. Für die­se Annah­me spricht das der­zei­ti­ge Neben­ein­an­der bei­der For­men: Die meis­ten Deutsch­spre­cher wech­seln heu­te pro­blem­los zwi­schen dem gene­ri­schen Mas­ku­li­num und geschlech­ter­ge­rech­ter Spra­che hin und her, sie gebrau­chen pas­siv in den Medi­en Gen­der­for­men, aktiv aber wei­ter das gene­ri­sche Mas­ku­li­num – ohne Verständigungsprobleme.

Dass es beim gene­ri­schen Mas­ku­li­num Ver­stän­di­gungs­pro­ble­me geben wür­de, hat nie­mand behaup­tet, die Kom­mu­ni­ka­ti­on funk­tio­nier­te in den letz­ten Jahr­hun­der­ten auch. Es ist eine Fra­ge der Inklu­si­on, eine Fra­ge der Höf­lich­keit, ob man eine umständ­li­che­re Form wählt und damit Frau­en und Trans-Per­so­nen expli­zit mit­nennt und expli­zit anspricht.

Viel­leicht kann man das am bes­ten mit einem Bei­spiel ver­deut­li­chen: Wenn wir Behör­den anschrei­ben oder Mails an Empfänger*innen, bei denen wir nicht wis­sen, wer die Mail letzt­end­lich lesen wird, schrei­ben wir „Sehr geehr­te Damen und Her­ren“. Ich habe 2021 eine Kon­fe­renz orga­ni­siert und eine Mail an den all­ge­mei­nen Kon­fe­renz­ac­count bekom­men, die mit „Dear Sirs“ begann. Der Schrei­ber der Mail ist wohl davon aus­ge­gan­gen, dass nur Män­ner die­se Kon­fe­renz orga­ni­sie­ren würden/könnten, was unan­ge­bracht und belei­di­gend für Frau­en auf der Emp­fän­ger­sei­te ist. Man kann ande­re Anre­den wäh­len. „To whom it may con­cern“ oder „Hi“. Im Deut­schen „Hal­lo“, „Lie­bes Glo­be­trot­ter-Team“ oder eben die expli­zi­te Form „Sehr geehr­te Damen und Her­ren“. Alles wird ver­stan­den, aber es gibt Unter­schie­de im Stil und im Register.

Ein Abschnitt in Hei­de Wege­ners Text trägt die Über­schrift „Die Welt prägt die Spra­che, nicht die Spra­che die Welt“. Ich möch­te behaup­ten, dass Spra­che und Welt in einer Wech­sel­wir­kung zuein­an­der ste­hen. Der Ton macht die Musik, wie oben bei den Anre­den gezeigt. Ein wei­te­res Bei­spiel: Es gibt sehr vie­le Wör­ter, mit denen man sich auf Men­schen mit Behin­de­rung bezie­hen kann. Alle wer­den ver­stan­den. Man­che sind wert­schät­zend, man­che ver­let­zend. Ich möch­te in einer inklu­si­ven Welt leben, die es allen erlaubt, ihren Mög­lich­kei­ten ent­spre­chend teil­zu­ha­ben, sich ver­stan­den zu füh­len und mit­ge­nom­men zu werden.

Gendern und Klimakleber

Beim Nach­den­ken über das Gen­dern und die Aktio­nen der Letz­ten Gene­ra­ti­on, Extinc­tion Rebel­li­on und Sci­en­tist Rebel­li­on ist mir klar gewor­den, dass die Ableh­nung und der Hass wahr­schein­lich Ergeb­nis ähn­li­cher Pro­zes­se sind. Die Kli­makle­ber gehen nicht weg. Das hört ein­fach nicht auf. So wie die Kli­ma­kri­se auch nicht auf­hört. Die Klimabürger*innen erin­nern uns täg­lich dar­an, das wir als Gesell­schaft, als der Nor­den eigent­lich auf einem ganz ande­ren Kurs sein müss­ten und dass unse­re Regie­run­gen ver­sa­gen. Genau­so erin­nern Men­schen, die gen­dern, Men­schen, die nicht gen­dern, in jedem Satz an ein struk­tu­rel­les Unrecht, an Ungleich­be­hand­lung, dar­an, dass mann Pri­vi­le­gi­en auf­ge­ben muss. Es stört, es nervt. In etwas so Schö­nem wie der Spra­che. Es stört, es nervt. Bei etwas so Schö­nem Not­wen­di­gem wie dem Weg zur Arbeit.

Die Unter­bre­chung und mini­ma­le Ver­zö­ge­rung durch den Glo­tal­ver­schluss ist dabei nicht gegen die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­part­ner gerich­tet. Sel­bi­ges gilt auch für die Ver­grö­ße­rung der ohne­hin schon vor­han­de­nen Staus. Die­se Unter­bre­chun­gen mar­kie­ren ein­fach Unge­rech­tig­kei­ten und Pro­ble­me, die sich aus unse­rem Wei­ter-So ergeben.

Weil bei­des nervt, gibt es schlaue (und auch dum­me) Men­schen, die Grün­de fin­den, war­um das Gen­dern nicht „funk­tio­nie­ren“ wür­de, was dar­an falsch sei, ein­fach über­se­hend, dass Men­schen es tun und ver­stan­den wer­den. Und so gibt es schlaue (und dum­me) Men­schen, die der Letz­ten Gene­ra­ti­on erklä­ren, was die doch gefäl­ligst tun soll­ten, oft ver­ken­nend, dass sie all das auch tun oder schon getan haben.

Also: All das wird so lan­ge blei­ben, bis Frau­en gleich­be­rech­tigt sind (oder län­ger, weil das Gen­dern dann nor­mal gewor­den ist) und bis wir als Gesell­schaf­ten Wege gefun­den haben, mit der Kli­ma­ka­ta­stro­phe adäquat umzu­ge­hen und noch Schlim­me­res zu ver­hin­dern (und hof­fent­lich nicht län­ger, weil die Stö­run­gen nicht nor­mal werden).

Quellen

Wege­ner, Hei­de. 2023. Wo gegen­dert wird, ist die Lohn­lü­cke grö­ßer. In Mei­nun­ger, André & Trut­kow­ski, Ewa (eds.), Gen­dern – auf Teufel*in komm raus? Ber­lin: Kul­tur­ver­lag Kadmos.

Osch­mann, Dirk. 2023. Der Osten: eine west­deut­sche Erfin­dung. Ber­lin: Ull­stein Buchverlage.

MDR. 2023. Deutsch­land­kar­te zum Gen­der Pay Gap: Lohn­lü­cke im Osten klei­ner. (https://www.mdr.de/wissen/geld-verdienen-lohn-frauen-maenner-luecke-ost-west-equal-pay-day102.html)

Guten Tag, Fediverse

Ich freue mich wie Bol­le, dass jetzt vie­le Leu­te Twit­ter ver­las­sen und zu Mast­o­don wech­seln. Und die Blogs kann man auch ver­net­zen dank Acti­vi­ty­Pub-Plug­in für WordPress.

Also: Wenn Ihr Euch für den Osten aus Sicht eines ein­ge­schnapp­ten [=:-)] Ossis inter­es­siert, folgt Stefan@so-isser-der-ossi.de.

Noch­mal ohne Quatsch: Ossis sind in den Redak­tio­nen unter­re­prä­sen­tiert, sie haben in Fir­men und öffent­li­chen Ein­rich­tun­gen kei­ne Stim­me und ich kom­men­tie­re hier ab und zu gro­be Falsch­dar­stel­lun­gen. Zum Teil auch von Ossis sel­ber. Es geht viel um Nazis, aber auch um Gen­dern, Gleich­be­rech­ti­gung, Kinderverschickungen/Kuren usw.

Kinderverschickung und die DDR?

In der letz­ten Zeit gab es mehr­fach Arti­kel in der taz zur Kin­der­ver­schi­ckung (sie­he Quel­len). Berich­tet wur­de über Grau­sam­kei­ten, die in den Hei­men statt­fan­den. Zum Bei­spiel, dass Schlaf­sä­le nachts ver­schlos­sen wur­den, so dass die Kin­der nicht auf die Toi­let­te gehen konn­ten (taz, 14.12.21).

