Einleitung
Ich arbeite gerade an einer Rezension von Anne Rabes Buch „Die Möglichkeit von Glück“. Ich habe dazu zwei Blog-Posts geschrieben (Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück) und im zweiten auch den folgenden Satz zu Antisemitismus und Nationalismus kommentiert:
Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta.
S. 271
Die Besprechung dieses einen Satzes ist viel zu lang geraten, so dass ich beschlossen habe, sie in einen extra Blog-Post auszulagern. Das ist dieser hier.
Ad hominem: Wer spricht?
Ich habe mich gefragt, wo hat Anne Rabe das nur herhat. Quellen hat sie keine angegeben. Da steht nur dieser eine Satz. Na, vielleicht von Ines Geipel. Dass sie mit Ines Geipel befreundet war/ist habe ich aus einem Artikel in der NZZ über ein angebliches Plagiat von Rabe erfahren (siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Dass Anetta Kahane und Ines Geipel gelogen haben (oder extrem unwissend sind), wenn sie behaupten, der Holocaust sei im Osten nicht vorgekommen, habe ich schon in Der Ossi und der Holocaust besprochen. Zum (fast) nicht vorhandenen Antisemitismus in der DDR hat die Jüdin Daniela Dahn viel geschrieben. Manches ist auch im Holocaust-Post erwähnt. Andere Sachen bespreche ich im Post über die Ausstellung über jüdisches Leben in der DDR, die vom jüdischen Museum organisiert wurde.
Ich habe diverse Interviews mit Anne Rabe gelesen und in einem Interview von Cornelia Geißler von der Berliner Zeitung steht:
Auch der Historiker Patrice G. Poutrus, der eher Oschmanns Generation angehört, hat beobachtet, dass Rechte und Rechtsextreme im Osten auf ein festes nationalistisches Weltbild trafen.
Geißler, Cornelia. 2023. Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzählen“. Berliner Zeitung.
Ich bin ja immer bereit, Neues zu lernen und dachte mir: „Gut, mal gucken, was der Historiker Poutrus herausgefunden hat.“ Als erstes: Kurzer Chek: Er ist aus dem Osten. Also gut, mal gucken. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung habe ich einen Aufsatz von ihm gefunden, den er gemeinsam mit Jan C. Behrends und Dennis Kuck verfasst hat: Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern.
Zweiter Check: Wikipediaeintrag zu Patrice G. Poutrus.
Anschließend arbeitete er als hauptamtlicher FDJ-Funktionär erst im VEB Werk für Fernsehelektronik und dann in der FDJ-Bezirksleitung Berlin. 1988 legte er sein Abitur an der Abendschule der Volkshochschule Berlin-Treptow ab. 1989 wurde er zum Fernstudium der Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin zugelassen.
Nun ja, nun ja. Ein FDJ-Sekretär, der sich für ein Geschichtsstudium beworben hat. In der DDR. Fächer wie Geschichte und Philosophie studierten in der DDR nur die rötesten Socken. Für mich fällt Poutrus damit in eine Gruppe mit Geipel (Vater IM für terroristische Anschläge auf BRD-Gebiet), Kahane (Vater ND-Chefredakteur, sie selbst IM, die aktiv jüdische Freunde verraten hat, siehe Wikipediaeintrag) und Rabe (Funktionärskind): ehemalige rote Socken bzw. Funktionärskinder, die auf die andere Seite vom Pferd gefallen sind. Der Punkt ist: Als belasteter Mensch darf man auf keinen Fall irgendetwas Gutes an dem finden, was man hinter sich gelassen hat, denn andere könnten ja dann denken, man sei immer noch „so einer“.
Rote Vergangenheit allein bedeutet nichts. Menschen können sich ändern. Ad hominem-Argumente sind in der normalen Wissenschaft unzulässig. Aber irgendwie scheint mir hier doch ein Muster vorzuliegen und es geht bei gesellschaftlich relevanten Aussagen eben doch darum, wer spricht. Die echten Argumente zu Poutrus kommen in den nun folgenden Abschnitten. Die gegen Kahane und Geipel habe ich bereits in Holocaust-Post vorgebracht. Die gegen Rabe in den beiden zu Beginn zitierten Blog-Posts und auch vermischt mit dem, was jetzt kommt.
Jugendliche Rechtsextremisten in Jugendtreffs
Ich gehe den Text von Poutrus, Behrends & Kuck einfach mal der Reihe nach durch. Die Autoren schreiben:
Trotz Vereinheitlichungstendenzen und internationaler Vernetzung in der rechten und Skinhead-Szene sind deutliche Unterschiede zwischen der Situation in Ost- und Westdeutschland zu beobachten. Kennzeichnend ist nicht nur die ’starke Dominanz jugendlicher Rechtsextremisten’ in den Jugendtreffs verschiedener ostdeutscher Brennpunkte, sondern die inzwischen erreichte voraussetzungslose Gewaltbereitschaft.
Poutrus, Patrice G., Behrends, Jan C. & Kuck, Dennis. 2002. Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern. Aus Politik und Zeitgeschichte.
