Kahane 2.0: Holocaust, Antisemitismus, Antifaschismus, Israel, Propaganda und angebliche Nazi-Richter und ‑Lehrer in der DDR

Holocaust nicht thematisiert oder relativiert?

Vor sie­ben Jah­ren behaup­te­te Anet­ta Kaha­ne, dass die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Holo­caust in der DDR weder auf sys­te­mi­scher noch auf indi­vi­du­el­ler Ebe­ne gewollt gewe­sen sei.

Im Osten war eine sys­te­mi­sche und indi­vi­du­el­le Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus und der Sho­ah nicht gewollt. Dies hät­te zu Fra­gen nach Men­schen­rech­ten oder Min­der­hei­ten­schutz geführt, die nur bei Stra­fe des Unter­gangs der DDR zu beant­wor­ten gewe­sen wären. 

Anet­ta Kaha­ne, Debat­te Ost­deut­sche und Migran­ten: Nicht in die Fal­len tap­pen, taz, 12.06.2018

Sie­ben Jah­re spä­ter weist ihr Nef­fe Leon Kaha­ne in einem Inter­view in der Kunst­zeit­schrift Mono­pol dar­auf hin, dass es einen Uni­ver­sa­lis­mus gege­ben habe, in dem der Holo­caust mit den Mor­den an Kommunist*innen, Homo­se­xu­el­len usw. gemein­sam behan­delt wur­de. Immer­hin wird die Exis­tenz des Geden­kens nicht ganz geleug­net, wie das bei Ines Gei­pel der Fall war. Ich habe Anet­ta Kaha­nes und Ines Gei­pels Aus­sa­gen von 2018 und 2019 im Blog-Post Der Ossi und der Holo­caust dis­ku­tiert. Was will man gegen den Uni­ver­sa­lis­mus-Vor­wurf sagen? Uni­ver­sa­lis­mus ist ein schö­nes Schlag­wort dafür, dass sich die Kommunist*innen selbst gefei­ert haben. Da war viel Pro­pa­gan­da dabei, aber letzt­end­lich hat­ten die Men­schen, die im Wider­stand waren, auch das Recht dazu, stolz zu sein. Und es war nicht der Fall, dass der Völ­ker­mord an den Juden unter den Tisch gekehrt wur­de, wie Anet­ta Kaha­ne behaup­tet hat. Leon Kaha­ne war an einer Aus­stel­lung über jüdi­sches Leben in der DDR betei­ligt. Er weiß, dass es über 1000 Bücher zum jüdi­schen Leben, zum Holo­caust und zum Wider­stand gab, dass es über 1000 Fil­me gab (zu den Details sie­he Der Ossi und der Holo­caust). Aus­schnit­te aus den Fil­men konn­te man in der Aus­stel­lung sehen.

Über­sicht der Film­se­quen­zen, die in der Aus­stel­lung „Ein ande­res Land – Jüdisch in der DDR“ gezeigt wur­den, Jüdi­sches Muse­um, Ber­lin, 19.11.2023

Es gab dort auch ein Regal mit Büchern. 

Bücher in der Aus­stel­lung „Ein ande­res Land – Jüdisch in der DDR“, Jüdi­sches Muse­um, Ber­lin, 19.11.2023

Ich habe über die Aus­stel­lung in Aus­stel­lung: „Ein ande­res Land. Jüdisch in der DDR.“ geschrie­ben. All die Auf­ar­bei­tung und Aus­ein­an­der­set­zung und das Geden­ken wird igno­riert und abge­tan, indem man behaup­tet, die Kommunist*innen hät­ten sich nur selbst gefeiert.

Das Inter­view mit Leon Kaha­ne ist in einer Inter­view­rei­he der Zeit­schrift Mono­pol erschie­nen, zu der auf der Sei­te steht:

Es ist Teil der Rei­he „Osten vom Wes­ten“, für die Kage als in West­deutsch­land Auf­ge­wach­se­ner Gesprä­che mit Kul­tur­schaf­fen­den führt, die ihre Kar­rie­ren noch in der DDR begon­nen haben.

Die­se Aus­sa­ge ist lus­tig, denn Kaha­ne war zum Fall der Mau­er 4 Jah­re alt. Er wird damals noch im Bud­del­kas­ten Sand­förm­chen gebas­telt haben. Aber viel­leicht waren die von beson­de­rem künst­le­ri­schen Wert. Kaha­ne ist also in der­sel­ben Gene­ra­ti­on wie Anne Rabe und die Aus­sa­gen auch von ähn­li­cher Qua­li­tät. Ich gehe ein­fach mal eini­ge State­ments durch.

USA und Israel Faschisten?

In der DDR hat­te man den Faschis­mus in Gän­ze über­wun­den. Die neu­en Faschis­ten ver­or­te­te man in Isra­el und in Ame­ri­ka und hat so rela­tiv naht­los an zen­tra­le ideo­lo­gi­sche Ele­men­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus anknüp­fen kön­nen und sie inso­fern auch nicht auf­ar­bei­ten müssen.

Leon Kaha­ne. 2025. Künst­ler Leon Kaha­ne „In der DDR gab es im Grun­de kei­ne Erin­ne­rungs­kul­tur“, Mono­pol. 20.06.2025

Also die USA waren ganz klar der Klas­sen­feind. Sie waren Kapi­ta­lis­ten und Impe­ria­lis­ten. Das wur­de uns so ver­mit­telt (mei­ne Schul­zeit dau­er­te von 1974–1986, auch wäh­rend der Armee­zeit gab es Polit­un­ter­richt). Faschis­mus war etwas ande­res, jeden­falls habe ich nie von solch einer Gleich­set­zung gehört.1 Die Sache mit Isra­el ist kom­plex. Die Sowjet­uni­on hat Isra­el nach der Staats­grün­dung sofort aner­kannt.2 Es gab in Isra­el lin­ke Tra­di­tio­nen und Bewe­gun­gen (Kib­bu­zim), wes­halb die Hoff­nung bestand, dass sich Isra­el dem Ost-Block anschlie­ßen wür­de. Ab der Stel­lung­nah­me Ben-Guri­ons zum Korea­krieg (1950–1953) war klar, dass Isra­el auf U.S.-Seite stand und die Block­lo­gik ergab dann, dass Isra­el auch Klas­sen­feind war. Das hat erst mal nichts mit Anti­se­mi­tis­mus zu tun, auch wenn das gern in einen Topf gewor­fen wird.3 Ein lus­ti­ges Gedan­ken­ex­pe­ri­ment ist es, sich aus­zu­ma­len, was pas­siert wäre, wenn Isra­el sich dem Ost­block ange­schlos­sen hät­te. Wür­de man dann alle, die das kri­ti­sie­ren, als Anti­se­mi­ten bezeich­nen? Oder nicht? Wenn nicht, war­um nicht?

Die Lager, die auf dem Gebiet der spä­te­ren DDR waren, haben eine Uni­ver­sa­li­sie­rungs-Erzäh­lung, die den Fokus ganz stark auf die kom­mu­nis­ti­schen Wider­ständ­ler legt, auf die Selbst­be­frei­ung und so wei­ter. Die Juden hat­ten dort, über die gan­ze DDR hin­weg, eigent­lich kei­nen Raum. Und das ist etwas, was gera­de wie­der Kon­junk­tur hat.

Die­se Aus­sa­ge ist falsch. Die Mor­de an den Juden kamen im Film vor, der in Buchen­wald allen Besucher*innen gezeigt wur­de. Sie­he dazu den Wiki­pe­dia-Ein­trag zum Film O Buchen­wald bzw. den Blog-Post Der Ossi und der Holo­caust. Wäh­rend vie­le West­deut­sche noch nie ein KZ gese­hen haben, war der Besuch eines KZs in der DDR für Schüler*innen Pflicht. Der Buchen­wald-Film wur­de den Besucher*innen der Gedenk­stät­te gezeigt. Er ist noch heu­te gele­gent­lich bei kom­men­tier­ten Vor­füh­run­gen zu sehen. Unab­hän­gig davon, ob die Mor­de an Juden in den Gedenk­stät­ten vor­ka­men, gibt es eine über­wäl­ti­gen­de Anzahl von Doku­men­ten und Ehrun­gen, die zei­gen, dass sie im All­tag der DDR immer wie­der the­ma­ti­siert wur­den. Ich ver­wei­se wie­der auf Der Ossi und der Holo­caust zum Geschichts- und Lite­ra­tur­un­ter­richt, zu Stra­ßen­na­men, zu Plas­ti­ken im öffent­li­chen Raum, Brief­mar­ken, Büchern, Fil­men usw.

Zeu­ge mag das völ­lig zer­le­se­ne Exem­plar von Nackt unter Wöl­fen sein, das ich 2025 foto­gra­fiert habe.

Nackt unter Wöl­fen von Bru­no Apitz, Aus­ga­be 1958, Pri­vat­be­sitz in Feri­en­quar­tier, foto­gra­fiert 2025

Die vor­lie­gen­de Aus­ga­be ist von 1958 und es waren damals bereits 330.000 Exem­pla­re verkauft.

Nackt unter Wöl­fen von Bru­no Apitz, Impres­sum Auf­la­ge 330.–369. Tausend

Zu den rele­van­ten Text­stel­len sie­he Lite­ra­tur­un­ter­richt. Nackt unter Wöl­fen erschien in 30 Spra­chen und erreich­te eine Gesamt­auf­la­ge von mehr als zwei Mil­lio­nen. Eben­falls beim Lite­ra­tur­un­ter­richt fin­det man eine Bal­la­de von Johan­nes R. Becher: Die Kin­der­schu­he aus Lub­lin (you­tube). Becher war Kul­tur­mi­nis­ter in der DDR, er war Kom­mu­nist, kein Jude und hat die Ermor­dung jüdi­scher Kin­der trotz­dem zu sei­nem The­ma gemacht. Die Bal­la­de wur­de in der DDR im Lite­ra­tur­un­ter­richt behan­delt. Es gab ein­heit­li­che Lehr­plä­ne für das gan­ze Land. Leon Kaha­ne kann das im Gegen­satz zu Anet­ta Kaha­ne nicht aus eige­ner Erfah­rung wis­sen, aber wenn er sol­che The­sen ver­tritt, hat er die Pflicht sich mit dem The­ma zu beschäftigen.

Der Wiederaufbau der Neuen Synagoge

Der Inter­view­er Jan Kage behaup­tet in einer Fra­ge über die Zeit nach der Wende:

Und gleich­zei­tig gab es ein neu­es jüdi­sches Leben, auch eine jüdi­sche Immi­gra­ti­on, dar­un­ter vie­le, die aus Ost­eu­ro­pa hier nach Ber­lin kamen. Die Syn­ago­ge wur­de wie­der in alter Pracht auf­ge­baut. Es gab einen Aufbruch.

Was dabei uner­wähnt bleibt, ist, dass die Grund­stein­le­gung für den Wie­der­auf­bau der Syn­ago­ge am 10. Novem­ber 1988 statt­fand. Einen Tag nach dem 50. Jah­res­tag der Reichs­po­grom­nacht. Ein Jahr vor dem Fall der Mau­er. Kaha­ne war da drei Jah­re alt. Laut Zeit­zeu­gen waren Kera­mik­werk­stät­ten der DDR mit der Anfer­ti­gung von Zie­geln für die Syn­ago­ge in der ent­spre­chend benö­tig­ten Form beschäf­tigt. Unter ande­rem die Werk­statt von Hed­wig Boll­ha­gen und die Kera­mik­werk­stadt der Kunst­hoch­schu­le Burg Gie­bi­chen­stein in Halle.

Bild mit Erich Hon­ecker. Bild­be­schrif­tung: „Sym­bo­li­sche Grund­stein­le­gung für den Wie­der­auf­bau der Neu­en Syn­ago­ge, Ber­lin, 1988“, „Zum 50. Jah­res­tag der Novem­ber­po­gro­me begann 1988 der Wie­der­auf­bau der Syn­ago­ge in der Ora­ni­en­bur­ger Stra­ße mit der sym­bo­li­schen Grund­stein­le­gung. Die SED-Füh­rung ver­folg­te damit außen­po­li­ti­sche und öko­no­mi­sche Inter­es­sen: Sie woll­te durch eine ver­än­der­te Erin­ne­rungs­po­li­tik die Bezie­hun­gen zu den USA ver­bes­sern. Doch sie reagier­te auch auf ein ver­än­der­tes Bewusst­sein in der Bevöl­ke­rung. In die­ser Zeit wur­den Aus­stel­lungs­pro­jek­te und Publi­ka­tio­nen zur Erin­ne­rung an die Ver­bre­chen in der NS-Zeit zu jüdi­schen The­men rea­li­siert. Mahn­ma­le und Gedenk­ta­feln wur­den errich­tet, FDJ-Mit­glie­der pfleg­ten jüdi­sche Fried­hö­fe.“ „Mit Dank­bar­keit möch­te ich gegen­über dem Staats­rats­vor­sit­zen­den und dem Hohen Haus erklä­ren, dass die Ent­schei­dung über den Wie­der­auf­bau der „Neu­en Syn­ago­ge“ in der Haupt­stadt Ber­lin im Ver­band der Jüdi­schen Gemein­den in der DDR und unter allen Bür­gern jüdi­schen Glau­bens mit gro­ßer Freu­de auf­ge­nom­men wur­de. Vie­le aus­län­di­sche Glau­bens­ge­nos­sen haben uns dazu beglück­wünscht und ver­ste­hen die­se Ent­schei­dung als Zeug­nis für leben­di­ges jüdi­sches Gemein­de­le­ben in der DDR. Sieg­mund Roth­stein (1925–2020), Gedenk­re­de auf der Son­der­sit­zung der Volks­kam­mer der DDR zum bevor­ste­hen­den Jah­res­tag am 9. Novem­ebr 1988“, Aus­stel­lung „Ein ande­res Land – Jüdisch in der DDR“, Jüdi­sches Muse­um, Ber­lin, 19.11.2023

Wahlerfolge der AfD und Transformationserfahrungen im Osten

Kaha­ne sagt zu den Wahl­er­fol­gen der AfD in den neu­en Bundesländern:

War­um wird in den soge­nann­ten „neu­en Bun­des­län­dern“ so viel AfD gewählt? Mei­nes Erach­tens hat das mehr mit der ver­säum­ten Auf­ar­bei­tung zu tun als mit der Trans­for­ma­ti­ons­er­fah­rung der Wende.

Ja, lie­ber Leon Kaha­ne. Das ist Dei­ne Geschich­te und auch die von Anne Rabe. Und die von Ines Gei­pel und von Dei­ner Tan­te. Sie wird von West-Medi­en ger­ne gedruckt, weil sie so schön ent­las­tend ist. Denn, wenn es die Trans­for­ma­ti­ons­er­fah­run­gen wären, dann wäre der Wes­ten mit­schul­dig. Wäre es aber eine man­geln­de Auf­ar­bei­tung oder, wie bei Anne Rabe behaup­tet, irgend­wel­che Gewalt­er­fah­run­gen oder bei Pfeif­fer das gemein­sa­me Sit­zen auf dem Töpf­chen im Kin­der­gar­ten (Decker, 1999), dann könn­te man die Ossis irgend­wie patho­lo­gi­sie­ren, als anders abtun und das Pro­blem exter­na­li­sie­ren. Man braucht dann noch ein biss­chen Huf­ei­sen­theo­rie dazu, damit man erklä­ren kann, war­um so vie­le Ossis erst Die Lin­ke gewählt haben und nun AfD wäh­len. Das macht lei­der aber kei­nen Sinn, weil Bodo Rame­low ein lie­ber Sozi­al­de­mo­krat ist (Thü­rin­gen hat­te einen Minis­ter­prä­si­den­ten von Der Lin­ken) und sei­ne Ansich­ten abso­lut inkom­pa­ti­bel mit denen des hes­si­schen Nazis Björn Höcke sind.

Nazi punks fuck off!

Leon Kaha­ne schreibt:

In der DDR gab es einen Wider­stand gegen den von oben ange­ord­ne­ten Anti­fa­schis­mus, der sich in einer sym­bo­li­schen Hin­wen­dung zum Rechts­ra­di­ka­lis­mus aus­drückt. Zum Bei­spiel Punks, die Land­ser gehört haben.

Leon Kaha­ne

Ja, lie­ber Leon, als sich Land­ser gegrün­det haben, warst Du sechs Jah­re alt. Das war näm­lich 1991. Aber sie waren erst 1992 dann unter dem Namen Land­ser unter­wegs. Also drei Jah­re nach der Wen­de und zwei Jah­re nach DDR. Kann schon mal pas­sie­ren. Bei die­sen gan­zen Sze­nen und Bands kennt sich ja kei­ner aus. Aber eins stimmt: Es gab ganz sicher einen oder andert­halb Punks die rechts­extre­me Musik gehört haben. Ich hat­te sel­ber eine Kas­set­te mit Titeln wie „Töte dei­nen Nach­barn“ und „Mein gol­de­ner Schlag­ring“ in der Hand.4 War nicht so meins. Ansons­ten: Die Punks haben von den Skin­heads aufs Maul bekom­men. Die Punks waren links. 1987 gab es den Über­fall von Nazis­kins aus Ost und West auf ein Kon­zert der Punk-Band Die Fir­ma in der Zions­kir­che. Es gab eine Anti­fa, die sich als Selbst­ver­tei­di­gungs­grup­pe gegen die Nazis­kins gebil­det hat­te. Es gab 1983 den Ver­such einer Kranz­nie­der­le­gung durch Ost-Ber­li­ner Punks im KZ Sach­sen­hau­sen. Das wur­de von der Sta­si ver­ei­telt. Die Punks nah­men den Kranz wie­der mit und leg­ten ihn an der Mahn­wa­che für die Opfer des Faschis­mus Unter den Lin­den ab. Die anti­fa­schis­ti­sche, pazi­fis­ti­sche Band Die Fir­ma hat­te einen Song mit der Zei­le: „Wir müs­sen weg von der Mit­te! Wo ist der Weg von der Mit­te?“ und es gab einen Song „Der Faschist“. Gefah­ren­zo­ne hat­te das Lied Glas­nost, in dem sie sich auf Rus­sisch an Micha­el Gor­bat­schow wand­ten. Die gan­ze Punk-Musik-Sze­ne ist recht gut in Lutz Schramms Par­ok­ti­mums­wi­ki beschrie­ben. Lutz Schramm hat von den Bands Tapes bekom­men und hat auch Bands wie Gefah­ren­zo­ne im DDR-Radio gespielt, gegen die in den 80ern Zer­set­zungs­maß­nah­men der Sta­si lie­fen. Auf tape attack kann man die in der DDR pro­du­zier­ten Kas­set­ten run­ter­la­den. Zum Bei­spiel Papier­krieg: Noch nie hat eine Dik­ta­tor sei­ne Volks­ab­stim­mung ver­lo­ren. Poli­tisch. Anti­fa­schis­tisch. Links. Der Song Der Schoß ist frucht­bar noch ent­hält die Zei­le „Lasst nicht zu, dass sechs Mil­lio­nen umsonst gestor­ben sind.“.

Es gab ver­schie­de­ne Teil­sze­nen. Zum Einen gab es die Punks die inner­halb der Kir­che Rück­zugs­räu­me fan­den, weil der Staat Kir­chen­ge­län­de respek­tiert hat. Auf Kir­chen­ge­län­de konn­ten Punk-Grup­pen pro­ben und es gab Fes­ti­vals wie das Erlösa­fes­ti­val in der Erlö­ser­kir­che. Die Punks arbei­te­ten in der Kir­che von Unten zusam­men. Undenk­bar, dass die Pfar­rer Nazis geför­dert hät­ten. Staats­feind­li­che Lie­der waren aber bei Kon­zer­ten auf Kir­chen­ge­län­de durch­aus zu hören („Des­halb erheb’ ich mei­ne Hand gegen mein Vater­land.“). Die Sta­si stand drau­ßen drum rum und hör­te inter­es­siert zu. In den Bands waren IMs. Gegen Ende der DDR gab es eine Libe­ra­li­sie­rung und Punk-Bands beka­men einen Ein­stu­fung (Spiel­erlaub­nis, man konn­te nicht ein­fach irgend­wie Musik machen). Das waren die so genann­ten ande­ren Bands. Von denen waren vie­le auch staats­kri­tisch und ver­lo­ren auch tem­po­rär oder für immer ihre Auf­tritts­ge­neh­mi­gung (Frey­gang, Herbst in Peking). Herbst in Peking wid­me­ten einen Song Leo Trotz­ki („dem Mann, den wir wäh­len wür­den, wenn wir wäh­len könnten“).

Nach der Wen­de kan­di­dier­ten Anar­chis­ten aus dem Umfeld von Frey­gang, Fir­ma, Ich Funk­ti­on und auch Fee­ling B als Auto­no­me Akti­on Wydoks für die Volks­kam­mer. Nix Nazis.

Zur Musik, die wir hör­ten, gehör­ten die Dead Ken­ne­dys und deren Lied: Nazi punks fuck off. Das wur­de von Lutz Schramm auch im DDR-Jugend­ra­dio DT64 gespielt.

Ein biss­chen was ist aber dran, an Dei­ner Ant­wort. Der „Gau-Lei­ter“ von Ber­lin war der Sohn eines Par­tei­ka­ders. So sag­te man. Das war die maxi­ma­le Rebellion.

Listen von Juden? Um Gottes Willen!

Kage fragt:

In der jüdi­schen Com­mu­ni­ty der DDR waren vie­le Kom­mu­nis­ten und Sozia­lis­ten. Sie waren also säku­lar. Zur kogni­ti­ven Dis­so­nanz gibt es eine Anek­do­te von Gre­gor Gysi, des­sen Vater Klaus ein paar Jah­re Kul­tur­mi­nis­ter der DDR war, und der auch aus einer jüdi­schen Fami­lie stammt. Als Ägyp­ten und Syri­en 1973 Isra­el über­fie­len, der Jom-Kip­pur-Krieg, gab es ein State­ment der SED, in dem die israe­li­sche Aggres­si­on ver­ur­teilt wur­de. Die­ses soll­ten alle jüdi­schen Per­so­nen des öffent­li­chen Lebens in der DDR unter­schrei­ben. Und der Sohn frag­te den Vater, der die Sho­ah über­lebt hat­te und der von die­sem Staat über­zeugt war, woher die denn wüss­ten, dass sie jüdisch sind. “Haben die Lis­ten?” Wie war das jüdi­sche Leben in der DDR organisiert? 

Ich weiß nicht, war­um Gysi die Geschich­te erzählt, aber die Ant­wort war ganz klar: Ja, es gab Lis­ten, denn die Men­schen, die KZs oder sonst wie Ver­fol­gung durch die Nazis über­lebt hat­ten, waren als Ver­folg­te des Nazi­re­gimes regis­triert (auch mein Groß­on­kel) und beka­men eine höhe­re Ren­te, konn­ten frü­her in Ren­te gehen und so weiter. 

Dies gilt im Prin­zip auch für die von der Deut­schen Wirt­schafts­kom­mis­si­on (DWK) am 5. Okto­ber 1949, d.h. zwei Tage vor der Grün­dung der DDR, erlas­se­nen »Anord­nung zur Siche­rung der recht­li­chen Stel­lung der aner­kann­ten Ver­folg­ten des Nazi­re­gimes«, die künf­tig den Eck­pfei­ler der Wie­der­gut­ma­chung in der DDR bil­de­te: Sie gewähr­te aner­kann­ten Opfern des Faschis­mus Alters- und Arbeits­un­fä­hig­keits­ren­ten, beson­de­re Berück­sich­ti­gung bei der Wohn- und Gewer­be­raum­ver­ga­be, aus­rei­chen­de Ver­sor­gung mit Haus­rat, umfas­sen­de Leis­tun­gen zur gesund­heit­li­chen Reha­bi­li­tie­rung sowie beson­de­re Stu­di­en­bei­hil­fen für ihre Kin­der. Im Febru­ar 1950 erlas­se­ne Richt­li­ni­en regel­ten den Kreis der Berech­tig­ten. In der detail­lier­ten Auf­lis­tung stan­den zwar die poli­tisch Ver­folg­ten, ins­be­son­de­re die­je­ni­gen, die aktiv gegen das NS-Regime gekämpft hat­ten, an der Spit­ze, doch waren die an zwölf­ter Stel­le genann­ten ras­sisch Ver­folg­ten dabei mate­ri­ell-recht­lich nicht dis­kri­mi­niert. Aller­dings waren die Ansprü­che auf sol­che aner­kann­ten Opfer des Faschis­mus beschränkt, die auf dem Ter­ri­to­ri­um der SBZ/DDR leb­ten – 1949 sol­len es etwa 50 000 gewe­sen sein.

Gosch­ler, Con­stan­tin. 1993. Pater­na­lis­mus und Ver­wei­ge­rung — Die DDR und die Wie­der­gut­ma­chung für jüdi­sche Ver­folg­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus. In Benz, Wolf­gang (ed.), Jahr­buch für Anti­se­mi­tis­mus­for­schung, vol. 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.

Aber unab­hän­gig davon hat­te der Staat Lis­ten über alles Mög­li­che. Die DDR war ein Über­wa­chungs­staat mit einem enorm auf­ge­bläh­ten Geheim­dienst und Netz von inof­fi­zi­el­len Mit­ar­bei­tern (ehm, hüstl, viel­leicht auch IM Gre­gor und ganz sicher IM Vic­to­ria, SCNR).

Letzt­end­lich waren die Per­so­nen, die zu Stel­lung­nah­men gedrängt wur­den, Per­so­nen des öffent­li­chen Lebens, die sich unter­ein­an­der gekannt haben dürf­ten und die sicher von­ein­an­der wuss­ten, war­um sie im KZ gewe­sen waren oder wo sie in der Emi­gra­ti­on gewe­sen waren.

