Heute vor 34 Jahren war Michael Gorbatschow in Berlin. Zum 40 Geburtstag der DDR. Eine gute Bekannte von mir, die heute meine Frau ist, hatte irgendwann 1989 eine Wohnung bekommen und einen Termin für die Einweihung gesucht. Da der 7.10. ein Feiertag war und niemand von ihren Freunden zu irgendwelchen der offiziellen Feiern gehen würde, hatte sie den 7.10. gewählt. Am 07. Mai 1989 fanden in der DDR Kommunalwahlen statt (Wikipedia-Eintrag zu diesen Wahlen). Die Bürgerbewegung organisierte zusammen mit der Kirche eine flächendeckende Präsenz bei den Auszählungen. Das war im Wahlgesetz der DDR so vorgesehen. Der Beschiss fand bei der Zusammenführung der Wahlergebnisse auf Stadtbezirks- bzw. Bezirksebene statt, wo dann ein Wahlergebnis von 98,85% für die Kandidat*innen der Nationalen Front (SED + Blockparteien) herauskam. Meine Schwester war bei den Auszählungen in Buch dabei. Dort waren 70% der Wähler*innen für die Blockparteien. Von der Kunsthochschule in Weißensee ist auch bekannt, dass nur 50% der Wähler*innen dafür waren. Seit dem 7. Juni gab es deshalb jeden Monat Proteste der Opposition an der Weltzeituhr am Alexanderplatz. Es war klar, dass es am 7.10. eine Terminkollision gab. Gorbatschow in der Stadt. 40 Jahre DDR. Jubelfeiern mit ein paar Sachsen, die zum Feiern herangekarrt worden waren.
Honecker feierte im Palast der Republik. Andrej Hermlin trat dort auf. Er hat Honecker gesehen, als die Proteste von draußen drinnen wahrgenommen worden waren. Honecker saß allein an einem Tisch. Hermlin wusste da schon, dass das das Ende der DDR war. (Bericht in der taz, 07.10.2009) Wir waren auf dem Weg nach Hellersdorf.
Viele der Partygäste, die Freunde von der Jungen Gemeinde, kamen erst kurz vor Zwölf. Sie waren am Alexanderplatz gewesen. Sie berichteten von Wasserwerfern, Polizisten mit Schutzhelmen. Ich wusste von den Wasserwerfern, aber niemand hatte sie je gesehen. Im Einsatz gesehen. Polizisten mit Schutzhelmen gab es nur im Westfernsehen.
Wir saßen um ein kleines Küchenradio und versuchten irgendwie Information zu bekommen. Jede halbe Stunde Nachrichten: SFB. Rias. Wie eine kleine Verschwörung. Mit der letzten U‑Bahn verließ ich Hellersdorf und war gegen 1:30 Uhr Schönhauser Allee. An der Gethsemanekirche war alles abgesperrt. Eine Polizeikette stand in der Stargarder. Ich hatte Befürchtungen, dass ich meine Wohnung nicht mehr erreichen würde. Aber ich kam unbehelligt an LKWs und Streifenwagen vorbei, sah noch drei voll besetzte Mannschaftswagen in die Gleimstraße einbiegen und war dann im rettenden Hauseingang verschwunden. Ich war sehr froh, dass ich da durchgekommen war, denn ich war noch in Buch gemeldet und wie hätte ich der Staatsgewalt erklären sollen, dass ich „da hinten“ in einer besetzten Wohnung wohnte?
Dieser Blog-Post ist aus einer Mastodon-Diskussion entstanden. Weil sie so schön war, habe ich sie hier noch einmal ein bisschen sortiert und für die Nachwelt archiviert. Dieser Beitrag kann Spuren von Sarkasmus und sogar Wut enthalten.
Die taz hat am 03.07.2023, vor dem Hintergrund der Wahl eines AfD-Mitglieds zum Landrat in Sonneberg, ein Interview mit dem (ostdeutschen) Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk veröffentlicht. In der Printausgabe endet es so:
taz: Also ist das nicht nur ein Ost-Problem?
Nein. Zeigt nicht immer nur mit dem Finger auf den Osten. Der Osten ist als Laboratorium der Globalisierung, als Ort der Transformation dem Westen nur ein paar Trippelschritte voraus. Genau deshalb ist die Debatte über den Osten so relevant: Hier – wie zum Teil in Osteuropa – sehen wir Entwicklungen, die europaweit drohen, wenn nicht endlich mal gegengesteuert wird. Das können Sie an vielen demoskopischen Untersuchungen sehen und übrigens auch an den Wahlumfragen der AfD. Die liegt im Osten bei 30 Prozent, im Westen steht sie aber mittlerweile auch bei 15 Prozent, der Westen zieht nach. Deswegen sind der Ostdeutschland-Diskurs und Debatten über Sonneberg wichtig: Wir können hier erleben, was uns in ganz Deutschland erwartet, wenn wir nicht endlich mal gegensteuern.
Das ist genau meine Meinung. Ein Punkt, den ich hier in diesem Blog und auch auf Mastodon zu vermitteln versuche. Also alles primstens? Nein, leider nicht, denn es gibt komische Stellen im Interview.
Ilko-Sascha Kowalczuk hat in der #DDR#Nazi-Äußerungen gegen geistig Behinderte gehört und leitet daraus ab, dass die DDR ein präfaschistischer Staat war.
Das finde ich ein bisschen schnell geschossen. Solche Bemerkungen wird es sowohl im Westen wie im Osten geben, die Erziehung, die ich in meinen Schulen hatte, war aber zutiefst humanistisch. Die #Euthanasie-Morde der #Nazis und ihre Verbrechen wurden im Unterricht besprochen (siehe auch Der Ossi und der Holocaust).
Ich habe in Berlin-Buch gewohnt. WBS70. Im untersten Stockwerk haben in all den Häusern Rollstuhlfahrer*innen gewohnt. Es gab und gibt immer noch hinten an den Häusern spezielle Zufahrtswege, über die Menschen mit Rollis leicht in die Wohnungen gelangen konnten. Siehe rote Linien auf der Karte. Fahrstühle gab es in den Fünfgeschossern vor der Wende nicht. Für Menschen mit Rollstuhl kamen also nur die Ergeschosswohnungen in Frage. Die Zufahrten wurden beim Neubau der Blöcke 1974–1976 eingerichtet.