Hierzu möchte ich der geneigten Leser*in folgendes Video ans Herz legen:
Der Beitrag zeigt einen Jugendclub in Cottbus, in dem sich Rechtsradikale treffen. Sie werden dort vom CDU-Innenminister Jörg Schönbohm besucht, der die Jugendlichen prima findet (12:30). Die Familie Schönbohm floh 1945 in den Westen. Schönbohm war Generalleutnant in der Bundeswehr und Landesvorsitzender der CDU Brandenburg. Auch sieht man im Video, dass die Nazi-Partei Deutsche Alternative, die in Brandenburg aktiv war, von Menschen aus dem Westen aufgebaut wurde (11:25). Rabe schreibt dazu auch an einigen Stellen etwas und stellt den Einfluss von West-Nazis und Westpolitikern in Frage. Ihre Aussagen im Buch zum Beispiel bzgl. Lichtenhagen sind einfach falsch. Zu dieser Diskussion siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück.
Nationalstolz
Die Autoren argumentieren, dass die DDR einen Nationalstolz zu etablieren versucht habe, der dann später in den jetzt zu beobachten Nationalismus umgeschlagen sei. Im Folgenden möchte ich einige Bereiche untersuchen, auf die man hätte stolz sein können oder sollen.
Sport
Die Staatsführung wollte, dass wir stolz auf unser Land sind. Verständlich. Sie wollte, dass wir gern dort leben und nicht bei der erstbesten Gelegenheit abhauen. Aber hat das irgendwie geklappt? Ich bin ja fast noch nachträglich stolz auf die DDR geworden, als ich gestern gesehen habe, wie gigantisch die Last war, die die Generation meiner Eltern und Großeltern gestemmt hat: Reparationsleistungen und Wiederaufbau (siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Aber zu DDR-Zeiten war ich nicht stolz auf die DDR und kannte außer anderthalb Stasi-Kindern wahrscheinlich auch niemanden, der stolz war. Die DDR hat es versucht. Mit Sport. Katarina Witt war super. Ich habe sie als Kind beim Schaulaufen gesehen. Im Sport- und Erholungszentrum im Friedrichshain. Beim Kinderschaulaufen. Sie war ein Schlumpf. Wahrscheinlich so 14 Jahre alt. Später hing in jedem Klassenraum ein Bild von ihr. Im FDJ-Hemd. Sie war Mitglied der Volkskammer. Sie kannte Bryan Adams und hatte dafür gesorgt, dass er zu einem Konzert nach Berlin kam.
Sie ließ es sich nicht nehmen, ihn anzukündigen. Vor 65.000 Menschen. Sie haben sie ausgebuht.1 Die Gold-Käthe hat es nicht verstanden. Wo kam nur diese Abneigung her? Sie hatte doch alles gewonnen, was man gewinnen konnte? Für die FDJ, für Erich Honecker, für ihr Land. Wir mochten sie nicht.
Nach der Wende hat sie das Land verlassen. Wie man dem folgenden Video entnehmen kann, hat sie heute noch nicht verstanden, warum wir sie nicht mochten.
Sandow hat sogar ein Lied über die Konzerte damals (mit Bruce Springsteen) und über unseren Stolz auf Katharina Witt geschrieben:
Wir bauen auf und tapeziern nicht mit
Sandow: Born in the GDR. 1989
Wir sind sehr stolz auf Katharina Witt
Katharina was born
Born in the GDR.
Betriebe
Meine Mutter hat Betriebsbesichtigungen organisiert. (Für die, die es nicht erlebt haben: Ein Großteil des kulturellen Lebens fand in der DDR auch über die Betriebe statt. Musik, Ausflüge usw. Freigeister fanden das doof. Diese klebrige Enge. Aber das war alles weg, als nach der Wende die Arbeitslosigkeit kam. Persönliche Bindungen weg, Arbeit weg, Kultur weg. Es blieb nur ein Trümmerhaufen.) Jedenfalls habe ich eine Lichtleiterfabrik, eine Fabrik von Sternradio und ein Kugellagerwerk besichtigt. Ich dachte, dass eine Lichtleiterfabrik etwas Hochmodernes sein müsste. Es war eine kleine Klitsche mit Maschinen aus den 70er Jahren. Die Kugellagerfabrik funktionierte. Ich fand es lustig, dass die fertigen Kugellagerrollen auf Schienen durch die Halle rollten. Die Fertigungsanlage für Sternradio wurde aus Schweden importiert. Cooles Zeug. Nestbauweise. Wir konnten sehen, wie die Schaltkreise auf die Platinen kamen usw. Die Taktstraße stand in einem alten Fabrikgebäude. Die Sternrecorder – muss wohl der SKR 700 gewesen sein – wurden ganz oben produziert. Wenn sie fertig waren schwebten sie am Förderband ins Treppenhaus, wo sie dann ins Erdgeschoss hinabgelassen werden sollten. Das Abbremsen der Recorder im Treppenhaus funktionierte nicht, so dass eine große Anzahl der Recorder sechs Stockwerke in die Tiefe stürzte. 1540 Mark einfach futsch. Pfusch. Sollte ich darauf stolz sein?
Ich bin in Buch aufgewachsen. In den Neubauten. Es gab die alten Neubauten, die Neubauten und die neuen Neubauten. Ich konnte dabei zusehen, wie Teile der Neubauten und der neuen Neubauten entstanden. Die Baustellen standen oft Monate lang still, weil Material fehlte. Die Bauarbeiter saßen in den Bauwagen davor. Sollte ich darauf stolz sein? Es gab Wohnungsnot. Später im Westen habe ich mich darüber gewundert, wie schnell man Häuser bauen konnte.