Die Erklä­rung, die jüdi­sche Bür­ger der DDR zu einem Krieg in der Regi­on abge­ge­ben haben, bezog sich auf den Sechs­ta­ge­krieg. Ich habe sie in der Aus­stel­lung foto­gra­fiert, an der auch Leon Kaha­ne betei­ligt war (sie­he unten). Der Sechs­ta­ge­krieg fand 1967 statt. Der Jom-Kip­pur-Krieg dann 1973. Jan Kage sagt rich­tig über den Jom-Kip­pur-Krieg, dass Ägyp­ten und Syri­en Isra­el ange­grif­fen haben. Aber um die­sen Krieg ging es über­haupt nicht, son­dern eben um den Sechs­ta­ge­krieg von 1967. Ägyp­ten war mit 1000 Pan­zern und 100.000 Sol­da­ten an den israe­li­schen Gren­zen auf­mar­schiert. Isra­el hat­te dann in einem Prä­ven­tiv­schlag die ägyp­ti­sche Luft­waf­fe am Boden zer­stört und danach, da die Geg­ner ohne Absi­che­rung aus der Luft waren, gro­ße Gebie­te ein­ge­nom­men. Dar­un­ter die Golan­hö­hen, den Gaza-Strei­fen, die Sinai-Halb­in­sel, das West-Jor­dan­land und das poli­tisch und reli­gi­ös wich­ti­ge Ost­je­ru­sa­lem. Die fol­gen­de Kar­te gibt einen Über­blick über die erober­ten Gebiete:

Gebiets­ge­win­ne Isra­els im Sechs­ta­ge­krieg. Quel­le: Wiki­pe­dia Hoheit CC-BY-SA

Die Fra­ge von Jan Kage war falsch gestellt. Sie ent­hält meh­re­re Feh­ler. Leon Kaha­ne hät­te das auf­fal­len müs­sen und er hät­te den Inter­view­er auf den Feh­ler hin­wei­sen müs­sen. Der hät­te das leicht kor­ri­gie­ren kön­nen, ohne dass wir es gemerkt hät­ten, denn es war ja kein Fern­seh­in­ter­view. Die Fra­ge macht his­to­risch betrach­tet über­haupt kei­nen Sinn: War­um soll­te die SED Jüd*innen zu einem Brief anre­gen, wenn ande­re Län­der Isra­el über­fal­len? Beim Sechs­ta­ge­krieg war die Lage dage­gen anders: Isra­el hat­te einen Prä­ven­tiv­schlag geführt und im Ergeb­nis des Krie­ges gro­ße Gebie­te neu besetzt. Ein Land, das zum ande­ren Block gehör­te. Das konn­te man schon mal ver­ur­tei­len. So funk­tio­nier­te das Block­den­ken damals.

Es bleibt lei­der nur der Schluss, dass weder Inter­view­er noch Inter­view­ter sich mit der zuge­ge­be­ner­ma­ßen kom­ple­xen Mate­rie auskennen.

Mythos Antifaschismus?

Leon Kaha­ne antwortet:

Was ich zu die­sem „Sich-Ver­hal­ten“ sagen kann: Es gab tat­säch­lich eine Unter­schrif­ten­lis­te, ein State­ment jüdi­scher Bür­ger der DDR, das vie­le Künst­ler, Jour­na­lis­ten und Schrift­stel­ler ver­wei­gert haben zu unter­schrei­ben. Einer davon war mein Groß­va­ter. Die­ses State­ment war in sei­ner gan­zen Spra­che hoch­gra­dig anti­se­mi­tisch. Auch, dass man das im Namen der jüdi­schen Bür­ger ver­fasst hat, erin­nert mich an eini­ge offe­ne Brie­fe der Gegen­wart. Das Ver­ständ­nis des Juden­tums war in der DDR extrem ver­küm­mert. Auf der ande­ren Sei­te waren Bio­gra­fien wie die mei­ner Groß­el­tern unheim­lich wich­tig für den Mythos der DDR als anti­fa­schis­ti­schem Staat. Und somit auch, um nicht über das Ver­hält­nis zur NS-Nach­fol­ge­ge­sell­schaft nach­den­ken zu müs­sen. Die­ser Miss­brauch hat sicher­lich auch für Pri­vi­le­gi­en gesorgt. Aber die­se Pri­vi­le­gi­en waren ver­gif­tet und hat­ten einen Preis. Man kann sich viel­leicht vor­stel­len, wie pre­kär das jüdi­sche Leben war und wie sehr es an eine poli­ti­sche Bot­schaft der DDR gebun­den war. Sowas kann immer sehr schnell kippen.

Leon Kaha­ne

Also: Leon Kaha­ne war der Mei­nung, dass in der DDR von den USA als faschis­ti­schem Staat gespro­chen wur­de. Ande­rer­seits spricht er vom „Mythos der DDR als anti­fa­schis­ti­schem Staat“. Das heißt, er ist der Mei­nung, dass die DDR nicht anti­fa­schis­tisch war. Was denn dann? Ich bin ver­wirrt. Ich bin mein gan­zes Leben anti­fa­schis­tisch erzo­gen wor­den. Alle Kin­der der DDR waren in KZs. Ich war acht Mal in Buchen­wald (bei den Weim­ar­ta­ge der FDJ, bei einer Klas­sen­fahrt), ich war in Ausch­witz (im Rah­men eines Schul­aus­tauschs mit einer Part­ner­schu­le in Polen), ich war in Sach­sen­hau­sen (im Rah­men der Jugend­stun­den mei­ner POS). Stra­ßen, Schu­len waren nach Antifaschist*innen benannt, wir hat­ten anti­fa­schis­ti­schen Stoff in Musik, in Geschich­te, in Lite­ra­tur (z.B. haben wir Nackt unter Wöl­fen gele­sen. Ein Buch über Buchen­wald, in dem auch der Mord an den Juden the­ma­ti­siert wur­de und Die Früh­lings­so­na­te, eine Erzäh­lung, in der es um die Mor­de von SS und Wehr­macht an den Kie­wer Juden in Babyn Jar ging (33.000 Men­schen in 48 Stun­den). Zu den Details sie­he Der Ossi und der Holo­caust). Nur ein Mythos? In Wirk­lich­keit waren doch alle Faschis­ten? Wohl kaum. Die Herr­schen­den (Nicht-Juden und im Gegen­satz zum Wes­ten auch Juden) hat­ten auch im KZ geses­sen oder waren gera­de noch recht­zei­tig Rich­tung Osten oder Wes­ten geflo­hen. Man kann bzw. muss die Kom­mu­nis­ten schreck­lich fin­den, den Über­wa­chungs­staat, die Zer­set­zungs­maß­nah­men gegen die Oppo­si­ti­on usw. aber man kann nicht behaup­ten, dass sie kei­ne Anti­fa­schis­ten gewe­sen sei­en. Die Behaup­tung, dass es in der DDR kei­ne Nazis gab, kann man wohl ins Reich der Mythen ver­ban­nen. Es gab sogar neue und oft waren es Bon­zen­kin­der, die die extrems­te Form der Abgren­zung von ihren Eltern wähl­ten. In der DDR gab es auch eine Anti­fa, die nicht staat­lich war (Ich habe am 4.11.89 im Anti­fa-Block demons­triert.). Auch Anti­se­mi­tis­mus gab es in der DDR. Nach­wen­de­um­fra­gen erga­ben aber einen viel, viel gerin­ge­ren Grad an Anti­se­mi­tis­mus als im Wes­ten (Emnid-Umfra­ge von 1991: 4% vs. 16%, sie­he Dahn, 1997). Die Behaup­tung, dass die DDR nazifrei gewe­sen sei, wäre nicht rich­tig, aber ein anti­fa­schis­ti­scher Staat war sie sehr wohl.

Prekäres jüdisches Leben?

Kaha­ne schreibt: „Aber die­se Pri­vi­le­gi­en waren ver­gif­tet und hat­ten einen Preis. Man kann sich viel­leicht vor­stel­len, wie pre­kär das jüdi­sche Leben war und wie sehr es an eine poli­ti­sche Bot­schaft der DDR gebun­den war.“ Nein. Ich kann mir nicht vor­stel­len, wie pre­kär das jüdi­sche Leben war. Ich habe extra noch ein­mal nach­ge­se­hen, was pre­kär bedeu­tet: pre­kär in Wiki­pe­dia. Juden waren in der DDR als Ver­folg­te des Nazi­re­gimes (zu Recht) pri­vi­le­giert. Wie auch die Kaha­nes: Max Kaha­ne, von 1965–1968 Chef­kom­men­ta­tor der Par­tei­zei­tung Neu­es Deutsch­land, Doris Kaha­ne, Staats­künst­le­rin mit Auf­trä­gen in Indi­en. Die Kaha­nes waren 100%ig von der Sache der DDR über­zeugt und genos­sen auch schon dadurch wei­te­re Pri­vi­le­gi­en (Rei­se­frei­heit zum Bei­spiel, auch Anet­ta Kaha­ne war zu DDR-Zei­ten in den West­afri­ka und Mosam­bik.). In Der Ossi und der Holo­caust lis­te ich ande­re jüdi­sche Men­schen aus Wis­sen­schaft, Kul­tur und Poli­tik auf, die in der DDR ange­se­hen waren und das gesell­schaft­li­che Leben präg­ten. Das schreibt Gosch­ler (1993) zur mate­ri­el­len Absi­che­rung der Opfer des Faschismus:

Dort gelang­te nun die alte Tren­nung von »Kämp­fern« und »Opfern« wie­der zu neu­en Ehren und wur­de nun auch mit mate­ri­el­len Kon­se­quen­zen gewür­digt: Kämp­fer, die das um fünf Jah­re her­ab­ge­setz­te Pen­si­ons­al­ter erreicht hat­ten oder inva­li­de waren, soll­ten eine Ehren­pen­si­on in Höhe von monat­lich 800 Mark erhal­ten, für Opfer waren dem­ge­gen­über ledig­lich 600 Mark vor­ge­se­hen. Sofern Juden also nicht Trä­ger der »Medail­le für Kämp­fer gegen den Faschis­mus 1933–1945« waren, muß­ten sie sich mit dem min­de­ren Sta­tus und ent­spre­chen­der Pen­si­ons­be­rech­ti­gung des Opfers begnü­gen. Mau muß dabei aller­dings her­vor­he­ben, daß die Höhe der Ehren­pen­sio­nen gemes­sen an DDR-Nor­mal­ren­ten exor­bi­tant hoch war; bis 1989 waren die Ehren­pen­sio­nen auf 1800 Mark für »Kämp­fer« bzw. 1600 Mark für »Opfer« angestiegen.

Gosch­ler, Con­stan­tin. 1993. Pater­na­lis­mus und Ver­wei­ge­rung — Die DDR und die Wie­der­gut­ma­chung für jüdi­sche Ver­folg­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus. In Benz, Wolf­gang (ed.), Jahr­buch für Anti­se­mi­tis­mus­for­schung, vol. 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.

Die­se Ehren­pen­si­on gab es zusätz­lich zu der nor­ma­len Ren­te aus er Sozi­al­ver­si­che­rung. Nur zum Ver­gleich: 1989 betrug das Sti­pen­di­um 200 Mark. Man konn­te davon bequem leben, denn Grund­nah­rungs­mit­tel waren sehr bil­lig. Mie­te kos­te­te 30 Mark. Es wur­de den Bezieher*innen die­ser Ren­ten nahe­ge­legt, die­se nicht in Bank­fi­lia­len abzu­ho­len, um kei­nen Neid zu erregen.

Sicher, wenn man sich zum Staats­feind ent­wi­ckel­te, dann bekam man Pro­ble­me. Da gab es aber kei­ne Unter­schie­de zwi­schen Juden und Nicht-Juden. Die Zer­set­zungs­maß­nah­men der Sta­si waren für alle glei­cher­ma­ßen unschön. Ansons­ten war es auch nicht schlimm, wenn man die Ehren­pen­si­on nicht bekam, denn in der DDR konn­te man auch von nor­ma­len Ein­kom­men und Ren­ten leben. Und wegen des mög­li­chen Ent­zugs von Pri­vi­le­gi­en rum­zu­jam­mern, fin­de ich schon etwas … nun ja schräg.

Übri­gens stand neben dem State­ment in der Aus­stel­lung, dass vie­le Jüd*innen es nicht unter­schrie­ben haben. Dar­un­ter Peter Edel, Ste­fan Heym, Lin Jal­da­ti und Arnold Zweig. Wie Leon Kaha­ne anmerkt, hat wohl Max Kaha­ne auch nicht unter­schrie­ben. Max Kaha­ne hat noch 1970 den Vater­län­di­schen Ver­dienst­or­den in Gold bekom­men und 1974 eine Span­ge dazu. Auch Peter Edel und Lin Jal­da­ti wur­den noch nach 1967 mit hohen Aus­zeich­nun­gen geehrt. Wenn man im Osten in Ungna­de gefal­len war, bekam man kei­ne Orden mehr. Zu Max Kaha­nes Nicht-Unter­schrift gibt es unten noch wei­te­re Gedanken.

Die Erklärung jüdischer DDR-Bürger*innen zum Sechstagekrieg

Das ist die Erklä­rung der jüdi­schen DDR-Bür­ger. Ich habe sie in maxi­ma­ler Auf­lö­sung hoch­ge­la­den. Wenn man das Bild anklickt, kann man den Text lesen. 

Erklä­rung jüdi­scher Bürger*innen aus der DDR zu Isra­els Agie­ren im Sechs­ta­ge­krieg vom 09.06.1967 im Zen­tral­or­gan der SED Neu­es Deutschland

Kaha­ne sagt: „Die­ses State­ment war in sei­ner gan­zen Spra­che hoch­gra­dig anti­se­mi­tisch.“ Die geneig­te Lese­rin möge das State­ment selbst lesen. Zu Beginn steht: „Als Bür­ger der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik jüdi­scher Her­kunft erhe­ben wir unse­re Stim­me, um fei­er­lich die Aggres­si­on zu ver­ur­tei­len, der sich die herr­schen­den Krei­se Isra­els gegen die ara­bi­schen Nach­bar­staa­ten schul­dig gemacht haben.“ Das State­ment bezieht sich auf die Regie­rung, nicht auf die Israe­lis oder Jüd*innen an sich. Es stellt auch nicht das Exis­tenz­recht Isra­els in Fra­ge. Es wird ledig­lich dar­auf hin­ge­wie­sen, dass die Staats­grün­dung nicht nach dem vor­ge­se­he­nen UN-Plan erfolg­te. Die Behaup­tung zur Grün­dung Isra­els ist nicht kor­rekt. Isra­el hat­te sich selbst gegrün­det. Die Paläs­ti­nen­ser woll­ten kei­nen eige­nen Staat grün­den und die umge­ben­den Staa­ten (Ägyp­ten, Syri­en, Jor­da­ni­en und Irak) grif­fen Isra­el an. Das Ergeb­nis des Paläs­ti­na­krie­ges war aber, dass Gebie­te, die den Paläs­ti­nen­sern zuge­dacht waren, dann 1949 israe­lisch besetzt waren. Ansons­ten geht es in der Erklä­rung um die Gebiets­be­set­zung 1967, die im vori­gen Abschnitt beschrie­ben wur­den. Zum Schluss der Erklä­rung wird dar­auf hin­ge­wie­sen, wie die­ser Kon­flikt been­det wer­den kann: „Frie­den im Vor­de­ren Ori­ent wird es nur geben, wenn die Regie­rung Isra­els ihre impe­ria­lis­ti­sche Poli­tik auf­gibt und end­lich zu einer Poli­tik der guten Nach­bar­schaft und der Ach­tung der Inter­es­sen der ara­bi­schen Völ­ker fin­det.“. Es geht also ganz klar um gute Nach­bar­schaft. Das Exis­tenz­recht Isra­els wird nir­gends in Fra­ge gestellt. Die 1967 besetz­ten Gebie­te habe ich oben ver­linkt. Die geneig­te Leser*in möge den Links fol­gen und die in Wiki­pe­dia auf­ge­lis­te­ten UN-Reso­lu­tio­nen und völ­ker­recht­li­chen Ein­schät­zun­gen zur Kennt­nis neh­men. Erst 2024 stell­te der Inter­na­tio­na­le Gerichts­hof wie­der fest, dass das West­jor­dan­land unrecht­mä­ßig besetzt ist (tages­schau, 19.07.2024).

Also: Die­se Erklä­rung rich­te­te sich gegen die Poli­tik der israe­li­schen Regie­rung und ist auch nach der Defi­ni­ti­on der IHRA, die ich im Fol­gen­den dis­ku­tie­re, nicht antisemitisch.

Antisemitismus nach der Definition der IHRA

Im wei­te­ren Ver­lauf des Inter­views wie­der­holt Jan Kage den fal­schen Bezug auf den Jom-Kip­pur-Krieg und behaup­tet eben­falls, das State­ment dazu sei anti­se­mi­tisch gewesen:

Von hier bis zu der Debat­te nach dem Jom-Kip­pur-Krieg in der DDR: Immer wie­der kom­men die­se anti­se­mi­ti­schen Kli­schees hoch.

Jan Kage

Die­se Sache ist schwie­rig, aber wenn man sich gegen Krie­ge äußert, ist das noch lan­ge nicht anti­se­mi­tisch. Es kann anti­se­mi­tisch sein, auch kön­nen an sich nicht anti­se­mi­ti­sche Äuße­run­gen aus einer anti­se­mi­ti­schen Moti­va­ti­on her­aus getä­tigt wer­den, aber State­ments gegen einen Krieg sind nicht auto­ma­tisch anti­se­mi­tisch. Man kann sich das anhand der aktu­el­len Ent­wick­lun­gen in Gaza klar­ma­chen. Es ist abso­lut legi­tim, gegen die­sen Krieg zu sein. Ich habe Freun­de in Isra­el, die jede Woche gegen die Netan­ja­hu-Regie­rung protestieren.

Nurit auf dem Work­shop on lar­ge-sca­le grammar deve­lo­p­ment and grammar engi­nee­ring, Open Uni­ver­si­ty Hai­fa, Zikhron Ya’a­kov, 24.06.2015

Nurit hat ihre Nich­te beim Mas­sa­ker der Hamas ver­lo­ren. Sie war 17 und hat in der Wüs­te getanzt. Den­noch ist Nurit und ihre Fami­lie gegen den Krieg (Times of Isra­el, 20.03.2024) und sie demons­trier­te schon vor dem 7. Okto­ber 2023 jede Woche gegen die rechts­extre­me israe­li­sche Regie­rung. Ist sie anti­se­mi­tisch? Bin ich anti­se­mi­tisch, wenn ich den­ke wie sie? Wohl kaum.

Das hier ist die Defi­ni­ti­on von Anti­se­mi­tis­mus der Inter­na­tio­nal Holo­caust Remem­brance Alli­ance (IHRA), die von vie­len als zu streng abge­lehnt wird:

„Anti­se­mi­tis­mus ist eine bestimm­te Wahr­neh­mung von Jüdin­nen und Juden, die sich als Hass gegen­über Jüdin­nen und Juden aus­drü­cken kann. Der Anti­se­mi­tis­mus rich­tet sich in Wort oder Tat gegen jüdi­sche oder nicht­jü­di­sche Ein­zel­per­so­nen und/oder deren Eigen­tum sowie gegen jüdi­sche Gemein­de­in­sti­tu­tio­nen oder reli­giö­se Einrichtungen.“

Um die IHRA bei ihrer Arbeit zu lei­ten, kön­nen die fol­gen­den Bei­spie­le zur Ver­an­schau­li­chung dienen:

Erschei­nungs­for­men von Anti­se­mi­tis­mus kön­nen sich auch gegen den Staat Isra­el, der dabei als jüdi­sches Kol­lek­tiv ver­stan­den wird, rich­ten. Aller­dings kann Kri­tik an Isra­el, die mit der an ande­ren Län­dern ver­gleich­bar ist, nicht als anti­se­mi­tisch betrach­tet wer­den. Anti­se­mi­tis­mus umfasst oft die Anschul­di­gung, die Juden betrie­ben eine gegen die Mensch­heit gerich­te­te Ver­schwö­rung und sei­en dafür ver­ant­wort­lich, dass „die Din­ge nicht rich­tig lau­fen“. Der Anti­se­mi­tis­mus mani­fes­tiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in ande­ren Hand­lungs­for­men, er benutzt unheil­vol­le Ste­reo­ty­pe und unter­stellt nega­ti­ve Charakterzüge.

Das ist eine sinn­vol­le Defi­ni­ti­on mit einer sinn­vol­len Erklä­rung. Es ist nicht so, wie oft behaup­tet wird, dass die­se Defi­ni­ti­on Kri­tik an Isra­el unmög­lich machen wür­de. Jede Kri­tik an Isra­el wür­de aber sofort anti­se­mi­tisch wer­den, wenn man behaup­ten wür­de, dass Isra­el Gaza nur des­halb platt­ge­macht hat, weil die Men­schen in Isra­el Juden sind.

Also noch­mal: Die DDR war gegen Isra­el, weil Isra­el Teil des kapi­ta­lis­ti­schen Blocks war. Das steht auch sehr klar in die­sem Brief.

Nurit hat mir übri­gens davon erzählt, wie für den Krieg gegen die Men­schen im Gaza-Strei­fen argu­men­tiert wird. Es wird behaup­tet, in Gaza gäbe es kei­ne Unschul­di­gen. Schließ­lich hät­ten die Men­schen in Gaza ja die Hamas gewählt. Eine sol­che Argu­men­ta­ti­on ist ras­sis­tisch und rechts­extrem, denn: Die letz­ten Wah­len waren 2006. Wer weiß, was Men­schen heu­te den­ken? Wer weiß, was sie über den aktu­el­len Kon­flikt den­ken? Und was ist mit Kin­dern? Und unab­hän­gig davon: Muss man die Men­schen dann erschie­ßen? Inter­es­sant wird es, wenn man die­sel­be Logik auf Isra­el anwen­det, denn das wür­de bedeu­ten, dass es in Isra­el kei­ne Unschul­di­gen gibt und man die Israe­lis alle erschie­ßen könn­te, denn eine Mehr­heit von ihnen hat ja Netan­ja­hu gewählt bzw. eine der Koali­ti­ons­par­tei­en. Oder sind all die­je­ni­gen, die aktiv gegen den Krieg sind oder ihn auch nur pas­siv ableh­nen aus­ge­nom­men? Und was ist mit den Deut­schen? Was ist mit mei­nem Groß­on­kel? Ist er schuld? Der Mann aus dem ande­ren Teil der Fami­lie, der einem Juden ein Bahn­ti­cket gekauft hat und zur Flucht über Wla­di­wos­tok, Japan in die USA ver­hol­fen hat? Was ist mit uns, den Nach­kom­men? Bin ich raus, weil mein Groß­on­kel im KZ saß? Das wäre merk­wür­dig, denn für mei­nen Groß­on­kel kann ich nichts. Man kommt da in sehr schwie­ri­ge Berei­che. Die Alli­ier­ten haben nach dem Krieg die Vor­stel­lung von Kol­lek­tiv­schuld sehr schnell auf­ge­ge­ben. Es ist nicht gerecht­fer­tigt, ein ande­res Volk so zu behan­deln, wie es Isra­el der­zeit tut. Durch nichts.

Nurit hat ihre Nich­te ver­lo­ren. Ein jun­ges Mäd­chen, das getanzt hat. Bis früh um 7:00, bis die Ter­ro­ris­ten kamen. Bei der Aus­hand­lung des Waf­fen­still­stands gab es drei Hal­tun­gen von Men­schen aus Opfer­fa­mi­li­en. Man­che Eltern (weni­ge) waren der Mei­nung, ihre Kin­der soll­ten auf kei­nen Fall aus­ge­tauscht wer­den, denn auf die­se Wei­se kämen nur Paläs­ti­nen­ser frei, die wei­ter mor­den wür­den (War­ti­me Dia­ries, 2024). Eine zwei­te Grup­pe war der Ansicht, dass nur sol­che Men­schen aus­ge­tauscht wer­den soll­ten, die nicht zu den Mör­dern vom 7.10.2023 gehör­ten. Eine drit­te Grup­pe war dafür, dass das kei­ne Rol­le spie­len soll­te. Nurit und ihre Fami­lie gehör­te zur drit­ten Grup­pe. Ich bewun­de­re sie dafür. Die­ser Kon­flikt muss been­det wer­den. Der Hass muss ein Ende haben, die Spi­ra­le der Gewalt. Es geht nur, in dem bei­de Sei­ten sagen: Wir hören auf. Jetzt!

Die Ansichten von Max Kahane

Ein letz­ter Punkt noch hier­zu: „das vie­le Künst­ler, Jour­na­lis­ten und Schrift­stel­ler ver­wei­gert haben zu unter­schrei­ben. Einer davon war mein Groß­va­ter.“ In einem Inter­view von Wera Herz­berg, auf das ich wei­ter unten noch ein­ge­hen wer­de, berich­tet die­se von ihrer Mut­ter Ursu­la Herz­berg, die Staats­an­wäl­tin in der DDR war, dass die­se nie­mals etwas Kri­ti­sches gegen­über Isra­el gesagt oder unter­schrie­ben hät­te. Bei Max Kaha­ne war das anders (Dank an Peer, der das raus­ge­sucht hat):

Max Kaha­ne zu Isra­el in Neue Zeit, 23.04.1965, S. 6 (zwei Jah­re vor dem Sechstagekrieg)

Für Men­schen ohne DDR-Ver­ständ­nis: Für das State­ment der jüdi­schen Bür­ger der DDR gab es viel­leicht einen Druck zum Unter­schrei­ben von offi­zi­el­ler Sei­te. Anders war das für das obi­ge Doku­ment: Max Kaha­ne war die offi­zi­el­le Sei­te (aus ers­ter Hand). Was gedruckt wur­de, war abge­wo­gen. Auch wenn der Arti­kel das sug­ge­riert, wur­den kei­ne spon­ta­nen Ant­wor­ten, die viel­leicht Minu­ten spä­ter bereut wur­den, doku­men­tiert. Die Pres­se war in der Hand des Staa­tes. Die CDU war eine gleich­ge­schal­te­te Block­par­tei (Ulb­richt Mai, 1945: „Es muss demo­kra­tisch aus­se­hen, aber wir müs­sen alles in der Hand haben.“, Leon­hard, 1955). Was Max Kaha­ne hat dru­cken las­sen, war sei­ne Mei­nung und die des Staa­tes und der Tenor die­ser kur­zen Mel­dung ist der glei­che wie der des Brie­fes der jüdi­schen Bürger*innen: Isra­el ist ein impe­ria­lis­ti­scher Agres­sor. Anti­se­mi­tisch? Hängt von der Defi­ni­ti­on und deren Anwen­dung ab. Sie­he oben. Anti­im­pe­ria­lis­tisch? Ganz sicher. Bei Pro­fes­sor Eis­ler han­del­te es sich wohl um Hanns Eis­ler, eben­falls ein Jude.