Das waren also strukturelle Maßnahmen im Zuge des Wohnungsbaus. Das folgende Bild zeigt, dass beim Entwurf des WBS 70-Systems, das in der DDR in den 70er Jahren entwickelt und dann für den Bau von 644 900 Wohnungen verwendet wurde, Erdgeschosswohnungen für Rollstuhlfahrer*innen und Menschen mit Behinderungen eingeplant wurden.
Ich habe von 1976 bis 1986 in dem Block gemeinsam mit vielen Rolli-Fahrer*innen gelebt und nie irgendein böses Wort gehört.
Ein geistig behinderter Junge fuhr immer mit dem Bus vom Bahnhof Buch zum Lindenberger Weg und zurück. Tagaus, tagein. Ohne Begleitung. Manchmal durfte er die Türen auf und zumachen. Er hat sich sehr gefreut. Er hatte eine brauen Kunstledertasche dabei, die er als Lenkrad benutze. Er saß immer in der ersten Reihe vorn neben dem Fahrer. Später habe ich ihn auch ab und zu in der S‑Bahn getroffen. Das war alles ganz normal.
Dass ich nie irgendwas Böses gehört habe, schließt natürlich nicht aus, dass es böse Bemerkungen gegeben hat. Wenn man mit Behinderten unterwegs ist, gibt es ja viel mehr Begegnungen. Nur ist es eben nicht wahr, wenn behauptet wird, alle Behinderten seien weggesperrt worden oder beschimpft worden.
Insgesamt scheint es mir sehr weit hergeholt, aus Begegnungen mit behindertenfeindlichen Menschen zu schließen, dass man in einem präfaschistischen Staat lebt.
Der Nutzer Peer schreibt dazu auf Mastodon:
Warum so vorsichtig in deiner Kritik? Kowalczuks Schlussfolgerungen sind nicht nur „etwas weit hergeholt“, sondern Nonsens. Vorausgesetzt das taz-Interview gibt seine Aussagen zutreffend wieder.
Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster: Es gibt kein einziges Land auf der Welt, in dem die bestmöglichen staatlichen Inklusionsbemühungen verhindern würden, dass sich Menschen negativ über behinderte Menschen äußern. Demnach wären diese Länder alle präfaschistisch nach der Kowalczuk-Definition.
Geschichtenerzähler Kowalczuk schließt von mehreren Einzelerfahrungen auf strukturelle/staatliche Probleme und daraus wieder auf Prä-Faschismus.
In der Christburger Straße im DDR-Prenzlauer Berg gab es einen privaten Handwerker (Ledergürtel, Schuhmacher so was in der Art). Die hatten ein Kind mit Down-Syndrom, das sich dort sichtbar im bzw. vor dem Laden beschäftigte, ohne dass die Eltern immer selbst sichtbar waren. Hätte das zu negativen Reaktionen geführt, hätten sie das ihrem Kind vermutlich nicht zugemutet. Jedenfalls wurde es nicht versteckt und war auch nicht im Heim. (Geistig behindert und privater Handwerker gleich 2x nicht Mainstream in der DDR).
Pankow war ein Stadtbezirk in der DDR. Ist natürlich nicht so postitiv, dass er in der Schule nicht sofort mit offen Armen aufgenommen wurde, aber das war zu der Zeit im Westen sicher auch nicht so. Entscheidender dürfte aber sein, dass seine Eltern sich gegen die „präfaschistische Diktatur“ durchgesetzt haben. Wie geht denn das? Würde mich nicht wundern, wenn der deutsche Rechtsstaat zu dieser Zeit noch sehr viel effektiver darin war, den Zugang zur Regelschule zu verhindern.
In Hamburg soll es jedenfalls erst seit dem Schuljahr 2010 das Recht für Schüler mit Down-Syndrom geben, allgemeine Schulen zu besuchen. https://kidshamburg.de/down-syndrom/das-kind-mit-down-syndrom-in-der-schule/ Das wären immerhin „nur“ 36 Jahre nach der westdeutschen TV-Serie „Unser Walter“, die angeblich sehr zur Sensibilisierung im Westen beigetragen hat.
Übrigens: Im Osten wurde auch Westfernsehen geschaut, bis auf marginale regionale Ausnahmen. – Sollte man vielleicht nicht ignorieren.
Der Artikel enthält noch einige nicht belegte Allaussagen, z.B. über Nazis in der NVA, die ebenfalls auf Mastodon diskutiert wurden. Die fehlende Aufarbeitung der Naziverbrechen im Osten im Gegensatz zur Aufarbeitung im Westen durch die 68er ist auch ein Thema im Interview. Hierzu möchte ich nur kurz auf meinen Blog-Beitrag Der Ossi und der Holocaust verweisen, der ein ziemlich genaues Bild zeichnet, wann welche Aufarbeitungsschritte erfolgten, was an Wissen über die Verbrechen der Nazis in der Bevölkerung vorhanden war und in dem man auch die Unterschiede zum Westen sehen kann (Beispiel Ausstrahlung der Serie Holocaust und Bayrischer Rundfunk, sowie Skandal um Wehrmachtsausstellung).
Die Diskussion auf Mastodon hatte sich gerade ein wenig beruhigt, da erschien dieser Leserbrief in der taz:
Bezeichnend für die Wahrnehmung behinderter Menschen durch DDR-Bürger ist, dass die im Interview erwähnte westdeutsche, auch „ drüben“ zu empfangende ZDF Fernsehserie „Unser Walter“ in der DDR entgegen der Intention der Sendung diskriminatorisch benutzt wurde. „Mein Gott, Walter“ sagten die Leute zum Beispiel, wenn jemand ungeschickt handelte. Die faschistischen Narrative vom gesunden Volkskörper wurden in der DDR eben nur abgesägt, aber Wurzel und Nährboden blieben weitestgehend unangetastet.
Dieser Brief ist so haarsträubend! Die Redensart kommt von einem Lied von Mike Krüger von 1975, in dem es um einen Walther mit „th“ geht, der der Verwalter eines Mietshauses ist.