1987 war ich für drei Wochen im Braunkohlewerk Espenhain. Die Schwelerei war zugefroren und das Werk hatte die Armee um Hilfe gebeten. Die Kompanie vor uns hatte die Schwelerei vom Eis befreit, so dass die Förderbänder wieder liefen. Wir waren nur noch zur Sicherheit dort im Einsatz. Ich erinnere mich genau daran, wie wir hingefahren sind. Wir saßen auf einem Laster, ich war eingeschlafen. Irgendwann bin ich aufgewacht, hab einen kurzen Blick nach draußen geworfen und wusste: Wir sind da. Der Schnee war schwarz. Ich habe in der Nachtschicht gearbeitet und meine Aufgabe war es, ab und zu an ein Rohr einer Filteranlage zu klopfen, damit die Asche in einen mit Wasser gespülten Kanal fiel, denn die Klappe dafür verklemmte sich ab und zu. Es gab Förderbänder über die Kohlebriketts aus den Kohlepressen in Bahnwaggons transportiert wurde. Die Briketts kamen aus der Presse über Doppel-T-Träger aus Stahl. Die Träger waren so abgenutzt, dass in der Mitte das Metall weg war. Deshalb verklemmte sich ab und zu ein Brikett, die umliegenden Brieketts ploppten raus und fielen neben die Träger. Unsere Aufgabe war es, die Kohle auf die Bänder zu schippen. Ein Angestellter erzählte uns, dass das normalerweise „die Russen“ machen. Die T‑Träger befanden sich in der Höhe von 2 bis 3 Metern. Wenn dann so viele Briketts runtergefallen waren, dass sie in die Höhe der T‑Träger kamen, wurden die „Freunde“ gerufen und schippten das alles in einem Rutsch weg. Aber da wir nun schon mal da waren, konnten wir das auch erledigen.
Wenn es regnete, sah man die Pfützen nicht. Der Staub lagerte sich auf ihnen ab.
Das Werk Espenhain wurde 1937 von den Nazis gebaut. Schon kriegssicher in redundanter Doppeltausführung: zwei gleiche Kraftwerke nebeneinander.
Nach dem Kohleeinsatz bekamen wir drei Tage verlängerten Kurzurlaub (VKU). Ich habe jeden Tag gebadet. Die Kohle war noch lange in den Poren. (Nicht, dass wir in Espenhain nicht geduscht hätten. Das hat nur nicht viel geholfen.)
Sollte ich auf Espenhain stolz sein? Das war ein komplett runtergerocktes Kraftwerk!
Das steht hierzu in Wikipedia:
In den 1960er Jahren waren die Anlagen im Zusammenhang mit der Wirtschaftsorientierung auf die Erdölchemie massiv auf Verschleiß gefahren worden. Als Anfang der 1970er Jahre die Kohlechemie wieder an Bedeutung gewann, wurde die Produktion in den verschlissenen Anlagen auf maximale Leistung gesteigert. Dadurch und durch nicht vorhandene Investitionen im Bereich des Umweltschutzes stiegen die Schadstoffemissionen in Luft und Wasser sehr stark an. Über dem Ort und seiner Umgebung lag immer eine Wolke von Phenolen, Schwefel, Ruß und Asche. Der hohe Schadstoffausstoß machte es erforderlich, jeden Morgen Straßen und Gehwege zu kehren, da sich eine dicke Ascheschicht niedergelassen hatte. Einige Einwohner berichten, dass gelegentlich die Sonne hinter Aschewolken verschwand und dass Autos tagsüber mit Licht fahren mussten. Die gesundheitlichen Auswirkungen auf die Einwohner der Stadt waren verheerend. Die Lebenserwartung lag infolgedessen einige Jahre unter dem landesweiten Durchschnitt. Vor allem Kinder litten stark unter den auftretenden Haut- und Atemwegserkrankungen, wie z. B. Ekzemen und chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung (COPD). Auch heute noch sind viele Einwohner von Spätfolgen betroffen
Wikipedia-Eintrag zu Espenhain. 24.02.2024
Im Konsum des Werkes gab es Schnaps für 60 Pfennig (Wikipedia sagt 1,12 M) die Flasche (Brauseflasche). Der wurde Kumpeltod genannt. Bergleute und Leute in den Kraftwerken wurden exklusiv damit versorgt. Ich hab das nicht getrunken. Vielleicht bin ich darauf stolz …
In den Nachrichten wurde der 1‑Megabit-Chip gefeiert. Sollte ich darauf stolz sein? Freunde hatten West-Computer, ich arbeitete an Ost-Computern. Ich wusste, wo wir standen.
Alle wussten es. Es gab Witze: „Ein Japaner kommt in die DDR und reist durchs Land. Kurz vor seiner Abreise wird er gefragt, was er am besten fand. Die Antwort: ‚Die ganzen Museen: Pergamon, Robotron, Pentacon.’“ (Nebenbemerkung: Das bedeutet nicht, dass alles Schrott war. Es gab neu errichtete Werke, gut funktionierende Werke, es gab Bodenschatzvorkommen, die ergiebiger waren als die im Westen (Kali). Das alles konnte man in einem Film über die Treuhand sehen, der aber leider privatisiert wurde … (auf youtube auf privat gestellt wurde.))
Ich war nicht stolz auf die DDR. Ich war auch nicht stolz Deutscher zu sein. Wir hatten gelernt, dass Nationalismus das Wurzel allen Übels war. Ich bin nach der Wende noch jahrelang zusammengezuckt, wenn jemand „Deutschland“ gesagt hat, und würde dieses Wort auch heute noch gerne nicht verwenden.
