Die Opfer der nationalsozialisitschen Diktatur und der Diktatur des Proletariats
(Vorweg: Ich habe die DDR, so wie sie war, abgelehnt und kann mit nostalgischer Verklärung nichts anfangen. Ich bin froh, dass sie Geschichte ist. Wie viele andere bin ich jedoch nicht glücklich damit, wie diese Geschichte von Westlern erzählt wird.)
In Beiträgen, in denen versucht wird, den Osten zu verstehen, wird oft davon gesprochen, dass die Ossis durch zwei Diktaturen geprägt wurden. Das ärgert mich immer wieder, weil es zwar faktisch richtig ist, dass Ostdeutsche in zwei Diktaturen gelebt haben, aber damit suggeriert wird, dass diese Diktaturen irgendwie von der gleichen Art sind. Meist wird das nicht explizit gesagt, aber hier in einem Leserbrief von Barbara Hartz aus Bremen zu einem Interview von Anne Fromm mit Anne Rabe und Katja Heuer findet man den Vergleich ziemlich offen:
Zur Meinung Katja Hoyers fällt mir meine politische Sozialisation in der Realschule ein: Unsere Lehrer machten uns durchgehend deutlich, dass all die gelobten Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierungszeit wie der viel gelobte Autobahnbau, die Kraft-durch-Freude-Ferien, die Gemeinschaftserlebnisse der Jugend und vieles mehr nicht gegen die generalstabsmäßig geplante und gnadenlos organisierte Ausrottung von Menschen und gegen die propagierte Menschenverachtung aufzurechnen sind.
Die Lehrer machten klar, dass diese Verbrechen so schlimm sind, dass sie durch nichts Gutes zu relativieren oder auszugleichen sind.
Wie fällt die Beurteilung der DDR aus, wenn man mit diesem moralischen Maßstab auf ihre Zeit blickt?
Barbara Hartz, Bremen in einem Leserbrief in der taz zu einem Interview von Anne Fromm mit Anne Rabe und Katja Heuer, 16.11.2024.
Ich bin in der DDR aufgewachsen und dazu erzogen worden, mit diesen Maßstäben auf die Welt zu sehen. Ich möchte dazu einige der Verbrechen auflisten, die in der Nazi-Zeit begangen worden sind. Nichts davon hat es in der DDR gegeben.
- Nazi-Deutschland hat einen Weltkrieg begonnen, in dem 60 bis 65 Millionen Menschen gestorben sind. (Wikipedia: Tote des zweiten Weltkriegs)
- Nazi-Deutschland hat systematisch und geplant und beschlossen 6 Millionen Juden ermordet.
- Nazi-Deutschland hat 7 Millionen sowjetische Zivilisten ermordet.
- Nazi-Deutschland hat 3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene ermordet.
- Nazi-Deutschland hat 1,8 Millionen polnische Zivilisten ermordet.
- Nazi-Deutschland hat 312.000 serbische Zivilisten ermordet.
- Nazi-Deutschland hat 250.000 Behinderte ermordet.
- Nazi-Deutschland hat 250.000 Sinti und Roma ermordet.
- Nazi-Deutschland hat 1.900 Zeugen Jehovas ermordet, weil diese den Kriegsdienst verweigert haben.
- Nazi-Deutschland hat 70.000 so genannte „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“ ermordet.
- Nazi-Deutschland hat Eugenik gutgeheißen und wollte bessere Menschen züchten. Herrenmenschen. Das hatte Hitler bereits in „Mein Kampf“ (1925–1926) ausformuliert und die NSDAP wurde 1932 mit 33,1 % stärkste Partei. Hitler wurde bei den Reichspräsidentenwahlen 1932 von 30,1% der Wählenden gewählt, zweiter nach Hindenburg 49,5%.
- Der entsprechende Teil des deutschen Volkes hat für sich Ariernachweise erstellt, um zu zeigen, dass sie irgend etwas Besseres waren, als Menschen anderer „Rassen“.
- Nazi-Deutschland hat Euthanasie-Programme (Aktion T4) durchgeführt und psychisch Kranke und Behinderte ermordet oder verhungern lassen. Es wurde von „unwertem Leben“ gesprochen.
Hier kann man die Zahlen der Ermordeten noch einmal in einer Grafik sehen:
In der Aktion T4 wurden Psychiatrie-Patienten systematisch umgebracht. Nach deren Ende, das eventuell damit zusammenhing, dass die Mörder in den neu eingerichteten Vernichtungslagern für die Ermordung der Juden und sowjetischen Bürger*innen und Kriegsgefangenen benötigt wurden, gab es den Hungerkost-Erlaß.
