Israel ist ein schönes Land. Ich war zweimal zu Workshops dort in Haifa. Einmal 2006 und einmal 2015. 2006 sind wir mit dem Bus zum See Genezareth gefahren. Ich habe die Orte gesehen, an denen der Jude Jesus Christus 5.000 Menschen gespeist und diverse andere Wunder vollbracht hat.
Ich war auch einige Tage in Jerusalem. Eine wunderbar verrückte Stadt. Sie ist wichtig für unglaublich viele Religionen.
Wenn man Bus fährt sitzen neben einem 18jährigen in Zivilkleidung mit großen automatischen Gewehren in der Hand.
Ich habe eine Freundin in Israel und einen guten Kollegen. Die Freundin hatte auch den Workshop 2015 organisiert. Ich war danach mit ihr und einem Kollegen am Toten Meer und wir haben Masada besucht. Masada ist eine Festung auf einem Tafelberg. Umgeben von Wüste.
Masada war lange der Ort, an dem die neuen Rekrut*innen der israelischen Armee vereidigt wurden. Das wurde dann irgendwann abgeschafft, weil die Massenselbstmordgeschichte der jüdischen Kämpfer, die diese Festung gegen die Römer verteidigt hatten, nicht so ganz zum gegenwärtigen Selbstverständnis der Armee passte.
Wir besuchten eine Oase in der Nähe von Masada. Wasser. Leben.
Der Vater meiner Schwiegermutter hat einem Juden das Leben gerettet. Er hat ihm ein Zug-Ticket durch die Sowjetunion nach Wladiwostok gelöst. Von dort floh er über Japan in die USA. Mithilfe meines israelischen Kollegen konnte ich seinen Neffen 2006 in Herzlia ausfindig machen. Mein Schwager hat ihn dann in Israel besucht.
Gaza
Ich habe eine Kollegin, deren Mann aus Gaza kommt. Die beiden haben einen Sohn. Meine Kinder haben mit ihm gespielt.
Gaza ist schon länger von Israel abgeriegelt. Es gibt dort nicht genügend Wasser. Amnesty International hat das im Juni 2022 beschrieben (AI, 2022). AI erklärt die Lage der natürlichen Wasservorkommen und die Verteilung des Wassers aus dem See Genezareth. 25% der Krankheiten in Gaza rühren von der mangelnden Wasserversorgung her. Mehr als die Hälfte der Kinder leiden unter Durchfallerkrankungen.
Deutschland leistet Entwicklungshilfe im Gaza-Streifen. Wasserwerke, Klärwerke werden gebaut (BMZ, 05/2023).
Nach den unglaublich brutalen Überfällen der Hamas, hat Israel nun zeitweilig Blockaden von Wasserzufuhr und Strom sowie Treibstoff verhängt. Strom oder Treibstoff braucht man für Pumpen und Meerwasserentsalzungsanlagen.
Wir hatten neulich einen Stromausfall. Meine Tochter sagte danach auch zu Gaza: Sie wüsste überhaupt nicht, was sie ohne Strom machen sollte. Der Stromausfall hat die Netzfreischaltung in meinem Zimmer geschrottet, so dass ich eine Woche im Zimmer keinen Strom hatte und Verlängerungskabel dorthin legen musste. Aber das alles, ein Leben ohne Computer oder Handy ist nichts im Vergleich zu einem Leben komplett ohne Strom. Krankenhäuser, Wasserpumpen, Klimaanlagen funktionieren nicht mehr und das inmitten zerstörter Häuser, fliehender Menschen usw. Letztendlich sind in solchen Situationen Telefone auch von anderen Bedeutung als hier bei uns, wo sie im Wesentlichen der Zerstreuung dienen.
Hört auf zu streiten!
Wir sind mit einem Paar befreundet, das sich gelegentlich streitet. Wir haben neulich solch einen Streit miterlebt. Das Paar hat einen Sohn. Dieser rief mitten im Streit: „Hört auf zu streiten! Ihr seid beide Scheiße!“
Das beschreibt die Situation ganz gut, denke ich. Und so sitze ich in meinem Zimmer, lese die Zeitung, schaue Nachrichten und dreimal am Tag stehe ich auf und schreie: „HÖRT AUF ZU STREITEN! IHR SEID BEIDE SCHEISSE!“ Es hört mich niemand.
So, hier ist der Post zu Ende. Aber wie immer gibt es noch Gefundenes und Nach-Gedachtes.
Anhang
The Enshittenment
Sieg der Vernunft
Die Musiker von Knorkator sind sehr ernsthafte Menschen, die in einer Spaßband arbeiten. In den vergangenen Jahren haben sie immer wieder komplexe Themen wie Glück, Wohlstand, Fortschritt, Reichtum, Milliardäre, Klimakatastrophe und Krieg thematisiert. Sieg der Vernunft ist von 2022 und passt auch zum Israel-Hamas-Konflikt wie die Faust aufs Auge.
Literatur
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. 2023. Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen mit einem Fokus auf Wasser: Abwassermanagement Bessere Infrastruktur im Wassersektor. (https://www.bmz.de/de/laender/palaestinensische-gebiete/weiteres-engagement-17822) 30.05.2023
So, nun gibt es etwas Neues. Die Ossis bräuchten doch mal ein 1968, um mit ihren Eltern darüber zu reden, was die so während der DDR-Zeit gemacht hätten. 1968 wird auch immer wieder im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Faschismus erwähnt. Es wird behauptet, dass darüber im Osten genau so wenig wie im Westen gesprochen wurde und dass das eben daran läge, dass es im Osten kein 1968 gegeben hätte. Das ist Quatsch bzw. eine Lüge bzw. eine quatschige Lüge. Ich habe das ausführlich in meinem Blog-Post zum Umgang mit dem Holocaust in der DDR nachgewiesen: Im Osten wurde in der Schulbildung, mittels Briefmarken, Denkmälern, Straßennahmen, Schulnamen usw. auf die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus hingewiesen und zwar schon seit kurz nach dem Krieg, als es den Begriff Holocaust noch gar nicht gab. Es gab über 1000 Bücher zum Thema und über 1000 Filme. Das alles ist im Prinzip bekannt und gut dokumentiert durch zwei Bücher und eben auch diesen Blog-Beitrag, den es ja nun auch schon seit 2019 gibt. Jetzt sind zwei Bücher erschienen. Eins von einer Frau aus dem Westen, eins von einer Frau, die 1986, also drei Jahre vor der Wende, im Osten geboren wurde. Sie schreibt über eine Familie in der Kinder Gewalt ausgesetzt sind. Daraus werden dann diverse Schlussfolgerungen gezogen. Darüber, wie der Ossi so ist, dass es in den Familien Gewalt gab und letztendlich ergibt sich wieder die Erklärung dafür, warum die Ossis so scheiße sind.
Zwei Fragen hätte ich an Euch, liebe Wessis. Warum glaubt Ihr, mir mein Leben erklären zu dürfen? Woher nehmt Ihr die Gewissheit, nur irgendwie annähernd verstehen zu können, wie das war? Ihr regt Euch fürchterlich drüber auf, wenn ein Kind mit Federschmuck zum Fasching geht, Ausdruck großer Bewunderung für die amerikanischen Ureinwohner, oder wenn ein Kind im Kimono kommt. Aber Ihr kommt angeritten und wollt einem Fünftel der Landesbevölkerung erklären, wie es damals in deren Land war? Warum? Weil Ihr dieselbe Sprache sprecht? Ich sag jetzt jedes Mal, wenn Ihr wieder so einen Artikel verfasst habt, laut: Indianer. Drei Mal! Indianer, Indianer, Indianer. So, dit zeckt, wa?
Ihr habt die DDR übernommen. Die ahnungslosen Ossis haben sich Euch in die Arme geworfen. Die Bürgerbewegung wollte es mehrheitlich nicht, aber die Mehrheit wollte es schon. Nun isses so, wie es ist: Die Menschen sind arbeitslos geworden, die Industrie wurde abgewickelt, verschenkt oder zerstört. Wissenschaftler*innen wurden entlassen. Es bleiben ein paar still vor sich hinblühende Landschaften. Mit Männerüberschuss, komischer Altersstruktur, weil alle, die konnten, in den Westen zum Arbeiten gegangen sind. Und jetzt kommt Ihr an und wollt irgendwie herausfinden, warum wir so komisch sind? Ihr versucht das an einer Zeit festzumachen, die 34 Jahre zurückliegt und nur 40 Jahre lang war? Klingt irgendwie merkwürdig, zumal die entscheidende Zeit, die mit den größten Transformationen und den größten Brüchen ja für alle noch lebenden Ossis wohl die Wende 1989 sein dürfte.
Gewalt/Keine Gewalt
Anne Rabe verarbeitet ihre Gewalterfahrungen in einem Roman. Sie wurde 1986 geboren und war also zur Wende drei Jahre alt. Ich weiß nichts über die Familie und was da aus der DDR noch mitgekommen ist, aber die Eltern dürften vom Nachwendechaos beeinflusst gewesen sein, das natürlich ein zusätzlicher Stressfaktor für alle war und eventuelle Neigungen zu Gewalt verstärkt haben könnte. (Nachtrag: Ich habe das Buch jetzt gelesen und Rabe beschreibt darin keine Nachwendegewalt. Sie beschreibt eine gewalttätige Familie. Schlagende Großväter und eine psychopathische Mutter. Sie schreibt selbst, dass ihre Familie nicht normal war. siehe Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe, Nachtrag 2: Bereits 2021 gab es eine Studie der Uni-Leipzig, in der herausgefunden wurde, dass es im Westen mehr Gewalt als im Osten gab. Wie Sabine Rennefanz 2023 im Tagesspiegel anmerkte, wurde diese Studie in den Leitmedien komplett ignoriert (Rennefanz, 2023). Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre Anne Rabes Roman vielleicht nie geschrieben, veröffentlicht oder wahrgenommen worden.) Aus meinem Schulumfeld sind mir keine Fälle von Gewalt in Familien bekannt. Ich habe vor zwei Jahren von einer Bekannten von Gewalt in ihrer Familie erfahren, aber das jetzt als typisch für den Osten einzuordnen, wäre komplett verfehlt.
Dirk Knipphals, geboren 1963, in Kiel und Hamburg studiert, also wohl aus dem Westen, schreibt:
Die Privatheit, auch die Familie waren keine Schutzräume, die dem Zugriff des Regimes entzogen waren. Es gab den Überbau, für eine bessere, gerechtere antikapitalistische Welt zu streiten, und die Eltern der Ich-Erzählerin Stine glauben in dem Roman unbedingt daran – und zugleich fehlte die Möglichkeit, innerhalb der Familie nahe Beziehungen zwischen der Eltern- und der Kindergeneration aufzubauen. Das macht das individuelle Schicksal, das von Anne Rabe geschildert wird, allgemein interessant. Es trifft auf viele Familien der DDR zu.
Mit Verlaub, das ist einfach Quatsch. Viele Leute haben sich ausgeklinkt und ihr Ding gemacht. Es war klar, dass die Stasi versucht hat, alles zu unterwandern, was irgendwie dem System gefährlich werden konnte. Man musste dann damit rechnen, dass die Stasi irgendwo zuhört, aber man konnte eben doch sein Ding machen. Ich habe in den 70ern West-Bücher gelesen (Comics und Simmels Es muss nicht immer Kaviar sein), von Freunden geborgt. Ich habe 1988 Dialektik ohne Dogma von Robert Havemann und ein Buch von Rudolf Bahro von meinem Deutschlehrer geborgt bekommen. Mein Lehrer war sogar in der Partei, aber irgendwie trotzdem so eine Art Dissident.
Und die meisten DDR-Menschen waren einfach unpolitisch, sind nicht angeeckt und haben sich ins Private zurückgezogen. Natürlich gab es da Privatheit. Und woher nimmt Dirk Kipphals die Gewissheit, dass irgendetwas auf viele Familien zutrifft. Indianer, Indianer, Indianer! Echt, wenn Ihr so was behauptet, möchte ich Quellen. Untersuchungen. Und als Sprachwissenschaftler weiß ich auch, dass „viele“ vom Kontext abhängt. Drei? Drei Millionen? Mehr als im Westen? 15 Millionen?
Zur Gewalt in der DDR hier noch folgendes Zitat vom unverdächtigen Bayrischen Rundfunk:
In der DDR wurde in antifaschistischem Selbstverständnis die Prügelstrafe an Schulen 1949 abgeschafft, als „Relikt inhumaner Disziplinierungsmethoden des NS-Regimes“ – während in Westdeutschland der Bundesgerichtshof Lehrern noch 1957 ein „generelles Gewohnheitsrecht“ zum Prügeln zusprach.
In den bundesdeutschen Ländern wurde die Prügelstrafe erst 1973 verboten, Bayern schaffte sie als letztes Bundesland 1983 ab – ein Verdienst der 68er-Bewegung und deren Wunsch nach gewaltfreier Erziehung. Auch die Schüler selbst forderten damals eine andere Pädagogik.
In meiner POS gab es den Chemielehrer Herr Keil, der mit dem Schlüsselbund warf. Das hätte ins Auge gehen können. Niemand hat jemanden geschlagen.
Im privaten Bereich wurde in der BRD das Prügeln übrigens erst 2000 verboten, weil die BRD eine UN-Vorgabe umsetzen musste. Ej, Mann! Und da kommt Ihr uns mit der Gewalt in der DDR wegen eines repressiven Systems? Papa gibt mal ne Schelle, war im Westen ganz normal. Übrigens: große Errungenschaft: Ab 1957 durfte Mama auch ganz offiziell mit zulangen. Vorher war das dem Herr im Hause vorbehalten:
In Deutschland sprach der Bundesgerichtshof Lehrern noch 1957 ein „generelles Gewohnheitsrecht“ zum Prügeln zu. Ein Jahr später wurden Männer und Frauen gleichgestellt. Nun durften auch Mütter Schläge austeilen, vorher war das Züchtigungsrecht den Vätern vorbehalten.
Welche Auswüchse diese Kinderfeindlichkeit auch nach dem Krieg noch hervorbrachte, zeigten die unhaltbaren Zustände in vielen Kinderheimen bis Mitte der 1970er-Jahre. Das Unrecht wurde erst 2006 durch das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ in seinem ganzen Ausmaß publik. Mehr als eine halbe Million Kinder in kirchlichen und staatlichen Heimen wurden allein in Westdeutschland körperlich und seelisch schwer misshandelt. Aber auch in anderen europäischen Ländern.
Der Westen hat das also ganz ohne Diktatur geschafft. Im Namen des Herren wurden die Kinder aus Barmherzigkeit verprügelt. Ja, ich weiß, es gab im Osten Jugendwerkhöfe, ich kenne auch jemanden, der dort war und jetzt arbeitsunfähig ist. Im Westen waren aber auch normale Heime und Kuren wohl nicht so schön, wie jetzt herauskommt. Ich habe über Kuren im Osten und meine Erfahrungen bereits geschrieben.
1968
Die Wessis finden, es müsse doch eine Aufarbeitung der DDR-Zeit in den Familien geben, so wie es eine Aufarbeitung der Nazi-Zeit 1968 in der BRD gegeben habe. Man muss nur kurz darüber nachdenken, was das bedeutet, um die Ungeheuerlichkeit dieses Ansinnens zu verstehen. Es wird auch nicht besser, wenn man das selbst wie Dirk Knipphals in seinem Artikel erwähnt. Deutsche hatten Millionen Juden bestialisch umgebracht. Sie waren jahrzehntelang in einer Art Euphorie Hitler hinterhergetaumelt. Sie hatten alle fleißig ihre Ariernachweise zusammengestellt, glaubten sie würden zur Herrenrasse gehören und wollten bessere Menschen züchten. Sie hatten einen zweiten Weltkrieg angefangen. Die Mehrheit fand das großartig! Die Mitgliedsnummern der NSDAP gingen über 10 Millionen. Noch 1943 freute sich der Sportpalast auf den Totalen Krieg, den Deutschland dann auch bekam.
Da muss man Fragen stellen!
Ich habe in der DDR gelebt. Es war eine Diktatur. Wir haben das in der Schule gelernt: die Diktatur des Proletariats. Die Stasi hatte ein riesiges Überwachungsnetz aus hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter*innen installiert. Es war ein Überwachungsstaat. Man konnte dort nur leben, wenn man sich sagte, dass es egal ist. Alle wussten, dass alles irgendwie bei der Stasi landen konnte. In den ersten Jahren nach dem Krieg wurden Menschen abgeholt und verschwanden dann. Es gab auch später noch politische Gefangene, die ein gelbes Quadrat auf dem Rücken hatten, damit man sie besser erschießen konnte, sollten sie eine Fluchtversuch unternehmen. (Sie wurden dann aber doch gegen Apfelsinen eingetauscht.) Auch an der Mauer wurden Menschen erschossen. Aber, hey, 6 Millionen vergaste, erschossene, an Krankheiten in KZs gestorbene oder verhungerte Juden, Schrumpfköpfe, Lampenschirme aus Menschenhaut sind ja wohl eine gaaaanz andere Hausnummer.