Die Autoren schreiben:
Hilflos gegenüber der Allgegenwart des Westfernsehens und der wirtschaftlichen Überlegenheit der Bundesrepublik, versuchte die Partei eher durch den Vergleich mit den sozialistischen Bruderländern, den Verweis auf die eigene Spitzenstellung (hinter der Sowjetunion), Punkte zu sammeln. Insbesondere in Krisensituationen war die Parteiführung auch bereit, ungeniert antipolnische Stereotype (‘polnische Wirtschaft’) zu bedienen
Es stimmt, dass wir wussten, dass wir die Besten der Abgehängten waren. Noch vor der Sowjetunion. Ich war 1984 in Polen und 1988 in Rumänien und die Versorgung dort war unglaublich schlecht. Aber ich dachte: Puh, da haben wir aber Glück. Und muss ja, weil wir das Schaufenster waren (siehe Bananen im Post Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Stolz war ich darauf nicht. Die Sache mit den Polen stimmt. Das ging gegen Solidarność.
Worauf war ich stolz, worauf konnte ich stolz sein? Auf meine eigenen Erfolge im Sport? Im Schach? In Mathematikolympiaden? Ja.
Auf unsere Täterätä – wie Manfred Krug sie nannte – stolz zu sein, wäre mir nie im Traum eingefallen. Das war bei FDJ-Funktionären und bei Sachsen vielleicht anders.2
Nationalismus und Rassismus
Nationalismus
Zum Nationalismus schreiben die Autoren:
In der ‘patriotischen Erziehung’ der DDR wurden Begriffe wie ‘Heimatliebe’ oder ‘Stolz auf die Errungenschaften’ der DDR mit sozialistischer Ideologie aufgeladen. ‘Sozialistischer Patriotismus’, das hieß unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion, Liebe zur SED und Verehrung für die Parteiführung und Solidarität mit den ‘unterdrückten’ Völkern der Welt. Uns erscheint aber zweifelhaft, ob die Bevölkerungsmehrheit all diese Implikationen nachvollzog oder ob nicht eher nach der prägenden Kraft dahinterstehender tradierter Denkstrukturen, nämlich der kritiklosen Überhöhung des Eigenen und der exklusiven Identifikation mit dem eigenen Kollektiv zu fragen ist. Beruhte diese ‘imagined community’ (Benedict Anderson) also auf genau jenen Mechanismen, die für das Gefühl und das Erlebnis, einer ethnisch definierten ‘Nation’ anzugehören, typisch sind? Einige fachspezifische Forschungsergebnisse weisen in diese Richtung: Die bildungsgeschichtliche Studie von Helga Marburger und Christiane Griese attestiert der DDR-Pädagogik einen starken Homogenisierungsdruck nach innen. ‘Das Eigene war kollektives Eigenes und als solches streng genormt.’
Hm. Ja. Vielleicht. Wie die Autoren selbst schreiben, war es mit „Liebe zur SED und Verehrung für die Parteiführung“ nicht weit her. Den Erich haben wir nicht geliebt. Wir haben ja nicht mal die Katharina geliebt und die sah wirklich gut aus. Was die Staatsführung wollte und was real war, klaffte nicht nur bei der Wirtschaft auseinander.
Aber ist jetzt das DDR-System schuld daran, dass es wollte, dass die Bevölkerung dieses Land liebte und da blieb, statt bei der nächstbesten Gelegenheit in den Westen zu verschwinden? Die exklusive Identifikation mit dem eigenen Kollektiv gehörte sicher nicht zu den „dahinterstehenden tradierten Denkstrukturen“, denn uns wurde immer der Wert der Völkerfreundschaft beigebracht. Internationale Solidarität. Im Kampf für eine bessere Welt, ohne Ausbeutung usw. Das schreiben die Autoren ja auch selbst. Der oben zitierte Absatz scheint mir inkonsistent zu sein.
Weiter:
Lohnend ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf das Verhältnis der Stasi zu den auch in der DDR existenten Skinheadgruppen. In den Stasi-Akten zum Skinheadüberfall auf die Zionskirche von 1987 wird deutlich, wie stark die Denkschemata der Ermittler durcheinander gerieten. Waren doch die Opfer – Ziel des Überfalls war ein Punkkonzert – durch ihren Non-Konformismus bis dahin selbst Objekt von Beobachtung und Verfolgung der Sicherheitsorgane, weil ihre Einstellung als systemfeindlich galt. Was die rechten Schläger betrifft, so reichen die Akten über rechtsextreme Vorfälle bis 1978 zurück. Gleichwohl passte die ‘faschistische’ Orientierung dieser Tätergruppe nicht in das Raster der klassenkämpferisch geschulten Geheimdienstler, hatten die Skins doch wesentliche ’sozialistische Werte’ wie Arbeitsliebe, Ordnung, Sauberkeit und Bereitschaft zum Militärdienst für sich angenommen. Dieses Beispiel verdeutlicht die ’sozial-hygienischen’ Gemeinsamkeiten staatssozialistischer und rechtsextremer Leitbilder. Diese Übereinstimmung war es, die eine couragierte und offene Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus unmöglich machte, wären damit doch die genannten Grundwerte der DDR und letztlich der beschriebene Herrschaftsmodus der SED in Mitleidenschaft gezogen worden.
Sorry. Das geht nicht auf als Argument. Gruppe 1 hat Werte A, B, C, D. Gruppe 2 hat Werte A, B und X. Warum soll Gruppe 1 nicht Gruppe 2 wegen X bekämpfen können? Wenn es Nazi-Musik gibt, liegen Straftaten vor, gegen die man vorgehen kann. Ich hatte Kassetten in der Hand, auf denen Songs wie „Töte Deinen Nachbarn!“ und „Mein goldener Schlagring“ waren.