Das könnte man kennen, wenn man in der Bundesrepublik oder in der DDR aufgewachsen ist. Mike Krüger ist ein deutscher Komiker aus Ulm. Mein Gott, Walther war 32 Wochen auf Platz 1 der deutschen Album-Charts und wurde über 250.000 mal verkauft (siehe Wikipedia). Im Osten ist die Platte sicher auf Kassetten kopiert und weitergereicht worden.
So und zum Schluss, weil ich gerade so schön in Schwung bin, kommt jetzt mein Leserbrief in meiner privaten Ossi-Bild-Zeitung.
Mein Leserbrief in meiner Zeitung (Sarkasmus)
Ich habe kurz vor Corona noch einige Amazon-Aktien gekauft und bin dadurch unglaublich reich geworden. Ich habe mich dafür sehr geschämt und das meiste Geld an die Deutsche Umwelthilfe gespendet. Vom Rest habe ich eine Zeitung für Ostdeutsche auf Bild-Niveau gegründet. Die ist natürlich, was die Redaktion angeht, total unabhängig von ihrem Besitzer, so wie die Washington Post auch. Aber ab und zu veröffentliche ich einen Leserbrief. Hier meiner zu Mein Gott, Walther.
Betrifft Beitrag „Im Westen alles Nazis?“
Ihren Ausführungen zu den faschistischen Umtrieben in den alten Bundesländern der BRD kann ich nur zustimmen. Zu denen von Ihnen bereits erwähnten Nazi-Strukturen im Verfassungschutz, in der Armee, in der Polizei und der notorischen Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge, sowie der trotz Parteiausschlussverfahren mit Mehrheit als AfD-Landesvorsitzende von Schleswig-Holstein wiedergewählten Politikerin Doris von Sayn-Wittgenstein mit Kontakt zu Holocaust-Leugnerin möchte ich noch folgende unerhörte Begebenheit hinzufügen: 1974 begann das Fernsehen der BRD mit der Ausstrahlung der Fernsehserie „Unser Walter“, in der das Leben mit einem Kind mit Behinderung thematisiert wurde. Nur kurz darauf erschien eine Schallplatte mit dem Titel „Mein Gott, Walther“, in dem Menschen verhöhnt werden, denen ab und zu Dinge misslingen. Der Zusammenhang zur Fernsehserie wurde durch die Änderung der Schreibung des Wortes „Walther“ nur oberflächlich kaschiert. Die faschistische Grundhaltung der Bürger der BRD kann man auch daran erkennen, dass sich dieses Machwerk eines west-deutschen Komikers über 250.000 mal verkauft hat. Das Lied war übrigens wie immer noch auf youtube abrufbare Videos zeigen, auch im österreichischen Fernsehen zu sehen, aber dass in diesem Land sogar die Künstler Nazis sind, wissen wir ja spätestens seit dem Erscheinen von „Mein Kampf“!
Mit antifaschistischen Grüßen aus Ost-Berlin Stefan Müller
Ist absurd, oder? Aber nicht absurder als der Leserbrief, den die taz gedruckt hat.
In der Bahn saß ein Mann hinter mir und erklärte einer Frau, die zufällig neben ihm saß, die Welt. Er war ein Öko, hatte schon diverse Petitionen und Klagen gestartet, aber es drangen auch immer wieder merkwürdige Dinge an mein Ohr (Ich versuchte, ein Buch zu begutachten und das auszublenden .…). Jedenfalls hatte er die DDR mit dem Iran verglichen und von Folter gesprochen. Mein Wissensstand war so, dass es zum Ende der DDR fast keine physische Folter gab, dafür aber ausgeklügelte psychische Zersetzung. Bis in Familien hinein.
Es gab in Potsdam eine Stasi-Hochschule mit entsprechenden Abschlussarbeiten.
Ich habe ihm das gesagt und er meinte: Ja, aber die Stasi habe Röntgenstrahlung eingesetzt!
Irgendwann hat er dann auch seiner Sitznachbarin erzählt, wie toll das doch mit dem Internet sei, da könne man das alles nachlesen. Dummerweise wollte ich mein Buch weiterlesen. Ich hätte gleich mal nachgucken sollen. Es gibt höchst interessante historische Untersuchungen aus den 90ern zu den Röntgengeräten und dem Einsatz radioaktiver Materialien durch die Stasi (Eisenfeld et. al. 2002).
Kurz: Das mit den Röntgengeräten ist Quatsch. Zerrüttung findet man auch in diesem Bericht und es gibt noch ganz viele interessante Sachen zu Spionage, Einsatz von Strahlung an der Grenze, Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Institutionen usw.
Die Stasi hat zum Beispiel Westgeld radioaktiv markiert, weil sie rausfinden wollte, wer die Scheine aus den Briefen klaut. Ich dachte ja immer, dass Post und Stasi praktisch eins waren und dass die eben ab und zu Sachen aus Briefen und Paketen genommen haben.
Den Postler haben sie geschnappt, aber 12 Scheine blieben verschwunden. Wahrscheinlich hatte die in Wirklichkeit der Chef und das konnte ja nicht in den Akten dokumentiert werden. =:-)
Die radioaktive Markierung von Geldscheinen und deren Ergebnis ist in einem weiteren Fall belegt.124 Er dokumentiert einen geradezu kriminell fahrlässigen Umgang des MfS mit radioaktiven Substanzen. Aufgedeckt und nachgewiesen werden sollte der Diebstahl von Westgeld aus Postsendungen. Dazu präparierten Mitarbeiter des OTS am 4. Mai 1988 20 5 DM-Scheine mit dem »Wolke«-Mittel 113 (jeweils belastet mit einer Aktivität von 60 uCI), steckten sie in Briefkuverts und schickten sie einen Tag später, wie es heißt, »operativ in den Postkanal«. Tatsächlich konnte ein Mitarbeiter der Post des Diebstahls überführt und festgenommen werden. Es konnten bei ihm aber nur acht der zwanzig präparierten Geldscheine sichergestellt ‑werden. Zwölf der kontaminierten 5 DM-Scheine blieben verschwunden und gaben den beteiligten MfS-Mitarbeitern Anlaß zu einigem Kopfzerbrechen. Ihren Berechnungen zufolge verursachte das Tragen auch nur eines dieser Scheine am Körper über einen Zeitraum von drei Monaten eine Belastung von 200 rem, »was insbesondere im Gonadenbereich spätere Wirkungen bei Jugendlichen verursachen könnte«.125 Diese Dosis würde jedoch, so heißt es, innerhalb eines Jahres infolge der Zerfallszeit auf 16 rem sinken und wäre da nach »aus unserer Sicht ungefährlich«.126 Andererseits mußte eingeräumt wer den, daß alles auch davon abhing, wie die betreffenden Personen mit den Scheinen umgingen. Würde eine Person mehrere dieser Scheine am Körper tragen, so bestünde die Gefahr einer »vervielfachten« Belastung und »von Spätschäden an begrenzten Körperteilen«.127 Wenn man in Rechnung stellt, daß die radioaktiv markierten Geldscheine möglicherweise auch in die Hände von Kleinkindern oder schwangeren Frauen fallen konnten, so muß diesem Markierungsverfahren ein gemeingefährlicher Charakter bescheinigt werden. Ob die Bemühungen des MfS, die zwölf fehlenden radioaktiv präparierten Geldscheine wieder aufzufinden, Erfolg hatten, ist nicht dokumentiert – und das spricht eher für ein negatives Ergebnis.