Wie sollte denn Eurer Meinung nach eine Aufarbeitung aussehen? Es ist eine Aufarbeitung direkt nach der Wende erfolgt. Die meisten Gräueltaten sind bestens dokumentiert: in den Stasiunterlagen. Die Stasi wollte sie 1989 noch vernichten, Bürgerrechtler*innen konnten das zum größten Teil verhindern. Mein Schwager hat die geretteten Akten in der Normannenstraße bewacht. Jeder, der eine Stasiakte hatte, konnte Akteneinsicht beantragen. Viele haben das gemacht. Vera Wollenberger hat erfahren, dass ihr Man sie bespitzelt hat. Mein Chef hat erfahren, dass seine Mutter Informationen über ihn an die Stasi geliefert hat. Wir wissen das. Wir wissen auch, ob unsere Eltern in der Partei waren oder nicht. Meine waren nicht in der Partei. Wir wissen selber, ob wir drei Jahre zur Armee gegangen sind, um studieren zu können. Wir kennen Menschen, die sich quergestellt haben und Schäfer geworden sind, statt Mathematiker. Ihrer Ideale wegen. Wir kennen Menschen, die vier Jahre zur Armee gegangen sind, weil sie dann ein Jahr vor den Dreijährigen die Bewerbung auf das Medizinstudium sicher hatten. Niemand, selbst die röteste Socke aus dem Osten war an einer industriellen Auslöschung eines Teils der Bevölkerung beteiligt.
Ich habe mit meinen Eltern schon zu DDR-Zeiten über 1953 geredet. Wir hatten Auf der Suche nach Gatt in der Schule. Ich habe sie gefragt, wie es bei ihnen war. Sie waren damals zehn Jahre alt. Ihre Eltern, meine Großeltern haben sich nicht am Aufstand beteiligt. Schlimm?
Die Mehrheit der Menschen in der DDR haben so ihr Leben gelebt, um den offiziellen Teil herum. Den hat man soweit es ging ausgeblendet. Ich war zum Beispiel bei vielen Demos am ersten Mai. Das Erscheinen dort war Pflicht. Ich fand die Demos immer großartig, weil ich dort meine Kumpels aus anderen Schulen wiedergetroffen habe. Man ist hingegangen, hat sich so verhalten, dass der Klassenlehrer einen wahrgenommen hat und ist dann wieder verschwunden.
Ich wüsste nicht, was es außer den Stasiakten noch aufzuarbeiten gäbe. Für mich sieht die gesamte Diskussion mit 1968 + Gewalt nach Töpfchentheorie 2.0 aus. Erinnert Ihr Euch noch? Der Kriminologe Pfeiffer hatte damals herausgefunden, warum wir Ossis alle so anders sind: Weil wir alle im Kindergarten nebeneinander auf dem Töpfchen gesessen hatten. Nein? Ihr erinnert Euch nicht? Dann lest mal den Oschmann, er erinnert Euch.
Nachtrag 1: Aufarbeitung Die Firma
Charlotte Gneuß wurde 1992 geboren. Ihre Eltern haben im Osten gelebt und sind dann ausgereist. Sie nutzt die Erfahrungen ihrer Eltern für den Roman. Das ist der zitierte Ausschnitt zum 1968 für die Ostgeschichte:
Ich glaube, dass wir endlich anfangen sollten, in unseren Familien Fragen zu stellen. Wo wart Ihr damals? Was habt ihr vor 1989 gemacht? Ich glaube, das findet nicht genug statt. Wir haben in Deutschland ein faschistisches Erbe, im Osten kommt noch die Gewalterfahrung bis 1989 hinzu. Natürlich müssen wir das angehen. Wir können doch nicht immer die Emanzipationserfahrung Ost gegen das Gewaltgedächtnis ausspielen, wir müssen das gleichzeitig denken, die Geschichte muss in ihrer Komplexität erzählt werden. Fortschritt und Rückschritt gehen Hand in Hand. Und ja, wir brauchen ein 1968 für unsere Ostgeschichte, davon bin ich überzeugt. Vielleicht wird es irgendwann heißen: 2023, das war das Jahr, als die Kinder und Enkel begannen, Fragen zu stellen, die ihre Vorgänger nicht fragen wollten oder konnten.
Charlotte Gneuß im Interview mit der FAZ, 25.09.2023
Ich finde es völlig legitim, dass die Kinder Fragen stellen. Meine beginnen jetzt, sich langsam für die Themen zu interessieren, die ich ihnen schon länger nahezubringen versuche. Vielleicht gibt es Fragen, die ich mir nicht vorstellen konnte. Mir fällt aber selbst bei großer Anstrengung nichts ein. Ich weiß auch nicht, welche Gewalterfahrungen sie meint. In der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, gab es keine Gewalt gegen DDR-Bürger*innen, von den Fällen, wo es gegen harte Oppositionelle ging, abgesehen. 99% der DDR-Bürger*innen dürften keine Gewalterfahrungen haben. Weder als Handelnde noch als Leidende.
Oben habe ich meinen Lehrer und das Firma-Konzert erwähnt. Nach der Wende kam raus, dass Trötsch, der Sänger der Band Die Firma, bei der Stasi war. Er hat die Band nach der Stasi benannt.
„Firma“ war ein üblicher informeller Begriff für die Stasi in der DDR. Tatjana, die Sängerin, hat sich dann auch geoutet. Darüber wurde gesprochen. Ein Interview mit der Firma/Freygang/Ichfunktion wurde in der Szene-Zeitschrift NMI Messitsch veröffentlicht.
Ich habe die Firma fotografiert. Im CD-Booklet von Kinder der Maschinenrepublik sind zwei Bilder von mir. Ich habe mich mit Tatjana getroffen und wir haben über die Stasi-Geschichte gesprochen, über den Beruf ihres Vaters und dass sie sehr jung zur Stasi gekommen ist. So ähnlich wie die Heldin des Romans.
Wir haben gesprochen. Darüber wie das passieren konnte, wer sie ist, wer sie war. Die Firma hat zu DDR-Zeiten Lieder über die Verweigerung des Militärdienstes gesungen (Boris Vian: „Der Deserteur“).
Hier eine Aufnahme von 1988 mit schlechtem Ton, aufgenommen in einem Jugendklub in Friedrichsfelde-Ost:
Auf Verweigerung stand Gefängnis. Zivildienst gab es nicht. Die Firma war extrem wichtig für eine ganze Szene von Menschen. Sie hat Menschen Kraft gegeben. Dennoch: Sie ist jetzt auch im Stasimuseum in der Normannenstraße.
Alles ist im Prinzip bekannt, alles wurde besprochen. Nur hat es damals niemanden interessiert oder es wurde eben vergessen. Es ist nicht so, dass wir Leichen im Keller hätten. Ich kann verstehen, dass Menschen, die heute aufwachsen, Fragen haben und ich wäre auch jederzeit Bereit als Zeitzeuge zu berichten. Ich war vor einigen Jahren mal in der Schule einer befreundeten Lehrerin in Gelsenkirchen. Aus dem Informationsbedarf der jüngeren Generation jetzt aber abzuleiten, wir müssten etwas aufarbeiten und wir wären so komisch, weil da etwas Unverarbeitetes sei, ist einfach … Quatsch.
Nachtrag 2: Regelabfrage
Noch ein weiterer Punkt zur Aufarbeitung: Für alle, die im öffentlichen Dienst arbeiten wollten, gab es bis 2007 eine Regelanfrage beim Stasi-Unterlagen-Archiv. Belastete Personen wurden nicht eingestellt. Kam bei Personen im öffentlichen Dienst heraus, dass sie für die Stasi tätig waren, wurden sie entlassen. Ich habe im April 2007 einen Ruf an die FU-Berlin bekommen und wollte zum 01.08. dort anfangen. Der Fachbereichsleiter informierte mich, dass daraus wahrscheinlich nichts werden würde, da die Regelabfrage erst noch erfolgen müsse. Es sah so aus, als würde noch 18 Jahre nach der Wende die Stasi mein Leben negativ beeinflussen. Dann wurde aber gerade noch rechtzeitig die Regelabfrage aufgehoben, so dass dieser Schritt im Einstellungsverfahren wegfiel und ich im August beginnen konnte.
Der Punkt ist: Es gab staatliche vorgeschriebene Aufarbeitung für alle, die im öffentlichen Dienst arbeiten wollten. Die Arbeitsgruppe, in der ich nach der Wende gearbeitet habe, kam von der Akademie der Wissenschaften. Einige Mitglieder der Gruppe sind in die Industrie gegangen, weil ihnen klar war, dass sie die Regelanfrage nicht überstehen würden. Wir wussten, wer das war.
Nachtrag 3: Aufarbeitung Sascha Anderson
Im Prenzlauer Berg gab es zu DDR-Zeiten eine rege Kunstszene. Musiker*innen, Dichter*innen, bildende Künstler*innen usw. usf. Eine wichtige Figur war Sascha Anderson. Nach der Wende stellte sich heraus, dass Anderson IM war. Das ging groß durch die Medien. Wolf Biermann bezeichnete ihn als Sascha Arschloch. Alles wurde aufgearbeitet und besprochen. Es war ein großer Skandal. Viele Freundschaften sind zerbrochen. 2014 ist ein Film darüber erschienen.
Ich war zur Premiere. Viele der Betroffenen und auch Sascha Anderson selbst waren vor Ort.
Und obwohl die DDR da schon 25 Jahre Geschichte war, war alles immer noch sehr schmerzhaft und emotional für die Anwesenden.
Also: Es wurde gesprochen. Über große und über kleine Begebenheiten in der Vergangenheit. Anne Rabe schreibt in ihrem Roman selbst oder lässt die Ich-Erzählerin sagen, dass sie nicht reden wollte. Das kann sein, aber sie sollte es dann nicht anderen vorwerfen. Und ahnungslose Wessis sollten sich hüten, aus Anne Rabes Roman irgendetwas abzuleiten. Ich habe das in Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück genauer ausgeführt.
Ulke, C. & Fleischer, T. & Muehlan, H. & Altweck, L. & Hahm, S. & Glaesmer, H. & Fegert, J.M. et al. 2021. Socio-political context as determinant of childhood maltreatment: A population-based study among women and men in East and West Germany. Epidemiology and Psychiatric Sciences (30). 1–8. (doi:10.1017/S2045796021000585)
Heute vor 34 Jahren war Michael Gorbatschow in Berlin. Zum 40 Geburtstag der DDR. Eine gute Bekannte von mir, die heute meine Frau ist, hatte irgendwann 1989 eine Wohnung bekommen und einen Termin für die Einweihung gesucht. Da der 7.10. ein Feiertag war und niemand von ihren Freunden zu irgendwelchen der offiziellen Feiern gehen würde, hatte sie den 7.10. gewählt. Am 07. Mai 1989 fanden in der DDR Kommunalwahlen statt (Wikipedia-Eintrag zu diesen Wahlen). Die Bürgerbewegung organisierte zusammen mit der Kirche eine flächendeckende Präsenz bei den Auszählungen. Das war im Wahlgesetz der DDR so vorgesehen. Der Beschiss fand bei der Zusammenführung der Wahlergebnisse auf Stadtbezirks- bzw. Bezirksebene statt, wo dann ein Wahlergebnis von 98,85% für die Kandidat*innen der Nationalen Front (SED + Blockparteien) herauskam. Meine Schwester war bei den Auszählungen in Buch dabei. Dort waren 70% der Wähler*innen für die Blockparteien. Von der Kunsthochschule in Weißensee ist auch bekannt, dass nur 50% der Wähler*innen dafür waren. Seit dem 7. Juni gab es deshalb jeden Monat Proteste der Opposition an der Weltzeituhr am Alexanderplatz. Es war klar, dass es am 7.10. eine Terminkollision gab. Gorbatschow in der Stadt. 40 Jahre DDR. Jubelfeiern mit ein paar Sachsen, die zum Feiern herangekarrt worden waren.
Honecker feierte im Palast der Republik. Andrej Hermlin trat dort auf. Er hat Honecker gesehen, als die Proteste von draußen drinnen wahrgenommen worden waren. Honecker saß allein an einem Tisch. Hermlin wusste da schon, dass das das Ende der DDR war. (Bericht in der taz, 07.10.2009) Wir waren auf dem Weg nach Hellersdorf.
Viele der Partygäste, die Freunde von der Jungen Gemeinde, kamen erst kurz vor Zwölf. Sie waren am Alexanderplatz gewesen. Sie berichteten von Wasserwerfern, Polizisten mit Schutzhelmen. Ich wusste von den Wasserwerfern, aber niemand hatte sie je gesehen. Im Einsatz gesehen. Polizisten mit Schutzhelmen gab es nur im Westfernsehen.
Wir saßen um ein kleines Küchenradio und versuchten irgendwie Information zu bekommen. Jede halbe Stunde Nachrichten: SFB. Rias. Wie eine kleine Verschwörung. Mit der letzten U‑Bahn verließ ich Hellersdorf und war gegen 1:30 Uhr Schönhauser Allee. An der Gethsemanekirche war alles abgesperrt. Eine Polizeikette stand in der Stargarder. Ich hatte Befürchtungen, dass ich meine Wohnung nicht mehr erreichen würde. Aber ich kam unbehelligt an LKWs und Streifenwagen vorbei, sah noch drei voll besetzte Mannschaftswagen in die Gleimstraße einbiegen und war dann im rettenden Hauseingang verschwunden. Ich war sehr froh, dass ich da durchgekommen war, denn ich war noch in Buch gemeldet und wie hätte ich der Staatsgewalt erklären sollen, dass ich „da hinten“ in einer besetzten Wohnung wohnte?
Dieses Dokument von Marianne Meyer-Krahmer beschreibt die letzten Stunden in Sippenhaft im Konzentrationslager und ihre Erfahrungen in der Zeit danach. Marianne Meyer-Krahmer war eins der Kinder von Carl Goerdeler, Oberbürgermeister von Leipzig. Gördeler war am Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt und wurde hingerichtet. Frau Meyer-Krahmer hat dieses Dokument Bekannten von mir gegeben und es ist schließlich zu mir gelangt. Ich denke, sie hat sich die Mühe gemacht, diese Erinnerungen aufzuschreiben, damit sie verbreitet werden und die Veröffentlichung hier ist in ihrem Sinne. Stefan Müller, 27.09.2023
Es gibt einen ähnlichen Beitrag bei der Stiftung 20. Juli. Dort finden sich weitere Details aus der Zeit vor dem Attentat und von der Verhaftung und noch ein Zitat von Gördeler zu Plänen für ein Nachkriegseuropa und zum Thema Optimismus. Hier gibt es Details zum Unterricht (Goethe gegen ein Nazi-Männlichkeitsbild). 04.10.2023
Als Angehörige von Carl Goerdeler waren wir unmittelbar nach dem 20. Juli 1944 in Sippenhaft genommen worden: zunächst in Strafgefängnissen, dann in verschiedenen Konzentrationslagern in Haft gehalten, die Kinder meines älteren Bruders, (neun Monate und drei Jahre alt), ihrer Mutter weggenommen, an einen unbekannten Ort gebracht. – Ich selbst war damals 24 Jahre alt, also erwachsen und bewußt genug, um mich mit dem Kampf meines Vaters gegen Hitler voll identifizieren zu können. Im Sinne der Gestapo haben wir, meine Mutter und meine drei überlebenden Geschwister, uns nie als unschuldige Opfer gefühlt.
Wir waren zunächst im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. Als die Russen sich im Januar 1945 näherten, wurden wir nach Buchenwald transportiert. Als sich dort die Amerikaner näherten, nach Dachau. Und als sie im April in Bayern einzudringen begannen, brachte man uns in die Dolomiten.
Dachau – Abtransport
Wir wurden nicht wie andere KZ-Häftlinge zur Arbeit gezwungen, hatten es dadurch physisch zweifellos leichter. Durch die streng mit vier bewaffneten Wachmännern besetzten Ecktürme unseres Zaunes um die Sonderbaracke waren wir jedoch völlig von jeder menschlich mit uns fühlenden Umwelt abgeschlossen; keine Nachricht von außen über die Kinder, unsere alte Großmutter, den bedrohten Onkel Fritz, von dessen Hinrichtung wir erst nach unserer Befreiung erfahren sollten. Ihn und meinen Vater sollte während der monatelangen Haft nie ein Zeichen der ihnen liebsten Menschen erreichen.
Jede, auch nur zaghafte, Frage an die Wachmannschaften unterließen wir bald, denn nur ein zynisches Achselzucken wäre die Antwort gewesen. Sie hatte uns schon zu oft in neue Ängste gestürzt. Auch das barsche Wort „Abtransport“ kannten wir nur zu gut, um noch nach dem Wohin oder etwa unserer ferneren Zukunft zu fragen. Wir waren rechtlos und vogelfrei.
Heute, nachdem wir so viel von dem erlittenen Leid der geschundenen und in den Tod getriebenen Häftlinge und der Todesmaschine von Auschwitz wissen, stellen sich unsere Ängste und Demütigungen anders, bescheidener dar. Aber mitten in der Ausgesetztheit unserer damaligen Existenz vermochten wir nicht zu relativieren.
Am 30. April 1945, laut war die amerikanische Artillerie zu hören, wurden wir aus dem Konzentrationslager Dachau abtransportiert. – Unvergeßlich hat sich mir dieser Abend eingeprägt. Heute erscheint er mir stellvertretend für alle Not jener Tage.