Fast alle berich­ten von: Ess­zwang, nächt­li­chem Toi­let­ten­ver­bot, haar­sträu­ben­den hygie­ni­schen Zustän­den, Ein­grif­fen in die kör­per­li­che Unver­sehrt­heit, Kon­takt­ver­bot zur Fami­lie, Ein­schüch­te­rung, die zu Angst- und Schuld­ge­füh­len führ­ten: Haben mich mei­ne Eltern ver­sto­ßen, sehe ich sie je wie­der, was habe ich falsch gemacht? Eine Atmo­sphä­re, in der „see­li­sche Grau­sam­keit“ gedieh. Aber auch Fäl­le von Prü­gel, Eis­du­schen, Straf­maß­nah­men wie nächt­li­chem Weg­sper­ren in dunk­le, kal­te Kam­mern oder Dach­bö­den, also phy­si­schem – aber auch sexu­el­lem – Miss­brauch sind bekannt.

Sabi­ne Sei­fert, Kur­auf­ent­hal­te von Kindern:Wir Ver­schi­ckungs­kin­der, taz 14.12.2021

Betrof­fe­ne orga­ni­sie­ren sich in Ver­ei­ni­gun­gen, um die Ver­gan­gen­heit aufzuarbeiten.

Heu­te wird in der taz wie­der berich­tet. Der Arti­kel ent­hält einen klei­nen ver­gif­te­ten Satz:

Vor­sich­tig geschätzt sind zwi­schen sechs und acht Mil­lio­nen Kin­der in der alten Bun­des­re­pu­blik zur Kur geschickt wor­den, zum Gesund­wer­den oder zur Vor­beu­gung. Auch in der DDR gab es Kin­der­ku­ren. Vie­le Kin­der – nicht alle – haben in den Kur­hei­men Lieb­lo­sig­keit, Schi­ka­nen, Miss­hand­lun­gen oder sogar sexua­li­sier­te Gewalt erlebt.

Sabi­ne Sei­fert, For­schungs­be­darf, taz, 15.03.2022

Rein logisch wird nur mit­ge­teilt, dass es in der DDR Kin­der­ku­ren gab. Sug­ge­riert wird aber, dass es in der DDR „Lieb­lo­sig­keit, Schi­ka­nen, Miss­hand­lun­gen oder sogar sexua­li­sier­te Gewalt“ gab und zwar von der Art, wie sie in den vor­an­ge­gan­ge­nen Ver­öf­fent­li­chun­gen the­ma­ti­siert wur­de. Zum Bei­spiel berich­ten Kin­der davon, dass sie Essen auf­es­sen muss­ten, egal, was es gab. Erbro­che­nes muss­te auch auf­ge­ges­sen wer­den (taz, 14.12.21).

Frau Sei­fert ver­linkt dann auf die Sei­te https://verschickungsheime.de/ und wenn man sich dort umsieht, fin­det man zum The­ma DDR folgendes:

Ab 1945 sag­te man „Ver­schi­ckung“, in der DDR war der Begriff „Kur­kin­der“ gebräuch­li­cher. DDR-Kur­kin­der haben sich bis­her bei uns nur weni­ge gemel­det. Die Kur­bä­der auf dem Gebiet der DDR erlit­ten nach 45 einen Nie­der­gang, daher gab es in der DDR nicht annä­hernd so vie­le Kur­or­te wie im Wes­ten (BRD 1964: ca. 1200 Hei­me in 350 Kur­or­ten). Es kön­nen sich aber auch DDR-Kur­kin­der mel­den und bei uns mit­ma­chen, sich gern auch als Heim­or­tver­ant­wort­li­che für ihre Hei­me ein­set­zen lassen. 

verschickungsheime.de, 16.01.20??

Auf der Sei­te gibt es Logos von Bun­des­län­dern und bei den Ost-Bun­des­län­dern gibt es kei­ne Einträge.

Kein Trauma!

Ich war als Kind zwei­mal zur Kur: ein­mal für drei Mona­te in Graal-Müritz und ein­mal für 6 Wochen in Ahl­beck. Laut https://verschickungsheime.de/ddr-kurkinder/ muss es sich um die Kur­hei­me Kli­niksa­na­to­ri­um „Richard Aßmann“ Graal-Müritz und die Kur­ein­rich­tung Insel Use­dom, Betriebs­teil IV: Kin­der­sa­na­to­ri­um „Klaus Stör­te­be­ker“ See­bad Ahl­beck gehan­delt haben. In den Ein­rich­tun­gen wur­den Kin­der mit Asth­ma und/oder Neu­ro­der­mi­tis behan­delt. Ich war jeweils im Win­ter dort. Ich kann mich noch erin­nern, dass in Graal-Müritz die Ost­see kurz vor dem Zufrie­ren war. Das Was­ser sah aus wie Tape­ten­kleis­ter und mach­te inter­es­san­te Geräu­sche. Wir waren viel drau­ßen, sind an der Ost­see spa­zie­ren gegan­gen und ich habe noch immer Bern­stei­ne aus der Use­dom-Zeit. Wir haben in klei­nen Grup­pen Unter­richt gehabt, der auch so gut war, dass ich – zurück in Ber­lin – mei­ner Klas­se weit vor­aus war. Das Essen war ver­nünf­tig. Kein Ess­zwang. (Spä­ter bei der Armee hat­te ich Pro­ble­me, weil die Zeit zum Essen nicht reich­te.) Wir haben in grö­ße­ren Schlaf­sä­len geschla­fen. Die Betreue­rin­nen waren nicht über­mä­ßig streng. Ich erin­ne­re mich noch dar­an, wie wir immer lus­ti­ge Furz­ge­räu­sche in der Arm­beu­ge erzeugt haben. Das ging eben so lan­ge, bis uns die Augen zuge­fal­len sind. Mit­tags gab es Mit­tags­ru­he. Wir lagen in unse­ren Bet­ten, durf­ten aber lesen. Es gab einen klei­nen Laden auf dem Gelän­de, in dem ich mir ein Buch gekauft habe. Ich habe es immer noch. Biblio­the­ken gab es sicher auch.

Wir sind ein­mal in der Woche in die Sau­na gegan­gen. Danach gab es eine Lie­ge­kur. Drau­ßen. Wir sind zu Lie­gen durch den Schnee gestapft und Frau­en haben uns ganz fest in dicke Decken ein­ge­wi­ckelt. Es war sehr schön.

Ab und zu gab es Unter­su­chun­gen durch Ärzt*innen. Die waren auch sehr freundlich.

Mei­ne Mut­ter hat mir ein Päck­chen mit einer klei­nen Woll-Hand­fi­gur geschickt: Stülpner-Karle. 

Woll-Figur Stül­pner-Kar­le

Wie man im Bild sieht, hat­te die Figur kei­ne Bei­ne. Ich habe mei­ner Mut­ter einen Brief geschrie­ben, der ging so:

Lie­be Mutti,

Ich habe mir bei­de Bei­ne gebrochen.

Herz­li­che Grüße 

Dein Stül­pner-Kar­le.

Ich bin heu­te noch froh, dass sie nicht schon nach dem ers­ten Satz einen Herz­in­farkt bekom­men hat. Die Epi­so­de zeigt zwei Din­ge: 1) Gab es – anders als im Wes­ten – kei­ne Zen­sur und wir – bzw. unse­re Pup­pen – haben unse­re Karten/Briefe selbst geschrie­ben. 2) War der klei­ne Ste­fan zu Scher­zen auf­ge­legt. Auch wenn der Brief sonst nicht viel ent­hielt, war er doch eine posi­ti­ve Nachricht. 

Beim zwei­ten Kur­auf­ent­halt habe ich zwei Kin­der vom ers­ten Mal wie­der­ge­trof­fen. Einen moch­te ich beim ers­ten Mal gar nicht, aber da wir uns schon kann­ten, haben wir uns dann gleich ange­freun­det. Wir hat­ten eine gute Zeit und den Bea­tels- und Hard­core-Fan habe ich dann spä­ter auch noch in Mar­klee­berg besucht und er war zu Besuch bei mir in Ber­lin. Wir waren kei­ne trau­ma­ti­sier­ten Kin­der. Wir sind frei­wil­lig zum zwei­ten Mal zur Kur gefahren. 

Kirche und Kontinuitäten

Im Wes­ten wur­den vie­le Hei­me durch kirch­li­che Trä­ger bewirt­schaf­tet. Die­se spiel­ten in der DDR eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le und ich bin mir ziem­lich sicher, dass die Saats­macht ihre Freu­de an der Ver­fol­gung und Bestra­fung von Sexu­al­de­lik­ten oder Sons­ti­gem in der Kir­che gehabt hät­te. Die Aus­gangs­la­ge ist hier völ­lig anders als in der west­deut­schen Gesell­schaft, wo es die katho­li­sche Kir­che auch jetzt noch nicht rich­tig hin­be­kommt, die Straf­ta­ten ihrer Wür­den­trä­ger aufzuklären. 