Eisenfeld et al. 2002, Projektbericht »Strahlen« Einsatz von Röntgenstrahlen und radioaktiven Stoffen durch das MfS gegen Oppositionelle – Fiktion oder Realität
Und obwohl offiziell die radioaktiven Wolken einen Umweg um die DDR gemacht hatten, hat die Stasi für ihre Tracking-Aktionen einen #Tschernobyl-Aufschlag berechnet und die Strahlungsdosis erhöht:
Die Dosis von jeweils 450 uCi (gesamt 1,9 mCi) war so stark, daß auch »von außen […] in der Wohnung gearbeitet« werden konnte.130 Außerdem wurde, wie es heißt, »der infolge der KKW-Havarie [gemeint ist offensichtlich Tschernobyl] erhöhte Strahlungsuntergrund […] rechnerisch berücksichtigt.«131 Am selben Tag wurden der Entwicklungsingenieur und seine Frau in der Wohnung und der Westberliner eine Stunde später an der Grenzübergangsstelle über führt und festgenommen. Der Einsatz der bereitgestellten »Wolke-Mittel« lag in der Regie der Abteilung 26. Der Erfolg brachte Hauptmann Thielemann, der als Mitarbeiter des OTS die praktische Markierung durchführte, noch am selben Tag einen Prämienvorschlag in Höhe von 400 Mark ein.
Eisenfeld et al. 2002, Projektbericht »Strahlen« Einsatz von Röntgenstrahlen und radioaktiven Stoffen durch das MfS gegen Oppositionelle – Fiktion oder Realität
Die haben auch den Boden von Oppositionstreffpunkten präpariert, so dass die Leute das Zeug dann an den Schuhen hatten.
Oder Manuskripte von Oppositionellen radioaktiv markiert und dann geguckt, bei wem das im Westen bzw. im Ostblock angekommen ist.
Schon irre alles. Aber die Untersuchungen haben eben ergeben, dass Röntgenstrahlung nicht gezielt zur Schädigung von Personen eingesetzt wurde.
Quellen
Eisenfeld, Bernd & Auerbach, Thomas & Weber, Gudrun & Pflugbeil, Sebastian. 2002. Projektbericht »Strahlen« Einsatz von Röntgenstrahlen und radioaktiven Stoffen durch das MfS gegen Oppositionelle – Fiktion oder Realität. Berlin: Bundesarchiv/Stasi-Unterlagen-Archiv. (http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292–97839421308513)
Sorry, ich komme erst jetzt dazu. Im Januar schlug ein Bericht des Ostbeauftragten Wellen. Er wurde, wie üblich verdreht.
Die taz schreibt zum Beispiel, dass nur noch 39% der Ostdeutschen mit der Demokratie zufrieden wären:
Das Konzept des Ostbeauftragten verweist auf die gesunkene Zufriedenheit mit der Demokratie besonders in den östlichen Bundesländern. Sie lag zuletzt nur noch bei 39 Prozent.
Das ist mal wieder einer dieser Hiebe in die Kerbe „Die Ossis lehnen die Demokratie ab / sind nicht demokratiefähig / sind komisch / sind anders als wir / saßen zusammen im Kindergarten auf dem Töpfchen und lieben deshalb Diktaturen.“
Dem „Deutschland-Monitor“ zufolge sind nur noch 39 Prozent der Ostdeutschen zufrieden mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert. Gerade einmal 32 Prozent von ihnen glauben, dass Politikerinnen und Politiker das Wohl unseres Landes wichtig sei. Und zwei Drittel sind der Meinung, Ostdeutsche würden häufig als Menschen zweiter Klasse behandelt.
Manche Medien bringen die Einschränkung „so wie sie in Deutschland funktioniert“, manche weisen darauf hin, dass die Zustimmung auch im Westen sinkt. Manche unterlassen das aber.
Als Ossi frage ich mich, wie kann man mit dem, was in diesem Land läuft denn zufrieden sein? Eigentlich geht das nur, wenn man materiell abgesichert und politisch uninteressiert ist. Ansonsten habe ich hier ein paar Punkte, die man komisch finden könnte:
Maskenaffäre: Veruntreuung von Millionen ohne rechtliche Konsequenzen
Korruption im Öl und Gasgeschäft bei CDU/CSU und SPD
Scheuers Versenkungen von Millionen Euros im Mautdesaster ohne rechtliche Konsequnezen
Scheuers Umlenkung von Geldern in seinen Wahlkreis
Giffeys plagierte Doktorarbeit und Masterarbeit. Giffey tritt nach Aberkennung ihres Doktortitls als Familienministerin der Bundesregierung zurück, macht aber dann als Regierende Bürgermeisterin von Berlin nahtlos weiter. What? Eine Diebin und Betrügerin gut genug für Berlin?