Diesmal waren die Fenster des Busses nicht verhängt und die Wachmannschaften spürbar nervös. – Wir fuhren in den sinkenden Tag. Die schräg einfallende Sonne beleuchtete mit scharfen Strahlen eine gespenstische Szene: Wir fuhren eine Stunde lang, kilometerlang, vorbei an marschierenden, nein, sich hinschleppenden Häftlingskolonnen. Zahllos schienen diese abgemagerten Elendsgestalten, zu Nummern entwürdigt mit ihren kahl geschorenen Köpfen und in der graugestreiften Häftlingskleidung. Bis in den Bus hörten wir den harten Tritt ihrer Holzschuhe, halb schlurfend, halb marschierend.
Ein grausamer Widersinn lag in dem Bild: Mitten im Chaos des Zusammenbruchs und der Auflösung waren sie noch unter dem Kommando ihrer Bewacher in Reihen und Blocks organisiert und geordnet. Am Straßenrand lagen tote Häftlinge, erschossen oder vor Schwäche umgekommen. – Wohin ging der Weg für die anderen?
War es ein Marsch in die Freiheit? Oder — im Angesicht der Freiheit — zum Erschießen: in den Tod? Todesfurcht und Hoffnung auf Freiheit hielten auch uns in äußerster Spannung. Und diese Spannung wird die Seelen vieler Menschen damals fast zerrissen haben. Auf der Flucht, im sinnlosen Kampf, in der Angst der Bombennächte.
Unser Bus fuhr diesmal in einem Konvoi mit drei anderen, deren Insassen uns unbekannt waren. (Nach der Befreiung erfuhren wir, daß es prominente Häftlinge wie Niemöller, General Halder, der Prinz von Hessen u.a. waren.) Ein Führungswagen mit SS-Offizieren war an der Spitze des Konvois. So sicher wir uns für den Augenblick in unserem Bus fühlen konnten, so gab es die Sicherheit und Gewißheit, am Leben zu sein, nur eben für den Augenblick – wie so oft in dieser Haftzeit.
Niederndorf – Befreiung
Da wir von Beginn unserer Haft an von jeder verläßlichen Nachricht abgeschnitten waren, wußten wir nicht, wie nahe das Kriegsende schon war. Es mag Mitternacht gewesen sein, als uns Stimmengewirr aus dem Dahindämmern aufrüttelte: Lichtstrahlen großer Stablampen fuhren über unsere Gesichter. Soldaten waren zu erkennen. Verdutzt, fast fröhlich riefen sie zu uns herein: „Was machen hier Frauen und Kinder? Wollt ihr etwa noch über den Paß nach Süden? Von da kommen wir doch! Zurück! Es geht zurück in die Heimat.“ – Es waren deutsche Soldaten, die von der italienischen Front über den Brenner zurückfluteten.
Die Rufe verstummten schnell, als die Soldaten unsere strenge Bewachung wahrnahmen. Für uns war es aber die erste Begegnung mit freien Menschen, wenn auch kein Zwiegespräch. (Wir hatten Sprechverbot.) Nun, wir wurden nicht in den Süden gefahren, sondern in scharfem Bogen nach Osten; wie wir später erfahren sollten, ins österreichische Pustertal. Es war schon Tag geworden, als unser Konvoi in einem Waldstück zum Stehen kam. Wir waren gewohnt, langes Warten hinzunehmen. Hatten uns die frischen Stimmen aus der Außenwelt da oben auf dem Brennerpaß nicht Mut gemacht, eben nicht mehr alles hinzunehmen? Jedenfalls bestürmten wir die beiden jungen volksdeutschen Wachmänner, uns wenigstens kurz einmal herauszulassen. Sie fühlten sich wohl schon recht hilflos uns gegenüber, verstanden sie doch kaum ihren Wachtbefehl bei diesen Frauen und jungen Menschen, die ihnen völlig ungefährlich erschienen sein müssen. So gaben sie nach. Zunächst suchte sich jeder von uns nur ganz rasch ein privates Fleckchen. Doch als wir uns wieder zum Einsteigen versammelt hatten, wurden wir plötzlich widerspenstig. Irgendjemand hatte entdeckt, daß der SS-Führungswagen fehlte. Auch aus den anderen Wagen war man ausgestiegen; doch wir zögerten, Verbindung aufzunehmen, nun doch noch im Gehorsam gegenüber dem Verbot der Wachmänner. Nur wollten wir nicht sofort wieder in den Bus. Wir „maulten“, wir hätten Hunger, hätten seit unserer Abfahrt aus Dachau nichts mehr zu essen gehabt. Unser Eigen-Sinn wurde desto heftiger, je zögerlicher und verlegener die Wachleute antworteten.
Heute – im Rückblick – würde ich es eine Etappe auf dem Weg zur Stunde Null nennen. daß sich spontan ein kleiner Trupp von etwa fünfzehn jungen Häftlingen zusammenfand und trotzig erklärte, wir würden uns nun selbst um etwas zu essen kümmern. Wir konnten sehen, daß die Straße am Ende aus dem Waldstück hinausführte; dorthin wollten wir gehen. Wir brachen auf, kein Wachmann hob das Gewehr. Diesmal hinderte uns niemand, fortzugehen, aus eigenem Willen, mit eigenem Ziel. Das Finale dieser Etappe ist rasch erzählt: nach etwa einer Viertelstunde schon begrüßte uns das Ortsschild „Niederndorf“. Jetzt waren wir nicht mehr – wie bisher – im Irgendwo; jetzt kannten wir sogar den Ort, in dem wir waren. Nach all den Geheimniskrämereien der Haftmonate gab es für uns wieder ein Zeichen selbst erfahrener Außenwelt.
Rechts, gleich am Eingang des Dorfes, ein Wirtshaus. Wir öffnen die Tür zum Gastzimmer – da waren sie schon alle versammelt, „unsere“ SS-Offiziere. „Wir wollen etwas zu essen haben!“ Trotzig und doch noch im Bewußtsein der Abhängigkeit begehrten wir auf. Erstaunen. Bestürzung, beinahe Entsetzen und zugleich eine merkwürdige Gefügigkeit zeichnete die Gesichter unserer obersten Bewacher. Die Busse wurden in das Dorf geholt, Brote und Getränke verteilt. In der Schule erhielten wir Quartier. Nur haben wir dort keine Nacht verbracht: Als es Abend wurde, kam mein ältester Bruder, Ulrich, leise eine Hintertreppe heraufgeschlichen, Brote unter dem Mantel versteckt, und flüsterte, wir sollten ihm rasch folgen, es gäbe einen unbewachten Hinterausgang. In kleinen Gruppen fanden wir Unterkommen bei Nachbarn, die erstaunlich spontan bereit waren, uns aufzunehmen. Anders als uns muß ihnen das nahe Kriegsende bewußt gewesen sein, und sie waren nicht mehr bereit, sich auf die Seite der SS zu stellen.
Eigentümlich undramatisch verlief so das Ende unserer Haftzeit. Doch markierte dieses unvermutete Ende keineswegs die „Stunde Null“. Wir waren zwar „frei“, unabhängig aber noch nicht; unsere Situation, rechtlich, praktisch, war völlig undurchsichtig, Zukunft, nah oder fern, unerkennbar. Auf unerklärliche Weise waren die SS-Bewacher am nächsten Morgen verschwunden. Oberst Bonin, der aus Dachau zu uns gestoßen war, bewirkte, daß wir unter die Obhut deutscher Soldaten gestellt wurden. Nicht sofort begriffen wir, daß wir noch Schutz brauchten: der Krieg war an diesem 4. Mai nicht endgültig beendet, das Dorf weitgehend in der Hand von Partisanen, unsere Versorgung keineswegs gesichert. So fuhren uns die Soldaten in ein nahegelegenes, von Truppen gerade geräumtes Hotel am Pragser Wildsee.
Ein paar Tage später erlebten wir die Kapitulation dieser deutschen Wehrmachtseinheit. Die Erinnerung hat sich mir eingeprägt wie ein Standbild: Im Hof uneres Hotels standen die Soldaten im Kreis um die von ihnen in der Mitte aufgeschichteten Gewehre. Nun waren auch sie offensichtlich wehrlos – eine Wehrlosigkeit hilfsbereiter Männer, die uns trotz allem rührte –, und die Amerikaner übernahmen das Kommando. Wir, vordem Häftlinge, vielleicht auch Geiseln, waren unter neuer Aufsicht.
Warteschleife: Capri, Paris, Frankfurt
Unbeschwert waren diese jungen Amerikaner, die nun unsere Betreuer waren! Sie haben wohl gewußt, daß wir dem KZ entkommen waren, verwöhnten uns, schafften wärmere Kleidung herbei, sorgten für reichliche und allerbeste Kost. Ab und an ruderte uns ein freundlicher GI über den Wildsee … Das Glück , freundliche, arglose Menschen um uns zu haben, uns frei bewegen zu können, lockerte die eisernen Reifen, die sich nach vielen Ängsten um unsere Herzen gezogen hatten. Keine Wachtürme, keine Zäune – wir waren wirklich frei. Glücklichsein als schwereloses Gefühl, das wir mit der Vorstellung von „Befreiung“ verbinden, aber hat sich nicht gleich einstellen können. Eher eine Benommenheit, in der unsere Freude sich nur zaghaft vorwagte. Fast brutal überfiel uns die Gewißheit, daß mein Vater und sein Bruder Fritz nicht überlebt hatten – entgegen unseren geheimsten Hoffnungen. Das Leben war nun ohne sie zu bestehen, und es war ein Leben unter dem Vorzeichen gescheiterter Hoffnungen.
Nach zwei Wochen wurde uns – gewohnt freundlich – mitgeteilt, daß wir noch nicht nach Hause kämen, sondern „in die Nähe von Neapel“. Wieder war es schwierig, Gründe oder Zusammenhänge zu verstehen, die über unser Dasein entschieden; wenn wir auch spürten, daß die Amerikaner uns nicht wissentlich quälen wollten. Es verlautete, wir sollten befragt werden, man wolle Näheres über die Konzentrationslager erfahren. Die buntgemischte Gesellschaft, zu der sich unser Gefangenenkorps seit Dachau vergrößert hatte, mußte ja Interesse wecken: ein englischer Oberst vom Secret Service, Mitglieder der Horthy-Familie, Schuschnigg, General Halder und Pastor Niemöller. Wir selbst waren aber nicht im geringsten neugierig, wir wollten nur an den Ort, an den wir wirklich gehörten. In Italiens Süden kämen wir – mit welcher Vorfreude würde ich heute die Botschaft hören! Damals machte uns die Nachricht nur traurig und auch zornig. Capri, die Trauminsel, wieder nur ein Asyl.
Auch die abenteuerliche Fahrt in den amerikanischen Jeeps bergab in die Geröllfelder der Po-Ebene konnte uns nicht fesseln; der Generalbaß brummte nur, „es geht immer weiter weg von zuhaus.“ Dann tat sich wie ein Theaterprospekt die Schönheit dieser Insel vor uns auf. Die Amerikaner hatten uns an einen ihrer schönsten Flecken gebracht, nach Anacapri, der Spitze der damals stillen Insel. Bewundernd sahen wir abends die dunklen Konturen der Bergküste, den ungewohnt hellen Sternenhimmel; die bunt flackernden Positionslichter der Fischerboote grüßten zu uns herauf. Der metallene Glanz des Meeres schimmerte besänftigend im Dunkel der Nacht.
Der Tag bescherte unschuldige Urlaubsfreuden. Praktisch und zupackend, wie Amerikaner nun einmal sind, hatten unsere Befreier binnen 24 Stunden Bikinis aus Armee-Handtüchern nähen lassen und ließen es sich nicht nehmen, uns im Jeep ans Meer zu chauffieren. Freundliche Gastgeber auch die italienischen Bauern, die uns geradezu einluden, in ihre Kirschbäume zu klettern und uns gütlich zu tun. Abends aber, wenn wir vergeblich Schlaf suchten und unsere Gedanken sich selbständig machten konnten der Frohsinn, das unbeschwerte Gelächter aus dem Innenhof des Hotels zum Disakkord werden. Unsere enge, letztlich erzwungene Schicksalsgemeinschaft bekam Risse. Ganz zu Recht freuten sich viele ihrer Freiheit, der Aussicht auf das Wiedersehen mit den Ihren. Wenige aber mußten sich auf die Endgültigkeit eines Verlustes vorbereiten, auf eine Zukunft, die im Schatten lag.
Fast vier Wochen dauerte es, bis wir die ersehnte Nachricht erhielten, wir „Sippenhäftlinge“ würden nach Deutschland geflogen. – Von unserem Gedächtnis erwarten wir, daß es Fakten speichert, die wir abgleichen und überprüfen können; Erinnerung als Vergegenwärtigung aber hat ihre eigenen Gesetze: Sie sammelt Erlebnisse und Eindrücke, andere überläßt sie dem Vergessen. So habe ich keine Einzelheiten unseres Aufbruchs und Rückflugs von Capri gespeichert, wohl aber die Erinnerung an eine kurze, wenngleich wesentliche Begegnung in Paris. Es war gegen Abend; ich stand am Ende eines Ganges vor meinem Hotelzimmer und schaute durch ein großes Fenster auf einen Platz, der schon im Halbdunkel lag. Ein britischer Offizier trat neben mich, wohl, um auch hinauszuschauen. „Bonjour, Madame“ – die Stimme klang höflich, doch etwas verhalten. Ich wandte mich ihm zu und erkannte an einem Abzeichen, er müsse zur polnischen Division innerhalb der britischen Truppen gehören. Spontan beglückwünschte ich ihn: „Nun ist auch Ihr Land frei!“ „Sie irren sich, Madame“, kam es zurück, „Jetzt herrschen bei uns die Bolschewisten.“ Es klang tieftraurig und resigniert und signalisierte mir, einem Menetekel gleich, daß Kriegsende und Freiheit noch lange nicht miteinander identisch waren.
Am folgenden Vormittag landeten wir in Frankfurt am Main und wurden mit der lang ersehnten Nachricht begrüßt: „Tomorrow we shall bring everybody home.“ Seltsam, wie Stimmungen umkippen, welche Macht Gefühle haben können! Als die ersehnte Heimkehr greifbar nahe war. spürten wir plötzlich den Schmerz, gar keinen Ort zu wissen, der H e i m a t war. – Heimat der Familie war und blieb Ostpreußen, seelischer Ort das geliebte großelterliche Haus am Meer, mit dem wir alles Glück unserer behüteten Kinder- und Jugendzeit verbanden. Ostpreußen aber war längst an die Sowjetunion verloren. – Leipzig hätte Wahlheimat sein können, die Stadt unserer Schul- und Studienjahre, der wir viel verdankten. Aber das Haus in er ehemaligen Rathenaustraße, das unsere Eltern 1930 gemietet hatten, war jetzt merkwürdig beziehungslos für uns: All unser Hab und Gut war durch das Volksgerichtshofsurteil gegen meinen Vater weggenommen und abtransportiert war uns durch das Volksgerichtsurteil gegen meinen V~ter weggenommen und abtransportiert worden. Es gab dort also kein gemütliches Wohnzimmer mehr mit den alten Mahagoni-Möbeln, keinen runden Tisch, an dem wir fröhlich mit dem Vater Karten gespielt hatten, keine vertrauten „Kinder“-Zimmer. Wir würden uns mit dem zufrieden geben müssen, was der Auktionator noch nicht versteigert hatte. Auch die Diele zum Empfang hatte ihren Sinn verloren. Das Verhältnis unseres Elternhauses zu den meisten seiner ursprünglichen Gäste hatte sich schon in der NS-Zeit durch Anpassung und Opportunismus der führenden Schichten aufzulösen begonnen. Selbst in der Notzeit hatte es nur eine Handvoll treuer Freunde gegeben. Aber würden wir sie überhaupt vorfinden?
Ein amerikanischer Offizier gesellte sich zu unserer kleinen Familiengruppe. „Vielleicht wissen Sie noch nicht, daß wir Amerikaner nur noch kurze Zeit in Leipzig sind. Wir können Sie dorthin bringen, aber Sie müssen damit rechnen, daß uns Ende Juni die sowjetische Armee in Leipzig ablösen wird.“ – So zart und leicht verletzlich meine Mutter war, in schwierigen Situationen konnte sie bewundernswert gelassen sein und ihren klaren Verstand bewahren: Nur war sie bisher gewohnt gewesen, wichtige Entscheidungen zunächst mit meinem Vater zu überlegen. Jetzt übernahm sie ganz selbstverständlich und ruhig die Verantwortung für die Familie: Auf jeden Fall würde sie selbst nach Leipzig fahren; dort warteten auf sie ihre alte Mutter, Juttas Schwestern und vielleicht auch mein Bruder Reinhard (er hatte Dachau mit vier anderen jungen Sippenhäftlingen zu Fuß verlassen müssen). Darüberhinaus war meine Mutter fest entschlossen, sich von dort aus für die Rehabilitierung ihres Mannes und unsere Rechte einzusetzen. Uns drei jungen „Mädels“ aber riet sie, nach Süddeutschland auf „den Hof“ zu gehen, den mein Vater als Refugium für die Familie erworben hatte. „Unter den Kommunisten werdet ihr keine Chance haben, euch ein neues Leben aufzubauen!“ (Wie recht meine Mutter mit ihrer Voraussage hatte, zeigte sich bereits ein halbes Jahr später, als mein Bruder Remhard auf Anraten eines alten Sozialdemokraten Leipzig verließ, um in Heidelberg sein Jurastudium wieder aufzunehmen.) –
Nach den Monaten der Haft und des tröstlichen Zusammenseins mußten wir uns nun unvermittelt trennen, eine wenig überschaubare Zukunft vor Augen. Meine Schwägerin Irma wollte zu ihrer Mutter in Hamburg, um von dort aus ihre beiden von der Gestapo nach Bad Sachsa verschleppten kleinen Kinder heimzuholen. Mein ältester Bruder Ulrich, schon fertiger Jurist, sollte uns für ein paar Tage nach Süddeutschland begleiten, um dort unsere Wohn- und Eigentumsrechte durchzusetzen. Für den Augenblick waren wir ja arm wie Kirchenmäuse und mußten sehen, irgendwie und irgendwo zu existieren.