Der Hungerkost-Erlaß des Bayerischen Staatsministers des Inneren vom 30. November 1942 schloss an die Einstellung der Aktion T4 an. Die Kost psychiatrischer Patienten, die insbesondere nicht mehr arbeitsfähig waren, wurde infolgedessen so weit reduziert, dass nach drei Monaten mit ihrem Tod zu rechnen war. Der Erlass führte zum Tod vieler tausender Psychiatrie-Patienten in Bayern.
Unterzeichnet wurde der Erlass von Walter Schultze, der von 1933 bis 1945 als Ministerialdirektor die Abteilung Gesundheitswesen im Bayerischen Innenministerium leitete. Schultze war außerdem von 1935 bis 1944 als „Reichsdozentenführer“ Leiter des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes (NSDDB).
Nach heutigem Kenntnisstand[2] ist der von Schultze unterzeichnete Erlass gleichzeitig „eine Art nachträglicher Rechtfertigung für Handlungsweisen […], die schon längst praktiziert wurden“ und die „Anordnung von neuen und brutaleren Maßnahmen, die aber in dem Erlaß selbst nicht angesprochen sind, im Grunde also […] ein Dokument der Tarnung und Verschleierung.“[3] Der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, Valentin Faltlhauser, hatte bereits 1941 die Einschränkung der Kost der nichtarbeitsfähigen Patienten angeordnet. Seit August 1942 ließ Faltlhauser arbeitsunfähigen Patienten eine völlig fettlose „Sonderkost“ verabreichen, die Kranken starben innerhalb von drei Monaten an Hungerödemen. Faltlhauser referierte über seine Erfahrungen bei einer Konferenz der Anstaltsdirektoren mit Schultze am 17. November 1942, auf die im „Hungererlass“ Bezug genommen wird.
Wikipedia-Eintrag Hungerkost-Erlaß
Alles bis hierher Geschilderte zeugt von einer unglaublichen Brutalität und Unmenschlichkeit des NS-Regimes. Man möge den Eintrag zur Aktion T4 lesen. Daraus geht hervor, dass ein einziger Richter sich den mit der Ermordung verbundenen Anordnungen widersetzte. 90 höchstrangige Richter wurden dann in die Aktion eingeweiht, waren also mitschuldig.
Nichts, nichts davon gab es in der DDR. Die DDR hat keinen Krieg begonnen. Die NVA war als Verteidigungsarmee konzipiert, deren Aufgabe es war, potentielle Angriffe aus dem Westen für 24 Stunden aufzuhalten. Die DDR war komplett durchmilitarisiert (Sport, Wehrkundeunterricht, Gesellschaft für Sport und Technik) aber das lief alles unter „Der Friede muss bewaffnet sein“. Krieg stand nicht auf dem Programm, was in der Nazi-Zeit definitiv anders war. Die Kommunisten hatten vor den letzten Wahlen gewarnt: „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“ Die Erziehung in der DDR war antifaschistisch, die Verbrechen der Nazis inklusive Holocaust wurden im Schulunterricht und an vielen anderen Stellen thematisiert, obwohl das von Menschen wie Anetta Kahane und Ines Geipel geleugnet wird (siehe Blog-Beitrag Der Ossi und der Holocaust). Die Völkerfreundschaft wurde offiziell befürwortet, was natürlich mit dem Befreiungskampf der entsprechenden Völker verknüpft wurde, aber es gab von staatlicher Seite keinen über Rassenkonzepte motivierten Rassismus (für Belege aus der Bummi-Zeitung, der Für Dich, der NBI und der Wochenpost zur internationalen Solidarität und zur medizinischen Versorgung von Menschen aus Afrika in der DDR siehe „Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern“: Kommentare zu einem Aufsatz von Patrice G. Poutrus, Jan C. Behrends und Dennis Kuck). Zum Umgang mit Behinderten habe ich in Mein Gott, Walther! Die DDR als prä-faschistischer, post-faschistischer und faschistischer Staat und überhaupt. geschrieben. Ich bin in Buch aufgewachsen, dort gab es ab 1976 staatlich geplante barrierefreie Wohnungen für Menschen mit Rollstühlen.
Es gab Menschen, die Opfer des DDR-Regimes geworden sind. Dazu gehören ganz offensichtlich die Mauertoten, aber auch Systemgegner*innen, die nach fragwürdigen Prozessen hingerichtet wurden oder irgendwo in Gefängnissen verschwanden und nie wieder gesehen wurden. Zur Zahl der Toten gibt es nur Schätzungen. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags geht von einigen Hundert bis zu 4.000 aus (Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages 2021). An der Mauer sind wohl weniger als 327 Menschen gestorben. Es gab 52 bis 72 Todesurteile für politisch Verfolgte. Ohne verlässliche Zahlen wird von bis zu 50 politisch motivierten Morden oder Mordversuchen durch das MfS (ohne Thüringen) ausgegangen. Die Todesursache für in der Haft Gestorbene lässt sich im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren. Man geht von einigen Hundert bis 2.500 aus. Nimmt man jetzt die Obergrenze der Schätzung, also den für die DDR am ungünstigsten Fall von 4.000 Opfern des DDR-Regimes an, so sieht man, dass das in absolut anderen Größenordnungen liegt als die Verbrechen der Nazis. Wenn in den 40 Jahren der DDR 4.000 Menschen umgekommen sind, dann sind das 100 pro Jahr. Das ist eine große Zahl, ohne Zweifel, aber in der Schlucht von Babyn Jar hat die SS und die Wehrmacht in 36 Stunden 33.000 Juden (Frauen, Kinder und Männer) erschossen.