Giffey wurde 2022 mit 58,9% zur Parteivorsitzenden in Berlin gewählt. Trotz Rot-Grün-Roter Mehrheit wurde 2023 RGR nicht weitergeführt, sondern nach einer Mitgliederbefragung, die mit einer millimeterdünnen Mehrheit von 54% für Schwarz-Rot ausging, dann die Koalition mit der CDU begonnen. Das ganze Giffey-Paket hätte früher mehrfach für einen Rücktritt gereicht.
Plagiate und Titelbetrug bei diversen anderen Politiker*innen
Lobby-Zugang für den Bundestag zum Beispiel von Waffenhändlern
Der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes, der von der Politik festgelegt wird, ist ein Nazi.
Der Ministerpräsident eines Bundeslandes, der früher beim Öffentlich-rechtlichen Rundfunk gearbeitet hat, fordert die Streichung der Rundfunkgebühren und ansonsten alle drei Wochen das Gegenteil von dem, was er früher gefordert hat.
Porsche ist life dabei bei der Aushandlung des Koalitionsvertrags
Döpfner, Verlagschef des Springer-Konzerns, weist seine Blätter an, die FDP hochzuschreiben, damit diese dann die Koalition platzen lassen kann.
Wie von Döpfner geplant, kann eine Partei, die für 11% der Wähler*innen steht, die Politik der restlichen Regierung sabotieren, wobei dazu natürlich ein Machen-Sie-sich-keine-Sorgen-Klimakanzler gehört, der das mit sich machen lässt.
Verhinderung eines aussagekräftigen Ergebnisses beim Volksentscheid durch die Trennung von Wahltermin und Volksentscheid in Berlin durch die SPD-Innensenatorin.
Vielleicht sind wir Ossis alle etwas naiv. Wir waren geschockt, als wir sahen, was die Funktionäre in Wandlitz alles hatten, obwohl das unter dem Niveau westdeutscher Arbeiter*innen lag. Vielleicht sind unsere Ansprüche an Politiker*innen einfach zu hoch. Höher als die der Wessis.
Vielleicht geht es den Wessis auch einfach zu gut und/oder sie interessieren sich nicht so für die Korruption und Bereicherung. Ist ja normal, machen ja alle.
Also: Es ist nicht so, dass Ossis Demokratie als politisches System ablehnen. Im Gegenteil, die Zustimmung zur Demokratie an sich war zumindest 2018 sogar noch höher als im Westen 95% vs. 93% (Studie der Universität Leipzig). Was abgelehnt wird, ist die Art und Weise, in der Dinge gerade laufen. Und hier ist die Frage an die 59% der Wessis, die mit der Demokratie, wie sie gerade in Deutschland funktioniert, zufrieden sind: What’s wrong with you?
Die taz berichtet heute über Polizist*innen, die durch Rechtsextremismus, Rassismus oder Antisemitismus aufgefallen sind (taz, 21.10.2021). Interessanterweise sind alle Vorfälle bis auf einen mit einer Polizistin aus Dessau aus dem Westen (Berlin zähle ich großzügig auch zum Westen. Es geht wohl auch um Neukölln.):
Oktober 2020 26 Polizeischüler*innen, Nachrichten mit Hakenkreuzen
5 Polizist*innen versenden menschenverachtende Inhalte in Chatgruppen, Volksverhetzung, verfassungsfeindliche Symbole (Detlef M. Neukölln)
Frankfurt/Main:
6 Polizist*innen, rechtsradikale Bilder, einer mit Waffen
20 Beamte des SEK: volksverhetzender Chatnachrichten, 19 suspendiert, 3 Vorgesetzte
Spezialeinheit aufgelöst
Mindestens 29 weitere hessische Polizeibeamt*innen gehörten zur Chatgruppe, 9 mit Disziplinarverfahren, jedoch nicht strafbar, weil private Kommunikation
Polizeipräsident des Präsidiums Westhessen äußert sich rassistisch
Mühlheim an der Ruhr/NRW:
Chat mit rechtsextremen und rassistischen Inhalten, 20 Polizist*innen suspendiert, Strafbefehle gegen 6
alle Aspekte von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, nämlich Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie, Sexismus und Homophobie.
gegen 29 Polizeibeamt:innen ermittelt, Mülheimer Dienstgruppe A samt Dienstgruppenleiter komplett suspendiert
Insgesamt in NRW 53 bestätigte rechtsextreme Fälle, 138 noch offen. Bei 59 Verdachtsfällen noch andauernde strafrechtliche Prüfungen und arbeits‑, disziplinar- oder beamtenrechtlichen Prüfungen, von 2017 bis Ende September 2021 275 Verdachtsfälle, 6 entlassene Kommissaranwärter
Alsfeld/Hessen:
Hitler-Bild auf WhatsApp geteilt, über das Auskunftssystem der Polizei Abfragen ohne dienstlichen Anlass vorgenommen und Informationen weitergegeben, unerlaubte Schusswaffen und Munition
Geldstrafe 7000€, Justiz fand Hitlerbild aber nicht relevant, weil war ja privat
Osnabrück/Niedersachsen:
Ermittlungen gegen 6 Beamte, verfassungsfeindliche Symbole über whatsapp verschickt, 4 suspendiert
So. Wat sagt uns ditte? Ich schreibe jetzt mal eine Einordnung, so wie man sie mitunter andersrum in Zeitungen findet:
<sarcasm>Dieser ganze Neofaschismus ist sehr schwer erträglich und nicht zu verstehen. Die Menschen im Westen sind irgendwie ganz anders als wir lieben Linken aus dem Osten. Wir haben in der Schule aufgepasst, haben alle mehrfach Konzentrationslager besucht und wissen, dass Faschismus unglaubliches Leid über viele Menschen gebracht hat. Wie kann man diese Entgleisungen nur erklären? Mir fallen mehrere Erklärungen ein:
Nach dem Krieg gab es keine wirkliche Aufarbeitung des Faschismus.
Opa/Oma bzw. Uropa/Uroma der kleinen Hitlers in der Polizei sind in einer Diktatur aufgewachsen. Die entsprechenden Deformierungen wurden in der Familie weitergegeben.
Die Nazi-Polizisten sind nie in einen Kindergarten gegangen, saßen stundenlang alleine auf dem Topf, weil Mama sie nicht weiterspielen ließ, bis die wichtigen Sachen erledigt waren, und haben wegen fehlendem Kontakt zu anderen Kindern kein vernünftiges Sozialverhalten erlernt.