Die „Stunde Null“ könnte nur eine Kurzformel für Geschichtsbücher sein. Weder das kollektive noch das individuelle Bewußtsein kennen diese Zäsur. Wohl mag es Tage geben, an denen wir eine neue Seite im Buch unseres Lebens aufschlagen, wenn wir an einem neuen Ort, mit einem neuen Berufsabschnitt beginnen. Immer aber begleitet uns unsere Vergangenheit. Sie begleitet uns nicht wie ein sanft dahinfließender Strom, naturgegeben, unabhängig von unserem Dasein. Oft kann sie sperrig sein, diese Vergangenheit, dem naiven Sich-Erinnern widerstehen. Erinnerungen an Unwiederholbares können plötzlich aufsteigen, Sehnsüchte nach Unwiederbringlichem wecken. Die Furcht vor der Wiederkehr erlebter Schrecken aber hat in meinem Gedächtnis auch Luftlöcher des Vergessens entstehen lassen. Dies möge der Leser bedenken, der mit mir die Länge meines Weges zur „Stunde Null“ durchmißt, in diesen Monaten noch immer bedrohter Freude an der Freiheit.
Zabergäu — Sackgasse
Wie froh waren wir, daß unser großer Bruder bei uns war, als wir zwei Tage später dem Verwalter und seiner Frau gegenüberstanden! Zuerst glaubten sie wohl an Geister, als Jutta und Nina leibhaftig vor ihnen standen; war doch kein Jahr vergangen, daß die Gestapo die beiden mit meiner Schwägerin auf dem Hof verhaftet und weggeschafft hatte. Dann aber wechselte ihre Haltung zwischen ängstlicher Unsicherheit und Unwillen. Schnell aber wich die bestürzte Fassungslosigkeit widerwilliger Abwehr, ja Feindseligkeit. Nur dem energischen Auftreten meines Bruders verdankten wir den Einlaß in das große Haus, in dem über der Verwalter-Wohnung dre Räume für unsere Familie bereitstanden. Wir sollten nur ja keine Ansprüche an Essensvorräte stellen. Die seien sämtlich von den einrückenden Franzosen beschlagnahmt worden. Man habe ja mit unserer Rückkehr nicht rechnen können, deshalb seien die Wohnräume noch in dem Zustand, wie die Gestapo sie hinterlassen habe. (Daß sie einige wertvolle Besitztümer meiner Schwägerin schon dem ihren einverleibt hatten, stellte mein Bruder wenig später fest.)
In diesem schwäbischen Dorf sollten wir nun endlich, nach zehn Monaten Gefängnis- und KZ-Haft, wieder unser eigenes, aber auch ein neues Alltagsleben beginnen. Für diesen Ort einer ersten Zuflucht hatte, wie erwähnt, noch mein Vater gesorgt. Mitten im Krieg hatte er ein kleines Anwesen in Süddeutschland gesucht; er wußte, Ostpreußen, unsere ursprüngliche Heimat, würde an die Sowjetunion abzutreten sein, und was von Leipzig nach den Bombenangriffen übrig bleiben würde, war im Ungewissen. – Nie hatte mein Vater daran gezweifelt, daß der Krieg, hatte er erst einmal begonnen, mit einer Katastrophe enden würde, wenn Hitler nicht aufgehalten würde. Ja, für ihn, den eher liberalen Christen, konnte ein gerechter Gott die Verbrechen des deutschen Volkes nicht ungestraft lassen. Großer Gnade würde es bedürfen, wenn die Völker Deutschland einmal seine Untaten vergeben würden. – Nahezu prophetisch hatte unser sonst so realistischer Vater vorausgesehen, wie flüchtende Menschen zu Fuß auf den Autobahnen dahinströmen würden; auf Autobahnen, die Hitler für angriffsstarke Panzer und Armeekolonnen in imperialer Hybris hatte ausbauen lassen.
Immer wieder hatte meinen Vater die Sorge verfolgt, uns in Deutschlands Zusammenbruch nicht mehr helfen und beschützen zu können; dann sollte uns im – weitgehend vom Krieg verschonten – Südwesten auf dem Lande ein Dach über dem Kopf gesichert sein und, wenn wir selbst tüchtig zupackten, die nötige Nahrung und Wärme. Was er nicht vorausgesehen hatte, waren das Mißtrauen und die Ablehnung, die uns an diesem kleinen Ort, an dem es noch viele Nazi-Freunde gab, begegnen würden. „Was hatten die Kinder eines Vaterlandsverräters bei ihnen zu suchen?“ Noch kein Jahr war seit dem mißglückten Attentat vergangen, diesem verzweifelten Versuch, den Krieg und die Verbrechen zu beenden; noch kein Jahr, daß auf den Kopf Carl Goerdelers eine Million Reichsmark ausgesetzt worden war, auf ihn, den führenden Gegner des Hitler-Regimes. Was wir als Befreiung erlebten, empfanden viele Menschen, die uns umgaben, als demütigende Niederlage. Und unter dem Schutz „der Feinde“ waren wir in das Dorf gekommen! Nun waren wir nicht mehr getragen von der Schicksalsgemeinschaft der politisch Verfemten des Konzentrationslagers. Nun begriffen wir, daß uns diese Gemeinschaft vor einer Außenwelt geschützt hatte, die mit dem Selbstopfer unseres Vaters und seiner Freunde nichts im Sinne hatte.
Nur eine junge Frau half uns, wenigstens einigermaßen Ordnung in das Tohuwabohu zu bringen, daß die Gestapo bei der Durchsuchung unserer drei Wohnräume hinterlassen hatte. Jedoch sollte sie die einzige bleiben, der wir etwas von der Trauer, unsrer Verstörtheit mitteilen konnten. Sollte dies die „Stunde Null“ gewesen sein, so war sie es – bitter noch heute – als ein Tiefpunkt unseres seelischen Lebens. Erwartet hatten wir, tröstend für erduldetes Leid empfangen zu werden, gehofft auf Dankbarkeit und Verehrung für den Vater und alle Menschen, die Deutschland hatten retten wollen.
Noch waren wir mit den eigenen Verletzungen beschäftigt, denke ich heute; sahen kaum, daß wir die fremden Großstädter im kleinen Bauerndorf waren; fremd mit unserem distanziert klingenden Hochdeutsch mitten im herzlich-derben Schwäbischen. Fremd und fern für die Dorfbewohner war die Welt der Konzentrationslager, aus der wir kamen. Von ihr zu sprechen, von ihr zu hören – das hätte wohl noch zu viele Schatten auf eine Zeit geworfen, deren Glanz man sich noch in der Erinnerung bewahren wollte. Aber wir steckten nicht nur in seelischen Nöten, wir hatten auch die schon geschilderten materiellen Sorgen. Alles, was wir besaßen, war an den Staat gefallen. (Es sollte noch fünf Jahre dauern, bis meine Mutter eine Pensionszahlung und meine Schwester Nina eine Waisenrente erhielt.) Zwar hatten die amerikanischen Behörden jeden von uns mit 150 Reichsmark ausgestattet, als sie uns in ein selbständiges Leben entließen: angesichts des Wertverfalls baren Geldes konnten wir davon unseren Lebensunterhalt aber nicht bestreiten, geschweige Hilfskräfte auf dem Bauernhof entlohnen.
Wie schwierig das Verhältnis zu dem Verwalterehepaar auch war, das mit unserer Rückkehr nicht gerechnet hatte, wir mußten mit ihnen auskommen – und voll mitarbeiten, wenn wir mitessen wollten. Aus den Pflichtzeiten im Arbeitsdienst und während der Semesterferien war ich mit StaIIarbeit vertraut und konnte sogar einigermaßen melken … Beim Füttern von Schweinen, Kühen und Hühnern und bei der vielen Feldarbeit mußten meine 16jährige Schwester Nina und die 17jährige Kusine Jutta hart mitarbeiten. Sicher stellten wir alle drei uns nicht allzu geschickt an, hatten auch nicht Kraft genug nach Monaten der Haft. So sanken wir abends immer todmüde ins Bett. Die große Beanspruchung, möchte man meinen, hätte uns gut tun sollen, helfen, lastendes Wissen zu vergessen. Aber wir sehnten uns gerade nach Besinnung, nach Stille, wollten wieder zu uns kommen, dem Geschehenen einen Sinn abgewinnen. Ja, wir wollten trauern dürfeh.
Stuttgart – Neubeginn
Als ein Lichtstrahl in die noch dunkle Welt des Kummers und der Plagen brach die erste Nachricht von meinem Verlobten. Er lebte, war gesund und hoffte, bald aus der britischen Gefangenschaft entlassen zu werden. So gab es wieder eine Zukunft; eine Zukunft mit einem vertrauten Menschen, der uns allen in der Haftzeit unermüdlich beigestanden, Sorgen und Trauer geteilt und Erleichterung verschafft hatte. Aber diese Zukunft schien noch endlos fern. –
Ein weiteres Tor zur Zukunft öffnete sich erst, als einer der alten Freunde meines Vaters uns auf dem Hof besuchte: Theodor Bäuerle, meinem Vater menschlich und politisch eng verbunden. Ich hatte ihn schon 1942 kennengelernt, als ich meine Eltern einmal nach Stuttgart begleitete. Bäuerle war ein Mensch, mit dem wir über alles sprechen konnten, was uns bedrückte; gemeinsame Trauer verband uns, sein warmherziger Trost besänftigte, sein Mitgefühl ließ uns ruhiger werden. Dann erzählte er von seiner Arbeit. Da er unbelastet war, hatte man ihn mit der Position als Ministerialdirektor in der Kultusverwaltung betraut. Er hatte den Auftrag, für ein baldige Öffnung der Schulen zu sorgen, die in den letzten Kriegsmonate geschlossen worden waren. Er berichtete, wie schwierig es sei, den Auftrag zu erfüllen. Ein Problem was der Mangel an Räumen: Etwa ein Drittel der Schulen war zerstört oder schwer beschädigt. Während die Raumnot noch annähernd überbrückbar schien, war jedoch der Fehlbestand an Lehrern einschneidend. Viele waren gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft. Für die übrigen – das waren vor allem Frauen – galten die strengen Auflagen der amerikanischen (bzw. französischen) Besatzungsverwaltung: Kein ehemaliges NSDAP-Mitglied durfte vorerst eingestellt werden. Überprüfungen waren im Laufe der Zeit vorzunehmen.
Bäuerle erzählte, er habe, um mehr Lehrer einstellen zu können, auf den großen Druck hingewiesen, dem vor allem die Beamten durch die Partei ausgesetzt gewesen seien, habe aber dafür noch kein Verständnis gefunden. Eher sollte der Unterricht ganz ausfallen, als daß die Besatzungsmächte auf ihr Planziel der Reeducation, insbesondere der Jugend, verzichtet hätten. Ich bedauerte, daß ich außer Promotion und erstem Staatsexamen pädagogisch weder Ausbildung noch Prüfung vorweisen könnte. „Wir können Sie trotzdem brauchen!“, war Vater Bäuerles ermutigende Antwort. Und wirklich, ein paar Tage später rief er an und sagte, am 1. Oktober könne ich in Stuttgart zu unterrichten anfangen!!
Wo aber sollten wir drei Mädchen wohnen? Denn daß wir zu dritt nach Stuttgart gehen würden, war ausgemachte Sache. Ich könnte verdienen, und unsere beiden Jüngsten, Jutta und Nina, konnten dort endlich wieder zur Schule gehen – seit der Verhaftung am 21. Juli 1944. Nun liefen die Drähte nach Stuttgart heiß. Die alten Bosch-Freunde traten in Aktion und verwandten sich für uns bei der Stadtverwaltung. Innerhalb von zwei Wochen erhielten wir die begehrte Zuzugsgenehmigung und ein Zimmer in Feuerbach. Was machte es da, daß wir drei uns in nur zwei Betten zu teilen hatten! Mit solchen Einschränkungen fertigzuwerden, hatte uns die Haftzeit gelehrt.
Am 1. Oktober 1945 fuhr ich von unserem Feuerbacher Qμartier zu meiner ersten Dienststelle in Stuttgart, dem Königin-Charlotte-Gymnasiwn. Die Straßenbahn fuhr die große Heilbronner Einfallstraße nach Stuttgart entlang. Rechts und links der Trasse wurden schmale Fahrbahnen von Schutt freigeräumt. Große und kleine Trümmerbrocken zerstörter Häuser und Fabrikhallen lagen hochgetürmt am Rande. Unübersehbar waren die Folgen des Krieges und seiner zerstörerischen Bombennächte. Nun waren die Menschen dabei, mit Karren, Schippen und Kränen das Chaos zu ordnen; endlich konnten sie den Aufbau beginnen, der wieder eine Zukunft hatte.
Auch das Gebäude des Königin-Charlotte-Gymnasiums war nicht unversehrt. In einem Seitentrakt waren für die Oberstufenschüler einige Räume notdürftig hergerichtet. Wenigstens die älteren Schüler sollten mit dem Lernen beginnen. (Jutta und Nina waren erst vierzehn Tage später an der Reihe.) In dieser Übergangszeit zwischen dem Ende des Dritten Reiches und staatlichem Neubeginn war auch die Schulleiterin vorerst nur provisorisch eingesetzt. Sie brachte mich in einen großen hellen Dachraum; vorsorglich stand dort schon ein kleiner eiserner Ofen für den Winter bereit – das Ofenrohr führte durch ein Fenster. Etwa zwanzig 18jährige Mädchen erwarteten uns bereits. Brav, wie es damals zur Schulsitte gehörte, waren sie aufgestanden. Sie waren voller Tatendrang und Neugier nach der erzwungenen Lern-Abstinenz, auch wenn kaum eine von ihnen wohl wissen konnte, wie es einmal mit ihr, mit der Erfüllung von Berufswünschen, gar mit einem Studium, weitergehen würde. Deutschland war ein besetztes Land. Die Alliierten würden über seine weitere Entwicklung entscheiden.
Offene. freundliche Gesiebter begrüßten uns. Die Direktorin stellte mich als die neue Deutsch- und Geschichtslehrerin mit meinem Mädchennamen vor (ich war ja noch nicht verheiratet). Vielleicht war sie genau so wenig darauf vorbereitet wie ich, daß die Mienen der Mädchen sich plötzlich skeptisch verschlossen. Einige Mädchen schauten verlegen zu Boden, während andere sich strafften, um mit einer leichten Bewegung des Kopfes Abstand von uns zu nehmen. Nur schockierte mich diese Geste der unausgesprochenen Zurückweisung einer Goerdeler-Tochter nicht, wie sie mich noch bei den Dorfbewohnern schockiert hatte. Diesen jungen Menschen gegenüber spürte ich auf einmal Kraft und Mut, sie gewinnen zu können. Ich war jung, kaum acht Jahre älter als meine zukünftigen Schülerinnen, und traute mir zu, eine Brücke zu ihnen zu finden. Ich war sicher, daß meine Eltern im Kampf gegen Hitler den richtigen Weg gegangen waren, hatte als junge Schülerin selbst die Verführungskünste des Hitler-Reiches erlebt und war mir dessen gewiß, daß ich ihnen helfen könnte und mußte, einen Weg in die Nach-Hitler-Zeit zu finden.
Die anfängliche Mißstimmung begann sich ganz allmählich zu lösen, als ich mit den Mädchen allein war und sie ruhig bat, mir zu erzählen. wie sie die letzten Monate des Krieges und die ersten Monate der Friedenszeit erlebt hätten. Dabei erwähnte ich, daß ich diese für uns alle so bedeutsame Zeit gewiß völlig anders durchlebt hätte und ich ihnen davon auch erzählen wolle. So wären die nächsten Schultage vom Zuhören bestimmt. Ich erfuhr, daß fast alle Mädchen BDM-Führerinnen gewesen seien, meist die letzten Monate auf dem Land verbracht hatten. Mehrere von ihnen hatten den Vater, Brüder oder Freunde verloren. Jedoch trauerten sie nicht nur um die verlorenen Menschen. Sie betrauerten einen noch umfassenderen Verlust: Die meisten von ihnen hatten an den Nationalsozialismus geglaubt, daran geglaubt, daß es notwendig sei, sich mit aller Kraft für die Größe des deutschen Volkes und Reiches einzusetzen. Nun waren sie nicht nur in ihren Hoffnungen getäuscht, sie mußten auch an den Menschen zweifeln, die sie ihnen vermittelt hatten.