Übrigens kann man den Stasi-Unterlagen zum Vorfall in der Zionskirche auch entnehmen, dass da Skinheads aus West-Berlin dabei waren. Just saying.
Reisen
Zum Thema „Fremde und Ausländer in der DDR“ schreiben die Autoren:
Spätestens seit dem Mauerbau waren Auslandsreisen und internationale Mobilität aus dem Alltag der DDR verbannt. Nur wenige konnten sich private Urlaubsreisen etwa nach Bulgarien oder Ungarn leisten. Besuche im Westen waren Ausnahmen im Falle wichtiger Familienangelegenheiten. Für die Mehrheit der DDR-Bürger war Reisen ein staatlich gewährtes Privileg. Diesen eingeschränkten Erfahrungshorizont gilt es zu berücksichtigen, wenn man den Aufenthalt von Fremden und Ausländern in der DDR betrachtet. Die staatssozialistische Diktatur mit ihrem allumfassenden Regelungsanspruch ‘offizialisierte’ jede Form und Gelegenheit des Kontakts zu Fremden, so wie sie das mit allen sozialen Beziehungen zu verwirklichen suchte. ‘Gesellschaft’ im Sinne eines relativ autonomen Bereichs sozialer Beziehungen und Institutionen, wie er für bürgerlich-liberale Staaten typisch ist, sollte es in der DDR nicht geben, und das galt auch und gerade auf diesem Gebiet. Kontakte und Umgang außerhalb der staatlich festgelegten Regeln waren nicht vorgesehen, entweder explizit verboten, zumindest aber unerwünscht. Angehörige unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten sollten sich der SED-Ideologie zufolge gewissermaßen daher immer als ‘Repräsentanten’ ihrer jeweiligen Staatsvölker, quasi in diplomatischer Funktion, begegnen, nicht jedoch auf einer ‘Von-Mensch-zu-Mensch-Basis’. Das einander Akzeptieren als ‘Menschen wie du und ich’, als individuelle Gäste und Gastgeber, Durchreisende und Einheimische, als Zufallsbekanntschaften etc. wurde dadurch von vornherein erschwert bzw. erforderte bewusstes, eigensinniges Gegenhalten — wofür es durchaus Beispiele gab! Die Botschaft der offiziellen Regelungswut war aber: ‘Staatszugehörigkeit’ (und die machte sich praktisch an der Nationszugehörigkeit fest) ist eminent ‘wichtig’, der Internationalismus stellte die Vorrangstellung der Nation nie infrage .
Das hat mich einigermaßen verwundert. Denn ich war in Moskau, Carlovy Vary (Karlsbad)
Prag, Budapest, Brașov, Bukarest, Sofia, Sosopol, Varna, Warschau und Puławy. An vielen Orten war ich mehrfach. Das Einzige, was man bezahlen musste, war eine Zugfahrkarte. Die war nicht teuer. Lebensmittel kosteten genau so viel wie zu hause. Geschlafen haben wir auf dem Zeltplatz. Ich war im Bucegi-Gebirge wandern. Wir hatten Seife und Kaffee mit. Beste Zahlungsmittel in Rumänien damals. Die Tour Berlin–Sosopol war der Standard damals. Ich weiß noch, dass die Sonnenschirme in Sosopol 3 Mark gekostet haben. Das haben wir uns nicht geleistet. Einmal hatte ich Fieber, da mussten wir. Man hat unterwegs dieselben Leute in Prag und Budapest getroffen. Die Reisen fanden zwischen 1984 und 1989 statt. Ich war jung und hatte kein Geld. Es ging dennoch.
In Budapest schliefen die Ossis immer einfach unter freiem Himmel auf der Magareteninsel. Das ging den Ungarn irgendwann so auf die Nerven, dass sie eine Speziallösung für uns Ostdeutsche entwickelten: Es gab am Ende der U‑Bahn-Linie einen mit Stacheldraht umzäunten Platz, auf dem man umsonst schlafen konnte (steht auch im Wikipediaeintrag zur Magareteninsel). Man musste seinen Personalausweis am Eingang abgeben und am Morgen kam um 6:00 die rendőrség, stellte sich neben die Schlafenden und drehte einmal voll die Sirene auf. Alle waren wach. Bis um 7:00 oder 8:00 hatte man das Gelände wieder zu verlassen. Manche haben gezeltet, manche unter freiem Himmel geschlafen. Findige Ungarn haben ein Geschäftsmodell entwickelt: Man konnte seinen Rucksack bei ihnen im Garten abstellen, denn die Schließfächer an den Bahnhöfen waren alle belegt. Ich habe einmal da draußen gezeltet. Wo dieser Zeltplatz war, konnte man herausfinden, indem man andere Ossis fragte. Wir haben uns an den Schuhen (Römerlatschen oder Tramper) erkannt. Bei meinen anderen Budapest-Besuchen habe ich immer in einem privaten Garten gezeltet. Mehrere Ungarn hatten ihre Gärten zu Zeltplätzen umfunktioniert.
Von der Schule aus war ich in Moskau, Carlovy Vary und Polen (Puławy, Warschau, Auschwitz). Das entspricht dem, was die Autoren geschrieben haben: Wir waren in diplomatischer Funktion dort. Ich bin auch Ehrenpionier der Sowjetunion geworden, was mir später in meiner Zeit als Kanzlerkandidat der Partei Die PARTEI sehr helfen sollte (siehe Korrektur Lebenslauf).