Die Nazi-Mütter (Mütter der Nazis) waren frustriert, weil sie ökonomisch abhängig waren und sich deshalb nicht von den Vätern trennen konnten.
</sarcasm>
Ist bescheuert? Ja. Aber solches Zeug müssen Ostdeutsche immer wieder in der Zeitung lesen (Zeitungen sind bis auf das Neue Deutschland und die Berliner Zeitung alles West-Zeitungen). Zum Beispiel, dass Kinder Neonazis geworden seien, weil sie im Kindergarten nebeneinander auf dem Töpfchen gesessen hätten (gute Besprechung der Pfeifferschen These von Kerstin Decker im tagesspiegel, 11.05.1999). Oder dass die Tatsache, dass die AfD im Osten erfolgreich ist, an der Diktatursozialisierung läge. Die DDR ist schon über 30 Jahre Geschichte. Junge AfD-Wähler*innen kennen die DDR nur noch aus Erzählungen.
Zusammenfassung
Dieses Land hat ein Nazi-Problem. Oder mehrere. Verschiedene. Es ist zu einfach, angeekelt auf den jeweils anderen zu blicken und zu sagen: Ih, die sind so anders. Die Nazis. Da drüben. Es wird nicht besser, wenn man von oben herab über Minderheiten schreibt. Man kann sich zwar schön selbst vergewissern und die Leser*innen finden es auch dufte, aber man schließt eben ein Fünftel der Bevölkerung des Landes weiterhin aus (Die taz hat mit 6% ostdeutschen Leser*innen den höchsten Ossi-Anteil. Bei Spiegel und Süddeutscher liegt er bei 4% und 2,5%. Siehe taz, 09.03.2021). Dieses Fünftel wird die Zeitungen weiterhin nicht lesen und sind somit für normale Medien mit journalistischen Qualitätsstandards verloren. Dieser Teil der Bevölkerung kriegt seine Information und Unterhaltung eben auf rechten Schwurbelkanälen. Wie gefährlich das ist, haben wir während der Corona-Krise gesehen und das gilt genauso für die Klimakrise.
Manfred Kriener schreibt in der taz einen guten Artikel über den Atomausstieg nach der Reaktorkatastrophe. Er ordnet darin Angela Merkels Handeln ein. An sich ein schöner Artikel, den man schön weitervertwittern könnte, wenn, ja wenn nicht diese eine Passage wäre:
Merkel, die Kanzlerin der schwarz-gelben Laufzeitverlängerung, wird als Kanzlerin des Atomausstiegs in die Geschichtsbücher eingehen. Dabei hatte sie nie verstanden, wie fundamental der Atomkonflikt die westdeutsche Gesellschaft über Jahrzehnte vergiftet hatte. Die blutigen Schlachten an den Bauzäunen Ende der 70er Jahre, die Massenproteste der 80er Jahre, die jahrzehntelangen Kämpfe unzähliger Bürgerinitiativen, die die Grünen erst möglich machten: Merkel kannte die relevanteste Protestbewegung der alten Bundesrepublik nur aus den Kurzmeldungen im Neuen Deutschland.
Was ist das Problem? Aussagen wie diese sind nicht nur Geätze gegen Merkel sondern eine Beleidigung für jeden politisch interessierten Ostdeutschen. Es gab in der DDR viele Möglichkeiten, sich zu informieren. Als Jugendlicher habe ich Zeitungen ausgetragen, das ND lasen nur die wenigsten. Die, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Die, die statt der DDR-Fahne (oder gar keiner Fahne = Widerstand) zum ersten Mai die rote Fahne aus dem Fenster gehängt haben). Wenn man ein bisschen was über Angela Merkel weiß, dann kann man ahnen, dass sie nicht das ND gelesen hat, jedenfalls nicht als einzige Tageszeitung. Außerdem gab es noch andere Informationsquellen, die auch bis auf kleine Gebiete in Sachsen (dem so genannten Tal der Ahnungslosen) überall verfügbar waren:1 Radio und Fernsehen. Angela Merkel wohnt seit 1978 in Berlin (siehe Wikipedia-Eintrag) und konnte also SFB, Rias und alle West-Fernsehprogramme empfangen. Ab und zu kamen westliche Presseerzeugnisse über die Grenze. Von Verwandten oder Diplomaten rübergebracht. Diese wurden von vielen, vielen Menschen gelesen. Es gab in der DDR ein sehr großes Interesse am Westen und der politischen Entwicklung dort.
2,5 Prozent ihrer Gesamtauflage verkauft die Süddeutsche Zeitung in den Neuen Bundesländern. 3,4 Prozent sind es bei der FAZ, etwa 4 Prozent beim Spiegel. Bei der taz sind es, das steht nicht in der Studie, rund 6 Prozent.
Anne Fromm: Presse in Ostdeutschland: Wer streichelt unsere Seele? taz, 9.3.2021
Woran könnte das nur liegen? Anne Fromm beschreibt es in ihrem Artikel sehr genau.
Statements wie das von Manfred Kriener sind Beleidigungen, wie auch Vorschläge wie der von Markus Liske, der – ebenfalls in der taz – dazu aufrief, nicht mehr in den Osten zu reisen, weil dort alle Nazis seien (siehe Blogbeitrag Reisende, meidet Nordrhein-Westfalen!). Wenn das in ausreichender Frequenz in Presseerzeugnissen vorkommt, hören Menschen auf, das zu lesen. Warum sollten wir den Wessis noch Geld dafür geben, dass sie uns beleidigen? Legendär ist auch das Spiegel-Cover, nach dem dieser Blog benannt ist (siehe Ich will was sagen).
Solche Beiträge kann man bringen, wenn man die Ossis nicht als seine Leser*innen sieht. Wahrscheinlich ist das bei vielen Autor*innen so. Es verstärkt aber das Problem, das wir auf sehr vielen Ebenen haben. Menschen beziehen Informationen aus Facebook-Gruppen, Telegram-Kanälen und anderen lustigen Quellen. Das Ergebnis ist Populismus, sich verstärkende Echokammern mit Fakenews, Hass auf Andersdenkende, die Lügenpresse und den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk. Es ist also auch im eigenen Interesse der klassischen Medien, auf die Ossis zu achten, die Ossis zu achten. Sich zu informieren und zu versuchen, die Position von Minderheiten mitzudenken.