„Es war eine furchtbare Leere in uns“, erinnerte sich noch nach vielen Jahren eine meiner Schülerinnen. In diese Leere galt es, ein wenig Wärme und menschliches Mitgefühl zu bringen. Das war damals für mich – zum Glück – nicht bewußte Planung, sondern etwas Selbstverständliches. Vielleicht deshalb selbstverständlich und kein kunstvolles Mich-Hineinversetzen, weil ich mich – bei aller äußeren Ruhe – immer wieder von dem gleichen Gefühl umfassenden Welt-Verlustes bedroht wußte: An jenem 20. Juli vor einem Jahr hatte Gott nicht denen beigestanden, die unsere Welt vom Bösen hatten befreien wollen.
Es war gewiß kein Zufall, daß ich als erste Lektüre für meine jungen Schülerinnen „Die Leiden des jungen Werther“ aussuchte. Ich wußte nur zu genau, daß sie jahrelang gelehrt wurden, jene martialischen Lieder von stets kampfbereiten Männern zu singen, die sich trotzig und mit aller physischen Kraft Schicksal und Feinden entgegenzustellen oder stolz unterzugehen hatten. Der verzweifelnde junge Werther sollte nicht zum neuen Vorbild werden, aber das Tor zu einer anderen Sprach- und Gefühlswelt öffnen. Allmählich wich die Leere aus den Gemütern; junge Menschen erlaubten sich nun Empfindungen, die sie auch aussprechen durften. Sie spürten den lyrischen Zauber der Sprache überschwenglichen Glücks, das Verstummen des Worts in Zweifel und Trauer.
Heute. im Rückblick, ziehen sich diese ersten Wochen pädagogischer Tätigkeit zu meiner „Stunde Null zusammen. Zum Beginn eines nun selbstbestimmten Lebens und selbstbestimmter Ziele. Es erschloß sich mir ein Beruf, der mich ein Leben lang ausfüllte, in dem mich die Hoffnung nie verließ. In meinem kleinen, begrenzten Umfeld etwas bewirken zu können. War ich auch nach dem Krieg in eine im doppelten Sinne kaputte Welt entlassen – hatte die nachwirkende Hitler-Verehrung in einem Dorf erlebt, war durch Trümmer zu meiner Schule gefahren – mit dieser kaputten Welt brauchte ich mich nicht abzufinden. – Es galt, Leid und Ängste junger Menschen, ihre Verluste und Scmerzen wahr- und ernstzunehmen, Ermutigung den Zaghaften zu geben, Freuden mit den Glücklichen zu teilen. Es galt aber auch, auf der Hut zu sein, die Macht als Lehrer nicht zu mißbrauchen, Einfluß nur zu üben, um auf dem Weg zum Erwachsen-Werden zu helfen Meine sperrige Vergangenheit hat mir geholfen, meine Schüler ansprechen und verstehen zu können.
In den Monaten der Haft hatte ich selbst erfahren, was es heißt, gedemütigt und mit zynischer Freude geängstigt zu werden. Im Elternhaus war mein Sinn gegen die Erbärmlichkeit von Opportunismus, vorauseilender Anpassung und konventioneller Glätte geschärft worden. Mit ihrer Liebe und Fürsorge hatten die Eltern uns immer beschützt, Maßstäbe und Werte mitgegeben, an denen wir auch als selbständige Menschen festhalten konnten.
Dieser Blog-Post ist aus einer Mastodon-Diskussion entstanden. Weil sie so schön war, habe ich sie hier noch einmal ein bisschen sortiert und für die Nachwelt archiviert. Dieser Beitrag kann Spuren von Sarkasmus und sogar Wut enthalten.
Die taz hat am 03.07.2023, vor dem Hintergrund der Wahl eines AfD-Mitglieds zum Landrat in Sonneberg, ein Interview mit dem (ostdeutschen) Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk veröffentlicht. In der Printausgabe endet es so:
taz: Also ist das nicht nur ein Ost-Problem?
Nein. Zeigt nicht immer nur mit dem Finger auf den Osten. Der Osten ist als Laboratorium der Globalisierung, als Ort der Transformation dem Westen nur ein paar Trippelschritte voraus. Genau deshalb ist die Debatte über den Osten so relevant: Hier – wie zum Teil in Osteuropa – sehen wir Entwicklungen, die europaweit drohen, wenn nicht endlich mal gegengesteuert wird. Das können Sie an vielen demoskopischen Untersuchungen sehen und übrigens auch an den Wahlumfragen der AfD. Die liegt im Osten bei 30 Prozent, im Westen steht sie aber mittlerweile auch bei 15 Prozent, der Westen zieht nach. Deswegen sind der Ostdeutschland-Diskurs und Debatten über Sonneberg wichtig: Wir können hier erleben, was uns in ganz Deutschland erwartet, wenn wir nicht endlich mal gegensteuern.
Das ist genau meine Meinung. Ein Punkt, den ich hier in diesem Blog und auch auf Mastodon zu vermitteln versuche. Also alles primstens? Nein, leider nicht, denn es gibt komische Stellen im Interview.
Ilko-Sascha Kowalczuk hat in der #DDR#Nazi-Äußerungen gegen geistig Behinderte gehört und leitet daraus ab, dass die DDR ein präfaschistischer Staat war.
Das finde ich ein bisschen schnell geschossen. Solche Bemerkungen wird es sowohl im Westen wie im Osten geben, die Erziehung, die ich in meinen Schulen hatte, war aber zutiefst humanistisch. Die #Euthanasie-Morde der #Nazis und ihre Verbrechen wurden im Unterricht besprochen (siehe auch Der Ossi und der Holocaust).
Ich habe in Berlin-Buch gewohnt. WBS70. Im untersten Stockwerk haben in all den Häusern Rollstuhlfahrer*innen gewohnt. Es gab und gibt immer noch hinten an den Häusern spezielle Zufahrtswege, über die Menschen mit Rollis leicht in die Wohnungen gelangen konnten. Siehe rote Linien auf der Karte. Fahrstühle gab es in den Fünfgeschossern vor der Wende nicht. Für Menschen mit Rollstuhl kamen also nur die Ergeschosswohnungen in Frage. Die Zufahrten wurden beim Neubau der Blöcke 1974–1976 eingerichtet.
Das waren also strukturelle Maßnahmen im Zuge des Wohnungsbaus. Das folgende Bild zeigt, dass beim Entwurf des WBS 70-Systems, das in der DDR in den 70er Jahren entwickelt und dann für den Bau von 644 900 Wohnungen verwendet wurde, Erdgeschosswohnungen für Rollstuhlfahrer*innen und Menschen mit Behinderungen eingeplant wurden.
Ich habe von 1976 bis 1986 in dem Block gemeinsam mit vielen Rolli-Fahrer*innen gelebt und nie irgendein böses Wort gehört.
Ein geistig behinderter Junge fuhr immer mit dem Bus vom Bahnhof Buch zum Lindenberger Weg und zurück. Tagaus, tagein. Ohne Begleitung. Manchmal durfte er die Türen auf und zumachen. Er hat sich sehr gefreut. Er hatte eine brauen Kunstledertasche dabei, die er als Lenkrad benutze. Er saß immer in der ersten Reihe vorn neben dem Fahrer. Später habe ich ihn auch ab und zu in der S‑Bahn getroffen. Das war alles ganz normal.
Dass ich nie irgendwas Böses gehört habe, schließt natürlich nicht aus, dass es böse Bemerkungen gegeben hat. Wenn man mit Behinderten unterwegs ist, gibt es ja viel mehr Begegnungen. Nur ist es eben nicht wahr, wenn behauptet wird, alle Behinderten seien weggesperrt worden oder beschimpft worden.
Insgesamt scheint es mir sehr weit hergeholt, aus Begegnungen mit behindertenfeindlichen Menschen zu schließen, dass man in einem präfaschistischen Staat lebt.
Der Nutzer Peer schreibt dazu auf Mastodon:
Warum so vorsichtig in deiner Kritik? Kowalczuks Schlussfolgerungen sind nicht nur „etwas weit hergeholt“, sondern Nonsens. Vorausgesetzt das taz-Interview gibt seine Aussagen zutreffend wieder.
Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster: Es gibt kein einziges Land auf der Welt, in dem die bestmöglichen staatlichen Inklusionsbemühungen verhindern würden, dass sich Menschen negativ über behinderte Menschen äußern. Demnach wären diese Länder alle präfaschistisch nach der Kowalczuk-Definition.
Geschichtenerzähler Kowalczuk schließt von mehreren Einzelerfahrungen auf strukturelle/staatliche Probleme und daraus wieder auf Prä-Faschismus.
In der Christburger Straße im DDR-Prenzlauer Berg gab es einen privaten Handwerker (Ledergürtel, Schuhmacher so was in der Art). Die hatten ein Kind mit Down-Syndrom, das sich dort sichtbar im bzw. vor dem Laden beschäftigte, ohne dass die Eltern immer selbst sichtbar waren. Hätte das zu negativen Reaktionen geführt, hätten sie das ihrem Kind vermutlich nicht zugemutet. Jedenfalls wurde es nicht versteckt und war auch nicht im Heim. (Geistig behindert und privater Handwerker gleich 2x nicht Mainstream in der DDR).
Pankow war ein Stadtbezirk in der DDR. Ist natürlich nicht so postitiv, dass er in der Schule nicht sofort mit offen Armen aufgenommen wurde, aber das war zu der Zeit im Westen sicher auch nicht so. Entscheidender dürfte aber sein, dass seine Eltern sich gegen die „präfaschistische Diktatur“ durchgesetzt haben. Wie geht denn das? Würde mich nicht wundern, wenn der deutsche Rechtsstaat zu dieser Zeit noch sehr viel effektiver darin war, den Zugang zur Regelschule zu verhindern.
In Hamburg soll es jedenfalls erst seit dem Schuljahr 2010 das Recht für Schüler mit Down-Syndrom geben, allgemeine Schulen zu besuchen. https://kidshamburg.de/down-syndrom/das-kind-mit-down-syndrom-in-der-schule/ Das wären immerhin „nur“ 36 Jahre nach der westdeutschen TV-Serie „Unser Walter“, die angeblich sehr zur Sensibilisierung im Westen beigetragen hat.
Übrigens: Im Osten wurde auch Westfernsehen geschaut, bis auf marginale regionale Ausnahmen. – Sollte man vielleicht nicht ignorieren.
Der Artikel enthält noch einige nicht belegte Allaussagen, z.B. über Nazis in der NVA, die ebenfalls auf Mastodon diskutiert wurden. Die fehlende Aufarbeitung der Naziverbrechen im Osten im Gegensatz zur Aufarbeitung im Westen durch die 68er ist auch ein Thema im Interview. Hierzu möchte ich nur kurz auf meinen Blog-Beitrag Der Ossi und der Holocaust verweisen, der ein ziemlich genaues Bild zeichnet, wann welche Aufarbeitungsschritte erfolgten, was an Wissen über die Verbrechen der Nazis in der Bevölkerung vorhanden war und in dem man auch die Unterschiede zum Westen sehen kann (Beispiel Ausstrahlung der Serie Holocaust und Bayrischer Rundfunk, sowie Skandal um Wehrmachtsausstellung).
Die Diskussion auf Mastodon hatte sich gerade ein wenig beruhigt, da erschien dieser Leserbrief in der taz:
Bezeichnend für die Wahrnehmung behinderter Menschen durch DDR-Bürger ist, dass die im Interview erwähnte westdeutsche, auch „ drüben“ zu empfangende ZDF Fernsehserie „Unser Walter“ in der DDR entgegen der Intention der Sendung diskriminatorisch benutzt wurde. „Mein Gott, Walter“ sagten die Leute zum Beispiel, wenn jemand ungeschickt handelte. Die faschistischen Narrative vom gesunden Volkskörper wurden in der DDR eben nur abgesägt, aber Wurzel und Nährboden blieben weitestgehend unangetastet.
Dieser Brief ist so haarsträubend! Die Redensart kommt von einem Lied von Mike Krüger von 1975, in dem es um einen Walther mit „th“ geht, der der Verwalter eines Mietshauses ist.
Das könnte man kennen, wenn man in der Bundesrepublik oder in der DDR aufgewachsen ist. Mike Krüger ist ein deutscher Komiker aus Ulm. Mein Gott, Walther war 32 Wochen auf Platz 1 der deutschen Album-Charts und wurde über 250.000 mal verkauft (siehe Wikipedia). Im Osten ist die Platte sicher auf Kassetten kopiert und weitergereicht worden.
So und zum Schluss, weil ich gerade so schön in Schwung bin, kommt jetzt mein Leserbrief in meiner privaten Ossi-Bild-Zeitung.
Mein Leserbrief in meiner Zeitung (Sarkasmus)
Ich habe kurz vor Corona noch einige Amazon-Aktien gekauft und bin dadurch unglaublich reich geworden. Ich habe mich dafür sehr geschämt und das meiste Geld an die Deutsche Umwelthilfe gespendet. Vom Rest habe ich eine Zeitung für Ostdeutsche auf Bild-Niveau gegründet. Die ist natürlich, was die Redaktion angeht, total unabhängig von ihrem Besitzer, so wie die Washington Post auch. Aber ab und zu veröffentliche ich einen Leserbrief. Hier meiner zu Mein Gott, Walther.
Betrifft Beitrag „Im Westen alles Nazis?“
Ihren Ausführungen zu den faschistischen Umtrieben in den alten Bundesländern der BRD kann ich nur zustimmen. Zu denen von Ihnen bereits erwähnten Nazi-Strukturen im Verfassungschutz, in der Armee, in der Polizei und der notorischen Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge, sowie der trotz Parteiausschlussverfahren mit Mehrheit als AfD-Landesvorsitzende von Schleswig-Holstein wiedergewählten Politikerin Doris von Sayn-Wittgenstein mit Kontakt zu Holocaust-Leugnerin möchte ich noch folgende unerhörte Begebenheit hinzufügen: 1974 begann das Fernsehen der BRD mit der Ausstrahlung der Fernsehserie „Unser Walter“, in der das Leben mit einem Kind mit Behinderung thematisiert wurde. Nur kurz darauf erschien eine Schallplatte mit dem Titel „Mein Gott, Walther“, in dem Menschen verhöhnt werden, denen ab und zu Dinge misslingen. Der Zusammenhang zur Fernsehserie wurde durch die Änderung der Schreibung des Wortes „Walther“ nur oberflächlich kaschiert. Die faschistische Grundhaltung der Bürger der BRD kann man auch daran erkennen, dass sich dieses Machwerk eines west-deutschen Komikers über 250.000 mal verkauft hat. Das Lied war übrigens wie immer noch auf youtube abrufbare Videos zeigen, auch im österreichischen Fernsehen zu sehen, aber dass in diesem Land sogar die Künstler Nazis sind, wissen wir ja spätestens seit dem Erscheinen von „Mein Kampf“!
Mit antifaschistischen Grüßen aus Ost-Berlin Stefan Müller
Ist absurd, oder? Aber nicht absurder als der Leserbrief, den die taz gedruckt hat.
In der Bahn saß ein Mann hinter mir und erklärte einer Frau, die zufällig neben ihm saß, die Welt. Er war ein Öko, hatte schon diverse Petitionen und Klagen gestartet, aber es drangen auch immer wieder merkwürdige Dinge an mein Ohr (Ich versuchte, ein Buch zu begutachten und das auszublenden .…). Jedenfalls hatte er die DDR mit dem Iran verglichen und von Folter gesprochen. Mein Wissensstand war so, dass es zum Ende der DDR fast keine physische Folter gab, dafür aber ausgeklügelte psychische Zersetzung. Bis in Familien hinein.
Es gab in Potsdam eine Stasi-Hochschule mit entsprechenden Abschlussarbeiten.
Ich habe ihm das gesagt und er meinte: Ja, aber die Stasi habe Röntgenstrahlung eingesetzt!
Irgendwann hat er dann auch seiner Sitznachbarin erzählt, wie toll das doch mit dem Internet sei, da könne man das alles nachlesen. Dummerweise wollte ich mein Buch weiterlesen. Ich hätte gleich mal nachgucken sollen. Es gibt höchst interessante historische Untersuchungen aus den 90ern zu den Röntgengeräten und dem Einsatz radioaktiver Materialien durch die Stasi (Eisenfeld et. al. 2002).
Kurz: Das mit den Röntgengeräten ist Quatsch. Zerrüttung findet man auch in diesem Bericht und es gibt noch ganz viele interessante Sachen zu Spionage, Einsatz von Strahlung an der Grenze, Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Institutionen usw.
Die Stasi hat zum Beispiel Westgeld radioaktiv markiert, weil sie rausfinden wollte, wer die Scheine aus den Briefen klaut. Ich dachte ja immer, dass Post und Stasi praktisch eins waren und dass die eben ab und zu Sachen aus Briefen und Paketen genommen haben.