Auch in der Päd­ago­gik gab es nach 1945 einen Bruch. Es wur­den Neulehrer*innen ein­ge­stellt. Die hat­ten zwar kei­ne Ahnung und waren den Schüler*innen immer höchs­tens zwei Sei­ten im Buch vor­aus, aber wenigs­tens waren es kei­ne Nazis. Ich habe dar­über im Bei­trag über Holo­caust und Osten genau­er geschrieben.

Gesundheit und Kommerz

Frau Sei­fert schreibt in einem frü­he­ren Arti­kel über die West-Kinderverschickungen:

Statt gesund, wur­den sie oft krank, krank gemacht. Weil an die­sen Orten ein päd­ago­gi­sches Regime herrsch­te, das sie schi­ka­nier­te, miss­han­del­te, ihre gesund­heit­li­che Ver­fas­sung und ihre natür­li­che Schwä­che aus­nutz­te. Ein Regime, das nicht das Kind und sei­ne phy­si­sche und psy­chi­sche Gesund­heit in den Mit­tel­punkt stell­te, son­dern mit des­sen Kon­sti­tu­ti­on und den Sor­gen der Eltern Geld verdiente.

Sabi­ne Sei­fert, Kur­auf­ent­hal­te von Kindern:Wir Ver­schi­ckungs­kin­der, taz 14.12.21

Das war ein wesent­li­cher Unter­schied zur DDR. Das Gesund­heits­sys­tem war staat­lich finan­ziert und konn­te an nie­man­dem Geld verdienen.

Schluss

Also: Viel­leicht war in der DDR auch mal etwas bes­ser. Ich fän­de es gut, wenn sol­che ten­den­ziö­se Sät­ze wie der heu­te in der taz ein­fach unter­blei­ben könnten.

Nachtrag: Gar nichts Negatives?

Ich habe den Fra­ge­bo­gen des For­schungs­pro­jekts zur Kin­der­ver­schi­ckung aus­ge­füllt, denn wenn Men­schen, die kein Pro­blem hat­ten, die Bögen nicht aus­fül­len, gibt es eine Ver­zer­rung. Eine Fra­ge war „Gab es Gescheh­nis­se in den Hei­men, die pro­ble­ma­tisch für Sie waren?“ und es gab in der Tat eine Sache, die ich mir gemerkt habe und die ich auch heu­te noch in der Logik-Ein­füh­rung benut­ze: Sonn­tags um 19:00 kamen im Fern­se­hen die Lot­to­zah­len (Tele-Lot­to). Die Betreue­rin ver­sprach uns: „Wenn ich im Lot­to gewin­ne, dürft ihr län­ger auf­blei­ben.“ Wir erwar­te­ten höchst gespannt die Zie­hung der letz­ten Zahl und frag­ten sie: „Und?“ Die Ant­wort: „Ich spie­le gar kein Lot­to.“ In der Logik-Ein­füh­rung ver­wen­de ich das Bei­spiel, um zu erklä­ren, dass sie nicht gelo­gen hat: Wenn der Vor­satz falsch ist, kann man danach alles behaup­ten. Das war die schlimms­te „see­li­sche Grau­sam­keit“, an die ich mich erin­nern kann. Im bes­ten Fall ein gro­ber Scherz.

Nachtrag 14.11.2024: Ups, she did it again

In ihrem Bei­trag Den Macht­miss­brauch auf­ar­bei­ten vom 04.11.2024 schreibt Sabi­ne Sei­fert bezo­gen auf Kin­der­kur­hei­me im Osten: „Mit der Lebens­freu­de war es in den Kin­der­kur­hei­men nicht weit her.“. Der defi­ni­te Arti­kel im Plu­ral wird für All­aus­sa­gen ver­wen­det. Vor solch pau­scha­len All­aus­sa­gen soll­te man sich als Journalist*in gene­rell hüten. Ins­be­son­de­re, wenn einem klar ist, dass sie falsch sind. Ich hat­te mit Sabi­ne Sei­fert 2022 einen Email-Wech­sel zu mei­nen Erfah­run­gen und habe ihr die­sen Blog-Post geschickt. Sie hat das wohl ver­ges­sen. Viel­leicht hat es nicht in ihre Ansich­ten über die DDR gepasst.

Quellen

Knöd­ler, Ger­not. 2024. Ver­schi­ckungs­kin­der beim Roten Kreuz: Wer weint, wird ein­ge­sperrt. taz. Bre­men. (https://www.taz.de/!6000563)

Sei­fert, Sabi­ne. 2021. Kur­auf­ent­hal­te von Kin­dern: Wir Ver­schi­ckungs­kin­der. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Kuraufenthalte-von-Kindern/!5818643)

Sei­fert, Sabi­ne. 2022. Stu­di­en zu Kin­der­ver­schi­ckun­gen: Schi­ka­nen und Miss­hand­lun­gen. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Studien-zu-Kinderverschickungen/!5838490/)

Alles Nazis im Westen?

Die taz berich­tet heu­te über Po­li­zis­t*in­nen, die durch Rechts­extre­mis­mus, Ras­sis­mus oder Anti­se­mi­tis­mus auf­ge­fal­len sind (taz, 21.10.2021). Inter­es­san­ter­wei­se sind alle Vor­fäl­le bis auf einen mit einer Poli­zis­tin aus Des­sau aus dem Wes­ten (Ber­lin zäh­le ich groß­zü­gig auch zum Wes­ten. Es geht wohl auch um Neukölln.):

  • Ber­lin:
  • Frankfurt/Main:
    • 6 Polizist*innen, rechts­ra­di­ka­le Bil­der, einer mit Waffen
    • 20 Beam­te des SEK: volks­ver­het­zen­der Chat­nach­rich­ten, 19 sus­pen­diert, 3 Vorgesetzte
    • Spe­zi­al­ein­heit aufgelöst
    • Min­des­tens 29 wei­te­re hes­si­sche Po­li­zei­be­am­t*in­nen gehör­ten zur Chat­grup­pe, 9 mit Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren, jedoch nicht straf­bar, weil pri­va­te Kommunikation
    • Poli­zei­prä­si­dent des Prä­si­di­ums West­hes­sen äußert sich rassistisch
  • Mühl­heim an der Ruhr/NRW:
    • Chat mit rechts­extre­men und ras­sis­ti­schen Inhal­ten, 20 Polizist*innen sus­pen­diert, Straf­be­feh­le gegen 6
    • alle Aspek­te von grup­pen­be­zo­ge­ner Men­schen­feind­lich­keit, näm­lich Ras­sis­mus, Frem­den­feind­lich­keit, Anti­se­mi­tis­mus, Isla­mo­pho­bie, Sexis­mus und Homophobie.
    • gegen 29 Po­li­zei­be­am­t:in­nen ermit­telt, Mül­hei­mer Dienst­grup­pe A samt Dienst­grup­pen­lei­ter kom­plett suspendiert
    • Ins­ge­samt in NRW 53 bestä­tig­te rechts­extre­me Fäl­le, 138 noch offen. Bei 59 Ver­dachts­fäl­len noch andau­ern­de straf­recht­li­che Prü­fun­gen und arbeits‑, dis­zi­pli­nar- oder beam­ten­recht­li­chen Prü­fun­gen, von 2017 bis Ende Sep­tem­ber 2021 275 Ver­dachts­fäl­le, 6 ent­las­se­ne Kommissaranwärter
  • Alsfeld/Hessen:
    • Hit­ler-Bild auf Whats­App geteilt, über das Aus­kunfts­sys­tem der Poli­zei Abfra­gen ohne dienst­li­chen Anlass vor­ge­nom­men und Infor­ma­tio­nen wei­ter­ge­ge­ben, uner­laub­te Schuss­waf­fen und Munition 
    • Geld­stra­fe 7000€, Jus­tiz fand Hit­ler­bild aber nicht rele­vant, weil war ja privat
  • Osnabrück/Niedersachsen:
    • Ermitt­lun­gen gegen 6 Beam­te, ver­fas­sungs­feind­li­che Sym­bo­le über whats­app ver­schickt, 4 suspendiert

So. Wat sagt uns dit­te? Ich schrei­be jetzt mal eine Ein­ord­nung, so wie man sie mit­un­ter anders­rum in Zei­tun­gen findet:

<sarcasm>Dieser gan­ze Neo­fa­schis­mus ist sehr schwer erträg­lich und nicht zu ver­ste­hen. Die Men­schen im Wes­ten sind irgend­wie ganz anders als wir lie­ben Lin­ken aus dem Osten. Wir haben in der Schu­le auf­ge­passt, haben alle mehr­fach Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger besucht und wis­sen, dass Faschis­mus unglaub­li­ches Leid über vie­le Men­schen gebracht hat. Wie kann man die­se Ent­glei­sun­gen nur erklä­ren? Mir fal­len meh­re­re Erklä­run­gen ein: 

  • Nach dem Krieg gab es kei­ne wirk­li­che Auf­ar­bei­tung des Faschismus.
  • Opa/Oma bzw. Uropa/Uroma der klei­nen Hit­lers in der Poli­zei sind in einer Dik­ta­tur auf­ge­wach­sen. Die ent­spre­chen­den Defor­mie­run­gen wur­den in der Fami­lie weitergegeben.
  • Die Nazi-Poli­zis­ten sind nie in einen Kin­der­gar­ten gegan­gen, saßen stun­den­lang allei­ne auf dem Topf, weil Mama sie nicht wei­ter­spie­len ließ, bis die wich­ti­gen Sachen erle­digt waren, und haben wegen feh­len­dem Kon­takt zu ande­ren Kin­dern kein ver­nünf­ti­ges Sozi­al­ver­hal­ten erlernt.
  • Die Nazi-Müt­ter (Müt­ter der Nazis) waren frus­triert, weil sie öko­no­misch abhän­gig waren und sich des­halb nicht von den Vätern tren­nen konnten.

</sarcasm>

Ist bescheu­ert? Ja. Aber sol­ches Zeug müs­sen Ost­deut­sche immer wie­der in der Zei­tung lesen (Zei­tun­gen sind bis auf das Neue Deutsch­land und die Ber­li­ner Zei­tung alles West-Zei­tun­gen). Zum Bei­spiel, dass Kin­der Neo­na­zis gewor­den sei­en, weil sie im Kin­der­gar­ten neben­ein­an­der auf dem Töpf­chen geses­sen hät­ten (gute Bespre­chung der Pfeif­fer­schen The­se von Kers­tin Decker im tages­spie­gel, 11.05.1999). Oder dass die Tat­sa­che, dass die AfD im Osten erfolg­reich ist, an der Dik­ta­tur­so­zia­li­sie­rung läge. Die DDR ist schon über 30 Jah­re Geschich­te. Jun­ge AfD-Wähler*innen ken­nen die DDR nur noch aus Erzählungen.

Zusammenfassung

Die­ses Land hat ein Nazi-Pro­blem. Oder meh­re­re. Ver­schie­de­ne. Es ist zu ein­fach, ange­ekelt auf den jeweils ande­ren zu bli­cken und zu sagen: Ih, die sind so anders. Die Nazis. Da drü­ben. Es wird nicht bes­ser, wenn man von oben her­ab über Min­der­hei­ten schreibt. Man kann sich zwar schön selbst ver­ge­wis­sern und die Leser*innen fin­den es auch duf­te, aber man schließt eben ein Fünf­tel der Bevöl­ke­rung des Lan­des wei­ter­hin aus (Die taz hat mit 6% ost­deut­schen Leser*innen den höchs­ten Ossi-Anteil. Bei Spie­gel und Süd­deut­scher liegt er bei 4% und 2,5%. Sie­he taz, 09.03.2021). Die­ses Fünf­tel wird die Zei­tun­gen wei­ter­hin nicht lesen und sind somit für nor­ma­le Medi­en mit jour­na­lis­ti­schen Qua­li­täts­stan­dards ver­lo­ren. Die­ser Teil der Bevöl­ke­rung kriegt sei­ne Infor­ma­ti­on und Unter­hal­tung eben auf rech­ten Schwur­bel­ka­nä­len. Wie gefähr­lich das ist, haben wir wäh­rend der Coro­na-Kri­se gese­hen und das gilt genau­so für die Klimakrise.

Quellen

Decker, Kers­tin. 1999. Das Töpf­chen und der Haß. tages­spie­gel. Ber­lin. (https://www.tagesspiegel.de/kultur/das-toepfchen-und-der-hass/77844.html)

Fromm, Anne. 2021. Pres­se in Ost­deutsch­land: Wer strei­chelt unse­re See­le? taz. Ber­lin. (https://taz.de/Presse-in-Ostdeutschland/!5756271/)

Giess­ler, Denis. 2021. Ver­dachts­fäl­le Ras­sis­mus bei der Poli­zei: Die lan­ge Lis­te der Ein­zel­fäl­le. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Verdachtsfaelle-Rassismus-bei-der-Polizei/!5806075/)

Gür­gen, Male­ne. 2020. Ermitt­lun­gen gegen Ber­li­ner Beam­ten: AfD, NPD, Poli­zei. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Ermittlungen-gegen-Berliner-Beamten/!5690788/)

Was qualifiziert Sie für den Bundestag?

In die­sem Bei­trag bespre­che ich die Vor­aus­set­zun­gen für eine Wahl in den Bun­des­tag, das Pro­blem, das die gegen­wär­ti­gen Kri­sen für die Demo­kra­tie dar­stel­len und Mög­lich­kei­ten zur Erwei­te­rung der­sel­ben. Ein abschlie­ßen­der Abschnitt ist den Mensch­heits­kri­sen und sich dar­aus erge­ben­den neu­en Anfor­de­run­gen an Politiker*innen gewidmet.

Voraussetzungen für die Wahl

Als ich mit mei­nen Eltern über mei­ne Bun­des­tags­kan­di­da­tur für Die PARTEI Erlan­gen gespro­chen habe, waren sie skep­tisch. Mein Vater war der Mei­nung, dass das doch Men­schen machen soll­ten, die etwas ent­spre­chen­des stu­diert haben. Poli­tik­wis­sen­schaf­ten, oder so. Tja, so sind wir, wir Ossis. Wir fra­gen uns, ob wir Din­ge kön­nen, und im Zwei­fels­fall las­sen wir die Blen­der vor (hat­te ich Andre­as Scheu­er, MA mit sei­nem Fake-Dok­tor­ti­tel schon erwähnt?), die ein­fach selbst­be­wusst auf­tre­ten. Es gibt dazu einen schö­nen Witz aus Nach­wen­de­zei­ten: Fra­ge: „War­um dau­ert das Abitur im Wes­ten 13 Jah­re, aber im Osten nur 12 Jah­re?“ Anwort: „Weil im Wes­ten noch ein Jahr Schau­spiel­un­ter­richt dabei ist!“ Regi­ne Hil­de­brandt (1990 Minis­te­rin für Arbeit, Sozia­les, Gesund­heit und Frau­en in Bran­den­burg) erzählt ihn sehr gut zum Anfang einer MDR-Doku­men­ta­ti­on über Ost-Frauen:

https://youtu.be/dVX-XUYgAxM
Regi­ne Hil­de­brandt erzählt den Abitur-Witz. 2. Teil einer drei­tei­li­gen Doku­men­ta­ti­on über Ost­frau­en, MDR

Ich per­sön­lich kann mich über man­geln­des Selbst­ver­trau­en nicht bekla­gen. Das liegt aller­dings dar­an, dass ich Wis­sen­schaft­ler bin und da ist die Sach­la­ge oft sehr klar. Ich hat­te ein­fach immer Recht. Also meis­tens. Also aus­rei­chend oft.2

Was qua­li­fi­ziert einen dazu, in den Bun­des­tag zu gehen? Muss man Politikwissenschaftler*in sein? Nein, 2013 kan­di­dier­te ein Kol­le­ge, eben­falls Sprach­wis­sen­schaft­ler, für eine damals gera­de neu gegrün­de­te Par­tei. Das fand nie­mand lus­tig. Nun kan­di­die­re ich für Die PARTEI. Das fin­den hof­fent­lich eini­ge lus­tig. Der Huf­ei­sen-Ste­fan Mül­ler von der CSU, gegen den ich antre­te, ist Bank­fach­wirt, vie­le CSU-Mit­glie­der sind Bau­ern. Julia Klöck­ner ist Wein­kö­ni­gin. Sie kann sehr gut lächeln. Das ist genau die Qua­li­fi­ka­ti­on, die sie braucht. Zum Bei­spiel zum Kuscheln mit Nestlé:

Julia Klöck­ner sagt in ihrem Bei­trag, dass sie in ihrem Gespräch mit Nest­lé viel Neu­es erfah­ren hat. Über Nest­lé hät­te sie schon vor­her viel erfah­ren kön­nen. Zum Bei­spiel aus dem Film We feed the world – Essen glo­bal. Ich will das hier nicht zusam­men­fas­sen, da bekom­me ich nur schlech­te Lau­ne. Guckt Euch den Film ein­fach an.