Ich brauchte keine rote Krawatte mehr zu kaufen, sondern habe einfach das rote Halstuch genommen, das noch im Keller lag. (Oh, gehöre ich jetzt zu einer Gruppe? Bin ich mitschuldig geworden? Im Sinne der Blutschuld, die Anne Rabe vertritt?) Der Rest der Reisen waren Individualreisen.
Nun kann man einwenden, dass ich und die anderen Menschen, die ich kannte, nicht repräsentativ für die DDR war. Schließlich war ich Abiturient und die Anzahl der Abiturient*innen war insgesamt eher gering. Zwei Schüler*innen aus einer POS-Klasse mit 30–31 Schüler*innen. Peer, ein Schulfreund, der auch mit in Moskau war, hat diesen Einwand auch sofort gebracht. Da er aber auch die beste Such-Maschine der Welt ist, hat er ihn dann auch gleich entkräftet. Und zwar so richtig.
Eine Meldung aus dem Jahre 1989 kündigt den neuen internationalen Jugendherbergsausweis an.
Da dieser Ausweis damals neu war, gab es das vorher noch nicht. Aber immerhin zeigt das schon mal, dass die Aussage der Autoren nicht richtig sein kann. Es geht explizit um Individualreisen, günstige Individualreisen ins Ausland.
Aber auch schon 1976 gab es Individualreisen nach Ungarn. Mit dem Bus.
Im Artikel steht, dass Privatquartiere am Balaton vermittelt werden. Das passt nicht zu den Angaben der Autoren. Staatlich organisierte Individualreisen. Unterstützender geht es nicht.
Es gibt einen Zeitzeugenbericht über Möglichkeiten für Urlaubsreisen der DDR-Bürger ins Ausland.
Peer hat auch Anzeigen für Fahrten ins Ausland gefunden:
Peer merkt an:
Dass man nicht alles glauben sollte, was in Zeitungen steht oder gar in DDR-Zeitungen stand, gilt hier natürlich auch. Aber es wäre keine propagandistische Glanzleistung, eine Nachfrage bzw. ein Bedürfnis nach Auslandsreisen zu wecken, das man eigentlich verhindern wollte.
Peer auf Mastodon, 21.04.2024
Den Punkt „Ossis haben noch nie andere Menschen gesehen.“ können wir also getrost abhaken.
Jugend-Feldbettspiele
Die Autoren schreiben:
Tatsächlicher Kontakt der Bürger mit Ausländern stellte für die SED-Diktatur dagegen ein Sicherheitsrisiko dar. So unterlagen auch die wenigen internationalen Veranstaltungen wie die ‘Weltfestspiele der Jugend und Studenten’ im Sommer 1973 oder die ‘Festivals des politischen Liedes’ politischer Kontrolle.
Hey, warte mal. Auch das habe ich anders gehört. Es gab nach dem Festival viele internationale Kinder. Es war ein Fest der Völkerfreundschaft. Sollten die Organe des Inneren so versagt haben und komplett die Kontrolle über die äußeren Organe verloren haben? Das Festival der Jugend war unser summer of love.
Das schreibt der Tagesspiegel dazu:
Das eigentliche Festival findet nicht in den Bars oder Klubs statt, sondern unter freiem Himmel. Zehntausende von Jugendlichen kampieren in den Grünanlagen der Ost-Berliner Innenstadt. Das bleibt nicht ohne Folgen. Das Festival zeitigt Festival-Ehen und Festival-Kinder, und im Volksmund heißen die Jugend-Weltfestspiele bald Jugend-Feldbettspiele.
Goldmann, Sven. 2013. Weltfestspiele der Jugend 1973: Love & Peace in Ost-Berlin. Tagesspiegel. Berlin.
Es waren 8 Millionen Menschen in der Stadt. Es war die Hölle los. Der Tagesspiegel beschreibt auch die Maßnahmen der Stasi, aber die Verbrüderung bzw. Verschwesterung oder Vermenschung der 8 Millionen konnte und sollte nicht verhindert werden. Alle sprachen offen. Sogar mit den Typen von der CDU.
Vertragsarbeiter
Was stimmt, ist, dass man die Vertragsarbeiter eigentlich nicht gesehen hat und zu den Sowjetsoldaten hatte man im Prinzip auch keinen Kontakt. Ich hatte mal „diplomatischen“ Kontakt, weil wir bei unseren Freunden in ihrer Kaserne waren und Schach gespielt haben. Ich habe gewonnen. Geredet haben wir nicht viel. Wohl eher, weil mein Russisch zu schlecht war. Als Schüler habe ich bei Bernau Erdbeeren gepflückt. Da waren auch ein paar Sowjetsoldaten. Ich habe gegessen und gepflückt, sie haben nur gepflückt. Sie waren unglaublich schnell. Geredet haben wir nicht. Über „Меня зовут Стефан.“ wäre ich auch nicht hinausgekommen und vielleicht hätten sie auch Ärger bekommen. Bei meiner Frau an der Burg Giebichenstein in Halle haben Kubaner, Vietnamesen, Tschechen und Bulgaren studiert. Es gab Verträge mit den jeweiligen Ländern. An der Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin gab es Student*innen aus der Bulgarien, Mongolei, Nordkorea, China, der UdSSR, Kuba. Für diesen Austausch gab es Verträge. Das lief unter Entwicklungshilfe. Dass die Student*innen dann nicht hier geblieben sind, lag an ihren Entsenderländern. Bulgarien wollte eine hohe Summe für die Ausbildung ihrer Staatsbürger*innen als Ablöse, wenn diese nicht zurückkamen. Ehen und andere Gründe waren dabei egal.