Den Postler haben sie geschnappt, aber 12 Scheine blieben verschwunden. Wahrscheinlich hatte die in Wirklichkeit der Chef und das konnte ja nicht in den Akten dokumentiert werden. =:-)
Die radioaktive Markierung von Geldscheinen und deren Ergebnis ist in einem weiteren Fall belegt.124 Er dokumentiert einen geradezu kriminell fahrlässigen Umgang des MfS mit radioaktiven Substanzen. Aufgedeckt und nachgewiesen werden sollte der Diebstahl von Westgeld aus Postsendungen. Dazu präparierten Mitarbeiter des OTS am 4. Mai 1988 20 5 DM-Scheine mit dem »Wolke«-Mittel 113 (jeweils belastet mit einer Aktivität von 60 uCI), steckten sie in Briefkuverts und schickten sie einen Tag später, wie es heißt, »operativ in den Postkanal«. Tatsächlich konnte ein Mitarbeiter der Post des Diebstahls überführt und festgenommen werden. Es konnten bei ihm aber nur acht der zwanzig präparierten Geldscheine sichergestellt ‑werden. Zwölf der kontaminierten 5 DM-Scheine blieben verschwunden und gaben den beteiligten MfS-Mitarbeitern Anlaß zu einigem Kopfzerbrechen. Ihren Berechnungen zufolge verursachte das Tragen auch nur eines dieser Scheine am Körper über einen Zeitraum von drei Monaten eine Belastung von 200 rem, »was insbesondere im Gonadenbereich spätere Wirkungen bei Jugendlichen verursachen könnte«.125 Diese Dosis würde jedoch, so heißt es, innerhalb eines Jahres infolge der Zerfallszeit auf 16 rem sinken und wäre da nach »aus unserer Sicht ungefährlich«.126 Andererseits mußte eingeräumt wer den, daß alles auch davon abhing, wie die betreffenden Personen mit den Scheinen umgingen. Würde eine Person mehrere dieser Scheine am Körper tragen, so bestünde die Gefahr einer »vervielfachten« Belastung und »von Spätschäden an begrenzten Körperteilen«.127 Wenn man in Rechnung stellt, daß die radioaktiv markierten Geldscheine möglicherweise auch in die Hände von Kleinkindern oder schwangeren Frauen fallen konnten, so muß diesem Markierungsverfahren ein gemeingefährlicher Charakter bescheinigt werden. Ob die Bemühungen des MfS, die zwölf fehlenden radioaktiv präparierten Geldscheine wieder aufzufinden, Erfolg hatten, ist nicht dokumentiert – und das spricht eher für ein negatives Ergebnis.
Eisenfeld et al. 2002, Projektbericht »Strahlen« Einsatz von Röntgenstrahlen und radioaktiven Stoffen durch das MfS gegen Oppositionelle – Fiktion oder Realität
Und obwohl offiziell die radioaktiven Wolken einen Umweg um die DDR gemacht hatten, hat die Stasi für ihre Tracking-Aktionen einen #Tschernobyl-Aufschlag berechnet und die Strahlungsdosis erhöht:
Die Dosis von jeweils 450 uCi (gesamt 1,9 mCi) war so stark, daß auch »von außen […] in der Wohnung gearbeitet« werden konnte.130 Außerdem wurde, wie es heißt, »der infolge der KKW-Havarie [gemeint ist offensichtlich Tschernobyl] erhöhte Strahlungsuntergrund […] rechnerisch berücksichtigt.«131 Am selben Tag wurden der Entwicklungsingenieur und seine Frau in der Wohnung und der Westberliner eine Stunde später an der Grenzübergangsstelle über führt und festgenommen. Der Einsatz der bereitgestellten »Wolke-Mittel« lag in der Regie der Abteilung 26. Der Erfolg brachte Hauptmann Thielemann, der als Mitarbeiter des OTS die praktische Markierung durchführte, noch am selben Tag einen Prämienvorschlag in Höhe von 400 Mark ein.
Eisenfeld et al. 2002, Projektbericht »Strahlen« Einsatz von Röntgenstrahlen und radioaktiven Stoffen durch das MfS gegen Oppositionelle – Fiktion oder Realität
Die haben auch den Boden von Oppositionstreffpunkten präpariert, so dass die Leute das Zeug dann an den Schuhen hatten.
Oder Manuskripte von Oppositionellen radioaktiv markiert und dann geguckt, bei wem das im Westen bzw. im Ostblock angekommen ist.
Schon irre alles. Aber die Untersuchungen haben eben ergeben, dass Röntgenstrahlung nicht gezielt zur Schädigung von Personen eingesetzt wurde.
Quellen
Eisenfeld, Bernd & Auerbach, Thomas & Weber, Gudrun & Pflugbeil, Sebastian. 2002. Projektbericht »Strahlen« Einsatz von Röntgenstrahlen und radioaktiven Stoffen durch das MfS gegen Oppositionelle – Fiktion oder Realität. Berlin: Bundesarchiv/Stasi-Unterlagen-Archiv. (http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292–97839421308513)
Prof. (em) Dr. Heide Wegener schreibt Artikel über das Gendern in der WeLT und schickt sie dann an Kolleg*innen. Ich habe auf diesem Blog schon öfter über das Gendern geschrieben. Obwohl ich der Meinung bin, dass Fragen der Gleichberechtigung letztendlich Fragen der ökonomischen Abhängigkeit sind, gendere ich inzwischen auch (Gendern, arbeiten und der Osten). Da Heide Wegener in ihren Artikeln auch immer wieder Ost-Themen anspricht (z.B. den Gender Pay-Gap in Ost und West), kann ich nicht anders als die Artikel hier zu kommentieren.
Im jüngsten Aufsatz diskutiert Heide Wegener das Gendern an Theatern. Hierzu einige Anmerkungen:
noch dazu mit Formen, die nach geltender Rechtschreibung falsch sind,
Die gegenderten Formen sind nicht falsch. Es gibt dafür nur noch keine Normierung. Der Rat für Deutsche Rechtschreibung hat in seiner Äußerung dazu festgehalten, dass er eine Normierung zum jetzigen Zeitpunkt nicht für sinnvoll hält.
Der Rat hat vor diesem Hintergrund die Aufnahme von Asterisk („Gender-Stern“), Unterstrich („Gender-Gap“), Doppelpunkt oder anderen verkürzten Formen zur Kennzeichnung mehrgeschlechtlicher Bezeichnungen im Wortinnern in das Amtliche Regelwerk der deutschen Rechtschreibung zu diesem Zeitpunkt nicht empfohlen.
Hier kann man sich das von einem Volljuristen erklärt noch mal genau durchlesen: Kolter (2023). Noch mal zum Verständnis dieser Aussage: Wenn etwas nicht normiert ist, gibt es einfach keine offizielle Regel für die Schreibung. Zum Beispiel ist das Jugendwort des Jahres 2021 sus in allen Ausgaben des Dudens vor 2021 nicht enthalten. Wie auch? Dennoch gibt es natürlich Konventionen für die Schreibung. Aber keine verbindliche Reglung. Vielleicht wird/wurde es in spätere Auflagen aufgenommen. Genauso könnte eine Normierung für „mehrgeschlechtliche Bezeichnungen“ eines Tages erfolgen.
Und jetzt zum Kulturteil:
Bedauerlich ist, dass der Westen 1989 nicht wenigstens in der Sprache dem Osten gefolgt ist. Das Gegenteil ist der Fall, wie folgende Belege zeigen. Die Theater in Berlin Mitte stehen der Charlottenburger Schaubühne in puncto Gendern in nichts nach, sie unterscheiden sich lediglich durch das graphische Zeichen mitten im Wort, statt des Unterstrichs _ wird ein Doppelpunkt : eingefügt und wir erhalten am Deutschen Theater Aktivist:innen, Mechaniker:innen, Tüftler:innen, Künstler:innen, sogar in Zusammensetzungen, Kurator:innenteam, Autor:innentheatertage bzw am BE Zuschauer:innen, Freund:innen, und sogar Gäst:innen wird wiederbelebt.
Das ist ein lustiges Statement und es ist genauso schräg wie die Ausführungen zum Gender-Pay-Gap. Man kann in Wikipedia leicht eine Liste der Intendanten (keine weiter Endung nötig) des Deutschen Theaters und des Berliner Ensembles finden:
seit 2017: Oliver Reese (Schloß Neuhaus bei Paderborn)
Die Volksbühne und das Maxim-Gorki-Theater hat Heide Wegener nicht erwähnt. Vielleicht gendern die nicht oder sie hatte kein Programmheft. Der Vollständigkeit halber hier auch die Intendant*innen:
Seit dem Ausscheiden der Ossis, sind die Posten am BE und DT mit Ausnahme von Stephan Suschke alle von West-Männern besetzt gewesen. Am Gorki-Theater hat es immerhin eine Frau geschafft. Auch die ist nicht aus dem Osten. Man muss also bei Ost-West-Entwicklungen ein bisschen genauer hingucken. Was man auch herausbekommen müsste, bevor man solche Statements veröffentlicht, ist, wie das in den Häusern geregelt ist. Kann jeder schreiben, wie er bzw. sie will oder gibt es Hausregeln für das Gendern? Das machte einen gewaltigen Unterschied. Dazu unten mehr.
Wegener wiederholt ihr Argument aus dem früheren Aufsatz:
Etwa stellt die Paarform Schüler und Schülerinnen für Sprecher, für die „Schule“ ganz selbstverständlich Jungen und Mädchen einschließt (in Deutschland, nicht in Afghanistan!), keinen kommunikativen Nutzen, sondern eine Zumutung dar. Für sie ist die Information, dass neben Schülern auch Schülerinnen gemeint sind, überinformativ und führt deshalb zu Verdruss. Denn sie verstößt gegen Grices Zweite Konversationsmaxime der Quantität: „Do not make your contribution more informative than is required.“
Das Argument ist aber leider falsch. Für den konkreten Fall mag es zutreffend sein, dass keine neue Information in Bezug auf die Gruppenzusammensetzung mitgeliefert wird. Nur ist Sprache eben ein System und wenn ansonsten gegendert wird bzw. Paarformeln verwendet werden, dann wäre hier das Weglassen dieser längeren markierten Form ein Signal. Es ist alles nicht so einfach mit der Pragmatik.
Geglückte Kommunikation setzt voraus, dass die Information eine Informationslücke schließt, dass beim Gesprächspartner eine Lücke, Unwissenheit also besteht. Eine Information, die keine Lücke schließt, ist nicht nur überflüssig, sie ist beleidigend. Denn so dumm ist der Hörer nicht und will auch nicht so behandelt werden. Schon gar nicht mit moralisch erhobenem Zeigefinger.
Bei Kommunikation geht es nicht unbedingt um das Schließen von Informationslücken. Sprache und Sprechen hat viele Funktionen. Das müsste Heide Wegener auch wissen. Eine der Funktionen des Genderns nennt sie ja in ihrem Artikel selbst: „Gendern dient der Imagepflege, es soll den Sprecher als woke, als progressiv ausweisen“.
Woher weiß Heide Wegener, was Hörer*innen wollen? Das Gendern ist eine Sprachvariante und was Gendern-Gegner*innen tun, ist, Menschen, die anders sprechen, zu erklären, warum sie das, was sie tun, falsch finden. Das ist irgendwie ein interessanter Turn in der modernen Sprachwissenschaft, denn einige meiner Held*innen erklären nun, dass das, was Sprecher*innen tun, gar nicht ginge, denn es sei gegen das System der Sprache. Gegen die Theorien, die sie Zeit ihres Lebens ausgearbeitet haben. All die großartigen Grammatiker*innen wie Bierwisch, Eisenberg, Klein, Wegener, Wunderlich machen einen entscheidenden Fehler: Sie schreiben anderen Menschen vor, was sie zu tun oder zu lassen haben. Das ist preskriptive, normative Linguistik. Wir waren uns aber eigentlich immer einig, dass wir deskriptive Linguistik machen. Das heißt, wir beschreiben das, was Menschen tun. Die Graphematik beschäftigt sich mit Schreibvarianten. Mit dem, was Menschen tun. In Blogs und Foren. Die Rechtschreibfehler von heute sind die Orthographie von morgen. Genauso müssen wir als Syntaktiker*innen unsere Theorien ändern, wenn sie nicht mehr passen.
Ob die deutsche Sprache durch Genderformen ernsthaft Schaden nimmt, kann man erst dann beurteilen.
Das kann doch nicht sein. Das ist beste deutsche Sprachpflegerverein-Schreibe. Haben wir diese Leute nicht immer belächelt? Wie kann denn die Sprache Schaden nehmen? Was soll das denn bedeuten? Weil Menschen anderes sprechen, geht die Sprache kaputt? Dann sprechen sie eben anders. Wenn es irgendwann nicht mehr passt, wird es abgebaut oder es bilden sich andere, neue Formen. Nur weil es so ist, wie wir es nicht gewöhnt sind, so, dass es nicht zu unseren Theorien passt, ist es noch lange nicht kaputt.
Gendern ist eine Mode, und Moden sind endlich. […] Auch diese Mode wird, wie alle Moden, irgendwann untergehen.
Aber, liebe Heide, dann entspann Dich doch. Genieße Deinen Lebensabend und warte, bis es vorbei ist. Ich verstehe die Aufregung nicht.
Dein Unbehagen an der Verwendung des Partizips teile ich. Aber man kann ja auf andere Weise gendern. Auch diese Textteile sind Wiederholungen aus dem ersten Aufsatz und die Radfahrenden kommen hier wieder vor. Deshalb hier ein Kommentar dazu:
Dieselben Leute, die so viel von Differenzierung reden, opfern die durchaus sinnvolle Differenzierung zwischen der Bezeichnung für eine aktuelle Tätigkeit und der für die Rolle: wie kann ich, ohne generisches Maskulinum, noch sagen, dass „nicht alle Zuhörer auch Zuhörende waren“? Gilt das Schild „Radfahrer absteigen“ nicht auch für mich? Radfahrer bin ich auch dann, wenn ich mein Rad schiebe, aber Radfahrende eben nicht.
Das Argument verstehe ich nicht. Wenn Du Dein Rad schiebst, musst Du nicht mehr absteigen. Vielleicht wäre rollern hier besser für die Argumentation: Auch wenn Du nicht radfährst, sollst Du nicht auf dem Rad sitzend durch die Fußgängerzone rollern. Also „Radfahrer*innen absteigen!“. Problem ist hier die Länge. Bis man das gelesen hat, ist man schon vorbei geradelt. „Absteigen!“ mit Fahrradverbotszeichen ist eigentlich ausreichend.
Auch in den Newslettern und Programmheften der Theater schaffen es einige Wörter, in der Grundform zu überleben, beim BE beispielsweise Regisseure, Migranten, Juden, beim DT sogar die Bürger. Absichtlich oder versehentlich? Ausschließen kann man wohl, dass mit diesen Formen nur Männer gemeint sind.
Das ist auch ein interessantes Argumentationsmuster, das ich aus der Klimadiskussion kenne: Die Gegener*innen von XY finden irgendwo bei Aktivist*innen einen kleinen Fehler und leiten daraus ab, dass sie damit wohl nicht für Klimaschutz sein könnten, denn sonst würden sie ja (nicht) YZ.
Hier fordert ein Gender-Kritiker (Nein, das geht bei mir nicht mehr, ich muss eine Gender-Kritikerin schreiben, denn, liebe Heide, das ist Sprachwandel, auch wenn Ihr das bestreitet.), dass Institutionen konsequent gendern. Aber selbst die taz gendert nicht konsequent. Sie stellt es ihren Autor*innen frei. Und so muss das auch sein.
Den Fehler habe ich übrigens selbst auch gemacht. In der Zeit, in der ich noch nicht gegendert habe, habe ich mich über einen taz-Artikel aufgeregt, in dem von Dieben und Mördern gesprochen wurde, obwohl es um ein Straflager für Frauen ging, in dem Diebinnen und Mörderinnen inhaftiert waren. Aber es schreibt eben nicht „die taz“, sondern verschiedene Autor*innen in der taz. Manche lehnen das Gendern konsequent ab, andere tun es bis zum Abwinken.
Prof. Dr. Helmuth Feilke (2022) argumentiert übrigens für ein maßvolles Gendern. Das Gendern setzt ein Signal. Es reicht aus, wenn nicht alle Formen gegendert werden, sondern ab und zu das Signal an die Empfänger*innen geschickt wird.
Daraus darf man den Schluss ziehen, dass man das Ganze nicht so ernst nehmen sollte. Alles nur Theater.
Die lustigste Stelle im Artikel hätte ich beinahe übersehen, weil ich Heide Wegener ja kenne und ihre Kurz-Biographie nicht gelesen habe. Dort steht: „Prof. Heide Wegener ist Linguistin.“
Im Text steht:
Blatz hatte Recht. Es gibt keinen Grund, das Generische Maskulinum zu meiden. Im Gegenteil: Die beste, klarste Art, die Kernbedeutung von Berufs-und Rollenbezeichnungen auszudrücken, ist die endungslose Grundform, Freund, Arzt, Virologe. Da diese Formen kein Merkmal für Geschlecht enthalten, unterspezifiziert also sind, schließen sie alle Geschlechter ein und sind dadurch inklusiv.
In der Kurz-Bio hätte also stehen müssen: „Prof. Heide Wegener ist Linguist.“ Nun hat Heide Wegener das wohl nicht selbst geschrieben, sondern ihre Freund*innen aus der WeLT-Redaktion. Die sind nun, was Feminismus und Gendern angeht, sicherlich komplett unverdächtig und haben aus freien Stücken die feminine Form gewählt. Wohl weil sie diese intuitiv angemessener fanden. Wenn die endungslose Grundform im Westen auch benutzt wurde, wäre das nun aber der Beweis dafür, dass es Sprachwandel in diesem Bereich gibt, etwas, was Wissenschaftler*innen wie Heide Wegener und Josef Bayer vehement bestreiten. Wenn nicht, ist es immerhin noch ein Beweis dafür, dass Sprecher*innen das Bedürfnis haben, eben nicht das völlig ausreichende generische Maskulinum, sondern eben die feminine Form zu benutzen.