Lobbyismus und Repräsentativität

Aber jetzt ganz im Ernst: Der Bun­des­tag besteht aus vom Volk gewähl­ten Vertreter*innen, die die Inter­es­sen der Wähler*innen bzw. von Grup­pen von Wähler*innen ver­tre­ten sol­len. Also eigent­lich Lob­by­is­mus. Vie­le CDU/C­SU-Abge­ord­ne­te sind (Groß-)Bauern und sit­zen auch im Agrar­aus­schuss des Bun­des­ta­ges (62% der CSU/CDU, 25% der Grü­nen, 0% bei den ande­ren, taz, 17.03.2021). Außer ihrer Par­tei­mit­glied­schaft haben sie kei­ne beson­de­re Qua­li­fi­ka­ti­on. Auch das ist in Ord­nung (aber sie­he unten). Das ein­zi­ge Pro­blem ist, dass Lob­by­is­mus in CDU/CSU und lei­der auch der SPD bis­her intrans­pa­rent geblie­ben ist und dass die CDU/CSU sich gegen ent­spre­chen­de Geset­ze gewehrt hat. 

Mar­co Bülow (Ex-SPD, jetzt Die PARTEI) spricht beim Kli­ma­mon­tag von Berlin4Future über Kor­rup­ti­on und Lob­by­is­mus, Ber­lin, Alex­an­der­platz, 07.09.20, Bild: Ste­fan Mül­ler, CC-BY

Es muss trans­pa­rent sein, wer was im Bun­des­tag macht und was dabei die Inter­es­sen der jewei­li­gen Per­son sind oder sein könn­ten. Dann kön­nen Wähler*innen frei ent­schei­den, ob sie jeman­den wäh­len wol­len oder nicht. 

Grob ver­ein­facht kann man also als Grund­vor­aus­set­zung für ein Bun­des­tags­man­dat eine Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit, die Fähig­keit zu lächeln3 und Men­schen zu begeis­tern und für gewis­se Posi­tio­nen die Fähig­keit zu füh­ren anneh­men. Reicht das für eine funk­tio­nie­ren­de Demo­kra­tie? Lei­der nicht, denn der Bun­des­tag ist nicht divers genug. Küp­pers­busch fasst zusammen: 

„Von der Idee, alle Stän­de und Beru­fe im Par­la­ment ver­tre­ten zu sehen ist wenig übrig. Im Bun­des­tag sit­zen 203 Abge­ord­ne­te aus dem Öffent­li­chen Dienst und zwei, die pri­vat Haus­mann­frau sind. 101 arbei­ten bei „gesell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen“ wie etwa Par­tei­en, vier sind arbeits­los oder ohne Beruf. Das Par­la­ment bil­det die Gesell­schaft nicht mehr ab, und das schaff­te auch Fall­hö­he für eine Rabu­lis­ten­frak­ti­on rechtsaußen.“

Fried­rich Küpers­busch: Coro­na, CDU und Grü­ne: Impf­par­ty mit Schei­be.(taz, 06.04.2021)

Für das Pro­blem, dass sich Tei­le der Bevöl­ke­rung nicht reprä­sen­tiert füh­len, gibt es eine Lösung. Reprä­sen­ta­tiv zusam­men­ge­stell­te, gelos­te Bürger*innenräte. Die­se wür­den auch das Lob­by­is­mus-Pro­blem abmil­dern und sie sind wich­tig für Pro­blem­fel­der, die Politiker*innen sys­tem­be­dingt nicht bear­bei­ten kön­nen. Wie funk­tio­niert das im Detail und warum? 

Gewis­se Pro­ble­me kön­nen bzw. wol­len Politiker*innen nicht ange­hen, weil sie das je nach Pro­blem­la­ge 5–10% ihrer Wähler*innen kos­ten könn­te und weil die gesam­te gegen­wär­ti­ge Poli­tik auf Macht­er­halt und Wie­der­wahl in vier bzw. fünf Jah­ren aus­ge­rich­tet ist. Ein Bei­spiel für einen Bürger*innenrat war der, der zum The­ma Abtrei­bung in Irland durch­ge­führt wur­de. Es wäre für Politiker*innen schwer gewe­sen, sich hin­zu­stel­len und zu sagen: „Ich bin für Abtrei­bung.“ Es wur­de also ein Bürger*innenrat zusam­men­ge­stellt. Dazu wur­de eine reprä­sen­ta­ti­ve Grup­pe von 100 Per­so­nen aus­ge­wählt. Reprä­sen­ta­tiv heißt, dass die Zusam­men­set­zung der Alters­struk­tur, der sozio-öko­no­mi­schen Struk­tur usw. des jewei­li­gen Lan­des ent­spricht. Wer letzt­end­lich in die­sem Rat sitzt, wird nach der reprä­sen­ta­ti­ven Vor­auswahl durch ein Los­ver­fah­ren ent­schie­den. Der Bürger*innenrat trifft sich dann über meh­re­re Wochen und bekommt Input von Expert*innen zum jewei­li­gen Pro­blem (Recht, Gesund, Öko­no­mie, Kli­ma, Ver­ke­her, wha­te­ver), so dass alle Aspek­te gut auf­ge­ar­bei­tet sind. (Das unter­schei­det die Räte von Volks­ent­schei­den, bei denen ein­fach jede*r Ein­zel­ne aus dem Bauch her­aus ent­schei­det.) Die 100 Per­so­nen kom­men dann zu einem Schluss, der hof­fent­lich von einer brei­ten Mehr­heit der Gesell­schaft mit­ge­tra­gen wird. Das fol­gen­de Video über das Refe­ren­dum zur Abtrei­bung in Irland erklärt alle Punk­te sehr gut:

Außer die­sem Bürgerrinnen*rat zur Abtrei­bung gab es auch in Frank­reich schon einen zum The­ma Kli­ma­schutz. Die Regie­rung Macron hat Tei­le der Emp­feh­lun­gen auch übernommen.

Dass Bürger*innenräte kein Hirn­ge­spinst irgend­wel­cher Revo­lu­zer oder Sozi­al­ro­man­ti­ker sind, sieht man auch dar­an, dass Wolf­gang Schäu­be­le (Bun­des­tags­prä­si­dent, CDU) sie unterstützt.

Bür­ger­rat Demo­kra­tie Ver­an­stal­tung mit Bun­des­prä­si­dent Wolf­gang Schäu­be­le, 15.11.2019

Das Lob­by­is­mus­pro­blem wür­de duch Bürger*innenräte zwar nicht gelöst, aber zumin­dest auch abge­mil­dert, weil es nicht mög­lich ist, lang­jäh­ri­ge Netz­wer­ke und Abhän­gig­kei­ten auf­zu­bau­en, wenn die Rats­mit­glie­der zufäl­lig aus­ge­wählt sind und nur zu weni­gen Sit­zun­gen zusammenkommen. 

Dass beim The­ma Lob­by­is­mus und Kor­rup­ti­on drin­gend etwas pas­sie­ren muss, zeigt auch das Rezo-Video, um das es im fol­gen­den Abschnitt geht.

Krisentauglichkeit

Rezo hat die gegen­wär­ti­ge Situa­ti­on mal wie­der schön zusam­men­ge­fasst: Unse­re gegen­wär­ti­ge Regie­rung ist kor­rupt, macho­mäs­sig unter­wegs und inkompetent:

Rezo zer­stört die Coro­na-Poli­tik, 05.04.2021

Was man in der aktu­el­len Situa­ti­on braucht, ist die Fähig­keit, eine Bedro­hungs­la­ge ein­zu­schät­zen. Man muss Expo­nen­ti­al­kur­ven ver­ste­hen kön­nen und man muss ein­schät­zen kön­nen, wie eine wei­te­re Ent­wick­lung ver­lau­fen wird. Nie­mand, der ein Minis­te­ri­um lei­tet, ver­steht alle fach­li­chen Details. Das muss auch nicht so sein, aber es braucht Selbst­be­wusst­sein und mensch­li­che Grö­ße und ein Urteils­ver­mö­gen, um ein­schät­zen zu kön­nen, dass man selbst an bestimm­ten Stel­len inkom­pe­tent ist und sich auf Expert*innen ver­las­sen muss. Rezo hat die wesent­li­chen Video­schnip­sel der letz­ten Wochen zusam­men­ge­schnit­ten und belegt, dass unse­re Bundesregierung/Ministerpräsidentenkonferenz ein inkom­pe­ten­ter, arro­gan­ter Macho­hau­fen ist. Aus der Bezeich­nung Macho­hau­fen (klingt irgend­wie wie Matsch­hau­fen, viel­leicht ist er ja nach dem Coro­na-Win­ter weg) folgt auch, dass Ange­la Mer­kel nicht ein­ge­schlos­sen ist. Sie hat Phy­sik stu­diert und ver­steht Expo­nen­ti­al­kur­ven. Das ist es, was wir brau­chen. Also nicht unbe­dingt die Phsy­ik aber die Expo­nen­ti­al­kur­ven (Mein Vater hat mich dar­auf hin­ge­wie­sen, dass das Ober­stu­fen­schul­stoff ist.). Die fol­gen­de Kur­ve zeigt das Infek­ti­ons­ge­sche­hen in Deutsch­land. Man sieht sehr schön die ers­te, zwei­te und drit­te Welle.

