(Dieser Blog-Beitrag ist aus einem Mastodon-Post vom 30.01.2024 mit anschließender Diskussion entstanden. Ich danke allen, die sich an der Diskussion beteiligt haben.)
In seinem Meinungsbeitrag Kritik an Israel: Sprachlose Weitergabe in der taz vom 30.01.2024 schreibt der emeritierte Professor für Politikwissenschaft Lothar Probst folgendes:
das verleugnete Wissen um den Holocaust und die Verbrechen des NS-Regimes konnte sich gleichwohl durch das Beschweigen auf verquere Art und Weise auf die nächsten Generationen übertragen.
Die Nachfolgegenerationen sind auch heute noch mit der sprachlosen Weitergabe eines schuldbelasteten Erbes konfrontiert.
Dies gilt für den Westen, aber noch stärker für den Osten Deutschlands: Unter dem dünnen Firnis des staatlich verordneten Antifaschismus wurden in den Familien noch stärker als im Westen Einstellungsmuster tradiert und konserviert, die nahtlos an die Zeit des Nationalsozialismus anknüpften.
So, so. Alles was bei Ihnen (den Autor*innen, solcher Artikel) scheiße ist, ist im Osten noch scheißer. In jedem Artikel. Immer. Seit über dreißig Jahren. Neulich ja auch in dem Beitrag von Garet Joswig.
Sehr geehrter Herr Professor, lieber Kollege, wo ist Ihre Evidenz? Ich bin auch Wissenschaftler. Wenn ich so arbeiten würde, würden mich alle Wissenschaftler*innen in meinem Fachgebiet auslachen! Könnte ich da bitte mal irgendwelche empirische Forschung sehen? Woher wissen Sie das denn? Und dann noch vergleichend Ost-West? Waren Sie jemals in der DDR? Wie groß war die Stichprobe? Nach der Wende? Befragungen?
Aber hey, wie wäre es denn, wenn Sie (Plural für all diejenigen, die völlig evidenzfrei Klischees verbreiten) mal die Juden fragtet, die in der DDR gelebt haben? Jan Feddersen war in der Ausstellung zu Juden in der DDR im jüdischen Museum und bedauerte, dort nichts darüber gefunden zu haben, wie es wirklich war. Nämlich total antisemitisch (siehe Blog-Post Ausstellung: „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR.“). Wenn er richtig gelesen hätte, hätte er gemerkt, dass es diesen Antisemitismus, so wie er ihn sich vorstellt, in der DDR nicht gegeben hat. Aber er weiß ja, dass es ihn gegeben hat. Evidenz ist dann auch irgendwie egal.
Lesen Sie doch mal das Buch Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute: Die Einheit – eine Abrechnung von Daniela Dahn, einer Jüdin. Darin geht es auch um Antisemitismus, u.a. über Friedhöfe und was da wie passiert ist und den Vergleich mit dem Westen, wo Neonazis jüdische Gräber in die Luft gesprengt haben. Und gehen Sie in die Ausstellung im jüdischen Museum, falls die noch läuft.
Bei einer Diskussion Ihres Beitrags auf Mastodon hat sich dann auch ergeben, dass es nicht nur so ist, dass Sie keine Evidenz für Ihre Anwürfe haben, sondern dass es sogar so ist, dass es Evidenz für das Gegenteil Ihrer Behauptung gibt. Interessanterweise wird diese ebenfalls von Daniela Dahn vorgebracht.
Wie SepiaFan, von dem auch das Bild seines Bücherregals mitgeschickt wurde, angemerkt hat, zitiert Daniela Dahn in Westwärts und nicht vergessen eine Emnid-Umfrage von 1991 zum Thema Antisemitismus und diese kommt zu dem Ergebnis, dass es in den alten Bundesländern bei 16% der Befragten ausgeprägte antisemitische Haltungen gab, in den neuen Bundesländern bei 4% (S. 58). Wenn man rechtsextreme und antisemitische Einstellungen auf die DDR-Vergangenheit zurückführen will, braucht man wohl Daten aus dieser Zeit, da man bei späteren Umfragen immer auch Einflüsse der traumatischen Nach-Wende-Zeit bekommt.
Daniela Dahn hat übrigens auch ein ganzes Kapitel zum „verordneten Antifaschismus“. Sehr interessante Überlegungen. Ich möchte das Kapitel jedem, der über den Osten und Faschismus schreibt, sehr ans Herz legen. Oder an den Kopf.
Bei der Lektüre dieses Kapitels ist mir klar geworden, dass Daniela Dahn meinen Kampf schon in den 90ern geführt hat (siehe auch Zitat am Ende des Blog-Posts). Sie konnte damals bei Rowohlt Bücher veröffentlichen. Mir war der Osten damals noch halbwegs egal. Jedenfalls soweit egal, dass ich mein Wissen nicht systematisiert und aufgeschrieben habe. Das habe ich dann erst mit diesem Blog begonnen. Und dann wird einem klar, wie schlimm es in Westdeutschland war, wie lange die Menschen nichts wussten oder Dinge, die sie wussten verdrängt haben. Ich erinnere nur einmal mehr an die Skandale um die Wehrmachtsausstellung: Nein, Opi war OK. Der war zwar in der Wehrmacht, aber die haben nur lieb andere Soldaten erschossen. So wie Rommel halt, nach dem noch heute Bundeswehrkasernen benannt sind. Im Osten wussten wir dagegen von Babyn Jar und dergleichen. Hier, damit die Anwürfe nicht immer nur von mir kommen, ein paar Punkte von Wolfgang Pomrehn aus der Mastodon-Diskussion:
Als Wessi überfällt mich bei derlei Lektüre immer Fremdschämen.