Die Stel­lung­nah­me der jüdi­schen Bürger*innen erschien im Neu­en Deutsch­land. Pro­pa­gan­dis­tisch hät­te es über­haupt kei­nen Sinn erge­ben, wenn der Chef­kom­men­ta­tor des Neu­en Deutsch­lands einen Brief von unab­hän­gi­gen jüdi­schen Bürger*innen mit unter­zeich­net hät­te. Es war klar, dass das, was im Neu­en Deutsch­land erscheint, die offi­zi­el­le Mei­nung der SED-Staats­füh­rung war und somit iden­tisch mit der des Chef­kom­men­ta­tors. Sol­che Brie­fe und Stel­lung­nah­men waren dazu da, der rest­li­chen Bevöl­ke­rung zu zei­gen, was Intel­lek­tu­el­le und Künstler*innen von einer bestimm­ten Sache hal­ten. Also: Leon Kaha­ne kann sich nichts dar­auf ein­bil­den, dass sein Groß­va­ter das aus Leon Kaha­nes Sicht anti­se­mi­ti­sche State­ment nicht unter­schrie­ben hat. Viel­leicht war das State­ment ja doch nicht antisemitisch?

Nazis auf den mittleren Ebenen?

Jan Kage fragt:

Auch in der DDR hat man nach 1945 weder Rich­ter noch Staats­an­wäl­te oder Leh­rer – die­sen gan­zen Mit­tel­bau aus Beam­ten – aus­ge­tauscht. Das ging nicht, weil man nicht schnell genug nach­aus­bil­den konn­te. Statt­des­sen tausch­te man die Füh­rungs­ebe­ne aus. Und von hier konn­te man dann gut vom Osten auf den Wes­ten zei­gen. Wir sind die Guten und da drü­ben bei Ade­nau­er sit­zen die Faschis­ten. Und in Öster­reich auch. Waren die jüdi­schen Leu­te in der DDR Kron­zeu­gen für die­se eige­ne anti­fa­schis­ti­sche Erzählung?

Leon Kaha­ne wider­spricht dem nicht, aber die Aus­sa­ge ist ein­fach falsch. Es gab nach dem Krieg die soge­nann­ten Neu­leh­rer. Ich ken­ne per­sön­lich einen Latein/­Kunst-Leh­rer, der Mit­glied der NSDAP gewe­sen war und nach dem Krieg nicht arbei­ten durf­te. Das steht im Wiki­pe­dia-Ein­trag zu den Neulehrern:

Wur­den im ers­ten Schul­jahr noch eini­ge Leh­rer mit natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Ver­gan­gen­heit gedul­det, so wur­den die Richt­li­ni­en für den Ver­bleib im Schul­dienst schritt­wei­se ver­schärft. In den west­li­chen Besat­zungs­zo­nen konn­ten eini­ge Leh­rer mit zwei­fel­haf­tem Hin­ter­grund nach soge­nann­ten „Ent­bräu­nungs­kur­sen“ ab 1947 wie­der in den Schul­dienst ein­tre­ten, wäh­rend in der sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne das Neu­leh­rer­pro­gramm so umfang­reich gestal­tet wur­de, dass gro­ße Tei­le der bis­he­ri­gen Leh­rer­schaft von den rund 40.000 Neu­leh­rern ersetzt wur­den. Obschon die alte Leh­rer­schaft die Qua­li­tät einer höchs­tens ein­jäh­ri­gen Umschu­lung anzwei­fel­te, war auf­grund des zumeist aka­de­mi­schen Hin­ter­grun­des der Neu­leh­rer das Ergeb­nis hin­rei­chend gut und ermög­lich­te den sonst im Nach­kriegs­deutsch­land auf­ga­ben­lo­sen Beru­fen eine fes­te Anstel­lung. Die gro­ße Mehr­zahl der Neu­leh­rer blieb auf Dau­er im Schul­dienst tätig.

Wiki­pe­dia­ein­trag Neu­leh­rer, 05.11.2025

Auch die Behaup­tung bezüg­lich der Juris­ten ist nicht rich­tig. Die Mut­ter von André Herz­berg (Dem Sän­ger der Rock­band Pan­kow, die auch in der Aus­stel­lung vor­kam) war Staats­an­wäl­tin in der DDR. Sie hat­te nach dem Krieg und der Rück­kehr aus dem Exil einen Crash-Kurs zur Juris­tin absol­viert. Ihre Toch­ter Wera Herz­berg hat über ihr Leben ein Thea­ter­stück gemacht und schreibt dazu in der Ber­li­ner Zeitung:

In Lei­ces­ter, wo sie leb­te, hat sie mei­nen Vater ken­nen­ge­lernt und vie­le ande­re jüdi­sche Emi­gran­ten aus Deutsch­land. Sie trat in die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei ein und ging 1947 zurück nach Deutsch­land, nach Ber­lin-Ste­glitz, wo sie bei Freun­den woh­nen konn­te. Und dann bekam sie die Chan­ce, einen Kurz­lehr­gang im Fach Jura zu besu­chen. Das war in Pots­dam und damit ver­bun­den war die Auf­for­de­rung, in den sowje­tisch besetz­ten Teil Deutsch­lands zu ziehen.

[…]

War­um ist sie zurück­ge­gan­gen?

Mei­ne Mut­ter ist 1942 in die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei ein­ge­tre­ten, und hat­te tat­säch­lich einen Auf­trag. Aber sie hat auch dar­an geglaubt, dass sie in die­sem Deutsch­land etwas ändern kann. Und der erkenn­ba­re Anti­fa­schis­mus im Ost­teil war für sie etwas Gutes. Zudem tat sich dort für sie ein rie­si­ges Berufs­feld auf, weil alle Nazi-Juris­ten ent­las­sen wurden.

Hat Ihre Mut­ter spä­ter noch Jura stu­diert?

Sie soll­te, aber sie hat­te dann schon drei Kin­der, hat­te sich von mei­nem Vater schei­den las­sen. Es war für sie nicht zu stem­men. Sie hat dann auf mitt­le­rer Ebe­ne als Staats­an­wäl­tin gear­bei­tet, war auch mal Jugend­staats­an­walt, aber eigent­lich war ihr Gebiet die Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät, auch Dieb­stäh­le und so etwas.

Lenz, Susan­ne. 11.01.2025. Wera Herz­berg im Inter­view: „Mei­ne Mut­ter woll­te raus aus dem ver­ein­ten Deutsch­land“. Ber­li­ner Zei­tung.

Peer hat mich auf Hafer­kamp & Wudt­ke (1997) hin­ge­wie­sen. In die­ser Fach­ver­öf­fent­li­chung zur Rich­ter­aus­bil­dung in der DDR kann man Fol­gen­des lesen:

Hin­zu kamen die rigo­ro­sen Ent­na­zi­fi­zie­rungs­plä­ne der Sowjets. In Befehl Nr. 49 der SMAD vom 4. Sep­tem­ber 1945 wur­de ange­ord­net, daß „bei der Durch­füh­rung der Reor­ga­ni­sa­ti­on des Gerichts­we­sens sämt­li­che frü­he­re Mit­glie­der des NSDAP aus dem Appa­rat der Gerich­te und der Staats­an­walt­schaft zu ent­fer­nen sind, eben­so Per­so­nen, wel­che an der Straf­po­li­tik unter dem Hit­ler­re­gime unmit­tel­bar teil­ge­nom­men haben.“ Von den etwa 2400 im Mai 1945 im Jus­tiz­dienst täti­gen Rich­tern und Staats­an­wäl­ten hat­ten knapp 80 % das Par­tei­buch der NSDAP. Schon im Okto­ber 1945 führ­te eine ers­te Ent­las­sungs­wel­le in der SBZ zur Ent­fer­nung von 811 Rich­tern, das ent­sprach etwa 90 % der NS-belas­te­ten Rich­ter. Bis 1948 erhöh­te sich die­se Zahl auf 905, damit betrug die ver­blie­be­ne Belas­tung in der Rich­ter­schaft im Sep­tem­ber 1948 4,8 %. Zu Errei­chung des Min­dest­solls für die Ein­rich­tung einer funk­ti­ons­fä­hi­gen Jus­tiz fehl­ten Ende 1945 bereits etwa 40 % der Rich­ter. Die ört­li­chen Kom­man­dan­ten ver­such­ten, die Lücke durch sog. „Rich­ter im Sofort­ein­satz“ zu schlie­ßen. Regio­nal unter­schied­lich über­nah­men juris­tisch halb- oder unge­bil­de­te Kom­mu­nis­ten und „bewähr­te Anti­fa­schis­ten“ die Recht­spre­chung. Ende 1945 waren etwa 25 % der Rich­ter „im Soforteinsatz“.

Hafer­kamp, Hans-Peter & Wudt­ke, Tors­ten. 1997. Rich­ter­aus­bil­dung in der DDR. forum his­to­riae iuris. Quel­len für die Ein­zel­aus­sa­gen sie­he dort.

Die Behaup­tun­gen von Jan Kage sind also plain wrong und es ist eine Schan­de für Leon Kaha­ne, dass er sie unwi­der­spro­chen ste­hen lässt.

Ehm, davon unab­hän­gig bleibt der Rest von Kages Fra­ge natür­lich wahr: „Und von hier konn­te man dann gut vom Osten auf den Wes­ten zei­gen. Wir sind die Guten und da drü­ben bei Ade­nau­er sit­zen die Faschis­ten.“ Die Füh­rungs­ebe­ne war aus­ge­tauscht und die Faschis­ten saßen im Wes­ten. Hans Glob­ke zum Bei­spiel. Glob­ke war Mit­ver­fas­ser der Nürn­ber­ger Ras­sen­ge­set­ze und rech­te Hand Ade­nau­ers. Die Orga­ni­sa­ti­on Geh­len war der Vor­läu­fer des BND und wur­de von Nazis auf­ge­baut. Alles so Sachen, die man schlecht weg­dis­ku­tiert bekommt. Ich habe auch für KZ-Mann­schaf­ten oder Deut­sche Chris­ten, die die Bibel von jüdi­schen Ein­flüs­sen befrei­en woll­ten, Ver­bleibs­stu­di­en ange­stellt. Die Schwer­ver­bre­cher sind bis auf sehr weni­ge Aus­nah­men alle in den Wes­ten oder über die Rat­ten­li­nie (von der katho­li­schen Kir­che bzw. US-Geheim­diens­ten orga­ni­siert) nach Argen­ti­ni­en oder in die ara­bi­sche Welt geflo­hen. Auch von den im Osten leben­den christ­li­chen Anti­se­mi­ten sind vie­le in den Wes­ten gegan­gen. Sie­he Nazis im Wes­ten, Nazis in der SED und Das SS-Lager­per­so­nal von Buchen­wald und (Ost-)Deutsche Chris­ten in Ost und West.

Antisemitismus?

Ich möch­te einen Punkt noch ein­mal klar machen: Isra­el begeht Men­schenrechs­ver­let­zun­gen. Der Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurf ist eine Immu­ni­sie­rungs­stra­te­gie: Jede Kri­tik an Isra­el wird sofort als Anti­se­mi­tis­mus geblockt. Zum bes­se­ren Ver­ständ­nis viel­leicht hier ein Bei­spiel für sol­che Stra­te­gien aus den Mate­ria­li­en der Ama­deu-Anto­nio-Stif­tung, die Leon Kaha­nes Tan­te Anet­ta Kaha­ne gelei­tet hat. In der Erklä­rung anti­se­mi­ti­scher Codes wird neben Roth­schild, Rocke­fel­ler, Geor­ge Sor­os, Mark Zucker­berg und Bill Gates noch Anet­ta Kaha­ne genannt.

Bei­spiel für anti­se­mit­sche Codes in Mate­ri­al der Ama­deu-Anto­nio-Stif­tung erstellt am 23.09.2021 decon­s­truct anti­se­mi­tism! Anti­se­mi­ti­sche Codes und Meta­phern erken­nen, auch heu­te noch vom Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Bil­dung, Fami­lie, Senio­ren, Frau­en und Sport ver­linkt.

Als beschei­de­ner Mensch wür­de ich, wenn ich für eine sol­che Bro­schü­re ver­ant­wort­lich wäre (Anet­ta Kaha­ne lei­te­te die Stif­tung bis 2022), dafür sor­gen, dass mein Name aus die­ser Lis­te ver­schwin­det, selbst wenn die Aus­sa­ge wahr wäre. Davon abge­se­hen: Anet­ta Kaha­ne mag sich als Aus­län­der­be­auf­trag­te und auch im Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus ver­dient gemacht haben, sie spielt aber in einer gaaaaa­anz ande­ren Liga als Rocke­fel­ler, Sor­os, Zucker­berg und Gates. In einer ganz ande­ren. So anders, dass es schon weh tut. Die Auf­nah­me des eige­nen Namens in eine sol­che Lis­te ist der Ver­such der Immu­ni­sie­rung: Alle die Anet­ta Kaha­ne kri­ti­sie­ren, han­deln anti­se­mi­tisch, wenn man die Kri­te­ri­en von Anet­ta Kaha­ne zugrundelegt.

Zeitzeugen

Leon Kaha­ne gehört wie Anne Rabe zur Drit­ten Gene­ra­ti­on Ost. Die bei­den sind fast gleich alt. Anne Rabe hat in einer Podi­ums­dis­kus­si­on mit Simo­ne Schmol­lack auf die Fra­ge, wie sie denn über die DDR schrei­ben kön­ne, wenn sie zur Wen­de erst drei Jah­re alt war, geant­wor­tet, dass Umber­to Eco ja auch nicht im Mit­tel­al­ter gelebt, aber den­noch über die­se Zeit geschrie­ben habe. Das ist wohl wahr, aber im Gegen­satz zu Anne Rabe konn­te man Umber­to Eco bis­her kei­ne gro­ben Schnit­zer in sei­nem Roman nach­wei­sen. Im Gegen­satz zur Nach­kriegs­ge­nera­ti­on und zur DDR-Gene­ra­ti­on kön­nen die jüngs­ten Vertreter*innen der Drit­ten Gene­ra­ti­on Ost nichts oder sehr wenig über ihre Zeit in der DDR sagen, dafür aber eini­ges über die Nach­wen­de­zeit und das Leben mit ihren vom Umbruch betrof­fe­nen Eltern. Wenn Sie sich den­noch zu The­men äußern, die den DDR-All­tag betref­fen, müs­sen sie sich genau­so auf­wen­dig in die Mate­rie ein­ar­bei­ten, wie Men­schen aus dem Wes­ten. Sie brau­chen Quel­len und müs­sen ihr Wis­sen sys­te­ma­ti­sie­ren. Leon Kaha­ne hat offen­sicht­lich kei­ne Ahnung von den Sub­kul­tu­ren in der DDR und lei­der auch nicht von der Geschich­te der DDR nach dem Krieg (Neu­leh­rer) und der Geschich­te Isra­els (Sechs­ta­ge­krieg vs. Jom-Kip­pur-Krieg). Sonst hät­te er sei­nem Inter­view­part­ner wider­spre­chen müs­sen. Genau so hat Anne Rabe kei­ne Ahnung von Amok­läu­fen oder Poli­zei­sta­tis­ti­ken. All­ge­mein nicht mit dem wis­sen­schaft­li­chen Arbei­ten. Rabe und Kaha­ne kom­men aus sys­tem­treu­en Fami­li­en, wes­halb ihnen selbst das Wis­sen über den DDR-Unter­grund aus zwei­ter Hand aus den Fami­li­en fehlt. Ihre Aus­sa­gen sind also mit Vor­sicht zu genie­ßen und soll­ten von inter­es­sier­ten Journalist*innen veri­fi­ziert wer­den. Damit kann man Pein­lich­kei­ten wie das vor­lie­gen­de Inter­view und auch eine Preis­ver­ga­be an ein schlech­tes Buch vermeiden.

Zusammenfassung

Zusam­men­ge­fasst: Auch Israe­lis kön­nen Ras­sis­ten sein, auch Israe­lis kön­nen das Völ­ker­recht bre­chen und Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen bege­hen. Und Anet­ta Kaha­ne und ihr Nef­fe kön­nen Unfug über den Osten ver­brei­ten. Dass man zu einer dis­kri­mi­nier­ten Min­der­heit gehört, bedeu­tet nicht, dass man unfehl­bar ist. Um es mit Fun­ny van Dan­nen zu sagen: Auch les­bi­sche schwar­ze Behin­der­te kön­nen ätzend sein!

Das gan­ze Inter­view ist mal wie­der ein Ärger­nis und letzt­end­lich auch ein Bei­trag zur För­de­rung des Faschis­mus, auch wenn das Jan Kage und Leon Kaha­ne jetzt weh­tun mag. Die Bericht­erstat­tung über den Osten ist seit über 35 Jah­ren auf ähn­li­chem Niveau. Das hat zur Fol­ge, dass die west­deut­schen Leit­me­di­en im Osten nicht mehr kon­su­miert wer­den (Fromm, 2021), dass wei­te Tei­le der ost­deut­schen Gesell­schaft nicht mehr am Dis­kurs teil­neh­men und dann ihre Infor­ma­tio­nen aus diver­sen Schmud­del­ka­nä­len auf Tele­gram und sonst­wo bekom­men. War­um soll­ten sie Geld bezah­len, um Falsch­in­for­ma­tio­nen über sich zu lesen? War­um soll­ten sie Men­schen aus dem Wes­ten zuschau­en, die über sie spre­chen? Oder Men­schen aus dem Osten, die kei­ne Ahnung haben, wie die DDR war und The­sen ver­brei­ten, die zu dem pas­sen, was Men­schen aus dem Wes­ten hören wol­len? Die­se Men­schen zurück­zu­ho­len dürf­te schwer wer­den. Viel­leicht ist es bereits zu spät.

Danksagungen

Ich dan­ke Peer, der in der Dis­kus­si­on auf Mast­o­don mal wie­der wert­vol­le Doku­men­te bei­getra­gen hat.

Quellen

Dahn, Danie­la. 1997. West­wärts und nicht ver­ges­sen: Vom Unbe­ha­gen in der Ein­heit (Rororo Sach­buch 60341). Ham­burg: Rowohlt Verlag.

Decker, Kers­tin. 1999. Das Töpf­chen und der Haß. tages­spie­gel. Ber­lin. (https://www.tagesspiegel.de/kultur/das-toepfchen-und-der-hass/77844.html)

Fromm, Anne. 2021. Pres­se in Ost­deutsch­land: Wer strei­chelt unse­re See­le? taz. Ber­lin. (https://taz.de/Presse-in-Ostdeutschland/!5756271/)

Gosch­ler, Con­stan­tin. 1993. Pater­na­lis­mus und Ver­wei­ge­rung – Die DDR und die Wie­der­gut­ma­chung für jüdi­sche Ver­folg­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus. In Benz, Wolf­gang (ed.), Jahr­buch für Anti­se­mi­tis­mus­for­schung, vol. 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.

Hafer­kamp, Hans-Peter & Wudt­ke, Tors­ten. 1997. Rich­ter­aus­bil­dung in der DDR. forum his­to­riae iuris. (https://forhistiur.net/1997–10-haferkamp-wudtke/1997–10-haferkamp-wudtke)

Jung, Tilo. 2025. Geno­zid-For­scher Omer Bar­tov über Gaza, Isra­el & den Wes­ten. (https://jung-naiv.podigee.io/1103–784-genozid-forscher-omer-bartov-uber-gaza-israel-den-westen)

Lenz, Susan­ne. 2025. Wera Herz­berg im Inter­view: „Mei­ne Mut­ter woll­te raus aus dem ver­ein­ten Deutsch­land“. Ber­li­ner Zei­tung, 11.01.2025. (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/theater/wera-herzberg-im-interview-meine-mutter-wollte-raus-aus-dem-vereinten-deutschland-li.2286366)

Leon­hard, Wolf­gang. 1955. Die Revo­lu­ti­on ent­lässt ihre Kin­der (Kiwi Band 119). Köln: Kie­pen­heu­er & Witsch.

Sokol, Sam. 2024. Likud MK tells fami­ly mem­ber of Oct. 7 vic­tim to ‘get out of my sight’ during Knes­set pro­test. Times of Isra­el 20.03.2024. (https://www.timesofisrael.com/liveblog_entry/likud-mk-tells-family-member-of-oct-7-vicitm-to-get-out-of-my-sight-during-knesset-protest/)

tages­schau. 2024. Inter­na­tio­na­ler Gerichts­hof: Isra­els Sied­lungs­po­li­tik laut UN-Gut­ach­ten ille­gal. tages­schau 19.07.2024. ARD. (https://www.tagesschau.de/ausland/asien/israel-igh-volkerrecht-100.html)

Tzvi­ka Mor. 2024. War­ti­me dia­ries 143. (https://www.israelstory.org/episode/tzvika-mor/)

Wel­lisch, Felix. 2025. Frei­ge­las­se­ne Paläs­ti­nen­ser: Wei­ter Weg zur Ver­söh­nung. taz. 29.10.2025. Ber­lin. (https://taz.de/Freigelassene-Palaestinenser/!6122480/)


Die Nazis aus der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein

Neu­lich hat­te ich ja mal geguckt, wo die Nazis aus dem KZ Lich­ten­burg und die Nazis aus Buchen­wald abge­blie­ben sind. Durch einen taz-Arti­kel über den Wahr­sa­ger Max Moe­cke (taz, 25.09.2025), der in Pir­na-Son­nen­stein ermor­det wur­de, bin ich auf die­sen Ort gekom­men und habe dann mal nach­ge­schaut, wo die Nazis nach Kriegs­en­de hin­ge­gan­gen sind und was aus ihnen gewor­den ist. Der Wiki­pe­dia­ein­trag für Pir­na-Son­nen­stein lis­tet fol­gen­de Per­so­nen auf, die für Eutha­na­sie-Ver­bre­chen im Rah­men der Akti­on T4 (13.720 psy­chisch kran­ke und geis­tig behin­der­te Men­schen wur­den in Son­nen­stein mit Gift­gas ermor­det) oder Mor­de an poli­ti­schen Geg­nern zustän­dig waren.

Die Akti­on T4 wur­de 1941 von Hit­ler been­det und das Schloss Son­nen­stein anders ver­wen­det, aber eini­ge der Nazis, die T4 bis dahin umge­setzt hat­ten, mor­de­ten dann in den Ver­nich­tungs­la­gern wei­ter. Die fol­gen­den Per­so­nen wer­den im Zusam­men­hang mit den Ver­nich­tungs­la­gern genannt:

Ansons­ten wer­den im Arti­kel noch fol­gen­de Ärz­te nament­lich genannt:

1947 gab es in Dres­den einen Pro­zess (Dresd­ner Ärz­te­pro­zess), in dem Her­mann Paul Nit­sche (seit 1940 einer der medi­zi­ni­schen Lei­ter der Kran­ken­mord­ak­ti­on) und zwei Son­nen­stei­ner Pfle­ger wur­den zum Tod ver­ur­teilt. Außer­dem gab es Haft­stra­fen, die 1956 bei einer Amnes­tie erlas­sen wur­den. In Wiki­pe­dia kann man zu dem Pro­zess lesen:

Der Dres­de­ner Pro­zess gilt als einer der frü­hes­ten Ver­su­che der deut­schen Jus­tiz zur juris­ti­schen Auf­ar­bei­tung der NS-Kran­ken­mor­de. Er fand unter Ober­ho­heit der sowje­ti­schen Besat­zung statt, Rechts­grund­la­ge war das Kon­troll­rats­ge­setz Nr. 10, das unter ande­rem die Bestra­fung von Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit vor­sah.[6]

Zwi­schen dem 16. Juni und dem 25. Juni wur­den die Ange­klag­ten und die Zeu­gen in öffent­li­chen Sit­zun­gen ver­nom­men.[7] Durch die Medi­en fand der Pro­zess in der Öffent­lich­keit gro­ße Auf­merk­sam­keit. Die Säch­si­sche Zei­tung berich­te­te täg­lich über den Ver­lauf des Pro­zes­ses.[8]

Am 7. Juli 1947 wur­de das Urteil ver­kün­det.[9] Die Staats­an­walt­schaft hat­te zwar elf­mal die Todes­stra­fe bean­tragt, jedoch wur­de sie nur vier­mal aus­ge­spro­chen. Beson­ders bei den Kran­ken­schwes­tern fie­len die Urtei­le meist gerin­ger aus als gefor­dert wur­de. Ein­zel­ne Ange­klag­te, dar­un­ter der Haupt­an­ge­klag­te Alfred Schulz sowie der Lei­ter der Kin­der­fach­ab­tei­lung Arthur Mit­tag, hat­ten sich zuvor sui­zi­diert resp. Sui­zid­ver­su­che began­gen, an deren Fol­gen sie ver­star­ben. Im März 1948 wur­den die Todes­ur­tei­le in Dres­den voll­streckt, nach­dem eine Revi­si­on gegen das Urteil mit Beschluss des Ober­lan­des­ge­richts Dres­den vom 27. Sep­tem­ber 1947 als unbe­grün­det ver­wor­fen wor­den war.[10]

Ich zitie­re das hier, damit man sehen kann, dass es im Osten Auf­ar­bei­tung gab, dass es Todes­ur­tei­le gab, die voll­streckt wur­den, dass es Medi­en­be­glei­tung gab. In ent­spre­chen­den Ver­öf­fent­li­chung wird immer wie­der behaup­tet, dass es in der DDR kei­ne Auf­ar­bei­tung und kei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus gab. Die Wahr­heit ist, dass es in bestimm­ten Berei­chen die ers­ten Pro­zess gab und dass die DDR auch bei der Errich­tung von Gedenk­stät­ten dem Wes­ten bis zum Schluss weit vor­aus war.