Drit­te Wel­le kurz vor dem Rum­ge­eie­re der Minis­ter­prä­si­den­ten­kon­fer­nez vor Ostern 2021

Die­se Ent­wick­lun­gen wur­den vor­her­ge­sagt. Es wur­den mathe­ma­ti­sche Model­le gebaut, die genau das vor­her­ge­sagt haben, was ein­ge­tre­ten ist. (Sie­he Fuß­no­te 1 zu for­ma­len Model­len in der Sprach­wis­sen­schaft.) In vie­len Situa­tio­nen hilft es, einen Phä­no­men­be­reich zu model­lie­ren. Man kann dann Vor­her­sa­gen einer Theo­rie bestim­men und ein Abgleich mit der Wirk­lich­keit hilft einem, Rück­schlüs­se auf die Qua­li­tät der Theo­rie zu zie­hen. Wie das Rezo-Video zeigt, wur­den die Gefah­ren, vor denen unser Land stand und immer noch steht, igno­riert und Poli­ti­ker (ohne *innen) sind sich nicht zu blöd, sich vorn hin­zu­stel­len und das auch noch rich­tig zu finden. 

Schau­en wir uns eine ande­re Kur­ve an. Sie ist aus dem Wiki­pe­dia-Arti­kel über Koh­len­stoff­di­oxid in der Erd­at­mo­sphä­re und zeigt eben­falls ein expo­nen­ti­el­les Wachstum:

Expo­nen­ti­el­ler Zunah­me von CO2 in der Atmo­sphä­re in den letz­ten Jahr­zehn­ten Quel­le: CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=694303

Klimawissenschaftler*innen bau­en kom­ple­xe Model­le zu den Ent­wick­lun­gen, die uns in den nächs­ten Jah­ren und Jahr­zehn­ten bevor­ste­hen. Sie sind sehr zurück­hal­tend und nicht alar­mis­tisch. Das ent­spricht der Serio­si­tät, die in der Wis­sen­schaft üblich ist. Ein Kol­le­ge von der Hum­boldt-Uni, der wie ich auch bei den Scientists4Future aktiv ist, hat noch vor zwei Jah­ren den Begriff Kli­ma­kri­se abge­lehnt, weil er ihn für zu alar­mis­tisch hielt. Die Klimawissenschftler*innen sind sich einig: Wir haben ein Pro­blem. Ein gro­ßes! Die Kli­ma­kri­se ist um ein Viel­fa­ches grö­ßer als das, was wir jetzt erle­ben. Coro­na macht kei­nen Spaß? Dann kämpft dafür, dass wir nicht Cor­na++ bekommen!

Ange­la Mer­kel ver­steht das alles, aber lei­der ist Ange­la Mer­kel eine lame duck. Sie konn­te sich bei Coro­na nicht gegen ihre Matsch-Kum­pels durch­set­zen. Auch die Öko-Bilanz ist fins­ter. Mer­kel war Umwelt­mi­nis­te­rin und hat auf die Kli­ma­pro­ble­me hingewiesen. 

Buch­pu­bli­ka­ti­on von Ange­la Mer­kel 1997

Sie hat schon 1997 klar auf­ge­zeigt, was getan wer­den muss. Was pas­siert ist, ist aber so ziem­lich das Gegen­teil von dem, was wir gebraucht hätten.

Chris­ti­an Lind­ner und mein Vater4 sagen: Die Kli­ma­pro­ble­me und die gro­ße Poli­tik soll­ten doch die Pro­fis regeln. Die­se haben aber ver­sagt. Wir kön­nen nicht mehr war­ten (und Lind­ner hat ja eh kei­ne Lust zu regie­ren). Und des­halb machen wir das jetzt selbst! Los! Wie Rezo sagt: Bes­ser als die sind wir allemal!

Ein (zukünf­ti­ger) Pro­fi demons­triert bei Fri­days For Future Demons­tra­ti­on in Ber­lin, 15.03.2019 Bild: Ste­fan Mül­ler, CC-BY

Quellen

Küpers­busch, Fried­rich. 2021. Coro­na, CDU und Grü­ne: Impf­par­ty mit Schei­be. (https://taz.de/Corona-CDU-und-Gruene/!5758868/)

Mau­rin, Jost. 2021. Lob­by­is­mus in der Uni­on: Anfäl­lig­keit für Ein­fluss­nah­me. (https://taz.de/Lobbyismus-in-der-Union/!5757524/)

tages­schau. 2019. Initia­ti­ve für mehr Demo­kra­tie: „Bür­ger­rat“ gibt Emp­feh­lun­gen ab. (https://www.youtube.com/watch?v=LV_dptGINYI)

Wagen­ho­fer, Erwin. 2005. We feed the world – Essen glo­bal. Alle­gro Film. (https://www.youtube.com/watch?v=m5HfaSBdtWU)

Aufbau West

Da in Erlan­gen Ste­fan Mül­ler von der CSU seit 2002 immer das Direkt­man­dat gewinnt, hat Die PARTEI beschlos­sen, den Erlanger*innen eine Alter­na­ti­ve zu bie­ten. In einem auf­wen­di­gen Cas­ting-Ver­fah­ren konn­te ich mich gegen Tau­sen­de Ste­fan Mül­lers und Stef­fi Mül­lers durch­set­zen und der Vor­sit­zen­de der Orts­grup­pe hat dann von mir ein Foto bekom­men (Pres­se­mit­tei­lung der Par­tei Die PARTEI).

Ges­tern nun war unser ers­tes Tref­fen, bei dem es um kon­kre­te Wahl­kampf­maß­nah­men ging. Ich habe dabei sehr viel Wis­sens­wer­tes über Erlan­gen erfah­ren. Scho­ckie­ren­de Details. Ich weiß jetzt, dass die Infra­struk­tur maro­de ist. Stra­ßen­la­ter­nen sind so wacke­lig, dass man nur ein Wahl­pla­kat pro Later­ne auf­hän­gen kann (Aus­nah­me­re­ge­lung zu § 2 Abs. 2 Nr. 16 der Pla­ka­tie­rungs­ver­ord­nung der Stadt Erlan­gen). Alle ande­ren Pla­ka­te müs­sen auf Drei­ecks­stän­dern aus Metall ste­hen, die sich aber nur die CSU in gro­ßer Anzahl leis­ten kann.

Vor­schrif­ten für Pla­ka­tie­run­gen in Erlan­gen, 2017 für eini­ge spe­zi­ell aus­ge­wie­se­nen Stra­ßen­zü­ge laut Aus­nah­me­re­ge­lung zu § 2 Abs. 2 Nr. 16 der Pla­ka­tie­rungs­ver­ord­nung der Stadt Erlan­gen von 2017.

Die­se Zustän­de sind natür­lich unhalt­bar und ich fra­ge mich ernst­haft, wie die armen Erlanger*innen das die letz­te 40 Jah­re lang aus­hal­ten konn­ten. Ich den­ke, hier muss drin­gend Abhil­fe geschaf­fen wer­den. Ich wer­de mich also im Bun­des­tag für einen Auf­bau West ein­set­zen. Der Osten ist ja jetzt fer­tig, wir haben über­all die ver­spro­che­nen blü­hen­den Land­schaf­ten und kön­nen uns nun also struk­tur­schwa­chen Regio­nen wie Erlan­gen zuwen­den. Die Ossis sind sehr froh über die blü­hen­den Land­schaf­ten und das gan­ze Geld, das in den Osten geflos­sen ist, und vie­le sind sicher bereit, es dem Wes­ten heim­zu­zah­len zurück­zu­zah­len. Ich wer­de mich dafür ein­set­zen, dass der Soli bei­be­hal­ten und aus­ge­baut wird. Der Soli ist übri­gens eine Steu­er, die alle Steu­ern zah­len­den Per­so­nen bezahlt haben, also Ossis und Wes­sis (Wiki­pe­dia: Soli­da­ri­täts­zu­schlag). Das wird mit­un­ter über­se­hen. Also: Für einen Soli­da­ri­täts­zu­schlag für struk­tur­schwa­che Gebie­te! Gern ein­kom­mens­ab­hän­gig gestaf­felt. Für Stra­ßen­be­leuch­tung in Erlan­gen und Umge­bung! Gegen Dunkeldeutschland!