Dass es Konflikte und rassistische Vorfälle mit den Vertragsarbeiter*innen in den Betrieben gab, kann ich mir vorstellen. Auch dass diese vertuscht wurden, weil nicht sein konnte, was nicht sein darf. Aber dass diese eben nicht sein durften, war die offizielle Staatslinie. Das war der Anspruch. Der Rassismus war nicht etwas, was den DDR-Bürger*innen beigebracht wurde. Als Beleg möge die folgende Seite aus Bummi für Eltern 1/1981 gelten:
Das Stück ist eindeutig ein Propagandatext. Es geht um den guten Menschen Lenin. Dann geht es um Urlaub im Ausland (erneut ein Widerspruch zu den Behauptungen der Autoren) und um ihren Freund aus Afrika. Auch wenn diese Texte vielleicht nicht viele gelesen habe, schon gar nicht bis zu der Stelle nach Lenin, so ist die Aussage des Bildes doch klar. Die Menschen aus Afrika sind lieb. Sie tragen unsere Kinder. Papi war ein Jahr dort und hat ihnen geholfen und jetzt studiert Ibrahima hier. Geht so Rassismus? Ich bin nicht zum Rassismus erzogen worden, sondern zu Völkerfreundschaft und Verständigung. Und zwar vom Kindergarten bis zum Untergang der DDR.
Mit der Zuspitzung der Versorgungskrise der DDR Ende der achtziger Jahre hielten die Schlagworte ‘Schmuggel’ und ‘Warenabkauf’ durch Ausländer Einzug in die gesteuerten DDR-Medien, versuchte die SED doch auf diesem Wege von ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik abzulenken. Die im Band Ausland DDR veröffentlichte Leserbriefsammlung der Berliner Zeitung aus der Zeit des Mauerfalls zeigt, welche Blüten die Fremdenfeindlichkeit bereits weit vor der Einheit getrieben hatte. Sie bietet ein Panorama aus besonders antipolnischen Vorurteilen (‘arbeitsscheu’, ‘faul’), Ausverkaufs- und Überfremdungsängsten (‘wollen wir etwa eine Mischrasse?’), aber auch wenigen mahnenden Stimmen .
Das kann sein. Und wenn diese Botschaften wirklich über die DDR-Medien verbreitet worden sind, dann ist auch wirklich die DDR-Führung dafür verantwortlich zu machen. Ansonsten ist die Tatsache, dass eine bestimmte Frage in der Leserbriefsammlung vorkam, noch nicht viel wert, denn es geht ja darum, den höheren Grad an Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der DDR zu erklären. Und diese Stimmen hätte man wohl im Westen mit seiner ungebrochenen Nazi-Tradition3 auch finden können. Ich erinnere nur an Horst Seehofer, der den Verfassungsschutzbericht über die Einstufung der AfD als rechtsextreme Partei hat ändern lassen, weil die CSU zum Teil dieselben Sprüche klopft, wie die AfD (Süddeutsche, 21.01.2022).
Medizinische Versorgung
Ich bin in Berlin Buch aufgewachsen. Meine Klassenkamerad*innen waren zum großen Teil Kinder von Ärzt*innen und sonstigem medizinischen Personal. In den 70ern und 80ern gab es eine spezielle Krankenstation zur Pflege und Versorgung Schwarzer Menschen, die in Namibia und Angola in der SWAPO im Widerstandskampf gegen das südafrikanische Apartheidsregime gekämpft hatten. Über diese Krankenstation und die Menschen und ihre Versorgung wurde in der Aktuellen Kamera und auf Titelseiten von gern gelesenen Zeitschriften berichtet.
Rassismus war explizit ein Thema:
Für mich sind Rassisten Menschen, die solche Verbrechen begehen oder gutheißen. Nicht aber diejenigen, die sie anprangern und den Opfern dieser Verbrechen helfen und sie über lange Jahre gesund pflegen.
Ich war mit einem Jungen befreundet, dessen Vater ein Dichter aus Syrien war und dessen Mutter Ärztin. Er war voll integriert, anerkannt in der Schule. Null Problemo. Die Beziehung wurde nicht unterbunden. Es gab viele geflüchtete Kommunisten, die in der DDR Zuflucht gefunden hatte. Ein Junge aus meiner Klasse hatte einen italienischen Vater. Er war Chefarzt in einem Krankenhaus. Es waren Menschen aus Chile und aus Griechenland in der DDR. Honecker hatte einen chilenischen Schwiegersohn, zu dem er dann nach der Wende auch ausgewandert ist.
Der nationalistische Taumel der Wiedervereinigung
Ganz zum Schluss, im Fazit, wird das angesprochen, was ich für den eigentlichen oder zumindest den wichtigsten Grund halte.4 Im Fazit steht das wichtigste Wort: Wiedervereinigungseuphorie. Das ist der Punkt. Kohl kam nach Dresden. Er schwamm in einem Meer aus Fahnen. Ein nationalistischer Taumel. Vom Westen gewollt und gefördert. Die taumelten drüben genauso. Vielleicht ist es zu einfach, aber wir haben das damals gesehen.
Wir hatten Angst davor.
Deutschtümelei! Nationalismus! Das kam von der Bundesregierung. Nicht in Berlin. In Berlin wurde Kohl ausgebuht.
In Sachsen wurde er mit offenen Armen empfangen. Er hat den Ossis blühende Landschaften versprochen. Von Oskar Lafontaine, dessen Herz links schlug, und der damals Kanzlerkandidat der Partei war, in der auch Anne Rabe Mitglied ist, wollte niemand etwas Wissen. Er hat die Wahrheit gesagt. Aber „die Wahrheit ist hässlich und hat stinkenden Atem“.