Text­ta­fel: „Die SED betrach­tet den Auf­stieg des Natio­nal­so­zia­lis­mus als eine Fol­ge des kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tems. Mit der Eta­blie­rung des «Arbei­ter- und Bau­ern­staa­tes» und sei­nes plan­wirt­schaft­li­chen Sys­tems sieht sie den Faschis­mus als end­gül­tig über­wun­den an. Geschichts­po­li­tisch stellt sich die Par­tei in die Tra­di­ti­on des kom­mu­nis­ti­schen Arbei­ter­wi­der­stands gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus (NS). An Orten ehe­ma­li­ger Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger wird daher vor allem an pro­mi­nen­te Kom­mu­nis­ten wie Ernst Thäl­mann erin­nert, wäh­rend ande­re Opfer­grup­pen, allen vor­an Juden:Jüdinnen, in den Hin­ter­grund gerückt wer­den.
Die drei gro­ßen «Natio­na­len Mahn- und Gedenk­stät­ten» Buchen­wald, Sach­sen­hau­sen und Ravens­brück wer­den jähr­lich von Hun­dert­tau­sen­den besucht. Da es in der Bun­des­re­pu­blik zu jener Zeit kei­ne ver­gleich­ba­ren gesamt­staat­li­chen Insti­tu­tio­nen zur Erin­ne­rung an den NS-Ter­ror gibt, wird der Umgang mit ihnen ab 1990 wich­tig für die Her­aus­bil­dung der heu­ti­gen Gedenk­stät­ten­land­schaft.“ Muse­um Uto­pie und All­tag, Eisen­hüt­ten­stadt, 07.08.2025

Jetzt noch ein­mal eine alpha­be­ti­sche Lis­te aller Per­so­nen, die ich in Wiki­pe­dia fin­den konn­te, und deren Ver­bleib nach 1945.

  • Kurt Borm (2001, Suder­burg, Nie­der­sach­sen, Borm ver­heim­lich­te sei­ne Iden­ti­tät und wur­de in Schles­wig-Hol­stein lei­ten­der Arzt. Erst 1962 wur­de er ver­haf­tet, dann aber aus der Unter­su­chungs­haft ent­las­sen. „Am 6. Juni 1972 sprach ihn das Gericht frei. Borm habe zwar objek­tiv Bei­hil­fe zur Tötung von min­des­tens 6652 Geis­tes­kran­ken geleis­tet, jedoch kön­ne ihm nicht nach­ge­wie­sen wer­den, dass er schuld­haft gehan­delt habe, da ihm „unwi­der­leg­bar das Bewusst­sein der Rechts­wid­rig­keit“ sei­nes Tuns gefehlt habe. Urteil 1974 vom Bun­des­ge­richts­hof bestä­tigt.“ Er war dann wei­ter als Arzt tätig.),
  • Kurt Bolen­der (Sui­zid vor Urteils­ver­kün­dung, 1966, Hagen, NRW, leb­te bis 1961 uner­kannt in Ham­burg die Peit­sche aus dem KZ hat­te er noch in der Woh­nung. Er war mit Diet­rich Allers befreun­det, der T4 gelei­tet hatte)
  • Klaus End­ru­weit (1994, Hil­des­heim, Nie­der­sach­sen, „Am Ende des Krie­ges noch an der Ost­front ein­ge­setzt, geriet End­ru­weit in ame­ri­ka­ni­sche Gefan­gen­schaft, aus der er jedoch als­bald wie­der ent­las­sen wur­de. Im Juni 1945 konn­te er in Hil­des­heim beim Städ­ti­schen Kran­ken­haus gegen freie Woh­nung und Ver­pfle­gung unter­kom­men. Am 1. Juli 1946 eröff­ne­te er eine Arzt­pra­xis in Bet­t­rum im Land­kreis Hil­des­heim. Gleich­zei­tig war er ab 1956 Vor­stands­mit­glied der Kas­sen­ärzt­li­chen Ver­ei­ni­gung sowie von 1956 bis 1957 und 1962 bis 1965 der Ärz­te­kam­mer Nie­der­sach­sens in Hil­des­heim. Dort konn­te er bis zu sei­ner Ver­haf­tung am 20. Juni 1962 unbe­hel­ligt prak­ti­zie­ren. Noch am glei­chen Tage erhielt er Haft­ver­scho­nung gegen die Auf­la­ge, sich ein­mal wöchent­lich bei der Poli­zei zu mel­den. So konn­te er wei­ter­hin prak­ti­zie­ren.“ „Noch vor Pro­zess­be­ginn ord­ne­te der Regie­rungs­prä­si­dent in Hil­des­heim am 16. Sep­tem­ber 1966 das Ruhen von End­ru­weits Bestal­lung als Arzt an. Ähn­lich wie bei sei­nem Mit­an­ge­klag­ten lös­te die­se Ent­schei­dung eine Wel­le von Soli­da­ri­täts- und Sym­pa­thie­be­kun­dun­gen aus Krei­sen sei­ner Ärz­te­kol­le­gen, Ver­bän­den und ver­schie­de­nen Bür­ger­meis­tern aus.“),
  • Kurt Franz (1998, Wup­per­tal, Lager­kom­man­dant des Ver­nich­tungs­la­gers Treb­linka. „Aus der ame­ri­ka­ni­schen Gefan­gen­schaft konn­te er flie­hen und nach Düs­sel­dorf zurück­keh­ren. Dort mel­de­te er sich am 26. Juni 1945 mit sei­nem rich­ti­gen Namen beim Arbeits­amt an. Bis Ende 1948 war er als Brü­cken­bau­ar­bei­ter tätig. Von 1949 bis zu sei­ner Ver­haf­tung an sei­nem Wohn­ort Düs­sel­dorf am 2. Dezem­ber 1959 arbei­te­te er wie­der als Koch.“ Lebens­lan­ge Haft: „Wegen sei­nes Alters und aus gesund­heit­li­chen Grün­den wur­de Franz Mit­te 1993 ent­las­sen, nach­dem er bereits seit Ende der sieb­zi­ger Jah­re Frei­gän­ger war.“),
  • Hein­rich Gley (1985, Müns­ter, NRW, „Nach Kriegs­en­de geriet er am 10. Mai 1945 in Pil­sen in ame­ri­ka­ni­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft, sei­ne Ent­las­sung erfolg­te am 29. Dezem­ber 1947. Anschlie­ßend arbei­te­te er bis 1958 als Mau­rer in West­fa­len und muss­te in der Fol­ge die­se Tätig­keit krank­heits­be­dingt auf­ge­ben. In Bie­le­feld wur­de Gley wegen sei­ner Zuge­hö­rig­keit zur SS, wahr­schein­lich im Rah­men der Ent­na­zi­fi­zie­rung, zu 100 Tagen Haft ver­ur­teilt, die jedoch durch die Inter­nie­rungs­haft bereits abge­gol­ten waren. Im Rah­men der Ermitt­lun­gen bezüg­lich der Ver­bre­chen in Bel­zec kam Gley Anfang der 1960er Jah­re in Haft. Im Bel­zec-Pro­zess wur­de gegen Gley und sie­ben wei­te­re Ange­klag­te ab August 1963 vor dem Land­ge­richt Mün­chen ver­han­delt. Er wur­de wegen des Puta­tiv­not­stan­des im Janu­ar 1964 außer Ver­fol­gung gesetzt und damit wur­de kei­ne Haupt­ver­hand­lung gegen ihn eröff­net. Auch wegen sei­ner Betei­li­gung an der „Akti­on T4“ kam es zu kei­nem Pro­zess. Gley starb im Juni 1985.“
  • Lorenz Hacken­holt (für tot erklärt im Wes­ten, Eini­ge Jah­re nach dem Krieg stell­te sei­ne Frau den Antrag, ihren ver­miss­ten Mann für tot zu erklä­ren. Dies geschah am 1. April 1954 durch das Amts­ge­richt Ber­lin-Schö­ne­berg zum 31. Dezem­ber 1945. Trotz ein­zel­ner Hin­wei­se, dass Hacken­holt noch am Leben sei, ende­te eine Unter­su­chung durch eine Son­der­kom­mis­si­on der Münch­ner Kri­mi­nal­po­li­zei von 1959 bis 1963 ohne Ergebnis.)
  • Gott­lieb Hering (9/1945 Stet­ten im Rems­tal, BaWü, „Nach Kriegs­en­de soll Hering wie­der kurz­zei­tig die Kri­mi­nal­po­li­zei in Heil­bronn gelei­tet haben. Er starb infol­ge einer Erkran­kung unter unge­klär­ten Umstän­den im Schloss Stet­ten (Rems­tal), wo sich ab Herbst 1943 ein Aus­weichs­kran­ken­haus der Stadt Stutt­gart befand.[3] Sowohl in sei­nem 1948 von sei­ner deut­lich jün­ge­ren Wit­we pos­tum betrie­be­nen Ent­na­zi­fi­zie­rungs­ver­fah­ren[4] als auch in sei­ner beim Poli­zei­prä­si­di­um Stutt­gart geführ­ten Per­so­nal­ak­te, laut der er sich im Okto­ber 1944 „vom Ein­satz zurück“ gemel­det habe,[5] blie­ben sei­ne Auf­ent­hal­te und Tätig­kei­ten seit Dezem­ber 1939 im Wesent­li­chen uner­wähnt. Man ging im Beneh­men mit dem Befrei­ungs­mi­nis­te­ri­um viel­mehr davon aus, dass er nicht als Haupt­schul­di­ger oder Belas­te­ter zu betrach­ten sei. Folg­lich blieb sei­ne Wit­we von der andern­falls zu erwar­ten­den Ein­zie­hung des Nach­las­ses und dem Ver­lust der Pen­si­ons­an­sprü­che ver­schont. Die­se Ent­schei­dung wur­de zuletzt noch im Jah­re 1972 bei der Über­prü­fung der soge­nann­ten 131er nach Akten­la­ge bestätigt.“
  • Otto Horn (1999, Ber­lin, „Horn wur­de vom Land­ge­richt Düs­sel­dorf am 3. Sep­tem­ber 1965 in den Treb­linka-Pro­zes­sen man­gels eines siche­ren Nach­wei­ses sei­ner Schuld frei­ge­spro­chen.“ War wohl angeb­lich gegen die Mor­de, die in sei­nem Umfeld stattfanden.)
  • Erwin Lam­bert (1976, Stutt­gart, BaWü, „Am 15. Mai 1945 wur­de Lam­bert von den Bri­ten gefan­gen genom­men und an die US-Ame­ri­ka­ner aus­ge­lie­fert, die ihn in ein Lager ins würt­tem­ber­gi­sche Aalen brach­ten. Nach Waib­lin­gen ent­las­sen, zog er zunächst nach Schwaik­heim und ließ sich dann in Stutt­gart nie­der. Dort mach­te er sich als Flie­sen­le­ger selb­stän­dig. Bei der Ent­na­zi­fi­zie­rung in Schwaik­heim wur­de Lam­bert als Mit­läu­fer ein­ge­stuft. Mit Urteil des Land­ge­richts Düs­sel­dorf vom 3. Sep­tem­ber 1965 (Az.: I Ks 2/64) wur­de er im soge­nann­ten Treb­linka-Pro­zess wegen Bei­hil­fe zum gemein­schaft­li­chen Mord an min­des­tens 300.000 Per­so­nen zu vier Jah­ren Zucht­haus ver­ur­teilt. Im Sobi­bor-Pro­zess ver­ur­teil­te ihn das Land­ge­richt Hagen am 20. Dezem­ber 1966 wegen gemein­schaft­li­cher Bei­hil­fe zum Mord an min­des­tens 57.000 Men­schen zu drei Jah­ren Zucht­haus (Az.: 11 Ks 1/64). Sara Ber­ger urteilt, Lam­bert habe die akti­ve Bereit­schaft gezeigt, Stra­te­gien zur Ver­bes­se­rung der Ver­nich­tungs­struk­tu­ren zu fin­den und maß­geb­lich zur Effi­zi­enz­stei­ge­rung der Lager bei­getra­gen.“)
  • Hein­rich Matthes (1978, JVA Bochum, Im Treb­linka-Pro­zess 1965 ver­ur­teilt, vor­her als Pfle­ger gearbeitet.)
  • Gus­tav Münz­ber­ger (1977, Gar­misch-Par­ten­kir­chen, Bay­ern „Nach Kriegs­en­de arbei­te­te Münz­ber­ger als Tisch­ler in Unter­am­mer­gau. Im Rah­men der Ermitt­lun­gen bezüg­lich der Ver­bre­chen im Ver­nich­tungs­la­ger Treb­linka geriet Münz­ber­ger in das Visier der Ermitt­lungs­be­hör­den und wur­de am 13. Juli 1963 in Haft genom­men. Der Treb­linka-Pro­zess gegen zehn Ange­klag­te fand vom 12. Okto­ber 1964 bis zum 3. Sep­tem­ber 1965 vor dem Land­ge­richt Düs­sel­dorf statt. Der Ver­fah­rens­ge­gen­stand umfass­te die Ver­ga­sung von min­des­tens 700.000 über­wie­gend jüdi­schen Men­schen sowie die töd­li­che Miss­hand­lung, Erschie­ßung, Erschla­gung sowie Erhän­gung ein­zel­ner Häft­lin­ge und zudem die Zer­flei­schung durch Bar­ry, den Dienst­hund des Lager­kom­man­dan­ten Kurt Franz. Im Pro­zess ver­such­te die Ver­tei­di­gung, Münz­ber­gers Taten zu recht­fer­ti­gen:
    „Wenn er auf eine mög­lichst letz­te Aus­nut­zung der Gas­kam­mern bestan­den habe, so sei das auch im Inter­es­se der war­ten­den Juden gewe­sen; denn je schnel­ler die Ver­ga­sun­gen erfolgt sei­en, umso kür­zer sei­en die Lei­den und Ängs­te der noch nicht ver­gas­ten Juden gewe­sen.“[3]
    Münz­ber­ger wur­de wegen Bei­hil­fe zum gemein­schaft­li­chen Mord bezie­hungs­wei­se Bei­hil­fe zum Mord zu 12 Jah­ren Zucht­haus ver­ur­teilt. Er ver­büß­te sei­ne Haft in der Jus­tiz­voll­zugs­an­stalt Müns­ter und am 3. Sep­tem­ber 1975 wur­de aus der Haft bedingt entlassen.“)
  • Her­mann Paul Nit­sche (1948 Dres­den, nach Todes­ur­teil hin­ge­rich­tet, „Noch im Früh­jahr 1945 wur­de Nit­sche in Seb­nitz ver­haf­tet. Die von sowje­ti­schen Dienst­stel­len vor­ge­nom­me­nen Unter­su­chungs­er­geb­nis­se wur­den am 20. Juni 1946 an die deut­schen Jus­tiz­be­hör­den in Sach­sen über­ge­ben. Das Land­ge­richt Dres­den erhob am 7. Janu­ar 1947 Ankla­ge gegen Nit­sche und wei­te­re 14 Täter. Nit­sche ver­wies auf sei­nen Stand­punkt, wonach die Tötung von unheil­bar Kran­ken wis­sen­schaft­lich und auch gesell­schaft­lich gerecht­fer­tigt sei, und ver­wahr­te sich gegen die Mord­an­kla­ge. Mit Urteil vom 7. Juli 1947 wur­de er jedoch zum Tode ver­ur­teilt. Nach Ableh­nung der Beru­fung durch das Ober­lan­des­ge­richt Dres­den wur­de das Urteil am 25. März 1948 durch das Fall­beil voll­streckt und sein Leich­nam der Ana­to­mie in Leip­zig überantwortet.“)
  • Wal­ter Nowak (ver­schol­len wohl zu letzt in Ita­li­en gese­hen, davor in ame­ri­ka­ni­scher Gefangenschaft),
  • Josef Ober­hau­ser (1979 Mün­chen, Nach der Ent­las­sung aus der Gefan­gen­schaft war Ober­hau­ser 1947/48 Wald- und Säge­werks­ar­bei­ter in Beven­sen. Am 13. April 1948 wur­de er in der Ost­zo­ne ergrif­fen und am 24. Sep­tem­ber 1948 durch eine nach Befehl 201 der sowje­ti­schen Mili­tär­ver­wal­tung gebil­de­te 5. Straf­kam­mer des Land­ge­richts Mag­de­burg wegen Ver­bre­chens gegen das Kon­troll­rats­ge­setz Nr. 10 auf­grund sei­ner Zuge­hö­rig­keit zur SS als einer ver­bre­che­ri­schen Orga­ni­sa­ti­on und sei­ner Betei­li­gung an der Tötung von „Euthanasie“-Opfern in Gra­feneck, Bran­den­burg und Bern­burg zu einer Zucht­haus­stra­fe von 15 Jah­ren unter Aberken­nung der bür­ger­li­chen Ehren­rech­te auf zehn Jah­re ver­ur­teilt. Gleich­zei­tig wur­de er nach Direk­ti­ve 38 Arti­kel II Zif­fer 7 und 8 als Haupt­be­las­te­ter ein­ge­stuft. Nach acht Jah­ren wur­de Ober­hau­ser unter end­gül­ti­ger Haft­er­las­sung am 28. April 1956 im Rah­men einer Amnes­tie aus der Haft ent­las­sen. Zurück in sei­ner Hei­mat­stadt Mün­chen war Ober­hau­ser als Gele­gen­heits­ar­bei­ter und als Schank­kell­ner tätig, bis er am 21. Janu­ar 1965 vom Land­ge­richt Mün­chen I im Bel­zec-Pro­zess zu vier Jah­ren und sechs Mona­ten Zucht­haus wegen Bei­hil­fe zum gemein­schaft­li­chen Mord in 300.000 Fäl­len und wegen fünf wei­te­rer Ver­bre­chen der Bei­hil­fe zum gemein­schaft­li­chen Mord in je 150 Fäl­len ver­ur­teilt wur­de (Az.: 110 Ks 3/64, s. Web­link). Nach­dem er (unter Anrech­nung der Unter­su­chungs­haft) die Hälf­te sei­ner Stra­fe ver­büßt hat­te, wur­de er 1966 ent­las­sen und arbei­te­te wie­der als Schank­kell­ner in Mün­chen (als sol­cher erscheint er in einer kur­zen Sze­ne in Clau­de Lanz­manns Film Sho­ah[4]). Wegen der in Ita­li­en began­ge­nen Kriegs­ver­bre­chen wur­de er im April 1976 von einem ita­lie­ni­schen Gericht in Abwe­sen­heit zu einer lebens­lan­gen Frei­heits­stra­fe ver­ur­teilt. Da die ita­lie­ni­sche Jus­tiz auf einen (wegen feh­len­der Rechts­grund­la­gen aus­sichts­lo­sen) Aus­lie­fe­rungs­an­trag ver­zich­te­te, brauch­te er die­se Stra­fe nicht anzutreten.“)
  • Paul Rost (1984, Dres­den, Sach­sen „Paul Rost geriet 1945 in Öster­reich in ame­ri­ka­ni­sche Gefan­gen­schaft und war kurz­zei­tig im Lager Habach inter­niert. Dort soll er Wal­ter Nowak wie­der­ge­trof­fen haben,[8] der jedoch nach ande­ren Quel­len bereits seit 1943 oder 1944 tot war.[9] Von dort wur­de er nach kur­zer Zeit ent­las­sen und ging nach Dres­den zu sei­ner Fami­lie zurück. Kurz dar­auf nahm ihn dort 1946 die Sowje­ti­sche Armee in Unter­su­chungs­haft. Paul Rost wur­de im glei­chen Jahr im Rah­men des Dresd­ner Eutha­na­sie-Pro­zes­ses ver­nom­men und anschlie­ßend wie­der auf frei­en Fuß gesetzt.[10] Eine wei­te­re Straf­ver­fol­gung fand nicht statt. Die DDR lehn­te 1971 eine Zeu­gen­ver­neh­mung von Rost im Zusam­men­hang mit dem Pro­zess des Land­ge­richts Frank­furt am Main gegen den Direk­tor der Tötungs­an­stalt Son­nen­stein Horst Schu­mann ab.“)
  • Curt Schma­len­bach (1944 bei Flug­zeug­ab­sturz gestorben)
  • Alfred Schulz (1947, Haft­kran­ken­haus Zwi­ckau, evtl. Suizid)
  • Horst Schu­mann (1983, Frank­furt am Main, Im Janu­ar 1945 kam er als Trup­pen­arzt an die West­front, wo er in ame­ri­ka­ni­sche Gefan­gen­schaft geriet, aus der er im Okto­ber 1945 wie­der ent­las­sen wur­de. Mit sei­ner Frau zog er nach Glad­beck und mel­de­te sich beim dor­ti­gen Ein­woh­ner­mel­de­amt ord­nungs­ge­mäß am 15. April 1946 an. Zunächst als Sport­arzt in Diens­ten der Stadt Glad­beck, eröff­ne­te er 1949 mit einem Flücht­lings­kre­dit eine eige­ne Pra­xis. Im Juli 1950 wur­de er Knapp­schafts­arzt der Ruhr­knapp­schaft, obwohl sein Name bereits in Eugen Kogons frü­hem Werk Der SS-Staat genannt wur­de. Ein Antrag vom 29. Janu­ar 1951 auf Ertei­lung eines Jagd- und Fische­rei­sch­ei­nes bei der Stadt Glad­beck führ­te schließ­lich auf­grund des erfor­der­li­chen poli­zei­li­chen Füh­rungs­zeug­nis­ses zu sei­ner Ent­tar­nung als ein von der Staats­an­walt­schaft Tübin­gen Gesuch­ter. Die zöger­li­chen Ermitt­lun­gen ermög­lich­ten es Schu­mann jedoch, am 26. Febru­ar 1951 ins Aus­land zu flie­hen. Nach drei Jah­ren als Schiffs­arzt erhiel­ten die deut­schen Behör­den erst­mals wie­der am 25. Febru­ar 1954 durch das deut­sche Gene­ral­kon­su­lat im japa­ni­schen Osa­ka-Kobe einen Hin­weis auf Schu­mann. Die­ser hat­te dort einen deut­schen Rei­se­pass bean­tragt und erhal­ten. Die Spur Schu­manns führ­te dann 1955 wei­ter nach Ägyp­ten und Mit­te des glei­chen Jah­res in den Sudan, wohin ihm auch sei­ne Frau nach­reis­te. In der Wochen­zei­tung Christ und Welt, deren Redak­ti­ons­lei­ter der Jour­na­list und ehe­ma­li­ge SS-Haupt­sturm­füh­rer Gisel­her Wir­sing war, erschien am 16. April 1959 ein Arti­kel über einen „zwei­ten Albert Schweit­zer“ in Li Jubu, einem Ort im Grenz­ge­biet von Sudan, Kon­go und Fran­zö­sisch-Äqua­to­ri­al­afri­ka, und führ­te damit unge­wollt zur Ent­tar­nung Schu­manns. Einem Haft­be­fehl konn­te sich Schu­mann durch sei­ne Flucht über Nige­ria nach Gha­na ent­zie­hen, wo er in Kete Kra­chi ein Urwald­kran­ken­haus errich­te­te und lei­te­te. […] Ein Repor­ter der bri­ti­schen Zei­tung Dai­ly Express ent­deck­te das Ehe­paar Schu­mann 1962 in Gha­na. Ein deut­sches Aus­lie­fe­rungs­er­su­chen aus dem Vor­jahr wur­de vom gha­nai­schen Staats­prä­si­den­ten Kwa­me Nkru­mah, der Schu­mann zu sei­nen Freun­den zähl­te, igno­riert. Erst nach Nkru­mahs Sturz im Febru­ar 1966 wur­de Schu­mann von den neu­en Macht­ha­bern fest­ge­setzt und am 7. März 1966 in Aus­lie­fe­rungs­haft genom­men. Am 17. Novem­ber 1966 wur­de er an Deutsch­land aus­ge­lie­fert und in der Jus­tiz­voll­zugs­an­stalt Butz­bach in Hes­sen in Unter­su­chungs­haft genom­men. Der Pro­zess gegen Schu­mann begann am 23. Sep­tem­ber 1970 vor dem Land­ge­richt Frank­furt am Main und geriet auf­grund der zahl­rei­chen und teil­wei­se dubio­sen Gut­ach­ten über sei­ne Ver­hand­lungs­un­fä­hig­keit zum Jus­tiz­skan­dal. Schließ­lich wur­de das Ver­fah­ren am 14. April 1971 wegen Ver­hand­lungs­un­fä­hig­keit, bedingt durch einen zu hohen Blut­druck des Ange­klag­ten, vor­läu­fig ein­ge­stellt. Am 29. Juli 1972 erfolg­te sei­ne Haft­ent­las­sung. Den Rest sei­nes Lebens ver­brach­te Schu­mann in Frank­furt-Seck­bach, wo er 1983 verstarb.“)
  • Ewald Wort­mann (1985, Osna­brück, Nie­der­sach­sen, 1950 kehr­te Wort­mann aus der sowje­ti­schen Gefan­gen­schaft zurück. Er eröff­ne­te in Fried­rich­skoog eine all­ge­mein­ärzt­li­che Pra­xis, hei­ra­te­te und hat­te vier Kin­der. Wort­mann konn­te erst als letz­ter T4-Arzt für den soge­nann­ten ers­ten Ärz­te­pro­zess gegen Ull­rich und ande­re vor dem Frank­fur­ter Land­ge­richt ermit­telt wer­den. Am 21. März 1963 sag­te er erst­mals als Zeu­ge im Ver­fah­ren gegen den T4-Arzt Georg Ren­no aus. Ein gegen Wort­mann ein­ge­lei­te­tes Ermitt­lungs­ver­fah­ren wur­de am 1. August 1969[9] ein­ge­stellt. Im Pro­zess gegen sei­nen ehe­ma­li­gen Vor­ge­setz­ten und Lei­ter der Ver­ga­sungs­an­stalt Son­nen­stein, Horst Schu­mann, ver­wei­ger­te er im Okto­ber 1970 sei­ne Aus­sa­ge. Wort­mann war der ein­zi­ge der T4-Ärz­te, der zumin­dest „eine gewis­se mora­li­sche Schuld“ ein­räum­te, „weil ich nichts gegen die­se Din­ge unter­nom­men habe. Das ist aber nur eine Ange­le­gen­heit, die mich inner­lich trifft. Ich konn­te ja damals über­haupt nicht gegen die­se Din­ge antre­ten. Es fehl­te mir die Mög­lich­keit und auch der Ein­fluß.“[10] In den Jah­ren 1969/70 dreh­te der Nord­deut­sche Rund­funk einen Doku­men­tar­film über Wort­mann und sei­ne Fami­lie, in dem unter dem Titel „De Dok­tor snackt platt“ die Situa­ti­on eines „typi­schen“ Land­arz­tes dar­ge­stellt wer­den soll­te. Die Auf­nah­men fan­den im Herbst 1969 statt; gesen­det wur­de der Film im Juni 1970.[11]“)

So. Zusam­men­fas­sen kann man sagen, dass von denen, die in Wiki­pe­dia auf­ge­führt sind, nur einer, näm­lich Paul Rost, im Osten geblie­ben sind. Im Osten wur­den Men­schen für ihre Ver­bre­chen zum Tode ver­ur­teilt oder begin­gen vor dem Urteil Sui­zid. Im Wes­ten wur­den eini­ge ver­ur­teilt aber im Rah­men von grö­ße­ren Pro­zes­sen wegen Mord an 700.000 Men­schen. Aber selbst da wur­den teil­wei­se Ver­fah­ren ein­ge­stellt, weil sie sehr spät erfolg­ten oder war­um auch immer.