Hier ein Vorschlag: Als die taz noch old-school produziert wurde, gab es Setzer. Diese haben mitunter lustige Kommentare in die Texte der taz-Autor*innen eingebaut. (siehe … die Säzzer-Kommentare) So etwas brauchen wir wieder. Es müsste einen Ossi vom Dienst geben, der das Recht dazu hat, zu allen Belangen, die den Osten betreffen, einen (kurzen) Kommentar einzufügen. Mir hätte es schon gereicht, wenn hinter der oben zitierten Passage gestanden hätte „[Was fürn Quatsch, Ossi vom Dienst]“. Es könnte ein Pool aus Ost-Autor*innen, ‑redakteur*innen gebildet werden, die sich dann Artikel vor der Veröffentlichung noch einmal ansehen. Ich würde dafür 100€ im Monat bezahlen und man könnte das Vorhaben sicher über Crowd-Funding auch noch besser ausstatten. Ich würde auch selbst mitarbeiten, falls das möglich ist. Dann würde ich mich über die Artikel freuen, an denen ich etwas rummeckern kann, ehm, ich meinte, zu denen ich mit meinem Erfahrungsschatz beitragen kann. =:-) Wenn sich das nicht in den mitunter hektischen Pressealltag integrieren lässt, könnte man zumindest ein Kommentarrecht für die Online-Artikel etablieren und zwar für Säzzer-style Einwürfe im Text, nicht in irgendwelchen Kommentarfunktionen. Diese könnten dann auch nach Veröffentlichung eingefügt und sogar mit längeren Begründungen verlinkt werden. So würden alle lernen.
Der größere Wurf wäre die Einrichtung einer Stiftung, die Ossis in der Journalistenausbildung unterstützt und ihnen danach eine Startphase finanziert, denn wie Anne Fromm dargelegt hat, braucht man für Journalismus zur Zeit finanziellen Rückhalt in der Familie und der ist im Osten meistens schlicht nicht gegeben.
Sie schreiben heute in der taz über einen Rant von Kurt Tucholsky, der seine Mitbürger*innen dazu aufruft, nicht mehr nach Bayern zu reisen. Wegen nationalistischer Tendenzen dort. Sie fordern Ihre Leser*innenschaft im Titel auf: Reisende, meidet Sachsen! und dehnen das im Artikel auf den gesamten Osten aus. Satire und solche Rants funktionieren, wenn sich Schwächere gegen Stärkere oder Gleichstarke wenden. Wenn der kleine Wadenbeißer sich im Bein des viel größeren Gegners festbeißt und einfach nicht abzuschütteln ist. Sie funktionieren nicht aus der Position des Stärkeren. Hier nun mein Rant: Ich habe mich über diesen Artikel sehr geärgert. Sie schlagen vor, nicht mehr in den Osten zu fahren, weil dort die Nazis sind. Erstens beleidigen Sie mit solchen Pauschalisierungen 18% der Einwohner*innen der Bundesrepublik. Zweitens treffen Sie damit eine wichtige verbleibende Einnahmequelle. Nach der Wende wurde die DDR-Industrie bewusst plattgemacht (MDR: 2020. D‑Mark, Einheit, Vaterland: Das schwierige Erbe der Treuhand), weite Teile des Landes sind deindustrialisiert und es blieben nur die blühenden Landschaften, die man bereisen kann. Was wir statt Industrie bekommen haben, sind Typen wie Hoffmann von der Wehrsportgruppe Hoffmann, den Ihr gut für uns im Knast aufbewahrt und dann wegen guter Führung eher wieder rausgelassen habt. Er hat dann nach der Wende in Kahla/Thüringen das gemacht, was zu erwarten war. Eure Professoren (weibliche Endung lass ich mal weg) haben die AfD aufgebaut. Fast die gesamte Führungsriege dieser Partei ist aus dem Westen. (hier eine Zusammenstellung) Die Chefs der Ost-Landesverbände allemal: Kalbitz, Höcke, Tillschneider, Reichardt. Die AfDler mit Kontakten zu Reichsbprgern und Holocaustleugner*innen kommen aus Hessen: Doris von Sayn-Wittgenstein. Sie wurde bei laufendem Ausschlussverfahren als Landesvorsitzende Schleswig-Holsteins wieder gewählt. Ihr habt über die rassistischen Ansichten des Chefs des Reservistenverbandes Sachsen geschrieben. Was fehlte: der ist aus dem Westen. Der Verfassungsschutz wurde von Maaßen geleitet, der AfD-nah ist und nirgendwo Rechtsextremismus sehen konnte. Der Verfassungsschutz war bei den NSU-Morden anwesend. Es gibt rechte Netzwerke in Polizei, KSK und Armee. Quellen muss ich hier nicht aufführen, denn alles, was ich darüber weiß, weiß ich aus der taz. Ihr müsstet es also auch wissen. (Vielen Dank übrigens für die tollen Artikel!). Verfassungsschutz, Justiz und Polizei wurden nach der Wende vom Westen in der ehemaligen DDR installiert. In den Leitungspositionen gibt es noch heute keine oder sehr wenige Ossis (laut Steffen Mau, Lütten Klein sind nur 13,3% der Richter*innen im Osten Ossis.). Wie Ihr selbst schreibt, wurden die Täter von Connewitz, Neo-Nazis, die zu Hunderten kamen und einen (linken) Stadtteil platt gemacht haben, auch fünf Jahre nach dem Vorfall nicht bestraft (taz: 11.01.2021, Schleppende Aufklärung). Einer der Täter macht gerade sein Jura-Referendariat … Kürzlich hattet Ihr einen Artikel über einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsheim in Lübeck 1995 (taz: Hoyerswerda, Solingen, Lübeck!). Die mutmaßlichen Täter sind bekannt, die Beweise erdrückend, angeklagt wurde ein Geflüchteter. Ein Justizskandal ohnegleichen. Die Vertuschenden in Polizei und Gerichten sind aus dem Westen. Das Fazit, das man ziehen kann und muss, ist, dass das ganze Land ein einziger brauner Sumpf ist. Entsprechend besetzte Stellen in Polizei und Justiz im Osten bereiten den Boden für die Saat der AfD und der Neonazi-Netzwerke.