Hoyers Arbeit
Ich habe das Buch von Hoyer noch nicht ganz gelesen. Bisher nur das Kapitel über die Mauer und das folgende Kapitel über Urlaubsplätze. Hoyer schreibt an keiner Stelle, dass die Mauer eine dufte Sache war. Sie erklärt, warum sie gebaut wurde und beschreibt ausführlich tragische Todesfälle. Hoyer erklärt im Kapitel Hart arbeiten und das Leben genießen, das dem Mauerkapitel folgt, warum der Ausbau des Urlaubssystems notwendig war: Ab 1961, als die Mauer stand, konnte Ulbricht bzw. die Staatsführung Missstände nicht mehr auf Konterrevolutionäre schieben und musste selbst dafür sorgen, dass sich das Volk wohlfühlte. Das herauszuarbeiten ist notwendig, wenn man eine Geschichte der DDR haben will und wenn man die DDR und das Handeln ihrer Bewohner*innen in der Gegenwart verstehen will. Auch im Interview mit der taz gibt es nichts, was man Katja Heuer als Ostalgie oder Verklärung von Tatsachen vorwerfen könnte.
Die DDR war der Staat mit dem größten Spitzelnetz, mit der größten Dichte an Geheimdienstmitarbeiter*innen pro Einwohner, weltweit (Wikipedia-Artikel MfS: ein hauptamtlicher Mitarbeiter pro 180 Einwohner*innen). Die DDR hat sich mit einer Mauer Richtung Westen abgegrenzt und ihr dahinter eingesperrtes Volk bespitzelt und unterdrückt. Das gehört zur Geschichte der DDR. Es gehört aber auch dazu, dass der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund Urlaubsplätze verteilt hat. Über die von Frau Hartz angesprochenen Fakten (Autobahnbau, Kraft-druch-Freude, Volkswagen, usw.) wird auch jede Geschichte des Nationalsozialismus berichten und wird diese historisch einordnen.
Wer war Hitler? Relativierungen
Auf die Frage: „Wer war Hitler?“ gibt es drei mögliche Antworten. Die erste kann man hier in diesem Beitrag des Hessischen Rundfunks aus dem Jahr 1959 bestaunen.
Drei Antwort-Arten sind:
- Hitler hat die Autobahnen gebaut und viele Menschen in Arbeit gebracht.
- Hitler hat systematisch Millionen Menschen ermorden lassen, einen Krieg geführt, bei dem noch mehr umgekommen sind, aber er hat auch Autobahnen gebaut.
- Hitler hat systematisch Millionen Menschen ermorden lassen, einen Krieg geführt, bei dem noch mehr umgekommen sind, und er hat Autobahnen gebaut.
Den Fall 1) kann man im Video sehen. Unakzeptabel. 2) Ist die Relativierung. Ebenfalls unakzeptabel. 3) mit und statt aber ist die Feststellung einer historischen Tatsache, die natürlich in einem Text entsprechend eingeordnet werden muss. Nach dem Muster 3) arbeitet Hoyer und das ist auch wissenschaftlich korrekt.
Schlussfolgerung
Nazi-Deutschland und die DDR sind unvergleichbar. Die Größenordnungen der begangenen Verbrechen ist um den Faktor 20.000 (80.000.000 zu 4.000) oder 133.000 (80 Mio zu 600) verschieden. In Nazi-Deutschland gab es eine größere Beteiligung der Bevölkerung schon allein durch die Kriegsbeteiligung aber auch durch die Konzentrationslager, den Umgang mit Zwangsarbeitern, Deportationen von Juden, die Euthanasie-Verbrechen.
Man sollte also Nazi-Deutschland und die DDR nicht in einen Topf werfen. Wer es tut, hat entweder keine Ahnung vom Umfang der Verbrechen in der DDR oder relativiert die Nazi-Verbrechen, die in den 1000 Jahren davor begangen wurden.
Quellen
Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages. 2021. Zur Zahl der Todesopfer aufgrund politischer Verfolgung in der DDR. Ausgewählte Aspekte. (https://www.bundestag.de/resource/blob/855618/52a47e246eee6bec67127050c4224a74/WD‑1–015-21-pdf.pdf)