Von 19 Per­so­nen ist einer im Osten geblie­ben und einer im Osten ver­ur­teilt wor­den und dann in den Wes­ten gegan­gen. Das ist genau so wie die Ergeb­nis­se zu Lich­ten­burg und Buchen­wald und genau­so, wie es uns die Pro­pa­gan­da zu DDR-Zei­ten gesagt hat. Die gro­ßen Nazis waren alle in den Wes­ten geflo­hen. Wer will es ihnen verdenken.

Da die AfD nun auch im Wes­ten erfolg­reich ist, begin­nen die ers­ten Men­schen zu begrei­fen, dass die Ursa­chen für den Erfolg der neu­en Nazis viel­leicht doch nicht oder nicht allein in der DDR-Ver­gan­gen­heit lie­gen, die nun auch schon 36 Jah­re hin­über ist. Viel­leicht gibt es ja Ursa­chen in der Zeit danach und viel­leicht sind es letzt­end­lich die­sel­ben wie im Wes­ten auch. Die Pro­ble­me wur­den nicht erkannt, weil es die­se beque­me Mög­lich­keit der Exter­na­li­sie­rung und Ver­drän­gung gab: ein Ost­pro­blem. Nee! 

Habt Ihr nun davon.

Nachtrag 26.09.2025

Ich wur­de dar­auf hin­ge­wie­sen, dass in Stadt­ro­da (Thü­rin­gen) auch Kin­der ermor­det wur­den. Die Sta­si hat davon 1965 erfah­ren, die Sache wur­de aber nicht ver­folgt. Mar­ga­re­te Hiel­schler hat bis zur Beren­tung 1965 als lei­ten­de Ober­ärz­tin in Stadt­ro­da gearbeitet.

Ger­hard Kloos war Direk­tor der Lan­des­heil­an­stal­ten Stadt­ro­da und als sol­cher an den Eutha­na­sie­ver­bre­chen betei­ligt. Er ist 1988 in Göt­tin­gen gestor­ben. Man lese sei­nen Wiki­pe­dia-Ein­trag, um sich über die Ver­net­zung mit T4-Leu­ten und sei­ne wei­ter Lehr­tä­tig­keit an west­deut­schen Uni­ver­si­tä­ten zu informieren.

Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück

Anne Rabe hat in ihrem Buch Eine Mög­lich­keit von Glück ihre trau­ma­ti­schen Gewalt­er­fah­run­gen in ihrer Kind­heit in Wis­mar auf­ge­ar­bei­tet. Ihre Eltern und Groß­el­tern waren DDR-Kader, ihr Groß­va­ter in Sta­lin­grad gewe­sen und sie führt alle Gewalt auf die DDR-Zeit und die Kriegs­er­leb­nis­se zurück. Ich habe in Kei­ne Gewalt: Zu Mög­lich­kei­ten und Glück und dem Buch von Anne Rabe bereits dazu geschrie­ben, wel­che inhalt­li­chen Feh­ler ihr dabei unter­lau­fen sind und dass ihre Schluss­fol­ge­run­gen nicht trag­fä­hig sind. Hier möch­te ich noch eini­ge wei­te­re Punk­te dis­ku­tie­ren, die inhalt­lich nicht in den ers­ten Blog-Post gepasst haben. Dabei geht es mir vor allem um eine kor­rek­te Dar­stel­lung der DDR-Zeit aber es ist auch noch ein gra­vie­ren­der Feh­ler bezüg­lich der Vor­fäl­le in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen zu besprechen.

Nazis, Verantwortung und Scham

In die­sem ers­ten Abschnitt möch­te ich Rabes Ansich­ten bzgl. Kol­lek­tiv­schuld und ihre Scham bezüg­lich ihrer Eltern besprechen.

Schuld und Blut

Rabe schreibt, dass alle Deut­schen „qua ihres deut­schen Blu­tes“ zur SS, zur Wehr­macht, zu den Ver­bre­chern gehören:

Die Nazis waren immer die ande­ren. Die SS, die Wehr­macht, die Ver­bre­cher. Schlimm, schlimm das. So schlimm, dafür über­neh­men wir sogar dann gern die Ver­ant­wor­tung, wenn wir ganz sicher sind, dass unse­re Fami­li­en damit nichts zu tun haben. Aber qua Her­kunft, qua Abstam­mung, qua unse­res deut­schen Blu­tes gehö­ren wir eben dazu, sind wir eben mitverantwortlich.

S. 67

Ist das so? Ist das mit dem Blut nicht Nazi-Ideo­lo­gie? Und nie­mand hat’s gemerkt? Die Lek­to­rin nicht, kein Rezen­sent. War­um soll­te irgend­wer wegen Blut bes­ser oder schlech­ter sein? Tür­ke, Paläs­ti­nen­ser, Jude, Rus­se, Deut­scher? Ich emp­feh­le allen den Wiki­pe­dia-Arti­kel zur Kol­lek­tiv­schuld. Das Fol­gen­de steht dort gleich zu Beginn:

Kol­lek­tiv­schuld bedeu­tet, dass die Schuld für eine Tat nicht dem ein­zel­nen Täter (oder Tätern) ange­las­tet wird, son­dern einem Kol­lek­tiv, allen Ange­hö­ri­gen sei­ner Grup­pe, z. B. sei­ner Fami­lie, sei­nes Vol­kes oder sei­ner Orga­ni­sa­ti­on. Das beinhal­tet folg­lich auch Men­schen, die selbst nicht an der Tat betei­ligt waren. Das Straf­recht moder­ner Demo­kra­tien geht grund­sätz­lich von einer indi­vi­du­el­len Ver­ant­wort­lich­keit aus, so dass Kol­lek­tiv­schuld juris­tisch nicht rele­vant ist. Arti­kel 33 Gen­fer Abkom­men IV bestimmt, dass kei­ne Per­son für ein Ver­bre­chen ver­ur­teilt wer­den darf, das sie nicht per­sön­lich began­gen hat. Eine Kol­lek­tiv­stra­fe setzt Kol­lek­tiv­schuld vor­aus. Nach Art. 87 Abs. 3 Gen­fer Abkom­men III und Arti­kel 33 Gen­fer Abkom­men IV zäh­len Kol­lek­tiv­stra­fen zu den Kriegsverbrechen.

Nun könn­te man – völ­lig zu Recht – dar­über nach­den­ken, ob die Sache mit den Deut­schen viel­leicht doch etwas spe­zi­el­ler ist. Die Alli­ier­ten ver­folg­ten direkt nach dem Krieg einen Kol­lek­tiv­schuld-Ansatz. Das äußer­te sich unter ande­rem dar­in, dass die Wei­ma­rer Bevöl­ke­rung durch das befrei­te KZ Buchen­wald geführt wur­de. Den Etters­berg kann man von Wei­mar aus sehen. Buchen­wald hat­ten die Wei­ma­rer direkt vor der Nase. Sie haben den Rauch nicht gese­hen, das ver­brann­te Men­schen­fleisch nicht gero­chen. Oder es eben all die Jah­re aus­ge­blen­det. Es war rich­tig, sie alle sehen zu las­sen, was ganz in ihrer Nähe gesche­hen war. Film­ma­te­ri­al der US-Army und den Bericht einer Zeit­zeu­gin, die den KZ-Besuch mit­ge­macht hat, hat der Spie­gel veröffentlicht.

Im Urteil der Alli­ier­ten in den Nürn­ber­ger Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­sen steht 1948 Fol­gen­des zur Kollektivschuld:

Es ist undenk­bar, dass die Mehr­heit aller Deut­schen ver­dammt wer­den soll mit der Begrün­dung, dass sie Ver­bre­chen gegen den Frie­den began­gen hät­ten. Das wür­de der Bil­li­gung des Begrif­fes der Kol­lek­tiv­schuld gleich­kom­men, und dar­aus wür­de logi­scher­wei­se Mas­sen­be­stra­fung fol­gen, für die es kei­nen Prä­ze­denz­fall im Völ­ker­recht und kei­ne Recht­fer­ti­gung in den Bezie­hun­gen zwi­schen den Men­schen gibt.“ (aus dem Urteil der Alli­ier­ten in den Nürn­ber­ger Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­sen gegen die I.G. Far­ben, 29. Juli 1948).

Richard von Weiz­äcker schlägt statt Kol­lek­tiv­schuld eine Kol­lek­tiv­haf­tung vor:

auch Richard von Weiz­sä­cker beton­te in sei­ner viel beach­te­ten Rede „Zum 40. Jah­res­tag der Been­di­gung des Krie­ges in Euro­pa und der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewalt­herr­schaft“, die er am 8. Mai 1985 vor dem Deut­schen Bun­des­tag hielt: „Schuld oder Unschuld eines gan­zen Vol­kes gibt es nicht“, rief aber gleich­zei­tig dazu auf, kol­lek­tiv die Ver­ant­wor­tung für das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Unrecht zu akzep­tie­ren. Weiz­sä­cker bezeich­net die­se Hal­tung als „Kol­lek­tiv­haf­tung“.

Wiki­pe­dia über eine Rede von Bun­des­prä­si­dent Richard von Weiz­sä­cker Zum 40. Jah­res­tag der Been­di­gung des Krie­ges in Euro­pa und der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewalt­herr­schaft vom 8. Mai 1985 vor dem Deut­schen Bundestag

Die­se Kol­lek­tiv­haf­tung gab es für die DDR. Wäh­rend die West-Alli­ier­ten den West-Deut­schen den Mar­shall-Plan geschenkt haben, hat die Sowjet­uni­on Fabri­ken und Infra­struk­tur abge­baut und nach Russ­land ver­schickt. Im Fal­le von Carl Zeiss Jena haben sie sogar Men­schen mit­ge­nom­men, die die Fabrik in Russ­land wie­der auf­ge­baut und über Jah­re hin­weg die Rus­sen ein­ge­ar­bei­tet haben. Die Rus­sen haben alles mit­ge­nom­men, was ihnen nütz­lich erschien. In Wiki­pe­dia gibt es ein Lis­te aller seit 1882 still­ge­leg­ten Bahn­ver­bin­dun­gen in Ber­lin und Bran­den­burg. In die­ser Lis­te ist auch ver­merkt, was die Rus­sen mit­ge­nom­men haben.

Ich habe dazu auch eine per­sön­li­che Geschich­te: Ab der fünf­ten Klas­se bin ich von Buch zur Hum­boldt-Uni zur Mathe­ma­ti­schen Schü­ler­ge­sell­schaft gefah­ren. Es gab damals noch eine direk­te Ver­bin­dung von Buch zum Alex­an­der­platz. Die fuhr abwech­selnd auf dem lin­ken und auf dem rech­ten Gleis. Alle 20 Minu­ten. Dazwi­schen fuhr der Zug in die ande­re Rich­tung nach Ber­nau. Ein­mal war ich zu früh dran und sprang gera­de noch in einen Zug auf dem lin­ken Gleis. Die Türen schlos­sen sich, der Zug fuhr los. Lei­der in die fal­sche Rich­tung. Ich war­te­te auf die nächs­te Sta­ti­on, stürz­te aus dem Zug und rann­te hin­über zur ande­ren Sei­te, weil ich da den Zug in Gegen­rich­tung erwi­schen woll­te. Aber, oh Schreck, da war gar kein Gleis! Die Rus­sen hat­ten es mit­ge­nom­men. Von Rönt­gen­tal bis Ber­nau ist die Stre­cke nur eingleisig.

Im Wiki­pe­dia­ar­ti­kel kann man auch lesen, dass die Sowjet­uni­on fast die Hälf­te des ost­deut­schen Schie­nen­net­zes mit­ge­nom­men hat und min­des­tens 2000 der bes­ten Betrie­be. Und dann haben wir bis 1953 noch fast ein Vier­tel des Brut­to­so­zi­al­pro­dukts in die Sowjet­uni­on abgeführt:

Die Repa­ra­ti­ons­leis­tun­gen der spä­te­ren DDR an die Sowjet­uni­on gescha­hen bis 1948 haupt­säch­lich durch Demon­ta­ge von Indus­trie­be­trie­ben. Davon betrof­fen waren 2000 bis 2400 der wich­tigs­ten und best­aus­ge­rüs­te­ten Betrie­be inner­halb der Sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne Deutsch­lands (SBZ). Bis März 1947 wur­den zudem 11.800 Kilo­me­ter Eisen­bahn­schie­nen demon­tiert und in die Sowjet­uni­on ver­bracht. Damit wur­de das Schie­nen­netz bezo­gen auf den Stand von 1938 um 48 Pro­zent redu­ziert. Der Sub­stanz­ver­lust an indus­tri­el­len und infra­struk­tu­rel­len Kapa­zi­tä­ten durch die Demon­ta­gen betrug ins­ge­samt rund 30 Pro­zent der 1944 auf die­sem Gebiet vor­han­de­nen Fonds. Ab Juni 1946 begann sich mit dem SMAD-Befehl Nr. 167 die Form der Repa­ra­tio­nen von Demon­ta­gen auf Ent­nah­men aus lau­fen­der Pro­duk­ti­on im Rah­men der Sowje­ti­schen Akti­en­ge­sell­schaf­ten zu ver­la­gern, die von 1946 bis 1953 jähr­lich zwi­schen 48 und 12,9 Pro­zent (durch­schnitt­lich 22 Pro­zent) des Brut­to­so­zi­al­pro­dukts betru­gen. Die Repa­ra­tio­nen ende­ten nach dem Volks­auf­stand vom 17. Juni 1953. Auf der Grund­la­ge erst­mals erschlos­se­ner Archiv­ma­te­ria­li­en, vor allem in Mos­kau, kamen Lothar Baar, Rai­ner Karlsch und Wer­ner Matsch­ke vom Insti­tut für Wirt­schafts­ge­schich­te der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin etwa 1993 auf eine Gesamt­sum­me von min­des­tens 54 Mil­li­ar­den Reichs­mark bzw. Deut­sche Mark (Ost) zu lau­fen­den Prei­sen bzw. auf min­des­tens 14 Mil­li­ar­den US-Dol­lar zu Prei­sen des Jah­res 1938. 

Als die Repa­ra­tio­nen 1953 für been­det erklärt wur­den, hat­te die SBZ/DDR die höchs­ten im 20. Jahr­hun­dert bekannt­ge­wor­de­nen Repa­ra­ti­ons­leis­tun­gen erbracht.

Wiki­pe­dia-Arti­kel zu den Repa­ra­ti­ons­leis­tun­gen nach dem zwei­ten Weltkrieg

Dem Plus der BRD aus dem Mar­shall-Plan von 1,41 Mil­li­ar­den US-Dol­lar steht also ein Minus von min­des­tens 14 Mil­li­ar­den US-Dol­lar für die DDR gegen­über. (Neben­be­mer­kung: Ej, lie­be Wes­sis, „wir“ haben die aus der Haf­tung ent­stan­de­nen Schul­den über­nom­men und bezahlt und dann alles von vorn neu auf­ge­baut: die durch den Krieg zer­stör­te Infra­struk­tur und die demon­tier­ten Betrie­be, wohin­ge­gen „Ihr“ schö­ne Geschen­ke bekom­men habt bzw. Betrie­be und Per­so­nal aus dem Osten mit­ge­nom­men habt. Unter ande­rem auch einen Teil von Carl Zeiss, Sie­mens, Schott usw. Außer­dem konn­tet „Ihr“ „Eure“ Roh­stof­fe auf dem Welt­markt kau­fen (den glo­ba­len Süden aus­beu­ten), wäh­rend „wir“ unse­re Roh­stof­fe von „uns­ren Freun­den“ kau­fen muss­ten. Und zwar für West-Geld. Es gibt also kei­nen Grund zur Über­heb­lich­keit und Arro­ganz.) (Neben­be­mer­kung 2: Ins­ge­samt betru­gen die Wie­der­gut­ma­chungs­zah­lun­gen 2022 81,967 Mil­li­ar­den Euro. Die DDR hat sich an die­sen Zah­lun­gen nicht betei­ligt, weil sie das The­ma nach den Zah­lun­gen an die Sowjet­uni­on für erle­digt gehal­ten hat. Ab 1989 war „die DDR“ natür­lich an die­sen Zah­lun­gen betei­ligt. Die Zah­lun­gen wur­den zu unter­schied­li­chen Zei­ten geleis­tet, so dass die abso­lu­ten Zah­len nicht direkt ver­gleich­bar sind.5

Wei­ter schreibt Wiki­pe­dia zum The­ma Kollektivschuld:

Ralph Giord­a­no woll­te 1947 nicht von „Kol­lek­tiv­schuld“ spre­chen. Es habe eine Min­der­heit von Deut­schen gege­ben, die ihrem Gewis­sen und nicht dem Füh­rer gefolgt sei. Die Mehr­heit habe jedoch kein Recht, sich dadurch ent­las­tet zu füh­len und von deren Anstän­dig­keit zu pro­fi­tie­ren, beson­ders weil sie sich auch heu­te noch von die­ser Min­der­heit distanziere.

Das ist wahr. Ein Ver­wand­ter mei­ner Frau, soll­te in Nor­we­gen Zivilist*innen töten und hat sich gewei­gert. Er wur­de selbst erschos­sen. Der West­teils der Fami­lie hat sich dafür geschämt. Sie haben nie dar­über gespro­chen. Und sie­he auch den Bericht von Mari­an­ne Mey­er-Krah­mer Mein lan­ger Weg zur Stun­de Null, den ich hier im Blog ver­öf­fent­licht habe. Mey­er-Krah­mer ist die Toch­ter des Leip­zi­ger Ober­bür­ger­meis­ters Goer­de­ler, der als einer der Hit­ler-Atten­tä­ter hin­ge­rich­tet wur­de. Sie saß im KZ. Übri­gens ohne jeg­li­chen Grund. Es war Sip­pen­haft. Sip­pen­haft ist die klei­ne Freun­din von Kol­lek­tiv­schuld. Sie berich­tet davon, wie ihr Men­schen nach ihrer Befrei­ung begeg­net sind, wie sie die Ableh­nung der BDM-Mäd­chen, mit denen sie als Leh­re­rin zu tun bekam, über­wand. Mit Goethe.

In Wiki­pe­dia fin­det man auch fol­gen­de Aus­sa­ge des Neu­ro­lo­gen und Psych­ia­ters Vik­tor Frankl zum The­ma Kollektivschuld:

es gibt nur zwei Ras­sen von Men­schen, die Anstän­di­gen und die Unanständigen.

Frankl war Jude und hat The­re­si­en­stadt und Ausch­witz über­lebt. Sei­ne rest­li­che Fami­lie wur­de ermor­det. Vater, Mut­ter, Bru­der, Frau.

Rabe wirft ihren Lehrer*innen vor, dass die­se kei­ne vor­wurfs­vol­len All­aus­sa­gen über die Vor­fah­ren ihrer Schüler*innen gemacht hätten:

Die­se omi­nö­sen deut­schen Sol­da­ten. Kein Leh­rer sag­te: Eure Groß­vä­ter und Urgroß­vä­ter waren die deut­schen Sol­da­ten, die in Ost­eu­ro­pa und der Sowjet­uni­on alles abge­schlach­tet haben, was sich beweg­te, die geraubt und ver­ge­wal­tigt und gan­ze Dör­fer ange­zün­det haben.

S. 87

Viel­leicht lag das dar­an, dass das zu platt und im Ein­zel­fall auch nicht rich­tig gewe­sen wäre? Wenn wäre die Aus­sa­ge ja wohl auch „Unse­re Groß­vä­ter und Urgroß­vä­ter“ gewe­sen. Und folgt es nicht auto­ma­tisch, wenn man über die Ver­bre­chen die­ser Gene­ra­ti­on auf­klärt, dass die Groß­el­tern und Urgroß­el­tern von vie­len, vie­len Deut­schen Täter*innen waren? Muss man die­sen Gedan­ken nicht selbst denken?

Mein einer Opa war übri­gens kriegs­wich­tig (Inge­nieur bei Kör­ting in Leip­zig) und des­halb nicht im Krieg und mein ande­rer war zwar bei der Wehr­macht aber als Koch.

Bei­de haben somit zwar irgend­et­was zum Krieg bei­getra­gen, aber der Vor­wurf, den Rabes Lehrer*innen ihnen hät­te machen sol­len, hät­te auf sie wohl nicht zugetroffen.

Mein Opa war in der SPD, nicht in der NSDAP. Die SPD war ab dem 22. Juni 1933 als „volks- und staats­feind­li­che Orga­ni­sa­ti­on“ ver­bo­ten. Der Bru­der mei­nes Groß­va­ters war bis zum Ver­bot am 28. Febru­ar 1933 in der SAJ (Sozia­lis­ti­sche Arbei­ter-Jun­gend). Er hat ein Jahr und neun Mona­te im KZ Lich­ten­burg geses­sen, weil er Flug­blät­ter für eine Ein­heits­front aus KPD und SPD ver­teilt hat. 

Ankla­ge­schrift „gegen List und Genos­sen wegen Vor­be­rei­tung eines hoch­ver­rä­te­ri­schen Unter­neh­mens“ 19.09.1935

Der Groß­va­ter mei­ner Frau hat einem Juden ein Bahn-Ticket nach Wla­di­wos­tok gekauft, als Juden das schon längst nicht mehr konn­ten. Er hat ihm zur Flucht ver­hol­fen. Mit Hil­fe eines israe­li­schen Kol­le­gen habe ich sei­nen Nef­fen in Isra­el aus­fin­dig gemacht und mein Schwa­ger hat ihn dann dort besucht. Der Groß­va­ter war Lei­ter des Arbeits­am­tes in Ins­ter­burg. Er saß in der Nazi­zeit mehr­fach im Gefäng­nis und stand mehr­fach vor Gericht. Ein­mal hat ein Kind eines Men­schen aus sei­ner Freun­des­grup­pe sie ver­ra­ten: Sie hat­ten Radio Lon­don gehört. Er konn­te sich vor Gericht dar­auf beru­fen, dass die Aus­sa­ge eines Kin­des nicht zäh­len wür­de. Ande­re aus dem Freun­des­kreis kann­ten sich nicht aus und wur­den ver­ur­teilt. Er wur­de oft von Men­schen gewarnt, denen er frü­her Arbeit ver­schafft hat­te. Beim drit­ten Mal Schutz­haft half ihm der Poli­zei­di­rek­tor: Die ande­ren Ange­klag­ten wur­den ins KZ Dach­au abtrans­por­tiert, der Poli­zei­prä­si­dent hielt den Groß­va­ter zurück mit der Behaup­tung, es habe kei­nen Platz mehr in den Trans­por­ten nach Dach­au gegeben.

Ein Ange­hö­ri­ger der Fami­lie mei­ner Frau hat sich im Krieg gewei­gert, nor­we­gi­sche Zivilist*innen (Par­ti­sa­nen) zu erschie­ßen und wur­de selbst erschos­sen. Ein Cou­sin mei­nes Vaters ist in Nor­we­gen mit einer Nor­we­ge­rin deser­tiert und wur­de erschossen.

Schrei­ben der Deut­schen Dienst­stel­le für die Benach­rich­ti­gung der nächs­ten Ange­hö­ri­gen der ehe­ma­li­gen deut­schen Wehr­macht, 07.04.2017

Der Cou­sin scheint sei­ne Waf­fe mit­ge­nom­men zu haben. Also: ein­mal Ver­wei­ge­rung des Schie­ßens aus Mensch­lich­keit, ein­mal Fah­nen­flucht aus Lie­be. „Todes­an­zei­gen oder Nach­ru­fe in Zei­tun­gen, Zeit­schrif­ten und der­glei­chen sind verboten.“

Sind wir schul­dig? Als Men­schen mit deut­schem Blut? Was ist das für ein ras­sis­ti­scher Unsinn! Soll­ten wir uns nicht alle dar­an mes­sen, was wir jetzt tun? Wie wir die Taten ande­rer ein­ord­nen? An unse­rer Mensch­lich­keit? Am 4.11.1989 gab es eine gro­ße Demons­tra­ti­on am Alex­an­der­platz. Die ers­te freie Demons­tra­ti­on in der DDR. Ich lief im Anti­fa-Block mit. Die Sta­si hat Bil­der von die­sem Block gemacht (sie­he Wag­ner, 2018, Ver­tusch­te Gefahr: Die Sta­si & Neo­na­zis).