Wenn Sie nun vorschlagen, nicht mehr in den Osten zu reisen, ist das selbstgerecht und billig. Und es würde nicht zur Lösung des Problems beitragen, sondern es verschärfen. Nach der Wende wurden alle Printmedien vom Westen übernommen, Wessis schreiben über Ossis. Von oben herab, pauschalisierend, so wie Sie in diesem Artikel. Oft ohne Sachkenntnis. Das hat dazu geführt, dass viele sich einfach abgewendet haben und die West-Medien (#Lügenpresse) nicht mehr rezipieren. Diese Lücke kann dann die AfD mit entsprechenden Alternativangeboten nutzen und das hat sie auch getan. Ihr (die Westmedien) habt die Ossis verloren (jedenfalls den AfD-wählenden Teil der Ostdeutschen). Es nützt nichts, wenn die Tagesschau oder irgendwelche Printmedien über die Corona-Pandemie berichten, denn das kommt an den entsprechenden Stellen nicht mehr an. Mit Verschwörungsthesen, Populismus und Rassismus finden AfD und friends offene Ohren. In der Wikipedia gibt es eine interessante Seite zur Diskriminierung von Ostdeutschen, auf der entsprechende Studien zum White-Trash in den USA und zu den Entsprechungen im Osten verlinkt sind. Menschen, denen es nicht gut geht, treten nach unten. Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlen, begehren auf. Ihr Artikel trägt da nicht zu einer Lösung bei. Im Gegenteil.
Stellen Sie sich einfach vor, es würde jemand einen Artikel mit der Überschrift Reisende, meidet Nordrhein-Westfalen! schreiben, weil es in NRW ganze Stadtteile gibt, in denen nur Nazis wohnen (Dokumentation: 28.09.2020. pro sieben spezial: Rechts.Deutsch.Radikal, wikipedia: Dortmund Dorstfeld). Lächerlich, oder? Es funktioniert nicht. Es funktioniert nur andersrum, aus einer Position der Stärke.
Ihr Artikel ist von derselben Art wie der vor einigen Jahrzehnten ebenfalls in der taz erschienene von Eberhard Seidel-Pielen, in dem er vorschlug, dem Osten die Mittel zu streichen, bis die Ossis Demokratie verstanden hätten: pauschalisierdend, verletzend, arrogant und mies. Lieber Herr Liske, wenn Sie sich in den vergangen Tagen wie Tucholsky gefühlt haben sollten, kann ich Ihnen nur sagen: Sie sind ganz weit weg davon. Ganz weit.
PS: Beim Schreiben von E‑Mails gibt es ja mitunter Probleme, weil diese viel härter ausfallen als das, was man Personen ins Gesicht sagen würde. Bei Zeitungsartikeln ist das wahrscheinlich so ähnlich. Vielleicht stellen Sie sich ja bei Ihrem nächsten Artikel vor, dass Sie mit einem 50jährigen Ossi in einer Kneipe sitzen und diesem erzählen, was Sie demnächst über ihn schreiben werden. Ich würde mich auch als Testperson zur Verfügung stellen. Das Angebot gilt auch für andere taz-Autor*innen.
Nee? Wollen Sie nicht? Und ist Ihnen auch egal, was die Ossis so denken? Dann weiß ich nicht mehr weiter, dann ist dieses Land verloren.
Simone Schmollack, die ich sehr schätze und die viele wichtige und richtige Artikel über den Osten geschrieben hat, hat heute einen Beitrag in der taz über promovierte Stasi-MitarbeiterInnen und über Jahns Vorschlag, Doktortitel, die an der Stasi-Hochschule in Potsdam erworben wurden, statt als Dr. Jur. als Dr. Stas einzuordnen. Ich stimme insgesamt in allem mit Simone Schmollack überein, nur eine kleine Textstelle hat mich geärgert:
Denn so ein Doktortitel verzückt, das hat er schon immer getan, besonders im obrigkeits- und titelorientieren Osten.
Obrigkeitsorientiert? Weiß ich nicht. Viele Menschen haben sich einfach ausgeklinkt und sich ins Private zurückgezogen. Titelorientiert war der Osten sicher nicht. Im Westen hatte und hat ein Professor, Offizier, Arzt viel höheres Ansehen als es diese Berufe im Osten je hatten. Ich würde sogar soweit gehen, den Osten als intellektuellenfeindlich einzustufen. Man hat es tunlichst vermieden, seinen Doktortitel in den Personalausweis zu schreiben, weil einem das bei Kontrollen eher schaden als nützen konnte. Soziale Hierarchien waren in der DDR eher flach. Intellektuelle waren im Alltag zu nichts zu gebrauchen, viel wichtiger waren Beziehungen zu Menschen, die begehrte Waren verkauften oder zu Handwerkern. HandwerkerInnen verdienten viel, viel mehr Geld als WissenschaftlerInnen und waren auch entsprechend angesehen. Zu studieren bedeutete, dass man erst mal zur Armee musste und dann fünf Jahre lang kein Geld verdiente. Irgendwann kam man irgendwo an, aber die Menschen mit Lehrberuf verdienten schon jahrelang. Schön blöd.
Nachtrag vom 26.01.2020: Ich möchte meinen Blogpost mit diesem Zitat aus einem Buch de Soziologen Prof. Dr. Steffen Mau stärken. (Ich weiß, das ist lustig …):
In unserer Klasse blickte die große Mehrheit, die eine Berufsausbildung anstrebte, verächtlich auf die »Streber«, und es war schwer zu vermitteln, warum man weiter die Schulbank drücken sollte, wenn es doch darum ging, schnell Geld zu verdienen und auf eigenen Füßen zu stehen. Ein Hochschulstudium erschien nicht allen als Gipfel des Glücks, was sicherlich auch damit zu tun hatte, dass die damit verbundenen Einkommensgewinne marginal blieben (ein Argument, das noch stärker zu Buche schlägt, wenn man die längere Bildungsphase einrechnet).