Gendern und Bewertungen von Arbeitsleistungen im akademischen Bereich

Vor­weg: 1) Ich gen­de­re. 2) Ich war eins der ers­ten Mit­glie­der in Prof. Dr. Gis­bert Fan­se­lows Gesell­schaft gegen den Erhal­tung der deut­schen Spra­che. Gis­bert hat­te auf einer Web-Sei­te „100 gute reasons gegen die pre­ser­va­ti­on von der deut­schen Spra­che“. Mit irgend­wel­chen Sprachpfleger*innen habe ich also nichts zu tun.

Da bei der Deut­schen Gesell­schaft für Sprach­wis­sen­schaft (DGfS) eine Sat­zungs­än­de­rung in Rich­tung gen­der­ge­rech­te Spra­che anstand, habe ich im DGfS-Forum einen Bei­trag geschrie­ben, den ich dann auch außer­halb ver­öf­fent­li­chen woll­te (Gen­dern, arbei­ten und der Osten). Ich habe erst dar­über nach­ge­dacht, den Blog-Bereich der HU dafür zu benut­zen, habe den Bei­trag aber dann auf die­sen Ost-Blog getan, weil die dar­un­ter­lie­gen­den Fra­gen auch etwas mit dem Osten zu tun haben. Ich woll­te eigent­lich gar nicht wei­ter zum The­ma schrei­ben, aber jetzt muss ich doch noch ein­mal. Auf Twit­ter und sonst wo kocht gera­de die Dis­kus­si­on über, ob man denn Prü­fungs­leis­tun­gen von Stu­die­ren­den anders bewer­ten kann oder soll, wenn die­se nicht gendern. 

Bei der Uni­ver­si­tät Kas­sel fin­det man fol­gen­de Anleitung:

Anlei­tung zum Bewer­tungs­kri­te­ri­um gen­der­ge­rech­te Spra­che der Uni­ver­si­tät Kas­sel, 27.02.2021

Hier stellt sich die Fra­ge, wie man mit den Gen­der-Mar­kern all­ge­mein umge­hen soll. Vor drei­ßig Jah­ren wur­de das Binnen‑I z.B. bei der taz und die gespro­che­ne Vari­an­te mit Glot­tal­ver­schluß bei Radio 100 ver­wen­det. Bei­des Avant­gar­de und Nischen­an­ge­bo­te. Ansons­ten kam es in ent­spre­chen­den Zir­keln vor, ver­ein­zelt auch an Uni­ver­si­tä­ten. Ich habe eine Leip­zi­ger Hoch­schul­zeit­schrift von 1992 mit Bin­nen-I-Bei­trag. Inzwi­schen ist das Binnen‑I bzw. das Gen­der­stern­chen im Main­stream angekommen. 

Harald Schmidt gen­dert im Kom­men­tar zur Lan­des­tags­wahl in Baden-Würt­em­berg, 2021

Es wird im Tages­pie­gel ver­wen­det, von Nachrichtensprecher*innen u.s.w. For­schungs­för­de­rungs­ein­rich­tun­gen wie die DFG ver­wen­den es schon meh­re­re Jah­re stan­dard­mä­ßig, Uni­ver­si­tä­ten geben Emp­feh­lun­gen für gen­der­ge­rech­tes Schrei­ben. Vor eini­ger Zeit hat Ulri­ke Win­kel­mann, die Chef­re­dak­teu­rin der taz, einen wei­sen Bei­trag dazu ver­fasst. In der taz gab es immer sone und sol­che. Man­che haben das Gen­dern abge­lehnt5, man­che haben dafür gekämpft. Die taz ist ein bun­ter Hau­fen und das ist auch gut so. Ulri­ke Win­kel­mann hat dafür plä­diert, das Gen­dern nicht vor­zu­schrei­ben und nicht zu erzwingen:

In dem Augen­blick, da eman­zi­pa­ti­ve Sprach­po­li­tik zu einer von einem „Oben“ gesetz­ten Norm wird – und vie­les sieht aktu­ell schon danach aus –, wird sie sich genau die­sem Vor­wurf aus­set­zen müs­sen: dass sie Wirk­lich­kei­ten kon­stru­iert, die vie­le nicht als die ihren begreifen.

Ulrikw Win­ckel­mann, Sprach­kri­tik darf kein Eli­ten­pro­jekt sein, taz, 06.02.2021

Ich den­ke, es ist wich­tig, zwei Din­ge zu unter­schei­den: 1) gibt es Insti­tu­tio­nen, die beschlos­sen haben, Gleich­stel­lungs­aspek­te adäquat zu berück­sich­ti­gen und in der Innen­kom­mu­ni­ka­ti­on und nach außen gen­der­ge­rech­te Spra­che zu ver­wen­den. 2) gibt es Bestre­bun­gen oder zumin­dest die Mög­lich­keit, gen­der­ge­rech­te Spra­che bei ande­ren zu erzwin­gen. 1) ist nor­mal und in Ord­nung, 2) ist nicht in Ord­nung. War­um nicht? 

Wenn man ver­sucht, Sprach­wan­del zu erzwin­gen, stößt man auf Ableh­nung, bei denen, die sol­che Ent­wick­lun­gen kri­tisch sehen oder sich eben ein­fach nicht umstel­len wol­len. Soll man sie ein­fach zwin­gen? Nein. Ich bin aus dem Osten. Damals war es üblich, zu Prü­fun­gen ein FDJ-Hemd anzu­zie­hen. Das war ein Bekennt­nis zum Staat, das von Prüf­lin­gen ver­langt wur­de. Wenn nun gesetz­te Gen­der­stern­chen in die Bewer­tung ein­flie­ßen sol­len, dann erin­nert mich das sehr stark an die­se Zeit. Es war eine wider­wär­ti­ge Zeit. Die Poli­tik war über­all drin. Ich hat­te als 13jähriger eine Auf­nah­me­prü­fung für die Erwei­ter­te Ober­schu­le Hein­rich-Hertz, eine Mathe­schu­le. Die Prü­fung bestand aus zwei Tei­len: einem Mathe­test mit Kno­bel­auf­ga­ben und einem poli­ti­schen Gespräch mit dem stell­ver­tre­ten­den Direk­tor. Der Mathe­test war kein Pro­blem, aber eine der Fra­gen im Auf­nah­me­ge­spräch war, ob ich drei Jah­re zur Armee gehen wür­de. Ich war 13 und hat­te noch nie dar­über nach­ge­dacht. Spon­tan fand ich die Vor­stel­lung nicht so pri­ckelnd. Ich bin des­we­gen abge­lehnt wor­den und nur dem enor­men Ein­satz mei­ner Eltern ist es zu ver­dan­ken, dass ich dann doch auf die­se Schu­le gehen konn­te. Und ich habe zuge­sagt, drei Jah­re zur Armee zu gehen. Wie das im DDR-Bil­dungs­sys­tem lief, kann man sehr gut in Klaus Kordons Buch Kro­ko­dil im Nacken nach­le­sen. Kor­don beschreibt ein Paar, das loy­al und posi­tiv zum Staat ein­ge­stellt ist, was sich in dem Moment ändert, als die Kin­der in die Schu­le kom­men und der Wider­spruch zwi­schen Rea­li­tät und Schul­un­ter­richt so groß wird, dass die Fami­lie einen Flucht­ver­such unter­nimmt. Der schei­tert. Fol­gen: Tren­nung der Fami­lie, Eltern ein­zeln im Gefäng­nis, Kin­der im Heim. Ich bin sehr froh, dass die­se Zeit vor­bei ist, dass mei­ne Kin­der nicht in der Schu­le drei Fächer mit dem­sel­ben Inhalt (Staats­bür­ger­kun­de, Ein­füh­rung in die sozia­lis­ti­sche Pro­duk­ti­on, Geschich­te) haben, in denen man irgend­wel­che Grund­sät­ze des Sozia­lis­mus aus­wen­dig ler­nen muss.

Ich den­ke, das Gen­der­stern­chen hat sich durch­ge­setzt oder ist zumin­dest kurz davor und wir soll­ten den Rest nicht erzwin­gen. Zumin­dest der Osten hat­te sol­chen Zwang schon und wir wür­den damit nur die noAfD stärken.