© BStU, MfS HAXX, Fo 1021, Bild 57

Bin ich schul­dig? Muss ich mich schä­men? Ich habe nichts getan! Ich war sie­ben Mal in Buchen­wald (sie­he Weim­ar­ta­ge der FDJ) und auch in Sach­sen­hau­sen, in Ausch­witz. Ich habe mich inten­siv mit der deut­schen Ver­gan­gen­heit aus­ein­an­der­ge­setzt, aber ich konn­te die 1000 Jah­re zwi­schen 1933 und 1945 an kei­ner Stel­le beein­flus­sen. Denn ich war da noch nicht geboh­ren. Für mei­ne Eltern kann ich nichts, aber für mei­ne Kin­der. Ich wür­de mich schä­men, wenn sie in die AfD ein­tre­ten wür­den und/oder die Ver­nich­tung von Men­schen pla­nen würden.

Demoteilnehmer*innen mit Schil­dern „‘Remi­gra­ti­on’ ??? No way, AfD!“, „Dan­ke! Mama & Papa, dass ich kein Nazi gewor­den bin!!!“ und „Oh Schie­ße.“ und einem aus AfD-Pfei­len zusam­men­ge­setz­ten Haken­kreuz. Reichs­tag, Ber­lin, 21.01.2024

Scham

Anne Rabe wird zum Opfer ihrer Vor­stel­lun­gen von Kol­lek­tiv­schuld. Wie ich oben geschrie­ben habe: Sip­pen­haft ist die fie­se klei­ne Schwes­ter von Kol­lek­tiv­schuld. Das schreibt Rabe selbst:

Mei­ne Eltern hat­ten stu­die­ren kön­nen und hat­ten es des­halb auch nach dem Sys­tem­wech­sel leich­ter. Wir waren pri­vi­le­giert und ret­te­ten einen Teil die­ser Pri­vi­le­gi­en mit in die neue Zeit. Mut­ter und Vater wür­den sich auf dem Arbeits­markt eta­blie­ren kön­nen. Nicht ohne Pro­ble­me, nicht ohne Arbeits­lo­sig­keit, nicht ohne Umschu­lun­gen und die berühm­ten Brü­che in den Erwerbs­bio­gra­fien, aber sie hat­ten bes­se­re Start­chan­cen als die meis­ten der­je­ni­gen, die das Sys­tem zum Ein­sturz gebracht haben. Bes­se­re Chan­cen als die­je­ni­gen, denen auch ich mei­ne Frei­heit zu ver­dan­ken habe. Ich schä­me mich dafür. Immer noch.

S. 155

Jedes Mal, wenn ich von Hohen­schön­hau­sen, Tor­gau oder ande­ren Dun­kel­or­ten der DDR hör­te, wur­de ich von einer Scham­wel­le fort­ge­schwemmt, aus der ich mich nur lang­sam her­aus­kämp­fen konn­te, indem ich sorg­sam alles studierte.

S. 99

Aber wie­so schämt sich Rabe für ihre Eltern? Sie kann nichts für ihre Eltern. Sie hat sich sogar von ihnen los­ge­sagt. Damit ist doku­men­tiert, dass sie deren Hal­tung und ihre Gewalt­tä­tig­keit ablehnt. Rabe soll­te sich nicht für ihre Eltern schä­men. Aber sie könn­te sich zum Bei­spiel für die inhalt­li­chen Feh­ler in ihrem Buch schä­men. Für ihre Unin­for­miert­heit. Für ihre nicht erfolg­te Recher­che zu The­men, über die sie geschrie­ben hat. Für den Scha­den, den sie damit ange­rich­tet hat. All ihre Feh­ler sind in Kei­ne Gewalt! Zu Mög­lich­kei­ten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch in die­sem Blog-Bei­trag doku­men­tiert. Oder für ihre Nai­vi­tät bzw. Durch­trie­ben­heit, auf die ich wei­ter unten zu spre­chen komme.

Reden

Anne Rabe mahnt in ihrem Buch an, dass wir doch mit­ein­an­der reden soll­ten. Dass wir Ossis unse­re dunk­le Ver­gan­gen­heit auf­ar­bei­ten soll­ten. Aber sie selbst hat nicht gere­det. Das Ver­sa­gen liegt auch bei ihr. Hier eini­ge Pas­sa­gen aus dem Buch:

Ich bin ein­fach wütend. Auch auf Adas Eltern. 

Auch sie haben uns im Stich und mit der gan­zen Geschich­te allein­ge­las­sen. Adas Vater hat über die roten Socken gespro­chen, über sein Radar, das da anging bei mei­nen Eltern und ande­ren. Sein Hass, sei­ne Wut, sie sind berech­tigt gewe­sen. Aber statt sich mit denen aus­ein­an­der­zu­set­zen, die dafür die Ver­ant­wor­tung tru­gen, statt mit ihnen die Din­ge zu klä­ren, hat er am Küchen­tisch sei­ne Reden geschwun­gen und eben mich spü­ren las­sen, wie wenig er mich lei­den konnte.

S. 155–156

Adas Eltern waren Systemgegner*innen. Sie durf­ten nicht stu­die­ren und haben unter der DDR gelit­ten. Unter Men­schen wie Rabes Eltern. Und jetzt ver­langt sie, dass die, die all das erlit­ten haben, zu denen gehen, die sich schul­dig gemacht haben, und sich mal aussprechen?

Das zeigt ganz klar, dass sie das alles nicht ver­stan­den hat. Sie hat nicht ver­stan­den, was Bau­sol­dat-Sein bedeu­tet hat. Man hat­te sich kom­plett aus der rest­li­chen Gesell­schaft aus­ge­klinkt. Man konn­te höchs­tens noch Theo­lo­gie stu­die­ren. Ich war an einer Spe­zi­al­schu­le mathe­ma­ti­scher Rich­tung. Es gab dort einen Jun­gen, der nahm an inter­na­tio­na­len Mathe­olym­pia­den teil. Er war geni­al. Er hat sich schon in der Schu­le gewei­gert, an dem zwei­wö­chi­gen GST-Lager, in dem wir auch mit auto­ma­ti­schen Waf­fen geschos­sen haben, teil­zu­neh­men. Die para­mi­li­tä­ri­sche Aus­bil­dung in der Schu­le war Pflicht. Der Schü­ler ist dann Schä­fer geworden. 

Ada hat mir erzählt, dass er in der DDR den Wehr­dienst an der Waf­fe ver­wei­gert hat, was nur ging, wenn man sich den »Bau­sol­da­ten« zutei­len ließ. Das hat­te Kon­se­quen­zen. Mie­se Schi­ka­nen wäh­rend und nach der Dienst­zeit – ein sehr bewusst gewähl­tes Außen­sei­ter­tum, einer Gesell­schaft zum Trotz, die einem kei­ne Wahl las­sen woll­te. Der Preis, den Adas Vater für sei­ne mora­li­sche Inte­gri­tät hat­te zah­len müs­sen, war hoch. Sein gan­zes Leben wür­de davon bestimmt sein. Auf ein Stu­di­um brauch­te er nicht mehr zu hof­fen und über­all, wo es sich anzu­stel­len galt, hat­te er sich ganz hin­ten ein­zu­rei­hen. Das hat­te ihn den­noch nicht davon abge­hal­ten, für sei­ne Über­zeu­gun­gen einzustehen.

S. 154

Jeder Kon­takt mit dem Sys­tem und des­sen Kin­dern war poten­ti­ell gefähr­lich und in jedem Fall anstren­gend. Als Bau­sol­dat war man als Sys­tem­geg­ner akten­kun­dig gewor­den. Viel­leicht wur­de man bespit­zelt. Rund um die Uhr. Arbeits­kol­le­gen mel­de­ten Auf­fäl­lig­kei­ten. Und sie ver­langt jetzt von den Oppo­si­tio­nel­len, dass sie mit ihren Eltern spre­chen? Zwar nach der Wen­de, aber ???

Völ­lig unklar.

So wie Gei­pel und Kaha­ne es nicht ver­ste­hen kön­nen, dass sie als rote Socken abge­lehnt wur­den, hat Rabe nicht ver­stan­den, wie die DDR war und was man da nach der Wen­de gemacht hat und was nicht. Wir waren froh, dass wir Krenz & fri­ends los waren. Mit denen woll­te man nicht mehr reden. Ganz davon abge­se­hen, dass nach der Wen­de alle im Über­le­bens­kampf waren, was Rabe ja auch selbst schreibt.

Wie kann Rabe eine Blut­schuld für das gesam­te deut­sche Volk und alle Nach­fah­ren for­dern, für sich selbst aber ver­lan­gen, dass ihre Gegen­über ihr unvor­ein­ge­nom­men begeg­nen? Müss­te die­se Blut­schuld nicht auch für sie gel­ten? Und für Anet­ta Kaha­ne, deren Vater das Neue Deutsch­land, Zen­tral­or­gan der SED, gelei­tet hat? Und für Ines Gei­pel, deren Vater IM war und laut ihrem Wiki­pe­dia-Ein­trag für „das Aus­spä­hen von Objek­ten und die Vor­be­rei­tung von Sabo­ta­ge auf dem Gebiet der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land“ zustän­dig (Hart­wich & Mascher, 2007)? Ist Unfug, oder? Anet­ta Kaha­ne war übri­gens selbst IM, nicht ihre Eltern. Sie hat ihre jüdi­schen Kum­pels verpfiffen.

Ja, Adas Vater hät­te sie nicht ableh­nen sol­len, so wie es auch von ihrer Leh­re­rin unpro­fes­sio­nell war, sie auf­grund ihrer Her­kunft aus­zu­schlie­ßen. Gera­de in der Grund­schu­le, wo ein betrof­fe­nes Kind das wahr­schein­lich nicht ver­ste­hen kann. Aber als erwach­se­ne Frau, und das ist die Ich-Erzäh­le­rin ja, soll­te sie die Situa­ti­on damals so weit ein­schät­zen kön­nen, dass sie die Hand­lun­gen der Akteur*innen ver­steht. Aber das kann sie nicht, denn sie hat nicht mit ihnen gespro­chen (ja, ja, das ist nur ein Roman, aber sol­che Roma­ne wür­de man dann hal­te eben nicht schrei­ben, hät­te man mit Men­schen gesprochen):

Aber das ist nicht der ein­zi­ge Grund, war­um ich das Gespräch mit Adas Eltern plötz­lich scheue. Ich will kei­ne Abso­lu­ti­on von ihnen, kei­ne spä­te Ver­brü­de­rung mit den­je­ni­gen, die auf mei­ne Eltern und ihr gan­zes Sys­tem zu Recht wütend waren. Ich woll­te mich auch nicht als die­je­ni­ge pro­du­zie­ren, die nun ihre Haus­auf­ga­ben gemacht und im Gegen­satz zu den ewig Gest­ri­gen ver­stan­den hat­te, aus was für einem Land sie kam.

S. 155

Hät­te sie mit ihnen gespro­chen, wüss­te sie, dass Christ*innen in der DDR dazu genö­tigt wur­den, vor der gan­zen Klas­se auf­zu­ste­hen. „Wer von Euch glaubt an Gott? Du, Sabi­ne? Dann steh mal bit­te auf. Wer noch?“

Rabe schreibt:

Die Ange­hö­ri­gen der Opfer erfuh­ren nichts über den Ver­bleib ihrer Kin­der, Väter, Müt­ter, Tan­ten, Onkel, Nach­barn und Freun­de. Das Schwei­gen dar­über war so total, dass heu­te kaum noch jemand um die Ver­bre­chen der Anfangs­zeit der DDR weiß, obwohl es nahe­zu kei­ne Fami­lie geben kann, die davon unbe­rührt blieb.

S. 265

Ich habe es immer geahnt: Ich bin ein­zig­ar­tig! Ich bin der ein­zi­ge Ossi, der irgend­wie wuss­te, dass in den 50ern Men­schen abge­holt wur­den. Dass es Men­schen gab, die Angst hat­ten, wenn Auto­tü­ren klapp­ten, weil sie dach­ten, jetzt wür­den sie geholt.

Sor­ry, Frau Rabe. „Auf der Suche nach Gatt“ wur­de in der Schu­le behan­delt. Da wur­de uns natür­lich erklärt, dass das am 17. Juni die Kon­ter­re­vo­lu­ti­on war. Aber man konn­te sei­ne Eltern fra­gen, was da war, was sie gemacht haben.

Der ande­re Teil mei­ner Fami­lie kommt aus Frankfurt/Oder, einer Bezirks­haupt­stadt, der ach­zehnt­größ­ten Stadt in der DDR, von der Sie schrei­ben: „Irgend­was Klei­nes in Bran­den­burg“. Die Mut­ter hat in der Bahn­hofs­mis­si­on gear­bei­tet. Der Vater war in den letz­ten Kriegs­ta­gen gefal­len, als er sich vom Volks­sturm abge­setzt hat­te und von einer irr­lich­tern­den Gra­na­te erwischt wur­de. Allein­ste­hen­de Frau mit fünf Kin­dern. Sie wur­de ein­ge­sperrt. Das wis­sen wir, das weiß die gan­ze Fami­lie, das weiß deren Umfeld. Christ*innen in der DDR wis­sen das. Sie haben halt nicht mit Ihnen drü­ber gespro­chen und hät­ten das zu DDR-Zei­ten auch nicht getan. Weil sie aus einer Funk­tio­närs­fa­mi­lie kom­men. Mein Gott!

Sie for­dern eine Auf­ar­bei­tung der SED-Zeit und Rezen­sen­ten grei­fen das begeis­tert auf: Ja, die Ossis sol­len mal ihren Dreck im Kel­ler auf­ar­bei­ten, so wie wir es ja getan haben 1968.

War Ihre Fami­lie in das SED-Regime ver­wi­ckelt? Gab es in Ihrer Fami­lie Mit­ar­bei­ter der Staats­si­cher­heit? Wür­den Sie sagen, dass Ihre Fami­lie zu DDR-Zei­ten eher Täter oder Opfer waren? Gehör­ten Sie zu den Mit­läu­fern? Hat Ihre Fami­lie vom SED-Regime pro­fi­tiert? Gibt es in Ihrer Fami­lie Mit­glie­der, die auf Grund ihres Glau­bens oder ihrer poli­ti­schen Über­zeu­gung ver­folgt wur­den? Hat Ihre Fami­lie akti­ven Wider­stand gegen das SED-Regime geleis­tet? Ist es wich­tig, dass kom­men­de Gene­ra­tio­nen in der Schu­le über das Unrecht, das in der ehe­ma­li­gen DDR began­gen wur­de, auf­ge­klärt werden?

Die­se Fra­gen wer­den nicht gestellt. Man befragt uns nicht dazu und misst dar­an auch nicht den Grad unse­res poli­ti­schen Bewusst­seins oder den Zustand der Republik.

S. 73

Sor­ry, Frau Rabe, da haben Sie wohl einen Dit­sch von ihrem Eltern­haus mit­be­kom­men. Wer ist denn „man“? Wer soll denn was fra­gen? Der Staat uns? Soll­ten wir das nicht selbst tun? Und ja, 1) hat der Staat uns befragt bzw. unse­re Daten abge­fragt und 2) haben wir mit­ein­an­der gere­det. Das pas­sier­te in den 90ern ziem­lich inten­siv. Nur haben Sie davon nichts mit­be­kom­men, weil Sie da noch zu klein waren. Das kann man Ihnen nicht vor­wer­fen, was man Ihnen vor­wer­fen kann, ist, dass Sie selbst nicht reden woll­ten (sie­he oben) und dass Sie auch nicht recher­chiert haben. Über „Wir müs­sen alle mal reden und wir brau­chen ein 68 für den Osten“ habe ich auch in Gewalt­er­fah­run­gen und 1968 für den Osten noch aus­führ­li­cher besprochen.

Berlinerisch

Auf S. 210 schreibt Anne Rabe zum Berlinischen:

Zwar ist es in der intel­lek­tu­el­len Land­schaft Ost­ber­lins ganz schick gewe­sen, den Jar­gon der Arbei­ter zu imitieren

S. 210

Anne Rabe hat an der FU-Ber­lin ab 2005 Ger­ma­nis­tik und Thea­ter­wis­sen­schaf­ten stu­diert. Als ich dort 2007 anfing, war sie wahr­schein­lich schon weg. An der FU lehr­te damals noch Prof. Nor­bert Ditt­mar, der zum Ber­li­ni­schen geforscht hat. Aber eigent­lich braucht es kei­ne sprach­wis­sen­schaft­li­che Aus­bil­dung, um zu wis­sen, dass das Ber­li­nern in Ber­lin und Bran­den­burg in allen Bevöl­ke­rungs­schich­ten üblich war. Ich konn­te ber­li­nern, schon bevor ich mit Arbei­tern in Kon­takt gekom­men bin. Mei­ne Eltern sind aus Jena und Wit­ten­berg. Von denen habe ich es nicht gelernt. Das kam ganz nor­mal über den Kin­der­gar­ten und die Schu­le. So hat man gespro­chen. Ein Kol­le­ge, der in den 90ern an der HU stu­diert hat, hat Vor­le­sun­gen in der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft gehört, in denen der Dozent bes­tens ber­li­nert hat. Wir alle haben ber­li­nert. Vie­le sind zwei­spra­chig und kön­nen Stan­dard­spra­che und Dia­lekt spre­chen. Im Wes­ten hat man den Schüler*innen das Ber­li­nern aus­ge­trie­ben, so wie man in Bay­ern den Kin­dern das Bay­ri­sche abge­wöhnt hat. Ich habe genau einen Freund aus West­ber­lin, der ber­li­nert. Sonst spre­chen alle West-Ber­li­ner hochdeutsch.

Ein mög­li­cher Grund dafür, dass die Schu­len nicht ver­sucht haben, uns die Dia­lek­te abzu­er­zie­hen, könn­te natür­lich sein, dass auch Funk­tio­nä­re Dia­lekt spra­chen, aber das ist etwas Ande­res als das, was Anne Rabe geschrie­ben hat. 

Jugendweihe – unser erster subversiver Akt

Zur Jugend­wei­he schreibt Rabe:

Das zwei­te Bekennt­nis leg­te das Kind dann selbst ab. In der ach­ten Klas­se, also mit 14 Jah­ren, soll­te das sozia­lis­ti­sche Kind qua Jugend­wei­he in die Welt der Erwach­se­nen auf­ge­nom­men wer­den und muss­te dafür laut­hals gelo­ben, sich „mit gan­zer Kraft für die gro­ße und edle Sache des Sozia­lis­mus einzusetzen“.

S. 114–115

Ja, die Jugend­wei­he war lus­tig! Und es war ganz prak­tisch, dass wir alle ber­li­ner­ten (sie­he vori­gen Abschnitt). Wir soll­ten alle die­ses blö­de Gelöb­nis spre­chen bzw. dann immer jeweils nach einem Stück Text sagen: „Ja, das gelo­ben wir!“

Was wir statt­des­sen sag­ten, war: „Ja, das glo­ben wir.“, was über­setzt ins Stan­dard­deut­sche „Ja, das glau­ben wir.“ heißt. Wir hat­ten alle Spaß. Für vie­le war das ihr ers­ter sub­ver­si­ver Akt. Hat kei­ner gemerkt.

Funktionärssprache

Ich hat­te oben schon das Zitat zum Reden mit Oppo­si­tio­nel­len. Dar­in war fol­gen­der Satz enthalten:

Ich woll­te mich auch nicht als die­je­ni­ge pro­du­zie­ren, die nun ihre Haus­auf­ga­ben gemacht und im Gegen­satz zu den ewig Gest­ri­gen ver­stan­den hat­te, aus was für einem Land sie kam.

S. 155

Ewig Gest­ri­ge ist für mich Funk­tio­närs­spra­che. Die­se Flos­kel kam über­all vor: im Geschichts­un­ter­richt, im Staats­bür­ger­kun­de­un­ter­richt, im FDJ-Stu­di­en­jahr. Es ging um Revan­chis­ten und Reak­tio­nä­re. Nun also Ossis. Hm. Viel­leicht kommt die­se Phra­se auch im Wes­ten vor. Ich hät­te sie aber nicht in solch einem Roman verwendet.

Ein Scherz, oder?

Rabe schreibt als Ich-Erzählerin:

Hans ist das Licht des Lap­tops zu hell im Bett. Er stöhnt und will schla­fen. Um sechs klin­gelt sein Wecker. Als du den Com­pu­ter zuklappst, ist es nicht weni­ger hell. Der Mond scheint dich an. Du stehst auf und ziehst ins Wohn­zim­mer und schreibst: „Vol­ler Mond, du dum­me Sau/zieh dich zurück in dei­nen Ver­hau.“ Es geht doch. Geht doch noch.

Das ist ein Scherz, oder? Ich bin in der Lage Humor zu erken­nen. Ist das der ein­zi­ge fik­tio­na­le Teil im Roman? Oder doch mehr? Oder alles? Oder ist alles ernst?

Spinnen und Bananen

Anne Rabe bzw. ihre Ich-Erzäh­le­rin hat­te es schwer. Ihre Kind­heit war ent­beh­rungs­reich und hart. Sie muss­te auf ein Außen­klo gehen, auf dem es Spin­nen gab. Und grü­ne Bana­nen essen.

Lie­be Frau Rabe, ich hab da ein paar Tipps für Sie: Wenn man nicht möch­te, dass es an einem Ort Spin­nen gibt, kann man sich ein Glas und Papier neh­men. Das Glas stülpt man über die Spin­ne. Das Papier schiebt man unter das Glas und dann kann man die Spin­ne zurück in die Natur beför­dern. Ich weiß, Ihre Kind­heit war schwer, aber es gab hof­fent­lich Papier (zu mei­ner Zeit war das Papier knapp). Min­des­tens Klo­pa­pier wird es wohl gege­ben haben und das sogar an dem Ort, wo sie es hät­ten benut­zen kön­nen. Wenn es bei Ihnen kein Glas gab, gab es viel­leicht die­se Punkte-Becher: 

DDR-Design­klas­si­ker: Punk­te-Becher aus Plas­te, 23.02.2024

Man hat­te mit solch einem Becher lei­der kei­nen Sicht­kon­takt zur Spin­ne mehr, aber hey, Not macht erfin­de­risch. Wir Ossis haben eigent­lich immer noch alles hinbekommen. 

Und mit den grü­nen Bana­nen, das kann ich voll nach­voll­zie­hen. Die sind dann so kleb­rig. Aber auch da gibt es einen Trick: Man lässt die Bana­nen etwas lie­gen. Dann sind sie reif. Sie schrei­ben ja selbst, dass Sie schon ein­mal brau­ne Bana­nen gese­hen hätten. 

Die Bana­nen, die ich nicht moch­te, weil wir sie geges­sen haben, wenn sie noch grün waren. Ich dach­te lan­ge, sie wären schlecht, sobald sie ein paar brau­ne Stel­len hatten.

S. 18

Dann müss­ten Ihnen doch eigent­lich auch Bana­nen in mitt­le­rer Rei­fe unter­ge­kom­men sein. Hät­ten Sie sys­te­ma­tisch getes­tet, hät­ten Sie her­aus­fin­den kön­nen, dass man Bana­nen weder grün noch braun essen muss.

Übri­gens: Bei uns damals war es so, dass wir über­haupt kei­ne Bana­nen hat­ten. Auch kei­ne grü­nen. Also, wir schon, denn wir leb­ten in Ber­lin und Ber­lin wur­de immer bes­ser ver­sorgt als der Rest der DDR. Das hing damit zusam­men, dass die Wes­sis nicht mer­ken soll­ten, dass es bestimm­te Din­ge in der DDR nicht gab, wenn sie mal kurz ihr Mäd­chen aus Ost­ber­lin besuch­ten. Also wir hat­ten wel­che, aber Ihre Eltern in Wis­mar nicht. 

Kari­ka­tur von Bernd A. Chmu­ra. Bana­nen-Repu­blik, 1986. Aus dem Kata­log der X. Kunst­aus­stel­lung der DDR, Dres­den. 1987/1988. S. 429. Ber­lin bekommt die Bana­nen, die rest­li­che DDR die Schalen.

Bzw. sie hat­ten sehr sel­ten wel­che. Ich erin­ne­re mich an Bana­nen bei einer Kur in Ahl­beck. Die waren noch grün!!! In Ber­lin gab es aber auch nicht immer Bana­nen. Eigent­lich gab es Süd­früch­te immer so um die Weih­nachts­zeit, wes­halb Obst­sa­lat noch heu­te für mich mit Weih­nach­ten ver­bun­den ist. 

Obst­sa­lat in einer Schüs­sel von Kahla Thü­rin­gen Por­zel­lan, Ber­lin, 18.12.2021. Kahla Thü­rin­gen Por­zel­lan wur­de nach der Wen­de für eine DM an einen Rechtstan­walt ver­kauft, des­sen einiz­ge Qua­li­fi­ka­ti­on dar­in bestand, einen Bru­der bei der Treu­hand zu haben. Na, ich schwei­fe ab. Und man soll auch nicht so viel Infor­ma­ti­on in Bild­un­ter­schrif­ten packen.

Dass es die Süd­früch­te nur zu Weih­nach­ten gab, lag dar­an, dass Erich Hon­ecker erst zum Jah­res­en­de genü­gend DDR-Oppo­si­tio­nel­le in den Wes­ten ver­kauft hat­te, so dass dann die Bana­nen und Apfel­si­nen gekauft wer­den konn­ten. (Das war Sarkasmus.)