Sorry, ich komme erst jetzt dazu. Im Januar schlug ein Bericht des Ostbeauftragten Wellen. Er wurde, wie üblich verdreht.
Die taz schreibt zum Beispiel, dass nur noch 39% der Ostdeutschen mit der Demokratie zufrieden wären:
Das Konzept des Ostbeauftragten verweist auf die gesunkene Zufriedenheit mit der Demokratie besonders in den östlichen Bundesländern. Sie lag zuletzt nur noch bei 39 Prozent.
Das ist mal wieder einer dieser Hiebe in die Kerbe „Die Ossis lehnen die Demokratie ab / sind nicht demokratiefähig / sind komisch / sind anders als wir / saßen zusammen im Kindergarten auf dem Töpfchen und lieben deshalb Diktaturen.“
Dem „Deutschland-Monitor“ zufolge sind nur noch 39 Prozent der Ostdeutschen zufrieden mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert. Gerade einmal 32 Prozent von ihnen glauben, dass Politikerinnen und Politiker das Wohl unseres Landes wichtig sei. Und zwei Drittel sind der Meinung, Ostdeutsche würden häufig als Menschen zweiter Klasse behandelt.
Manche Medien bringen die Einschränkung „so wie sie in Deutschland funktioniert“, manche weisen darauf hin, dass die Zustimmung auch im Westen sinkt. Manche unterlassen das aber.
Als Ossi frage ich mich, wie kann man mit dem, was in diesem Land läuft denn zufrieden sein? Eigentlich geht das nur, wenn man materiell abgesichert und politisch uninteressiert ist. Ansonsten habe ich hier ein paar Punkte, die man komisch finden könnte:
Maskenaffäre: Veruntreuung von Millionen ohne rechtliche Konsequenzen
Korruption im Öl und Gasgeschäft bei CDU/CSU und SPD
Scheuers Versenkungen von Millionen Euros im Mautdesaster ohne rechtliche Konsequnezen
Scheuers Umlenkung von Geldern in seinen Wahlkreis
Giffeys plagierte Doktorarbeit und Masterarbeit. Giffey tritt nach Aberkennung ihres Doktortitls als Familienministerin der Bundesregierung zurück, macht aber dann als Regierende Bürgermeisterin von Berlin nahtlos weiter. What? Eine Diebin und Betrügerin gut genug für Berlin?
Giffey wurde 2022 mit 58,9% zur Parteivorsitzenden in Berlin gewählt. Trotz Rot-Grün-Roter Mehrheit wurde 2023 RGR nicht weitergeführt, sondern nach einer Mitgliederbefragung, die mit einer millimeterdünnen Mehrheit von 54% für Schwarz-Rot ausging, dann die Koalition mit der CDU begonnen. Das ganze Giffey-Paket hätte früher mehrfach für einen Rücktritt gereicht.
Plagiate und Titelbetrug bei diversen anderen Politiker*innen
Lobby-Zugang für den Bundestag zum Beispiel von Waffenhändlern
Der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes, der von der Politik festgelegt wird, ist ein Nazi.
Der Ministerpräsident eines Bundeslandes, der früher beim Öffentlich-rechtlichen Rundfunk gearbeitet hat, fordert die Streichung der Rundfunkgebühren und ansonsten alle drei Wochen das Gegenteil von dem, was er früher gefordert hat.
Porsche ist life dabei bei der Aushandlung des Koalitionsvertrags
Döpfner, Verlagschef des Springer-Konzerns, weist seine Blätter an, die FDP hochzuschreiben, damit diese dann die Koalition platzen lassen kann.
Wie von Döpfner geplant, kann eine Partei, die für 11% der Wähler*innen steht, die Politik der restlichen Regierung sabotieren, wobei dazu natürlich ein Machen-Sie-sich-keine-Sorgen-Klimakanzler gehört, der das mit sich machen lässt.
Verhinderung eines aussagekräftigen Ergebnisses beim Volksentscheid durch die Trennung von Wahltermin und Volksentscheid in Berlin durch die SPD-Innensenatorin.
Vielleicht sind wir Ossis alle etwas naiv. Wir waren geschockt, als wir sahen, was die Funktionäre in Wandlitz alles hatten, obwohl das unter dem Niveau westdeutscher Arbeiter*innen lag. Vielleicht sind unsere Ansprüche an Politiker*innen einfach zu hoch. Höher als die der Wessis.
Vielleicht geht es den Wessis auch einfach zu gut und/oder sie interessieren sich nicht so für die Korruption und Bereicherung. Ist ja normal, machen ja alle.
Also: Es ist nicht so, dass Ossis Demokratie als politisches System ablehnen. Im Gegenteil, die Zustimmung zur Demokratie an sich war zumindest 2018 sogar noch höher als im Westen 95% vs. 93% (Studie der Universität Leipzig). Was abgelehnt wird, ist die Art und Weise, in der Dinge gerade laufen. Und hier ist die Frage an die 59% der Wessis, die mit der Demokratie, wie sie gerade in Deutschland funktioniert, zufrieden sind: What’s wrong with you?
Ost-Frauen erklären mir, sie hätten „das nicht nötig“, das = die Formen der Gendersprache, und ich denke, sie haben recht. Ich bewundere sie dafür, dass sie viel früher als die im Westen nicht nur Friseur, sondern auch Mechaniker lernten und nicht nur Pädagogik und Kunstgeschichte studierten, sondern auch Maschinenbau und Physik. Und anstatt den Kindern Formen wie dem/*der Patient*in beizubringen, sollten die Lehrer sie besser dazu animieren, auch die MINT-Fächer zu studieren.
Ja, ganz genau so habe ich auch Jahrzente lang gedacht. Das ist ja auch in meinem ersten Blog-Post zu dem Thema (Gendern, arbeiten und der Osten) beschrieben. Nach der Wende haben die Ostfrauen die Westfrauen überhaupt nicht verstanden, weil sie deren Probleme überhaupt nicht hatten. Wie Du sagst, liegt das eigentliche Problem viel tiefer, das bedeutet aber nicht, dass man nicht das, was man tun kann, schon machen kann. Ich kann nicht für mehr Kindergartenplätze sorgen, aber ich kann weiblichen und diversen Student*innen1 signalisieren, dass sie wertgeschätzt werden. (Einige, sehr wenige, kann ich auch einstellen. Das habe ich auch getan. Auch flexible Lösungen mit Kinderauszeiten gefunden usw. Aber darüber hinaus kann man eben noch Gendern.)
Der angeführte Test prüft musician, also Formen im Singular – und damit ist er völlig wertlos, was generische Lesart angeht, denn im Singular sind die Nomen nur in amtlichen Texten generisch, sonst fast nie (Mit dem Abitur erwirbt der Schüler…). Das zeigen auch die Ergebnisse des angeführten Tests S. 3 : „Es ergibt sich, dass Singularformen beider Wortklassen zu 83 Prozent als „männlich“, Pluralformen aber zu 97 Prozent als „neutral“ bewertet werden. Im Plural gelten Berufsbezeichnungen zu 94, Rollenbezeichnungen sogar zu 99 Prozent als „neutral““. Konsequenz: Im Singular muss man die movierte Form benutzen. Deshalb lässt sich auch der Chirurgentext nicht aufs Deutsche übertragen. Niemand würde eine Chirurgin (im referenziellen Modus!) mit Chirurg bezeichnen, nicht mal Ostfrauen. Die unterscheiden sehr genau zwischen referenzieller und generischer Lesart: „Ich bin / sie ist Arzt – aber: Meine Ärztin meint…
Man kann den Text übertragen: „Einer der Chirurgen soll operieren, sagt aber: ‚Ich kann nicht, das Kind ist mein Sohn.’“ Ja, aber dann ist es Plural, wie Du sagst.
Aber auch die Tests mit Pluralformen bestätigen nicht die Behauptung von Feministen, generische Maskulina würden eher spezifisch als ‚männlich‘ verstanden, weder die originalen Tests von 2001 oder 2008 noch die von Schunack/Binanzer durchgeführten Untersuchungen, s. ZS 2022. Es gibt keinen Grund, das GM zu meiden. Im Gegenteil: Die beste Art, die Kernbedeutung von Berufs-und Rollenbezeichnungen auszudrücken, ist die unmarkierte Grundform, Freund, Arzt, Virologe. Da diese Formen kein Merkmal für Geschlecht enthalten, unterspezifiziert also sind, schließen sie alle Geschlechter ein und sind dadurch inklusiv. Auch das Suffix der Nomina agentis -er ist kein Merkmal für ‚männlich‘, sondern für den Agens, im Gegensatz zu -ling für den Patiens, Lehrer — Lehrling. Wäre es anders, dann hätten wir in Lehr-er-in zwei sich gegenseitig ausschließende Morpheme hintereinander, etwas, was es m.W. in natürlichen Sprachen nicht gibt.
Das sind alles kluge Gedanken. Du und andere Linguist*innen können sich jetzt bis an ihr Lebensende damit beschäftigen, Laien zu erklären, warum die ungegenderten Formen perfekt funktioniert haben. Es wird aber dennoch Menschen geben, die gendern, weil sie einen Bedarf dafür haben. Siehe unten zur Pragmatik.
Ich bezweifle auch, ob nicht-binäre oder homosexuelle oder Trans-Menschen wirklich den ständigen Hinweis auf ihr Anderssein wollen. Wollen die nicht vielleicht lieber einfach nur dazugehören? Mit *Formen im Singular (die Autorin A und die Regisseur*in B) werden (nicht)binäre Menschen geradezu geoutet. Wollen die das überhaupt?
Das ist ein interessanter Punkt. Ich denke, dass auch gerade in der queeren Szene viel gegendert wird. Prof. Horst Simon, soweit ich weiß, ein glücklich verpartnerter cis-Mann, spricht von sich als Linguist*in. Mit dieser etwas extremen Art wäre es dann „die Autor*in A und die Regisseur*in B“. Junge Menschen stellen sich in Gesprächsrunden immer vor und geben zusätzlich zu ihrem Namen ihr bevorzugtes Pronomen an. Ich war neulich bei einem Treffen älterer Menschen (50–70) und eine männlich gelesene Person stellte sich mit Namen und Pronomen sie vor. Damit wussten alle Bescheid. Auf alle anderen männlich gelesenen Personen wird mit er verwiesen. Es ist ihre Wahl, wie offen sie leben wollen.
Es geht nicht nur um „Unterbrechung und minimale Verzögerung“, die massive Ablehnung durch die sprechende Mehrheit beruht u.a. auf der übertriebenen, da inhaltlich nicht gerechtfertigten Explizität der Genderformen. Etwa stellt die Paarform Schüler und Schülerinnen für Sprecher, für die ‚Schule‘ ganz selbstverständlich Jungen und Mädchen einschließt (in Deutschland, nicht in Afghanistan), keinen kommunikativen Nutzen, sondern eine Zumutung dar. Für sie ist die Information, dass neben Schülern auch Schülerinnen …, überinformativ und führt deshalb zu Verdruss. Sie verstößt gegen die Gricesche Konversationsmaxime der Relevanz, vgl. Grice (1975:45): „Do not make your contribution more informative than is required.“ Geglückte Kommunikation setzt voraus, dass die Information eine Informationslücke schließt, dass beim Gesprächspartner eine Lücke, Unwissenheit also besteht. Eine Information, die keine Lücke schließt, ist nicht nur überflüssig, sie ist beleidigend. Denn so dumm ist der Hörer nicht und will auch nicht so behandelt werden.
Ja, Verdruss. Das hatte ich ja gesagt (Das leidige Thema: Gendern). Das Gendern verstößt nicht gegen die Maxime der Relevanz, denn es geht den Sprecher*innen genau um diesen Effekt. Mit dem Umweg, der längeren Form wird etwas ausgesagt. Nämlich: „Ich, die Sprecher*in, gendere, weil ich möchte, dass Frauen und Trans-Personen explizit erwähnt werden.“ Es ist ein klassisches Form-Bedeutungspaar mit einer erweiterten Bedeutung und diese, dieses Das-immer-wieder-unter-die-Nase-gerieben-Bekommen nervt.
Wenn es darum geht, alle anzusprechen, wie oft behauptet, so tun wir das doch schon lange, indem wir Sehr geehrte Damen und Herren oder liebe Zuschauer und Zuschauerinnen sagen.
Ja. Wenn wir es sagen. Ich sage es manchmal in Lehrveranstaltungen statt Glottalverschluss. Dann fehlen die Transpersonen.
Wer so argumentiert und damit „geschlechtergerechte“ Sprache allgemein rechtfertigt, verkennt den Unterschied der drei Funktionen des Sprachzeichens (Organonmodell):
In der Anrede ist das Sprachzeichen Signal und erfüllt die Appellfunktion. Weit überwiegend, wenn wir über jn reden, ist es aber Symbol und erfüllt die Darstellungsfunktion. Schließlich ist es Symptom und erfüllt dann die Ausdrucksfunktion, sagt etwas über den Sprecher aus. Und in den meisten Fällen scheint mir das die eigentliche Motivation zu sein: Gendern dient der Imagepflege, es soll den Sprecher als woke, als progressiv ausweisen. Es ist eine Mode, und Moden sind endlich. Wer erinnert sich noch an das Pronomen “frau”?
Das ist ein Aspekt. Natürlich sagt meine Sprache auch etwas über mich aus.
Ich erinnere mich noch an „frau“. In der taz kommt es noch ab und zu vor. Auch sehr schön ist „maus“. Da gibt es aber nur eine Autorin, die das benutzt. Bzw. eine Autor*in. =:-)
Natürlicher Sprachwandel geht anders und hat andere Ziele, noch nie haben kompliziertere Formen die einfacheren verdrängt. Hier liegt Sprachlenkung, der Versuch einer Sprachlenkung vor.
Was ist, wenn Sprachlenkung von vielen Menschen angenommen wird und dann einfach Eingang in die Sprache findet? Esperanto war eine Plansprache. Künstlich. Inzwischen ist es eine lebendige Sprache. Und ich finde „Lehrer“ in Deinem ersten Zitat inzwischen schon komisch. Man gewöhnt sich an „Lehrer*innen“ und dann sind die „Lehrer“ eben nur noch männliche Personen. Das ist Sprachwandel.
Ob er dauert, bis die Frauen gleichberechtigt sind? In anderen Sprachen hat man die Suffixe längst abgeschafft, schon M. Thatcher wollte Prime Minister sein, nicht Ministress.
Oh, je. Thatcher als Beispiel für irgendwas zu benutzen, ist so, als würde man in der WeLT veröffentlichen.
Sind die Briten frauenfeindlich, sind sie noch stärker als wir unterdrückt vom Patriarchat? Oder sind sie im Gegenteil emanzipierter als wir?
Ich habe 1992 in Edinburgh studiert. Ein Dozent, den ich irgendwas zur Verwendung der Pronomina gefragt hatte, hat mir erklärt, dass manche auch das Pronomen ‘they’ verwenden. Ich habe das damals nicht verstanden, wusste es nicht einzuordnen. Aber diese Diskussionen gibt es auch in Großbritannien schon sehr lange. Insgesamt fällt das nicht so auf, weil das Englische eben viel weniger relevante grammatisch markierte Unterschiede hat.
Die „geschlechtergerechten“ Formen werden als diskriminierend empfunden: W. Goldberg „I’m an actor , I can play anything“, Cate Blanchett lehnt actress ab und besteht sogar als Dirigentin im Film auf der Anrede Maestro, nicht Maestra. Nele Pollatschek und Sophie Rois lehnen die deutschen Formen ab.
Ich denke, das sollte jede*r machen wie er/sie will. Horst ist eben Linguist*in, ich bin Linguist und Du Linguistin. Prima. Es gibt nur dann ein Problem, wenn jemand etwas vorschreiben will. Das sollte es nicht geben.
In der Schweiz, in der zunächst mehr gegendert wurde als in Deutschland, was verständlich ist, hatten dort die Frauen doch erst 1971 das Wahlrecht erlangt, wird jetzt eine “Renaissance des Generischen Maskulinums“ beobachtet, bei Studentinnen unter 25 (s. J. Schröter, A. Linke, N. Bubenhofer 2012: „Ich als Linguist“. Eine empirische Studie zur Einschätzung und Verwendung des Generischen Maskulinums, in: Susanne Günthner u.a. Genderlinguistik, Sprachliche Konstruktion von Geschlechtsidentität, Berlin: de Gruyter, 359–379, DOI :10.1515/9783110272901.359
OK. Siehe oben. Soll jeder machen, wie sie will. (Das war jetzt lustig, oder? =;-)
Ich habe keinen Zugang zu Studentinnen mehr, kann das aber durch einzelne Teenager bestätigen. Die finden Gendern doof und karikieren es durch die Kürzel die SuS und die LuL und dann weiter zu die Sus und die Lul.
Nun ja. SuS wird von Lehrer*innen bzw. an den Universitäten in der Lehramtsausbildung auch verwendet. Ist eine übliche Abkürzung. Ich habe auch noch mal bei Prof. Beate Lütke nachgefragt, die in der Lehrer*innenausbildung arbeitet. Hier ihre Antwort zu SuS und LuL und ihrer Sicht auf das Gendern:
SuS und LuL verwenden zumeist Studierende in Unterrichtsentwürfen, weil sie in den Planungstabellen wenig Platz fürs Ausschreiben haben. Diese Abkürzungen tauchen also eher im Rahmen schulpraktischer Materialien für den Einsatz in Schulen auf. In der wissenschaftlichen Kommunikation werden sie nicht verwendet, bei den Grundschulkolleginnen ist mir das bisher auch nicht aufgefallen. Als Referendarin habe ich ‘SuS’ auch in meinen tabellarischen Unterrichtsentwürfen verwendet, weil es darin so vorgegeben war; das ist aber 20 Jahre her.