Auf dem Berg der Ahnungslosen?

Man­fred Krie­ner schreibt in der taz einen guten Arti­kel über den Atom­aus­stieg nach der Reak­tor­ka­ta­stro­phe. Er ord­net dar­in Ange­la Mer­kels Han­deln ein. An sich ein schö­ner Arti­kel, den man schön wei­ter­vert­wit­tern könn­te, wenn, ja wenn nicht die­se eine Pas­sa­ge wäre:

Mer­kel, die Kanz­le­rin der schwarz-gel­ben Lauf­zeit­ver­län­ge­rung, wird als Kanz­le­rin des Atom­aus­stiegs in die Geschichts­bücher ein­ge­hen. Dabei hat­te sie nie ver­stan­den, wie fun­da­men­tal der Atom­kon­flikt die west­deut­sche Gesell­schaft über Jahr­zehn­te ver­gif­tet hat­te. Die blu­ti­gen Schlach­ten an den Bau­zäu­nen Ende der 70er Jah­re, die Mas­sen­pro­tes­te der 80er Jah­re, die jahr­zehn­te­lan­gen Kämp­fe unzäh­li­ger Bür­ger­initia­ti­ven, die die Grü­nen erst mög­lich mach­ten: Mer­kel kann­te die rele­van­tes­te Pro­test­be­we­gung der alten Bun­des­re­pu­blik nur aus den Kurz­mel­dun­gen im Neu­en Deutsch­land.

Man­fred Krie­ner: Die letz­ten Kur­ven der Tal­fahrt, taz, 9.3.2011

Was ist das Pro­blem? Aus­sa­gen wie die­se sind nicht nur Geät­ze gegen Mer­kel son­dern eine Belei­di­gung für jeden poli­tisch inter­es­sier­ten Ost­deut­schen. Es gab in der DDR vie­le Mög­lich­kei­ten, sich zu infor­mie­ren. Als Jugend­li­cher habe ich Zei­tun­gen aus­ge­tra­gen, das ND lasen nur die wenigs­ten. Die, mit denen man nichts zu tun haben woll­te. Die, die statt der DDR-Fah­ne (oder gar kei­ner Fah­ne = Wider­stand) zum ers­ten Mai die rote Fah­ne aus dem Fens­ter gehängt haben). Wenn man ein biss­chen was über Ange­la Mer­kel weiß, dann kann man ahnen, dass sie nicht das ND gele­sen hat, jeden­falls nicht als ein­zi­ge Tages­zei­tung. Außer­dem gab es noch ande­re Infor­ma­ti­ons­quel­len, die auch bis auf klei­ne Gebie­te in Sach­sen (dem so genann­ten Tal der Ahnungs­lo­sen) über­all ver­füg­bar waren:6 Radio und Fern­se­hen. Ange­la Mer­kel wohnt seit 1978 in Ber­lin (sie­he Wiki­pe­dia-Ein­trag) und konn­te also SFB, Rias und alle West-Fern­seh­pro­gram­me emp­fan­gen. Ab und zu kamen west­li­che Pres­se­er­zeug­nis­se über die Gren­ze. Von Ver­wand­ten oder Diplo­ma­ten rüber­ge­bracht. Die­se wur­den von vie­len, vie­len Men­schen gele­sen. Es gab in der DDR ein sehr gro­ßes Inter­es­se am Wes­ten und der poli­ti­schen Ent­wick­lung dort.

War­um schrei­be ich das alles auf? In der sel­ben Aus­ga­be der taz hat Anne Fromm über die Absatz­zah­len der West­pres­se in Ost­deutsch­land geschrieben:

2,5 Pro­zent ihrer Gesamt­auf­la­ge ver­kauft die Süd­deut­sche Zei­tung in den Neu­en Bun­des­län­dern. 3,4 Pro­zent sind es bei der FAZ, etwa 4 Pro­zent beim Spie­gel. Bei der taz sind es, das steht nicht in der Stu­die, rund 6 Prozent.

Anne Fromm: Pres­se in Ost­deutsch­land: Wer strei­chelt unse­re See­le? taz, 9.3.2021

Wor­an könn­te das nur lie­gen? Anne Fromm beschreibt es in ihrem Arti­kel sehr genau.

State­ments wie das von Man­fred Krie­ner sind Belei­di­gun­gen, wie auch Vor­schlä­ge wie der von Mar­kus Lis­ke, der – eben­falls in der taz – dazu auf­rief, nicht mehr in den Osten zu rei­sen, weil dort alle Nazis sei­en (sie­he Blog­bei­trag Rei­sen­de, mei­det Nord­rhein-West­fa­len!). Wenn das in aus­rei­chen­der Fre­quenz in Pres­se­er­zeug­nis­sen vor­kommt, hören Men­schen auf, das zu lesen. War­um soll­ten wir den Wes­sis noch Geld dafür geben, dass sie uns belei­di­gen? Legen­där ist auch das Spie­gel-Cover, nach dem die­ser Blog benannt ist (sie­he Ich will was sagen).

Sol­che Bei­trä­ge kann man brin­gen, wenn man die Ossis nicht als sei­ne Leser*innen sieht. Wahr­schein­lich ist das bei vie­len Autor*innen so. Es ver­stärkt aber das Pro­blem, das wir auf sehr vie­len Ebe­nen haben. Men­schen bezie­hen Infor­ma­tio­nen aus Face­book-Grup­pen, Tele­gram-Kanä­len und ande­ren lus­ti­gen Quel­len. Das Ergeb­nis ist Popu­lis­mus, sich ver­stär­ken­de Echo­kam­mern mit Faken­ews, Hass auf Anders­den­ken­de, die Lügen­pres­se und den Öffent­lich-Recht­li­chen Rund­funk. Es ist also auch im eige­nen Inter­es­se der klas­si­schen Medi­en, auf die Ossis zu ach­ten, die Ossis zu ach­ten. Sich zu infor­mie­ren und zu ver­su­chen, die Posi­ti­on von Min­der­hei­ten mitzudenken.

Hier ein Vor­schlag: Als die taz noch old-school pro­du­ziert wur­de, gab es Set­zer. Die­se haben mit­un­ter lus­ti­ge Kom­men­ta­re in die Tex­te der taz-Autor*innen ein­ge­baut. (sie­he … die Säz­zer-Kom­men­ta­re) So etwas brau­chen wir wie­der. Es müss­te einen Ossi vom Dienst geben, der das Recht dazu hat, zu allen Belan­gen, die den Osten betref­fen, einen (kur­zen) Kom­men­tar ein­zu­fü­gen. Mir hät­te es schon gereicht, wenn hin­ter der oben zitier­ten Pas­sa­ge gestan­den hät­te „[Was fürn Quatsch, Ossi vom Dienst]“. Es könn­te ein Pool aus Ost-Autor*innen, ‑redakteur*innen gebil­det wer­den, die sich dann Arti­kel vor der Ver­öf­fent­li­chung noch ein­mal anse­hen. Ich wür­de dafür 100€ im Monat bezah­len und man könn­te das Vor­ha­ben sicher über Crowd-Fun­ding auch noch bes­ser aus­stat­ten. Ich wür­de auch selbst mit­ar­bei­ten, falls das mög­lich ist. Dann wür­de ich mich über die Arti­kel freu­en, an denen ich etwas rum­me­ckern kann, ehm, ich mein­te, zu denen ich mit mei­nem Erfah­rungs­schatz bei­tra­gen kann. =:-) Wenn sich das nicht in den mit­un­ter hek­ti­schen Pres­se­all­tag inte­grie­ren lässt, könn­te man zumin­dest ein Kom­men­tar­recht für die Online-Arti­kel eta­blie­ren und zwar für Säz­zer-style Ein­wür­fe im Text, nicht in irgend­wel­chen Kom­men­tar­funk­tio­nen. Die­se könn­ten dann auch nach Ver­öf­fent­li­chung ein­ge­fügt und sogar mit län­ge­ren Begrün­dun­gen ver­linkt wer­den. So wür­den alle lernen.

Der grö­ße­re Wurf wäre die Ein­rich­tung einer Stif­tung, die Ossis in der Jour­na­lis­ten­aus­bil­dung unter­stützt und ihnen danach eine Start­pha­se finan­ziert, denn wie Anne Fromm dar­ge­legt hat, braucht man für Jour­na­lis­mus zur Zeit finan­zi­el­len Rück­halt in der Fami­lie und der ist im Osten meis­tens schlicht nicht gegeben.