Übri­gens: Die Sze­ne mit der Bade­wan­ne. Ist das nicht genau­so wie das mit den grü­nen Bana­nen? Sti­nes Mut­ter, die Mut­ter der Ich-Erzäh­le­rin, war in der Küche, ihr Vater im Wohn­zim­mer. Sie stand in dem sehr hei­ßen Was­ser. War­um hat sie nicht ein­fach kal­tes Was­ser nach­ge­füllt? War­um hat sie sich und ihren klei­nen Bru­der in das hei­ße Was­ser gestellt? Ich weiß, sie war noch klein und es war eine Stress­si­tua­ti­on. Aber wenn das immer wie­der pas­siert ist, hät­te sie ja mal drü­ber nach­den­ken kön­nen. Oder war es viel­leicht doch nicht so? Oder kann man das in die­sem Alter noch nicht? Sie muss ja min­des­tens vier gewe­sen sein.

Mangelnde Eigenverantwortung und die Fahrt in den Abgrund

Ein ähn­li­cher Fall liegt bei der Schlit­ten­sze­ne vor, auf die mich mein Klas­sen­ka­me­rad Peer in sei­ner Dis­kus­si­on von Anne Rabes Buch auf Mast­o­don hin­ge­wie­sen hat:

Wenn ich mich an Tim erin­ne­re, spü­re ich ihn hin­ter mir auf dem Schlit­ten sit­zen. Damals in Tsche­chi­en, im Rie­sen­ge­bir­ge. Er klam­mert sich an mich, und wir fah­ren im Affen­zahn einen Berg hin­un­ter. Er ver­traut mir, ver­traut dar­auf, dass ich die Kur­ve noch krie­ge vor dem Abhang. Ich brül­le: „Len­ken, Tim­mi, du musst den Fuß raus­hal­ten!“ Aber Tim, der jün­ger ist als ich, viel­leicht sechs oder sie­ben, weiß nicht, was ich mei­ne, und so grei­fe ich mit mei­nem rech­ten Arm hin­ter mich und rufe: „Spring!“ Der Schlit­ten saust ohne uns den Abhang hinunter.

S. 11

Die Fra­ge ist: Wie­so hat die Ich-Erzäh­le­rin nicht selbst die Füße raus­ge­stellt? Ist Sti­ne so? Ist Anne Rabe so? War­um greift sie nicht ein? Wenn so viel Zeit ist, dem zwei Jah­re jün­ge­ren Bru­der Anwei­sun­gen zu geben, war­um bremst SIE dann nicht? Ist das der bei Ossis immer wie­der kli­schee­haft beschwo­re­ne Man­gel an Eigen­ver­ant­wor­tung (sie­he auch Leser­brief zum mei­nem Arti­kel in der Ber­li­ner Zei­tung)? Oder nur ein schie­fes Bild im Roman? Schlech­te Literatur?

Schlagersüßtafel

Zum The­ma Schla­ger­süß­ta­fel schreibt Anne Rabe:

Dar­über, wie die Revo­lu­ti­on 89/90 auch durch die klei­ne Stadt gefegt war, schwieg sich mei­ne Fami­lie aus. Die DDR war den­noch oder gera­de des­halb selt­sam prä­sent. Ein ver­lo­re­ner Sehn­suchts­ort. Ein Ort, an dem alles gut war und »wisst ihr noch, die Schla­ger­süß­ta­fel?«. Die­se Scho­ko­la­de kam in fast allen Erzäh­lun­gen der Eltern vor. Auch wenn sie sich ganz gut ein­ge­lebt hat­ten im schlech­te­ren Deutsch­land, schien die Tat­sa­che, dass es die Schla­ger­süß­ta­fel nicht mehr zu kau­fen gab, von grö­ße­rer Bedeu­tung zu sein als das Haus, das sie nun bau­ten, die Urlau­be, in die wir fuh­ren, und der Ten­nis­kurs, den sie absol­vier­ten. Irgend­wann kamen sie zurück – die Ost­pro­duk­te. Sie füll­ten gan­ze Mes­se­hal­len und auch die Rega­le in unse­rem Super­markt. Plötz­lich gab es wie­der Bam­bi­na, Nudo­s­si, Puffreis und Fil­in­chen. Das ers­te Stück Schla­ger­süß­ta­fel aber war eine Ent­täu­schung. So hat­te sie also geschmeckt, die­se DDR? Nach nichts, noch nicht ein­mal nach Kakao­pul­ver. Ver­mut­lich war das gar kei­ne Schokolade.

S. 256

Schla­ger­süß­ta­fel wird in Wiki­pe­dia als Genuss­mit­tel gelis­tet. Aber ich muss Anne Rabe Recht geben: Schla­ger­süß­ta­fel war unge­nieß­bar. Ich habe in Schla­ger­süß­ta­fel und Klas­sen­kei­le bereits dar­über geschrie­ben: Wir hat­ten sie gekauft, weil wir dach­ten, es wären Bil­der von Schlagersänger*innen drin. Da sie zum Essen nicht taug­te, benutz­ten wir sie, um Bau­ar­bei­ter zu bewer­fen. Wie es dann wei­ter­ging, müsst Ihr in dem ande­ren Blog-Post lesen.

Wiki­pe­dia kann man auch die Zuta­ten ent­neh­men. Ein biss­chen Kakao war drin, aber nur 7%. Übri­gens lus­tig: Beim Lesen der Zuta­ten muss­te ich an die Mut­ter des Ich-Erzäh­lers von Stern 111 den­ken. Sie war Lebens­mit­tel­tech­ni­ke­rin und ihre Auf­ga­be war es, Ersatz­le­bens­mit­tel aus in der DDR ver­füg­ba­ren Roh­stof­fen zu kre­ieren. Viel­leicht war sie ja an der Krea­ti­on der Schla­ger­süß­ta­fel betei­ligt. Stern 111 ist übri­gens ein sehr gelun­ge­ner Nach­wen­de­ro­man. Wer wis­sen will, wie es vor der Wen­de war, soll­te Der Turm und Kro­ko­dil im Nacken lesen.

Plagiat? Nee! Oder doch?

In einem Bei­trag in der Neu­en Züri­cher Zei­tung schreibt Peer Teuw­sen, dass Anne Rabes Roman auf den Schul­tern von Ines Gei­pel ste­hen wür­de. Es wer­den drei Stel­len ange­führt. In einer fah­ren Kin­der Schlit­ten, in der zwei­ten trägt ein Vater sei­nen Sohn auf den Schul­tern und in der drit­ten spre­chen Kin­der über das Stern­bild gro­ßer Wagen. Pla­gi­at ist mein drit­tes Hob­by. Ich bin selbst pla­giert wor­den und habe ein ent­spre­chen­des Ver­fah­ren ein­ge­lei­tet. Ich war in einer Pla­gi­ats­kom­mis­si­on, die sich mit einer pla­gier­ten Dis­ser­ta­ti­on aus­ein­der­ge­setzt hat. Ich habe die­ses Jahr ein Pla­gi­at in einer BA-Arbeit gefun­den und ein 80seitiges Gut­ach­ten über ein Buch und das rest­li­che Werk eines sys­te­ma­tisch pla­gie­ren­den Autors ver­fasst. Der Vor­wurf des Pla­gi­ats gegen Rabe ist lächer­lich. (Nach­trag 29.06.2024: Aber sie­he unten.) Die Text­stel­len, die Teuw­sen anführt, sind kom­plett ver­schie­den, ja, sie haben inhalt­lich außer den oben genann­ten The­men selbst nichts mit­ein­an­der zu tun.

Die Ant­wort des Ver­lags ist interessant:

„Die Ähn­lich­kei­ten sind aus unse­rer Sicht zufäl­lig und allen­falls dadurch bedingt, dass die Bücher der bei­den Autorin­nen the­ma­tisch so nahe bei­ein­an­der lie­gen. Die Autorin­nen haben einen ähn­li­chen Blick auf die DDR und es gibt bio­gra­fi­sche Par­al­le­len (so haben bei­de Autorin­nen jün­ge­re Brü­der und kom­men aus einem sys­tem­na­hen Milieu)“, schreibt Rabes Verlag.

Peer Teuw­sen. 2023. Ver­heim­lich­te Nähe. NZZ.

Die Brü­der sind viel­leicht rele­vant, DDR ist kom­plett irrele­vant und Sys­tem­nä­he auch. Schlit­ten, Brü­der und den Gro­ßen Wagen gibt es auch im Wes­ten. Jeden­falls kann man Teuw­sens Arti­kel ent­neh­men, dass Gei­pel und Rabe befreun­det waren: „Die Älte­re fand es wun­der­bar, dass eine jün­ge­re Autorin sich ihrer The­men annimmt und ihnen eine neue Stim­me verleiht.“

Also kein Pla­gi­at, aber der Ein­fluss von Ines Gei­pel ist wahr­schein­lich für das gesam­te Ideen­ge­flecht rele­vant: Funk­tio­närs­kin­der kri­ti­sie­ren den Osten. Wie ich in mei­nem Blog­post Der Ossi und der Holo­caust gezeigt habe, lügt Ines Gei­pel. Es geht Ihr und Anet­ta Kaha­ne, eben­falls Funk­tio­närs­kind, nicht um eine Auf­ar­bei­tung von Unrecht. Sie stel­len Din­ge wahr­schein­lich bewusst falsch dar. Wie ich damals schon sag­te: Ent­we­der sie lügen bewusst oder sie sind unwis­send. Bei­des wäre schlecht, wenn man sich so weit aus dem Fens­ter lehnt. Und das ist auch für Anne Rabe so, wie ich in Kei­ne Gewalt! Zu Mög­lich­kei­ten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch hier gezeigt habe: Ent­we­der sie lügt bewusst oder sie ist unwis­send. Wahr­schein­lich das Letz­te­re. Scha­de nur, dass sie damit solch einen Scha­den anrichtet.

Nach­trag vom 29.06.2024: In „Ines Gei­pel lügt“ habe ich eine Doku­men­ta­ti­on des MDRs zu Ines Gei­pels Behaup­tun­gen zu ihrer Ver­gan­gen­heit als Leis­tungs­sport­le­rin bespro­chen und auch wie sie gegen Gegner*innen vor­geht. Es sieht also so aus, als hät­te sie all­ge­mein Pro­ble­me mit der Wahr­heit und ihre Behaup­tun­gen in Bezug auf den Umgang mit dem Holo­caust gehen nicht auf Unwis­sen­heit zurück. Ich habe jetzt ihr Buch Umkämpf­te Zone. Mein Bru­der, der Osten und der Hass gele­sen und habe dort erfah­ren, dass sie das Buch Nackt unter Wöl­fen kann­te und auch in Buchen­wald war. 

Zum The­ma Pla­gi­at kann man fol­gen­des fest­hal­ten: Das Buch von Anne Rabe ist von der Struk­tur genau par­al­lel zu Ines Gei­pels Buch auf­ge­baut. Es gibt kur­ze Kapi­tel mit Impres­sio­nen aus dem Pri­vat­le­ben und dann län­ge­re essay­is­ti­sche Abschnit­te mit poli­ti­scher Ana­ly­se. Die The­men sind sehr ähn­lich. Ins­ge­samt gibt es einen ent­schei­den­den Unter­schied: Bei Ines Gei­pel gibt es ein rela­tiv lan­ges Quel­len­ver­zeich­nis mit 79 Ein­trä­gen, über­wie­gend Fach­auf­sät­zen zur DDR; das Quel­len­ver­zeich­nis von Anne Rabe ent­hält 14 Ein­trä­ge, von denen die meis­ten Gedicht­samm­lun­gen, Roma­ne oder Fil­me sind, aus denen sie ihren Kapi­teln Aus­zü­ge vor­an­ge­stellt hat: Bach­mann, Brasch, Brecht, Inge Mül­ler, Einar Schle­ef, Wera Küchen­meis­ter. Dazu ein Gesetz und ein all­ge­mei­ner Ver­weis auf das Sta­si-Unter­la­gen-Archiv. Die Qua­li­tät der Bücher ins­ge­samt spie­gelt sich an den Quel­len­ver­zeich­nis­sen: Pro­fes­so­rin mit Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik auf der einen Sei­te und Per­son mit abge­bro­che­nen Ger­ma­nis­tik­stu­di­um auf der ande­ren Sei­te. Rabes Aus­re­de, sie habe ja kein Sach­buch geschrie­ben, ist lahm. Sie hat bzw. woll­te genau so ein Buch schrei­ben wie Gei­pel. Sie hät­te ein Quel­len­ver­zeich­nis gebraucht und in die­sem hät­te Gei­pel zitiert wer­den müs­sen. Und Teuw­sen ist zuzu­stim­men: Ines Gei­pel hät­te in den Dank­sa­gun­gen als Ideen­ge­be­rin genannt wer­den müs­sen. Inter­es­san­ter­wei­se gibt es bei Gei­pel eine Behaup­tung, die Rabe von dort über­nom­men zu haben scheint. Sol­che Über­nah­men fal­len auf, wenn das Über­nom­me­ne falsch ist. Gei­pel schreibt:

26. April 2002. Der ers­te Schul­a­mok­lauf in Deutsch­land, die öffent­li­chen Mor­de eines Gym­na­si­as­ten, das Unvor­stell­ba­re schlechthin.

Ines Gei­pel, 2019: Umkämpf­te Zone. Mein Bru­der, der Osten und der Hass, Stutt­gart: Klett-Cot­ta. S.110 des E‑Books.

Die­sel­be Behaup­tung fin­det sich bei Anne Rabe und wie ich im Bei­trag zu den Amok­läu­fen gezeigt habe, ist die Behaup­tung falsch: Der ers­te Amok­lauf war 1871 in Saar­brü­cken und dann gab es noch vie­le wei­te­re. Mit Schuss­waf­fen und Flam­men­wer­fern usw. Zum Bei­spiel 1964 in Köln, 1983 in Eppstein, Hessen. 

Also: Ja, es gibt auch hier ein Pro­blem bei Anne Rabe. 

Antisemitismus und Nationalismus

Auf S. 271 kommt mal eben so eine Aus­sa­ge zu Anti­se­mi­tis­mus und Nationalismus: 

Auch waren Anti­se­mi­tis­mus und Natio­na­lis­mus wich­ti­ge Bestand­tei­le der sowje­ti­schen und real­so­zia­lis­ti­schen Ideologie.

S. 271

Wo hat sie das nur her? Quel­len? Na, viel­leicht von Gei­pel. Dass Anet­ta Kaha­ne und Ines Gei­pel gelo­gen haben (oder extrem unwis­send sind), wenn sie behaup­ten, der Holo­caust sei im Osten nicht vor­ge­kom­men, habe ich schon in Der Ossi und der Holo­caust bespro­chen. Zum (fast) nicht vor­han­de­nen Anti­se­mi­tis­mus in der DDR hat die Jüdin Danie­la Dahn viel geschrie­ben. Man­ches ist auch im Holo­caust-Post erwähnt. Ande­re Sachen bespre­che ich im Post über die Aus­stel­lung über jüdi­sches Leben in der DDR, die vom jüdi­schen Muse­um orga­ni­siert wurde.

Ich habe diver­se Inter­views mit Anne Rabe gele­sen und in einem Inter­view von Cor­ne­lia Geiß­ler von der Ber­li­ner Zei­tung steht:

Auch der His­to­ri­ker Patri­ce G. Pou­trus, der eher Osch­manns Gene­ra­ti­on ange­hört, hat beob­ach­tet, dass Rech­te und Rechts­extre­me im Osten auf ein fes­tes natio­na­lis­ti­sches Welt­bild trafen.

Geiß­ler, Cor­ne­lia. 2023. Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzäh­len“. Ber­li­ner Zei­tung.

Ich bin ja immer bereit, Neu­es zu ler­nen und dach­te mir: „Gut, mal gucken, was der His­to­ri­ker Pou­trus her­aus­ge­fun­den hat.“ Als ers­tes: Kur­zer Chek: Er ist aus dem Osten. Also gut, mal gucken. Bei der Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung habe ich einen Auf­satz von ihm gefun­den, den er gemein­sam mit Jan C. Beh­rends und Den­nis Kuck ver­fasst hat: His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern. Ich hat­te erst vie­le Punk­te, die in die­sem Arti­kel dis­ku­tiert wer­den, hier bespro­chen, aber dadurch wur­de der Post hier zu lang und zu unüber­sicht­lich. Des­halb habe ich die Dis­kus­si­on in den Post „His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern“: Kom­men­ta­re zu einem Auf­satz von Patri­ce G. Pou­trus, Jan C. Beh­rends und Den­nis Kuck ausgelagert.

Einen mei­ner Mei­nung nach ent­schei­den­den Bestand­teil des Natio­na­lis­mus erwäh­nen die Autoren nur im Vor­über­ge­hen im Nach­wort: den natio­na­len Tau­mel in der Wie­der­ver­ei­ni­gung. Die­ser war vom Wes­ten gewollt und geför­dert. Die Ost-Lin­ken haben das damals gese­hen und sich davor gefürch­tet. Mein Freund XY hat mir die bei­den fol­gen­den Gra­fi­ken geschenkt.

Men­schen, die ihren Kopf in der Hand hal­ten. Ein Hit­ler­kopf liegt am Stra­ßen­rand. Der Him­mel ist schwarz.
1989

Dank ich an angst in der Nacht Herz­li­chen Glück­wunsch zur Wiedervereinigung

Deutsch­tü­me­lei! Natio­na­lis­mus! Das kam von der Bun­des­re­gie­rung. Nicht in Ber­lin. In Ber­lin wur­de Kohl ausgebuht. 

In Sach­sen wur­de er mit offe­nen Armen emp­fan­gen. Er hat den Ossis blü­hen­de Land­schaf­ten ver­spro­chen. Von Oskar Lafon­taine, des­sen Herz links schlug, und der damals Kanz­ler­kan­di­dat der Par­tei war, in der auch Anne Rabe Mit­glied ist, woll­te nie­mand etwas Wis­sen. Er hat die Wahr­heit gesagt. Aber „die Wahr­heit ist häss­lich und hat stin­ken­den Atem“.

Sicher ist alles nicht mono­kau­sal. Ande­re mög­li­che Ursa­chen wer­den im genann­ten Blog-Post diskutiert.

Nazis aus dem Westen

Im Post „His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern“: Kom­men­ta­re zu einem Auf­satz von Patri­ce G. Pou­trus, Jan C. Beh­rends und Den­nis Kuck ver­lin­ke ich einen Fern­seh­bei­trag, der zeigt wie der CDU-Innen­mi­nis­ter Jörg Schön­bohm einen Jugend­club mit Nazi-Skins besucht und die Jugend­li­chen dort pri­ma fin­det. Schön­bohm war Gene­ral­leut­nant in der Bun­des­wehr und Lan­des­vor­sit­zen­der der CDU Bran­den­burg. Auch sieht man im Video, dass die Nazi-Par­tei Deut­sche Alter­na­ti­ve, die in Bran­den­burg aktiv war, von Men­schen aus dem Wes­ten auf­ge­baut wur­de (11:25). Rabe schreibt dazu auch an eini­gen Stel­len etwas und stellt das in Fra­ge. Die ras­sis­ti­schen Aus­schrei­tun­gen in Lich­ten­ha­gen erwähnt sie expli­zit. Auch Lich­ten­ha­gen ist ein schlim­mes Bei­spiel von Poli­zei­ver­sa­gen (sie­he Ros­tock-Lich­ten­ha­gen 1992: Ein Poli­zei­de­ba­kel). Poli­zei, Jus­tiz, Ver­fas­sungs­schutz, alle Insti­tu­tio­nen wur­den vom Wes­ten auf­ge­baut und waren von West­lern gelei­tet.6 Der Bru­der mei­ner Schwie­ger­mut­ter noch heu­te AfD-Wäh­ler hat zum Bei­spiel das Lan­des­ar­beits­ge­richt in Dres­den auf­ge­baut. Der für Lich­ten­ha­gen zustän­di­ge Poli­zist ist ins Wochen­en­de gefah­ren. Nach Bre­men. Er hat die bepiss­ten Nazis pöbeln und zün­deln las­sen. Im Wiki­pe­dia­ein­trag zu den Aus­schrei­tun­gen steht es noch kras­ser. Nach einer lan­gen, lan­gen Vor­ge­schich­te mit Ankün­di­gun­gen und Dro­hun­gen ist die gesam­te poli­ti­sche und poli­zei­li­che Füh­rung ins Wochen­en­de ver­schwun­den. In den Westen:

Trotz der ange­kün­dig­ten Kra­wal­le und der auf­ge­heiz­ten Stim­mung rund um die ZAst fuhr fast das gesam­te poli­tisch und poli­zei­lich lei­ten­de Per­so­nal, das nach der Wen­de nahe­zu voll­stän­dig mit west­deut­schen Beam­ten aus den Part­ner­län­dern Schles­wig-Hol­stein, Ham­burg und Bre­men besetzt wor­den war, wie üblich am Frei­tag zu ihren Fami­li­en nach West­deutsch­land. So waren am Wochen­en­de der Aus­schrei­tun­gen der Staats­se­kre­tär im Innen­mi­nis­te­ri­um, Klaus Balt­zer, der Abtei­lungs­lei­ter Öffent­li­che Sicher­heit, Olaf von Bre­vern, der Abtei­lungs­lei­ter für Aus­län­der­fra­gen im Innen­mi­nis­te­ri­um und zum dama­li­gen Zeit­punkt zugleich Aus­län­der­be­auf­trag­ter der Lan­des­re­gie­rung, Win­fried Rusch, der Lei­ter des Lan­des­po­li­zei­am­tes, Hans-Hein­rich Hein­sen, der Chef der Poli­zei­di­rek­ti­on Ros­tock, Sieg­fried Kor­dus, sowie der Ein­satz­lei­ter Jür­gen Deckert nicht in Schwe­rin bzw. Ros­tock zuge­gen. Deckert hat­te die Füh­rung an den noch in der Aus­bil­dung befind­li­chen Sieg­fried Trott­now übergeben.

Wiki­pe­dia­ein­trag Aus­schrei­tun­gen in Rostock-Lichtenhagen

Rabe lässt ihre Mut­ter bzw. Sti­nes Mut­ter sagen, dass man Nazis aus dem Wes­ten ange­karrt habe:

Mut­ter hat gesagt, dass man nichts gegen Aus­län­der haben darf. Die machen hier die Arbeit, auf die die Deut­schen kei­ne Lust mehr haben. Und die Viet­na­me­sen, wo sie in Ros­tock das Haus ange­zün­det haben, die sind sogar schon zu Ost­zei­ten in Ros­tock gewe­sen, die kön­nen gar nichts dafür. Außer­dem waren da auch vie­le Nazis aus dem Wes­ten dabei. Die hat man extra da hin­ge­fah­ren, damit sie Ran­da­le machen. Das waren Row­dys. Aber im Fern­se­hen sagen sie immer, dass die alle Ros­to­cker sind.

S. 88

Im Inter­view mit Cor­ne­lia Geiß­ler sagt Rabe: 

Als die Zen­tra­le Auf­nah­me­stel­le für Asyl­be­wer­ber in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen in Brand gesetzt wur­de, 1992, hieß es, die Neo­na­zis sei­en nur aus dem Wes­ten ange­fah­ren wor­den. Die Eltern, die Leh­rer, die woll­ten das immer von sich weg­hal­ten. Aber wir Jugend­li­chen kann­ten die Nazis ganz gut, die saßen neben uns am Strand, in den Klas­sen, im Sportverein.

Geiß­ler, Cor­ne­lia. 2023. Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzäh­len“. Ber­li­ner Zei­tung. Ber­lin.

In den bei­den Text­pas­sa­gen gibt es ver­schie­de­ne Aus­sa­gen. 1) Es waren vie­le Nazis aus dem Wes­ten dabei. 2) Die Neo­na­zis sei­en nur aus dem Wes­ten ange­fah­ren worden.

Das sind die Fakten:

Gegen 12 Uhr am Sonn­tag hat­ten sich bereits wie­der etwa 100 Per­so­nen vor der ZAst ver­sam­melt. Nun tra­fen Rechts­extre­mis­ten aus der gan­zen Bun­des­re­pu­blik in Ros­tock ein, dar­un­ter Bela Ewald Alt­hans, Ingo Has­sel­bach, Ste­fan Nie­mann, Micha­el Bütt­ner, Ger­hard End­ress, Ger­hard Frey, Chris­ti­an Mal­co­ci, Arnulf Priem, Erik Rund­quist, Nor­bert Weid­ner und Chris­ti­an Worch. Von die­sen wur­de nur End­ress wäh­rend der Aus­schrei­tun­gen festgenommen.

Wiki­pe­dia­ein­trag Aus­schrei­tun­gen in Rostock-Lichtenhagen

Also: Fakt ist, dass Neo­na­zis aus dem Wes­ten dabei waren. Ob die ange­fah­ren wor­den sind und wenn ja von wem, weiß ich nicht, aber ansons­ten hat­te Rabes (Roman-)Mutter Recht. Ja, auch ehe­ma­li­ge Funk­tio­nä­re kön­nen Recht haben.