Sicher ist alles nicht monokausal. Die Sache mit den Vertragsarbeiter*innen spielt bestimmt eine Rolle, aber den gesamtdeutschen Nationalismus nur in einem Satz zu erwähnen, ist nicht angemessen.
Zusammenfassung
Ich habe zu Beginn besprochen, dass einer der Autoren des hier besprochenen Aufsatzes, so wie Geipel, Kahane und Rabe, stark mit der DDR verbandelt war. Eine Erklärung für einseitige und falsche Positionen oder Sichtweisen kann dann sein, dass man überhaupt nicht erst in den Verdacht von Systemnähe kommen will.
Zu den „jugendlichen Rechtsextremisten in Jugendtreffs“ habe ich angemerkt, dass diese dort von höchster Stelle geduldet waren. Von Jörg Schönebohm, Generalleutnant der Bundeswehr a.D. und Vorsitzender der CDU, Brandenburg. Nazi-Aktivitäten wurden im Osten durch die Verantwortlichen, die fast ausschließlich aus dem Westen waren (siehe Rabe-Post) nicht ausreichend verfolgt. Die Autoren sprechen vom Nationalstolz, der in der DDR gefördert wurde. Vielleicht waren Menschen stolz auf verschiedene Sportler oder auf Gesamtergebnisse bei Olympiaden, aber bei Katharina Witt war das nicht der Fall. Sie wurde von Tausenden ausgebuht. Nach der Wende hat sie das Land verlassen, weil sie nicht verstanden hat, woher die Abneigung kam. Die Wirtschaft war marode, nichts worauf man stolz sein konnte. Die Behauptung, man hätte in der DDR nicht reisen können und Individualreisen seien unerwünscht gewesen, ist schlicht falsch. Auch die Bemerkungen zu den Jugend-Weltfestspielen entsprechen nicht den Tatsachen, wie man auch noch genauer im zitierten Tagesspiegel-Artikel nachlesen kann. Dass es nicht viel Kontakt zu Vertragsarbeitern gegeben hat, stimmt. Der nationalistische Taumel nach der Wende, der vom Westen auch befeuert wurde, ist sicher ein relevanter Faktor, wurde aber von den Autoren nicht angemessen diskutiert.
Für Anne Rabes Behauptung, im Osten hätte es ideologisch motivierten Nationalismus gegeben, liefern Poutrus, Behrends & Kuck jedenfalls keine Beweise.
Quellen
Balser, Markus & Steinke, Ronen. 2022. Verfassungsschutz: Seehofer ließ Verfassungsschutzkritik an AfD abschwächen. Süddeutsche Zeitung. (https://www.sueddeutsche.de/politik/afd-verfassungsschutz-seehofer-gutachtenvergleich‑1.5511775)
Geißler, Cornelia. 2023. Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzählen“. Berliner Zeitung. Berlin. (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/literatur/osten-interview-schriftstellerin-anne-rabe-es-reicht-nicht-die-ddr-immer-nur-vom-ende-her-zu-erzaehlen-debatte-dirk-oschmann-li.341318)
Goldmann, Sven. 2013. Weltfestspiele der Jugend 1973: Love & Peace in Ost-Berlin. Tagesspiegel. Berlin. 22.07.2013 (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/love-peace-in-ost-berlin-8099431.html)
Hartwich, Doreen & Mascher, Bernd-Helge. 2007. Geschichte der Spezialkampfführung (Abteilung IV des MfS): Aufgaben, Struktur, Personal, Überlieferung. Berlin. (Stasi-Unterlagen-Archiv.) (https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/archiv/fachbeitraege/geschichte-der-spezialkampffuehrung-abteilung-iv-des-mfs/#c2565)
Litschko, Konrad. 2017. Neues Gutachten zu NSU-Mord. taz. 03.04.2017. Berlin. (https://taz.de/Archiv-Suche/!5397496/)
Mau, Steffen. 2020. Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft (Schriftenreihe 10490). Bonn: Zentrale für Politische Bildung. (https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/303713/luetten-klein)
mh. 2022. Rostock-Lichtenhagen 1992: Ein Polizeidebakel. (https://www.mdr.de/geschichte/zeitgeschichte-gegenwart/politik-gesellschaft/was-wurde-aus-der-volkspolizei-rostock-lichtenhagen-randale-100.html)
Poutrus, Patrice G., Behrends, Jan C. & Kuck, Dennis. 2002. Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern. Aus Politik und Zeitgeschichte (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25428/historische-ursachen-der-fremdenfeindlichkeit-in-den-neuen-bundeslaendern/).
Schulz, Daniel. 2018. Professorin über Identitäten: „Ostdeutsche sind auch Migranten“. taz. Berlin. (https://taz.de/Professorin-ueber-Identitaeten/!5501987/)
Schwarz, Marietta. 2023. Anne Rabe: „In verwirrenden Zeiten sind einfache Narrative verführerisch“. 31.12.2023. Deutschlandradio. (Zwischentöne.) (https://www.deutschlandfunk.de/anne-rabe-in-verwirrenden-zeiten-sind-einfache-narrative-verfuehrerisch-dlf-84b94bff-100.html)
Teuwsen, Peer. 2023. Verheimlichte Nähe. Neue Züricher Zeitung. 30.09.2023 (https://www.nzz.ch/feuilleton/anne-rabe-verheimlichte-naehe-ld.1782626)