Ich selbst gendere flexibel und verwende Genderformen wie Lehrkräfte, Schüler*innen und setze in der Doppelform in die Kasus (‘bei Schülern und Schülerinnen’). Ich mache mir keine Sorgen, dass die deutsche Sprache durchs Gendern beschädigt wird. Mein Lesefluss wird dadurch nicht gestört :). Mir ist wichtig, dass sich in meinen Uni-Kursen alle einbezogen und angesprochen fühlen. Eine queere Person sagte mir einmal in meiner Sprachbildungsvorlesung, dass sie sich durch das Gender-* erstmalig in Lehrveranstaltungen einbezogen und angesprochen fühle. Das hat mich veranlasst, dazu eine Umfrage zu machen. Die große Mehrheit der Gruppe hat sich für das * ausgesprochen.
Beate Lütke, p. M. 2023.
Außerdem gibt es Kollateralschäden. Die schon erwähnten Formen dem*der Arzt*in (in Papieren der Charité massenhaft) machen die deutsche Sprache nun wirklich nicht leichter für die (DaF)Lerner.
Ja. Ich schreibe immer die Ärzt*in. Dann hat man sich die Disjunktion beim Artikel gespart. Formal ist das für Grammatiker*innen natürlich die Hölle, weil es keine Kongruenz zwischen Artikel und Nomen mehr gibt, aber dann müssen sich diejenigen, die das modellieren wollen, eben etwas dafür ausdenken.
Und dieselben Leute, die so viel von Differenzierung reden, opfern die durchaus sinnvolle Differenzierung zwischen der Bezeichnung für eine aktuelle Tätigkeit und der für die Rolle: wie kann ich, ohne Generisches Maskulinum, sagen, dass “nicht alle Zuhörer auch Zuhörende waren“? Gilt das Schild “Radfahrer absteigen” nicht auch für mich? Radfahrer bin ich auch dann, wenn ich mein Rad schiebe, aber Radfahrende eben nicht mehr. Aber nach dem adfc Berlin sind sogar Getötete noch Radfahrende, nicht nur an Ostern, dem Fest der Auferstehung! Es ist grotesk. Und wenn Linguisten solche Formen empfehlen, ist das beschämend.
Ja. Das finde ich nicht gut und mache ich auch nicht. Das Beispiel ist schon älter und von Max Goldt: „In der Lobby lagen tote Studierende.“ Damit macht man das Partizip mehrdeutig. Das würde ich nicht so machen, aber wenn es sich durchsetzen würde, dann wäre es eben so. Ich muss es ja nicht aktiv so verwenden, denn die Form „Student*innen“ gibt es ja auch noch. Andererseits wird Lehrer dann eben eindeutig mit Bezug auf männlich gelesene Personen.
Beate Lütke hat mich auf einen Text von Helmuth Feilke (2022) aufmerksam gemacht, der im Wesentlichen genau die Punkte bringt, die ich hier auch vertreten habe, nur besser formuliert. Der Text weist im Vorübergehen auch auf ein lustiges neues Problem hin, das sich aus der Verwendung der Partizipformen ergibt: Im Singular gibt es einen Unterschied in der Flexion: ein Studierender vs. eine Studierende.
Soll jetzt dieser Pro-Gendern-Text mit einer Kritik an einer der verwendeten Formen enden? Nein. Er endet mit einem Ja. Ja, zum flexiblen Gendern. Wie das genau geht, hat Helmut Feilke gut beschrieben.
Heute Nacht habe ich von Prof. Dr. Heide Wegener eine Mail mit dem Betreff „Das leidige Thema“ bekommen. Heide Wegener schreibt immer wieder in der WeLT zu diesem leidigen Thema. Sie hat mir ein PDF eines WeLT-Artikels (paywall) geschickt, der eine kürzere Version eines Aufsatzes ist, der in einem linguistischen Sammelband erscheinen wird.
Ich gendere und habe das in einem Blogpost hier schon erklärt (Gendern, arbeiten und der Osten). Wie ich da geschrieben habe, bin ich der Meinung, dass die Frage der Gleichstellung eine ökonomische ist und dass es deshalb wichtig ist, die Infrastruktur, die Familien brauchen, damit alle arbeiten können, auszubauen und zu finanzieren.
Hier einige kurze Kommentare zu Heide Wegeners Artikel:
Wegener beschäftigt sich mit dem generischen Maskulinum und mit Studien, die zeigen sollen, dass es sich nur auf Maskulina beziehen würde. Ich habe das Gendern selbst lange abgelehnt und dann aber, weil ich durch Prof. Dr. Henning Lobin (Leiter des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim) auf folgende Studie aufmerksam geworden bin, mit dem Gendern begonnen:
Stahlberg, Dagmar, Sabine Sczesny & Friederike Braun. 2001. Name your favorite musician: Effects of masculine generics and of their alternatives in German. Journal of Language and Social Psychology 20(4). 464–469. DOI: 10.1177/0261927X01020004004.
Ich weiß noch genau, wie ich mich im DFG-Fachkollegium mit Prof. Helmuth Feilke über die Experimente unterhalten habe und er meinte, dass das nicht so einfach wäre, denn, was man experimentell nachweisen würde, wären Klischees. Das würde auch im Englischen funktionieren, wo es die entsprechenden Endungen ja gar nicht gibt. Hier ist das entsprechende Beispiel, das auf die Psychologinnen Mikaela Wapman und Deborah Belle zurückgeht.
Heide Wegener diskutiert nun einige Beispiele, die genau das auch für das Deutsche zeigen.
Eins der Experimente, die betrachtet werden, bestand darin, dass Proband*innen Schauspieler*innen, Politiker*innen und Superheld*innen nennen sollten. Dabei wurde die Aufgabe immer mit generischem Maskulinum, als Paarform (Politiker und Politikerinnen) und mit großem I gestellt.
Dies Ergebnis ist von grundsätzlicher Bedeutung, zeigt es doch: Real existierende Vertreter, zumal in Spitzenpositionen, mit Bildschirmpräsenz (Kanzlerin, Fußballstar), wirken prägend, beeinflussen Bedeutung und Veränderung von Berufs- und Rollenbildern stärker als sprachliche Änderungen. Die Grundannahme der Feministischen Linguistik, Sprache determiniere das Denken und dieses dann die soziale Realität, wird hier vom Kopf auf die Füße gestellt.
Dass die Wirklichkeit unsere Klischees formt, hat wohl niemand jemals wirklich in Frage gestellt. Dass die Art, wie wir über Personen und Dinge reden, die Welt beeinflusst, wird wohl aber auch keine Sprachwissenschaftler*in ernsthaft abstreiten wollen. Das Stichwort ist Framing und jede Linguist*in sollte das Buch LTI von Victor Klemperer kennen, der sich mit der Sprache der Nazis auseinandersetzt. Auch heute wird bewusst von Flüchtlingsströmen, Messermännern und so weiter gesprochen. Sprache beeinflusst unser Denken, das lässt sich nicht von der Hand weisen, auch wenn es einem beim Gendern gerade nicht passt.
Setzt man den Ost-West-Unterschied im Gebrauch von Gendersprache, die nach Entstehung und Verbreitung ein eher westdeutsches Phänomen ist, in Relation zu den Zahlen für den Gender Pay Gap in den alten und neuen Bundesländern, so zeigt sich: Wo gegendert wird, ist die Lohnlücke größer (alte Bundesländer 19 Prozent, neue Bundesländer 6 Prozent, unbereinigt). Der behauptete emanzipatorische Effekt von Gendersprache erscheint als fromme Schimäre.
Diese Aussage ist interessant, nur dass das Eine nichts mit dem Anderen zu tun hat. Ein Ziel des Genderns ist es, Wertschätzung für Frauen und Trans-Menschen auszudrücken, sie sichtbar zu machen. Gerade auch dort, wo sie entsprechend der Klischees nicht erwartet sind. Der Gender Pay Gap ist die unterschiedliche Entlohnung für dieselbe Arbeit. Eine Frau bekommt auf derselben Stelle weniger als ein gleich qualifizierter Mann. Professorinnen bekommen oft weniger als Professoren, auch weil sie das selbst anders verhandeln.
Schaut man sich den geographical pay gap, den Unterschied in der Bezahlung zwischen West und Ost für gleiche Arbeit an, so liegt der bei 22,5%. Dirk Oschmann schreibt Folgendes zu den Details:
Bei Textilfirmen sind die ungeheuerlichen Unterschiede mit 69,5 Prozent am größten, aber auch die beliebte Autoindustrie kann sich mit 41,3 Prozent noch sehen lassen, gefolgt von Maschinenbau mit 40,4 Prozent, der Herstellung von IT-Gütern mit 39,8 Prozent und der Schifffahrt mit 38,9 Prozent. Und natürlich bekommt der Osten signifikant weniger oder gar kein Weihnachtsgeld, wie der Spiegel im November 2022 meldet.
Dirk Oschmann, 2022, Der Osten – Eine Westdeutsche Erfindung, S. 66
Das bedeutet, das Frauen und Männer ohnehin schon weit unter dem West-Niveau bezahlt werden. Am größten ist der Unterschied übrigens in einem klassischen Frauenberuf: im Textilbereich bei den Näher*innen. Dass ein Mann in diesem Bereich dann nur unwesentlich mehr verdient … Tja. Vielleicht ist die Ausbeutung im Osten dann insgesamt so groß, dass man die Frauen schlecht noch schlechter bezahlen kann. Ein konkretes Beispiel aus meiner Verwandtschaft: Eine Frau arbeitet als Verkäuferin und fährt mit dem Fleischwagen übers Land. Wenn sie das Renteneintrittsalter erreicht haben wird, wird sie die Mindestrente bekommen, denn das Geld, das sie in die Rentenversicherung eingezahlt hat, reicht nicht für mehr und das, obwohl sie ihr Ganzes Leben Vollzeit gearbeitet hat. Wenn man vor diesem Hintergrund einen Artikel mit dem Titel Wo gegendert wird, ist die Lohnlücke größer in der Springer-Presse veröffentlicht, ist das an Zynismus eigentlich nicht zu überbieten. Aber wahrscheinlich ist es einfach nur Unwissenheit: Der Osten ist so weit weg, selbst für Professor*innen, die mitten drin wohnen.
Die Unterschiede zwischen West- und Ost-Gesellschaft sind so gewaltig, dass Wegeners Vergleich des Gender Pay Gaps ohne weitere Aufschlüsselung relevanter Faktoren einfach unzulässig ist. Im Osten kriegen die Frauen seit der Wende weniger Kinder, was vielleicht der Karriere förderlich ist. Die Kinderversorgung allgemein ist besser. In Bayern kann Mutti das Kind in der Kita abgeben und dann den Einkauf erledigen. Mittags kommen die Kinder zurück. Im Osten sind Einrichtungen mit Ganztagsbetreuung die Norm (Krippe, Kindergarten, Schule+Hort). Dass Frauen Vollzeit arbeiten, ist normal. All das müsste man in Überlegungen einbeziehen. Was Wegener vergleichen müsste, ist eine Westdeutsche Gesellschaft mit und ohne Gendern. Das ist nicht so einfach, aber vielleicht gibt es gesellschaftliche Bereiche, in denen man die Auswirkung von inklusiver Sprache experimentell nachweisen kann.
(Nachtrag vom 20.05.2023: Der MDR hat erklärt, wodurch der geringere unbereinigte Gender-Pay-Gap im Osten zustande kommt: Deutschlandkarte zum Gender Pay Gap: Lohnlücke im Osten kleiner. Es liegt daran, dass Männer im Osten in schlechter bezahlten Berufen arbeiten. Die gut bezahlten Industrie-Jobs sind im Westen. Ossis arbeiten z.B. bei Lagerwirtschaft, Post und Zustellung, Frauen in vergleichsweise besser bezahlten Berufen wie in der Verwaltung. Der bereinigte Gender-Pay-Gap [gleicher Beruf, gleiche Qualifikation] liegt bei 10,8 % im Osten und 15,3 % im Westen, ein Unterschied von nur 4,5%, der sich vielleicht über die von mir oben angesprochenen Faktoren erklären lässt.)
Das wirft die Frage auf, ob generische und gegenderte Sprachformen gleichwertig sind. Für diese Annahme spricht das derzeitige Nebeneinander beider Formen: Die meisten Deutschsprecher wechseln heute problemlos zwischen dem generischen Maskulinum und geschlechtergerechter Sprache hin und her, sie gebrauchen passiv in den Medien Genderformen, aktiv aber weiter das generische Maskulinum – ohne Verständigungsprobleme.
Dass es beim generischen Maskulinum Verständigungsprobleme geben würde, hat niemand behauptet, die Kommunikation funktionierte in den letzten Jahrhunderten auch. Es ist eine Frage der Inklusion, eine Frage der Höflichkeit, ob man eine umständlichere Form wählt und damit Frauen und Trans-Personen explizit mitnennt und explizit anspricht.
Vielleicht kann man das am besten mit einem Beispiel verdeutlichen: Wenn wir Behörden anschreiben oder Mails an Empfänger*innen, bei denen wir nicht wissen, wer die Mail letztendlich lesen wird, schreiben wir „Sehr geehrte Damen und Herren“. Ich habe 2021 eine Konferenz organisiert und eine Mail an den allgemeinen Konferenzaccount bekommen, die mit „Dear Sirs“ begann. Der Schreiber der Mail ist wohl davon ausgegangen, dass nur Männer diese Konferenz organisieren würden/könnten, was unangebracht und beleidigend für Frauen auf der Empfängerseite ist. Man kann andere Anreden wählen. „To whom it may concern“ oder „Hi“. Im Deutschen „Hallo“, „Liebes Globetrotter-Team“ oder eben die explizite Form „Sehr geehrte Damen und Herren“. Alles wird verstanden, aber es gibt Unterschiede im Stil und im Register.
Ein Abschnitt in Heide Wegeners Text trägt die Überschrift „Die Welt prägt die Sprache, nicht die Sprache die Welt“. Ich möchte behaupten, dass Sprache und Welt in einer Wechselwirkung zueinander stehen. Der Ton macht die Musik, wie oben bei den Anreden gezeigt. Ein weiteres Beispiel: Es gibt sehr viele Wörter, mit denen man sich auf Menschen mit Behinderung beziehen kann. Alle werden verstanden. Manche sind wertschätzend, manche verletzend. Ich möchte in einer inklusiven Welt leben, die es allen erlaubt, ihren Möglichkeiten entsprechend teilzuhaben, sich verstanden zu fühlen und mitgenommen zu werden.
Gendern und Klimakleber
Beim Nachdenken über das Gendern und die Aktionen der Letzten Generation, Extinction Rebellion und Scientist Rebellion ist mir klar geworden, dass die Ablehnung und der Hass wahrscheinlich Ergebnis ähnlicher Prozesse sind. Die Klimakleber gehen nicht weg. Das hört einfach nicht auf. So wie die Klimakrise auch nicht aufhört. Die Klimabürger*innen erinnern uns täglich daran, das wir als Gesellschaft, als der Norden eigentlich auf einem ganz anderen Kurs sein müssten und dass unsere Regierungen versagen. Genauso erinnern Menschen, die gendern, Menschen, die nicht gendern, in jedem Satz an ein strukturelles Unrecht, an Ungleichbehandlung, daran, dass mann Privilegien aufgeben muss. Es stört, es nervt. In etwas so Schönem wie der Sprache. Es stört, es nervt. Bei etwas so Schönem Notwendigem wie dem Weg zur Arbeit.
Die Unterbrechung und minimale Verzögerung durch den Glotalverschluss ist dabei nicht gegen die Kommunikationspartner gerichtet. Selbiges gilt auch für die Vergrößerung der ohnehin schon vorhandenen Staus. Diese Unterbrechungen markieren einfach Ungerechtigkeiten und Probleme, die sich aus unserem Weiter-So ergeben.
Weil beides nervt, gibt es schlaue (und auch dumme) Menschen, die Gründe finden, warum das Gendern nicht „funktionieren“ würde, was daran falsch sei, einfach übersehend, dass Menschen es tun und verstanden werden. Und so gibt es schlaue (und dumme) Menschen, die der Letzten Generation erklären, was die doch gefälligst tun sollten, oft verkennend, dass sie all das auch tun oder schon getan haben.
Also: All das wird so lange bleiben, bis Frauen gleichberechtigt sind (oder länger, weil das Gendern dann normal geworden ist) und bis wir als Gesellschaften Wege gefunden haben, mit der Klimakatastrophe adäquat umzugehen und noch Schlimmeres zu verhindern (und hoffentlich nicht länger, weil die Störungen nicht normal werden).
Quellen
Wegener, Heide. 2023. Wo gegendert wird, ist die Lohnlücke größer. In Meinunger, André & Trutkowski, Ewa (eds.), Gendern – auf Teufel*in komm raus? Berlin: Kulturverlag Kadmos.
Oschmann, Dirk. 2023. Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Berlin: Ullstein Buchverlage.