Bei den NSU-Mor­den war der Ver­fas­sungs­schutz selbst dabei (taz, 03.04.2017). Maa­ßen, ein Neo-Nazi erst CDU, jetzt Wer­te­uni­on, war der, der den­je­ni­gen abge­löst hat, der wegen des Ver­sa­gens beim NSU gehen muss­te. In Leip­zig Con­ne­witz ist eine Hor­de von über 200 Nazis ein­ge­fal­len und haben den Stadt­teil ver­wüs­tet. Die Ver­fah­ren wur­den ver­schleppt, vie­le sind straf­frei davon­ge­kom­men. Einer war Jura-Stu­dent. Er hat danach wei­ter­stu­diert und trat 2018 sein Refe­ren­da­ri­at an. Ein JVA-Mit­ar­bei­ter und Täter arbei­te­te fröh­lich wei­ter in der JVA (taz: 11.01.2021, Schlep­pen­de Auf­klä­rung). Die AfD wur­de von Neo­li­be­ra­len Wirtschaftsprofessor*innen aus dem Wes­ten auf­ge­baut und nach und nach von West-Nazis über­nom­men. Das habe ich Osch­mann nach sei­nem ers­ten Arti­kel geschrie­ben und ihn auf mei­nen Blog-Bei­trag Der Ossi ist nicht demo­kra­tie­fä­hig. Merkt Ihr’s noch? mit den Quel­len ver­wie­sen. Er hat sich herz­lich bedankt und wird jetzt dafür zitiert. Die Quel­len­an­ga­be hat er wohl vergessen. 

Bei Ent­hül­lun­gen von Cor­rec­tiv zu den Depor­ta­ti­ons­plä­nen, die AfD-Mit­glie­der, CDU-Mit­glie­der und sons­ti­ge Neo­na­zis dis­ku­tiert haben, habe ich mir auch mal den Spaß gemacht, zu schau­en, wo die betei­lig­ten Per­so­nen her­ka­men. Über­ra­schung: Das Ver­hält­nis West zu Ost ist 19:1. Bit­te­schön: Cor­rec­tiv und die Nazi-Vor­stel­lun­gen bzgl. Remi­gra­ti­on.

In die­ser Auf­zäh­lung darf Karl-Heinz Hoff­mann nicht feh­len. Hoff­mann ist ein extre­mer Rechts­extre­mist. Er hat die Wehr­sport­grup­pe Hoff­mann gegrün­det und hat mit 400–600 Kum­pels bewaff­net für den End­sieg trai­niert. (Ej, lie­be Wes­sis, das gab es in der DDR wirk­lich nicht. Hört auf, vom „ver­ord­ne­ten Anti­fa­schis­mus“ zu faseln.) Hoff­mann ging dann irgend­wann doch in den Knast und kam schließ­lich 1989 wegen guter Füh­rung und posi­ti­ver Sozi­al­pro­gno­se pas­send zur Mau­er­öff­nung wie­der raus. Dan­ke­schön! Hoff­mann ist aus Kahla (Thü­rin­gen), ging sofort wie­der rüber, kauf­te die hal­be Stadt auf und begann Neo-Nazi-Struk­tu­ren aufzubauen.

So war es. Wir wis­sen das. Nur Anne Rabe tut so, als wäre es anders. Weil sie es nicht weiß? Weil sie nie mit jeman­dem gere­det hat? Außer mit Gei­pel? Weil sich das Gegen­teil bes­ser ver­kauft? Sie­he unten.

Verbot des Themas

Anne Rabe nimmt die Kri­tik an ihrem Buch vor­weg: Was wisst Ihr schon, Ihr Nachgeborenen!

„Ihr, die ihr auf­tau­chen wer­det aus der Flut
In der wir unter­ge­gan­gen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unse­ren Schwä­chen sprecht
Auch der fins­te­ren Zeit
Der ihr ent­ron­nen seid.“

Der blö­de Brecht macht mich noch wahn­sin­nig. Er mar­schiert mir gera­de rein in die Gedan­ken und mahnt und mahnt. Bil­de dir kein Urteil! Bil­de dir ja kein Urteil, du Nach­ge­bo­re­ne! Ja, wie­so eigent­lich nicht? Das ist doch ein bil­li­ger Trick. Hin­ter der wort­schö­nen Mah­ne­rei drei Kel­ler tief Schwei­gen. Dort habt ihr eure Schuld ver­bud­delt und ver­bie­tet uns, sie aus­zu­he­ben. Sprecht uns ab, dass wir zu unse­rem eige­nen Urteil kom­men. Was kümmert’s euch? Was geht’s euch an, was wir über euch denken?

Tja, Frau Rabe. Hätten’se mal mit Adas Eltern gespro­chen. Die hät­ten Ihnen erzählt, wie die DDR sich für Oppo­si­tio­nel­le ange­fühlt hat. Das woll­ten Sie aber nicht. Sie haben sich geschämt. Wenn Sie ein Sach­buch über den Osten schrei­ben wol­len oder einen sach­lich rich­ti­gen Roman, dann müs­sen Sie recher­chie­ren. Sie kön­nen sich nicht ein­fach etwas aus den Fin­gern sau­gen, von dem Sie anneh­men, dass es sich gut ver­kauft. Die „drei Kel­ler tief Schwei­gen“ fan­ta­sie­ren Sie her­bei. Oder sie sind da. Im Haus Ihrer Eltern. Aber da hät­ten Sie viel­leicht nicht suchen dür­fen. Es ist alles bespro­chen und Sie haben es avai­li­ble at your fin­ger­tips: einen Klick ent­fernt. Alles, was hier steht, kommt aus Wiki­pei­dia bzw. den dort ver­link­ten Quel­len. Sie habe es nicht für nötig gehal­ten, den Arti­kel über Lich­ten­ha­gen, den über Kinds­tö­tun­gen zu lesen. Sie dach­ten, dass Sie genug wüss­ten. So wie fast alle, die in Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten über Ihr Buch geschrie­ben haben, sich in ihren Vor­ur­tei­len bestä­tigt sahen. Ich wür­de Ihre Arbeit nicht als Pla­gi­at ein­ord­nen, aber als ein glat­tes „Durch­ge­fal­len“.

Unredlich oder naiv?

Eine Erklä­rung für den Erfolg die­ses Buches lie­fert wohl das Inter­view auf Deutsch­land­funk Kul­tur, das Mari­et­ta Schwarz geführt hat.

Schwarz: Das ist natür­lich ein Buch auch, was, und das sage ich jetzt mal ganz bewusst als West­deut­sche, die Bun­des­re­pu­blik total entlastet.

Rabe: Das ist aber inter­es­sant, weil das ist schön, dass man das immer, weil ich habe gar nicht an die Bun­des­re­pu­blik gedacht dabei und ich sage das auch immer wie­der, weil ja manch­mal auch so Leu­te kom­men ja aber in West­deutsch­land gab es das auch und so. Da sag ich immer ja wun­der­bar, bit­te schreibt die Bücher, weil ich fin­de, ich lese die auch ger­ne. Ich kann nur nichts dar­über schreiben.

Schwarz: Aber Sie wis­sen was mei­ne, ne?

Rabe: Ich weiß total, was Sie meinen.

Schwarz: Ich habe mir auch so gedacht, okay, war­um lade ich denn jetzt Anne Rabe ein, um mit ihr über die die­ses Buch zu reden. War­um spricht mich dann die­ses Buch an? Hat das damit zu tun, dass es sozusagen …

Rabe: Ich könn­te jetzt was ganz böses sagen.

Schwarz: Bit­te. Nur zu.

Rabe: Das ist wirk­lich inter­es­sant, weil des­we­gen mein­te ich, ich habe gar nicht an West­deutsch­land gedacht bei dem Schrei­ben. Und ich fin­de auch nicht, dass man immer, wenn man über den Osten schreibt, damit auto­ma­tisch was über den Wes­ten sagt. Aber, dass sie als West­deut­sche anschei­nend sofort den­ken, naja, das bedeu­tet was für mich als West­deut­sche, oder das bedeu­tet etwas Ent­las­ten­des für mich als West­deut­sche, wo der Wes­ten eigent­lich gar kei­ne Rol­le spielt in die­sem Buch.

Schwarz, Mari­et­ta. 2023. Anne Rabe: „In ver­wir­ren­den Zei­ten sind ein­fa­che Nar­ra­ti­ve ver­füh­re­risch“. 31.12.2023. Deutsch­land­ra­dio. (Zwi­schen­tö­ne.)

Das kann nicht sein. Rabe hat Ger­ma­nis­tik und Thea­ter­wis­sen­schaft stu­diert. Sie hat den PEN Ber­lin mit­ge­grün­det. Sie ist poli­tisch aktiv, Mit­glied der SPD. Sie ist ent­we­der abso­lut naiv oder durch­trie­ben. Das Buch schlägt genau in die Ker­be, in die von 60% der taz-Autor*innen und von weiß nicht wie vie­len Autor*innen in Zeit, FAZ, Spie­gel usw. geschla­gen wird. Die Wun­de ist tief und schmerzt. Und wenn kei­ne neu­en Schlä­ge kom­men, wird mal eben ein biss­chen Salz rein­ge­schüt­tet. Die­ser Blog ist voll von Bei­spie­len. Nur Frau Rabe hat von die­sem Ost-West-Dis­kurs noch nichts gemerkt, obwohl sie ja einen Ter­min mit Osch­mann auf der Leip­zi­ger Buch­mes­se hat­te (zu dem Osch­mann nicht gekom­men ist).

Und wei­ter:

Schwarz: Ja, das bedeu­tet halt etwas …

Genau! Das lernt man in Prag­ma­tik. Im Ger­ma­nis­tik-Stu­di­um. Als Autorin und poli­ti­scher Mensch soll­te man das aller­dings auch ohne Stu­di­um sehen können.

Rabe: Aber es ist ihr Zen­trum anschei­nend sofort wie­der und viel­leicht auch das Zen­trum die­ser Bun­des­re­pu­blik immer noch zum Teil.

Schwarz: Ja, glau­be ich jetzt nicht, dass es mein Zen­trum ist, aber es bedeu­tet etwas für den Dis­kurs über Ost­deutsch­land, das es mir nicht so gefällt …
[…]
Rabe: Das stimmt schon mit der Ent­las­tung, aber das wür­de ich mir nicht anziehen.

Das Buch ist ein Erfolg und wird gefei­ert, weil es den Wes­ten ent­las­tet. Die Ossis sind schei­ße, alles Psy­chos, die in Schu­len Amok lau­fen, ihre Kin­der mas­sen­wei­se töten, Natio­na­lis­ten und Anti­se­mi­ten. Wir haben es immer gewusst und Anne Rabe hat es in ihrem Nicht-Sach­buch noch ein­mal gut zusam­men­ge­fasst. Anschau­lich bebil­dert mit Mate­ri­al aus ihrer eige­nen Kind­heit. Ich habe in der ver­gan­ge­nen Woche einem Pro­fes­sor für Poli­tik­wis­sen­schaf­ten einen kri­ti­schen Brief geschrie­ben. Er hat mir eine lan­ge Ant­wort-Mail geschickt und mich dazu auf­ge­for­dert, doch ein­mal das Buch von Anne Rabe zu lesen. So gehen Fake News in unser All­ge­mein­wis­sen ein. Es wird in der Poli­tik­wis­sen­schaft und in der Geschichts­for­schung zitiert wer­den, obwohl es eben kein Sach­buch ist, obwohl es nicht von Fachwissenschaftler*innen begut­ach­tet wurde. 

Hier ein paar Aus­schnit­te aus den Rezensionen:

Die Zumu­tung die­ses Buches besteht dar­in, erschüt­tern­de Lieb­lo­sig­keit und rohe Gewalt als Regel­fall, nicht als Aus­nah­me dazu­stel­len. Zu die­sem Zweck durch­zie­hen Archiv­re­cher­chen, Geset­zes­tex­te und Umfra­ge­er­geb­nis­se die 50 kur­zen Kapi­tel. Sie ver­mi­schen sich mit Erin­ne­run­gen, Traum­se­quen­zen und lite­ra­ri­schen Zita­ten zu einem kalei­do­skop­ar­ti­gen Text.

Dirk Hohn­strä­ter, „Die Mög­lich­keit von Glück“ von Anne Rabe. WDR, 11.10.2023.

Archiv­re­cher­chen hat es zu Anne Rabes Ver­wand­ten gege­ben, aber wenn es Recher­chen zu Rechts­extre­men oder irgend­wel­chen DDR-The­men gege­ben haben soll­te, so sind sie nicht drei Kel­ler tief gegan­gen, son­dern waren ober­fläch­lich. Umfra­ge­er­geb­nis­se zum Osten gab es nicht. Rabe bezieht sich auf Umfra­gen wie den Erin­ne­rungs­mo­ni­tor der Uni Bie­le­feld und die von der Uni Han­no­ver gelei­te­te Mehr­ge­ne­ra­tio­nen­stu­die. Auf Ergeb­nis­se von 2018 aus Bie­le­feld und es geht dabei um Erin­ne­run­gen an die Nazi­zeit. Die­se sind „zu die­sem Zweck“ ungeeignet.

Mit den fol­gen­den Zita­ten wirbt Anne Rabe selbst auf ihrer Web-Sei­te:

Liest man die­ses Buch, sieht man Deutsch­land anders.

Dirk Hohn­strä­ter, WDR 3

Ich hof­fe, dass das Buch schnell in der Ver­sen­kung ver­schwin­det. Und dass Dirk Hohn­strä­ters Behaup­tung für die­sen Blog­bei­trag gilt.

Anne Rabe ver­bin­det Archiv­ar­beit mit poli­ti­schem Essay­is­mus und epi­so­discher Autofiktion.

Katha­ri­na Teutsch, DLF Büchermarkt

Das Buch, das man jetzt lesen muss, wenn man nicht nach schlich­ten Ant­wor­ten auf die schlich­ten Fra­gen sucht, was das Erbe des ers­ten sozia­lis­ti­schen Staats auf deut­schem Boden sein könn­te und war­um ›im Osten‹ heu­te ›die Leu­te‹ wäh­len, wie sie wählen.

Tobi­as Rüt­her, Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Sonntagszeitung

Ich wür­de ja die Ant­wort von Anne Rabe als schlicht bezeich­nen. Sie nimmt die Gewalt, die sie in ihrer Fami­lie erfah­ren hat, als mono­kau­sa­le Erklä­rung für alles.

Die Mög­lich­keit von Glück‹ (ist) ein Buch, das weit über sei­nen indi­vi­du­el­len Gegen­stand hin­aus­reicht. Es erklärt, war­um Ost­deutsch­land eine ande­re Gewalt­ge­schich­te nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung auf­weist als West­deutsch­land. (…) Und die auch den der­zeit boo­men­den Büchern, die einer Nor­ma­li­sie­rung der DDR-Erfah­run­gen (und damit ihrer Rela­ti­vie­rung) das Wort reden wol­len, den Boden ent­zie­hen. Gegen den pau­scha­li­sie­ren­den Blick hilft der aufs indi­vi­du­el­le Schick­sal. Dass es eines im Roman ist, nimmt ihm nichts an Wahr­haf­tig­keit. Oder an Erschütterungskraft.

Andre­as Platt­haus, FAZ

Ja. Ich bin erschüttert.

Wer sind eigentlich die Anderen?

Hier ist oft von „den Wes­sis“ und „den Ossis“, von „wir“ und „ihr“ die Rede. Das ist schlecht, denn die­se Grup­pen­ein­tei­lung ist Teil des Pro­blems, das auch in die­sem Bei­trag bespro­chen wur­de. Ange­fan­gen bei der Kol­lek­tiv­schuld, über die Scham Rabes, die angeb­li­che Gewalt­tä­tig­keit des gan­zen Ostens. Ich woll­te nie ein Teil von „wir“ sein. Die DDR war mir zuwi­der. Zumin­dest der obe­re Teil. Also nicht Ros­tock son­dern die Staats­füh­rung. In einem Gym­na­si­um in Gel­sen­kir­chen habe ich mal gesagt, dass das Pro­blem mit der DDR gewe­sen sei, dass die Herr­schen­den so doof gewe­sen sei­en. Das war sicher etwas ver­ein­fa­chend, aber es war mein Pro­blem. „Ihr“ habt mich zum Ossi gemacht. Prof. Dr. Nai­ka Forou­tan beschreibt das in ihrer Arbeit: „Ost­deut­sche sind auch Migran­ten“. Mit „ihr“ sind in ihren Kli­schees gefan­ge­ne Journalist*inne, Historiker*innen und sons­ti­ge Per­so­nen gemeint und ich hät­te gehofft, dass „wir“ uns irgend­wann auf­lö­sen, aber das ist nicht pas­siert. Wie ich an mei­nem eige­nen Bei­spiel erfah­ren habe, wer­den „wir“ mehr, weil „ihr“ dafür sorgt. „Ihr“ kon­stru­iert „Euch“ den Osten, so wie es der Osch­mann gesagt hat. Jetzt hel­fen „Euch“ „unse­re“ Kin­der. Ich wünsch­te, das alles wäre nicht so. Ich wünsch­te, alle wür­den mit­ein­an­der reden. Viel­leicht hilft die­ser Text.

Ich bin die Andern, Du bist die Ande­ren. Die Andern haben ange­fan­gen! COR: Leit­kul­tur. 2017.

„So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen.“

Ich bit­te um Ent­schul­di­gung für die­sen lan­gen Blog­post. Und das war ja nur der zwei­te Teil zu den Mög­lich­kei­ten für Glück.

Danie­la Dahn erklärt in ihrem 1997er Buch über meh­re­re Sei­ten, war­um ein ein­zi­ger Satz im West-Ost-Dis­kurs falsch gewe­sen ist, und schreibt danach:

So viel Rich­tig­stel­lung ist also nötig, um einen ein­zi­gen Zei­tungs­satz zu wider­le­gen. Viel­leicht ver­steht man, daß die Ost­ler zu sol­chem Kraft­akt auf die Dau­er kei­ne Lust haben und oft nur abwin­ken: Ihr wer­det es nie verstehen!

Dahn, Danie­la. 1997. West­wärts und nicht ver­ges­sen: Vom Unbe­ha­gen in der Ein­heit S. 68

Ich muss­te vie­le Sät­ze in Anne Rabes Buch kom­men­tie­ren. Ent­spre­chend lang sind die Blog-Posts gewor­den. Ich wür­de mich freu­en, wenn sie von genau­so vie­len Men­schen gele­sen wer­den wie Anne Rabes Buch. Das wird wahr­schein­lich nicht pas­sie­ren, denn ich habe kei­ne Buch­preis-Jury und kei­ne Mar­ke­ting­ma­schi­ne auf mei­ner Sei­te. Nur Euch. Aber viel­leicht schaf­fen wir es ja. Emp­fehlt die Posts wei­ter. Dan­ke. Bitte.

Schlussfolgerung

Anne Rabe hat Recht mit ihrer Aus­sa­ge bezüg­lich Schlagersüßtafeln!

Danksagungen

Ich dan­ke mei­ner Such-Maschi­ne Peer für vie­le Bele­ge und auch für die immer kri­ti­sche Dis­kus­si­on. Ich dan­ke mei­nem klei­nen Bru­der dafür, dass er mir die Bum­mi-Hef­te gekauft hat, weil die alten, an die ich mich erin­nert hat­te, irgend­wann mal weg­ge­wor­fen wor­den waren. Ich dan­ke mei­ner Frau für die fort­wäh­ren­de Dis­kus­si­on von Ost­the­men. Wenn wir nicht über die Kli­ma­ka­ta­stro­phe reden, reden wir eigent­lich nur über den Osten. (Hat eigent­lich schon mal jemand ver­sucht, dem Osten die Kli­ma­ka­ta­stro­phe anzu­hän­gen? Ach ne, geht ja gar nicht, denn Deutsch­land steht ja nur des­halb halb­wegs gut in der Kli­ma­bi­lanz da, weil die Ost-Indus­trie in den 90ern abge­wi­ckelt wurde.) 

Und ich dan­ke mei­nem Vater und mei­ner Mut­ter für die Erlaub­nis, allein als Sechs­zehn­jäh­ri­ger bis ans Schwar­ze Meer zu fah­ren, und dafür, dass sie mich nicht zum Nazi erzo­gen haben.

Und Ihnen/Euch dan­ke ich dafür, dass Ihr bis hier­her gele­sen und alle Vide­os ange­se­hen und alle ver­link­ten Wiki­pe­dia­ar­ti­kel gele­sen habt.

Quellen

Bal­ser, Mar­kus & Stein­ke, Ronen. 2022. Ver­fas­sungs­schutz: See­ho­fer ließ Ver­fas­sungs­schutz­kri­tik an AfD abschwä­chen. Süd­deut­sche Zei­tung. (https://www.sueddeutsche.de/politik/afd-verfassungsschutz-seehofer-gutachtenvergleich‑1.5511775)

Geiß­ler, Cor­ne­lia. 2023. Anne Rabe: „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzäh­len“. Ber­li­ner Zei­tung. Ber­lin. (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/literatur/osten-interview-schriftstellerin-anne-rabe-es-reicht-nicht-die-ddr-immer-nur-vom-ende-her-zu-erzaehlen-debatte-dirk-oschmann-li.341318)

Gold­mann, Sven. 2013. Welt­fest­spie­le der Jugend 1973: Love & Peace in Ost-Ber­lin. Tages­spie­gel. Ber­lin. 22.07.2013 (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/love-peace-in-ost-berlin-8099431.html)

Gosch­ler, Con­stan­tin. 1993. Pater­na­lis­mus und Ver­wei­ge­rung: Die DDR und die Wie­der­gut­ma­chung für jüdi­sche Ver­folg­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus. In Benz, Wolf­gang (ed.), Jahr­buch für Anti­se­mi­tis­mus­for­schung, vol. 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.

Hart­wich, Doreen & Mascher, Bernd-Hel­ge. 2007. Geschich­te der Spe­zi­al­kampf­füh­rung (Abtei­lung IV des MfS): Auf­ga­ben, Struk­tur, Per­so­nal, Über­lie­fe­rung. Ber­lin. (Sta­si-Unter­la­gen-Archiv.) (https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/archiv/fachbeitraege/geschichte-der-spezialkampffuehrung-abteilung-iv-des-mfs/#c2565)

Lit­sch­ko, Kon­rad. 2017. Neu­es Gut­ach­ten zu NSU-Mord. taz. 03.04.2017. Ber­lin. (https://taz.de/Archiv-Suche/!5397496/)

Mau, Stef­fen. 2020. Lüt­ten Klein: Leben in der ost­deut­schen Trans­for­ma­ti­ons­ge­sell­schaft (Schrif­ten­rei­he 10490). Bonn: Zen­tra­le für Poli­ti­sche Bil­dung. (https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/303713/luetten-klein)

mh. 2022. Ros­tock-Lich­ten­ha­gen 1992: Ein Poli­zei­de­ba­kel. (https://www.mdr.de/geschichte/zeitgeschichte-gegenwart/politik-gesellschaft/was-wurde-aus-der-volkspolizei-rostock-lichtenhagen-randale-100.html)

Pou­trus, Patri­ce G., Beh­rends, Jan C. & Kuck, Den­nis. 2002. His­to­ri­sche Ursa­chen der Frem­den­feind­lich­keit in den neu­en Bun­des­län­dern. Aus Poli­tik und Zeit­ge­schich­te (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25428/historische-ursachen-der-fremdenfeindlichkeit-in-den-neuen-bundeslaendern/).

Schulz, Dani­el. 2018. Pro­fes­so­rin über Iden­ti­tä­ten: „Ost­deut­sche sind auch Migran­ten“. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Professorin-ueber-Identitaeten/!5501987/)

Schwarz, Mari­et­ta. 2023. Anne Rabe: „In ver­wir­ren­den Zei­ten sind ein­fa­che Nar­ra­ti­ve ver­füh­re­risch“. 31.12.2023. Deutsch­land­ra­dio. (Zwi­schen­tö­ne.) (https://www.deutschlandfunk.de/anne-rabe-in-verwirrenden-zeiten-sind-einfache-narrative-verfuehrerisch-dlf-84b94bff-100.html)

Teuw­sen, Peer. 2023. Ver­heim­lich­te Nähe. Neue Züri­cher Zei­tung. 30.09.2023 (https://www.nzz.ch/feuilleton/anne-rabe-verheimlichte-naehe-ld.1782626)

Wag­ner, Bernd. 2018. Ver­tusch­te Gefahr: Die Sta­si & Neo­na­zis. (https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/stasi/218421/vertuschte-gefahr-die-stasi-neonazis/)

Die Weimartage der FDJ

Bei mei­ner Arbeit zum Bei­trag Die Ossis und der Holo­caust habe ich nach den Wei­mer­ta­gen der FDJ gesucht, weil es da immer einen obli­ga­to­ri­schen Besuch der Gedenk­stät­te Buchen­wald gab. Mit gro­ßem Erstau­nen habe ich fest­ge­stellt, dass die Weim­ar­ta­ge außer auf einer Sei­te des Natio­nal­thea­ters Wei­mar nir­gend­wo im Netz auf­tau­chen. Kein Wiki­pe­dia-Ein­trag, kein Blog-Ein­trag, nichts. Das ist eini­ger­ma­ßen erstaun­lich, weil es ein jähr­lich wie­der­keh­ren­des Groß­ereig­nis war. Für 21 Mark konn­te man drei Tage in Schu­len über­nach­ten und vol­le Kan­ne von früh (7:00 Uhr !!!) bis abends (22:00) alles an Kul­tur (Thea­ter, Kon­zer­te, Lesun­gen, Muse­ums­füh­run­gen, Park­füh­run­gen, Vor­trä­ge, …) mit­neh­men, was man sich so vor­stel­len konn­te. Ham­let-Vor­füh­run­gen im Natio­nal­thea­ter Wei­mar. Abschluss­fest in den Parks Tie­furt oder Belvedere. 

Die FDJ hat genervt. Es war eine Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on, in der fast alle DDR-Bürger*innen Mit­glied waren. Man muss­te am FDJ-Stu­di­en­jahr teil­neh­men, wo man ein mal im Monat pro­pa­gan­dis­tisch ver­sorgt wur­de. Rot-Licht.

Aber eine Sache hat die FDJ wirk­lich gut gemacht: die Weim­ar­ta­ge der FDJ. Ich war sie­ben Mal dort und es waren wich­ti­ge Tage in mei­nem Leben. Damit das irgend­wo doku­men­tiert ist, stel­le ich hier eini­ge Pro­gramm­hef­te, Jour­na­le und Infor­ma­tio­nen für Rei­se­lei­ter ins Netz. Habt Spaß damit!