Als linker Wessi älteren Jahrgangs möchte ich mal ein paar aus der Hüfte geschossene Fakten erwähnen:
- Bundeswehr, Geheimdienste und Polizei wurden von alten Nazis aufgebaut.
- Auf einigen Lehrstühlen saßen an den Unis bis an den 1980ern alte Nazis, die sich konkret an Verbrechen beteiligt hatten.
- Deserteure galten noch viele Jahrzehnte als nach Recht und Gesetz ermordet.
- Sinti wurden nach 45 weiter diskriminiert, alte Naziakten über sie weitergeführt.
- Nach 1990 wurden Renten an alte Faschisten v.a. im Baltikum gezahlt, die in der SS waren und sich höchstwahrscheinlich an allerlei Verbrechen beteiligt hatten.
Wer über „verordneten Antifaschismus“ in der DDR schwadroniert, will von all dem ablenken, oder ist zu blöd zu sehen, dass er eben dies tut.
Das sage ich im Übrigen als jemand, der nie ein Freund der DDR-Regierung gewesen ist.
Ein paar Anmerkungen zu den Punkten: Es gibt in meiner Verwandtschaft einen Angehörigen der Wehrmacht, der in Norwegen Zivilisten erschießen sollte. Er hat sich geweigert und wurde selbst erschossen. Der westliche Teil der Familie hat darüber nie gesprochen, weil sie sich geschämt haben.
Ich habe die Goerdeler-Tochter Marianne Meyer-Krahmer kennen gelernt. Sie hat darüber berichtet, wie ihr Anfang im Westen nach der Entlassung aus dem KZ war. Wie sie als Lehrerin gearbeitet hat und wie die normale Bevölkerung auf sie reagiert hat. Diesen Text hat sie uns gegeben: Mein langer Weg zur Stunde Null.
Irgendwann in den 90ern waren wir in Mannheim. Wir durften bei der Nachbarin derjenigen wohnen, die wir besucht hatten, weil die Nachbarin verreist war. Eine Lehrerin. An der Wand hing ein Bild ihres Vaters. In SS-Uniform. Mit Totenkopf an der Mütze. Die Wohnung war ansonsten piko-bello aufgeräumt. Wenn man irgendwie der Meinung wäre, dass ein SS-Vater etwas Schlimmes ist, dann hätte man den doch wenigstens vorübergehend in die Schublade gepackt. Aber es wahr wohl normal.
In einem Fernsehbeitrag von 1959 vom Hessischen Rundfunk, immerhin 14 Jahre nach dem Krieg, kann man sehen, was west-deutsche Schüler auf Volksschulen von Hitler denken.
Das ist wohl der direkte Reflex der jeweiligen Elternhäuser, unverdorben von irgendeiner Art Geschichtsunterricht: „Hitler hat für das deutsche Volk viel getan, war nur dann schlecht, dass er wahnsinnig geworden ist.“
Diese kleinen Geschichten zeigen Beispiele dafür, wie es im Westen war. Meine beschränkte Wahrnehmung, aber es ist schön, dass diese mit den Wahrnehmungen von Menschen aus dem Westen übereinstimmt.
Also, Herr Professor, lesen Sie die Bücher von Daniela Dahn und arbeiten Sie sorgfältiger.
Und liebe taz, behandelt die Ossis so, wie Ihr andere Minderheiten oder benachteiligte Gruppen behandelt: queere Menschen, Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund. Schreibt nicht einfach irgendwelchen Mist über sie und lasst das auch bei Gastautor*innen nicht zu. Danke!
Ich ende hier mit einem weiteren Zitat aus Daniela Dahns Buch von 1997 (vor 28 Jahren geschrieben):
So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen. Vielleicht versteht man, daß die Ostler zu solchem Kraftakt auf die Dauer keine Lust haben und oft nur abwinken: Ihr werdet es nie verstehen!
Dahn, Daniela. 1997. Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit S. 68
Seit 2013 gibt es Westler, die zuhören und die so tun, als würden sie etwas verstehen, als wären sie eine Alternative, und das ist ein ernsthaftes Problem.
Quellen
Dahn, Daniela. 1997. Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit (Rororo Sachbuch 60341). Hamburg: Rowohlt Verlag.
Dahn, Daniela. 2019. Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute: Die Einheit – eine Abrechnung. Hamburg: Rowohlt Verlag. (https://www.rosalux.de/publikation/id/41078/holocaust-in-der-ddr-angeblich-verschwiegen)
Rentenskandal: Jüdische Opfer kämpfen um Anerkennung, SS-Leute kassieren ab. 2014. Kontraste. ARD. (https://www.rbb-online.de/kontraste/ueber_den_tag_hinaus/diktaturen/rentenskandal–juedische-opfer-kaempfen-um-anerkennung–ss-leute.html)
Das wissen Schüler aus dem Jahre 1959 über Hitler und den Nationalsozialismus. (https://www.youtube.com/watch?v=7znbxsRjt5k)