Ich möchte mich recht herzlich für alle Emails, Briefe und Päckchen bedanken, die ich nach der Veröffentlichung meines Artikels zu Anne Rabes Buch Die Möglichkeit von Glück erhalten habe. Ich hatte das nicht erwartet, aber das Feedback war im wahrsten Sinne des Wortes überwältigend. Von den Briefen waren sechs kritisch/negativ und 23 positiv. Ich habe die kritischen/negativen ungekürzt in meinen Blog aufgenommen und diskutiere sie dort detailliert: https://so-isser-der-ossi.de/2024/05/27/anne-rabe-leserbriefe/, auch den zum Jammer-Ossi. Auf die in der Berliner Zeitung abgedruckten Teile der Leserbriefe möchte ich im Folgenden eingehen. In meinem Blog und auch im veröffentlichten Beitrag in der BLZ geht es mir darum, welchen Eindruck Anne Rabe von der DDR vermittelt und was daraus abgeleitet wird. Den ersten Blog-Eintrag Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten habe ich auch zu einem Artikel in der taz geschrieben, bevor ich Anne Rabes Roman überhaupt gelesen hatte. Anne Rabe argumentiert grob vereinfachend für eine Töpfchentheorie 2.0: Weil es Familien gab, in denen es Gewalt gab, war der ganz Osten so und man kann daraus letztendlich alles ableiten: Rassismus, Faschismus, Nationalismus, Antisemitismus. Alles, wovor sich das Bildungsbürgertum zu Recht gruselt. Und es ist prima: Das alles ist nur im Osten zu verorten. Dunkeldeutschland eben. Dabei ist es leider so, dass es im gesamten Land ziemlich finster aussieht, ja, sogar in Europa. Die Rechtsextremismus-Studie hat das für Deutschland diskutiert. Der Autor der Studie hat in der Berliner Zeitung (BLZ, 08.07.2023) hervorgehoben, dass der Rechtsextremismus mit der Struktur der Bevölkerung im Osten zusammenhängt und in strukturell ähnlichen Gebieten im Westen ähnliche Einstellungen nachzuweisen sind. Das bedeutet also, dass man für die Wahlerfolge der AfD im Osten oder rassistische Einstellungen keine gewalttätigen Eltern als Erklärung benötigt. Die empirische Forschung liefert Gründe. Auch bricht Anne Rabes Töpfchentheorie sofort in sich zusammen, wenn man ihren autofiktionalen Roman genauer liest, denn dort findet sich die folgende Passage:
Alle Familien haben solche Geschichten. Gemeinsame Erlebnisse, die eine Familie zu einer Familie machen. Geschichten, die man sich immer wieder erzählt. Die Geschichten von einem missglückten Weihnachtsbraten, von Irrfahrten zu einem lang ersehnten Urlaubsziel, Missgeschicke und Tollpatschigkeiten, die einem noch immer die Lachtränen in die Augen treiben. Diese Geschichten, an die man denkt, wenn man Zuhause denkt.
Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 23
Das bedeutet, dass Anne Rabe bzw. die Ich-Erzählerin diese Familie als unnormal einstuft. Wenn sie aber unnormal war, dann kann man aus der Existenz dieser Familie nicht auf die Bevölkerung eines ganzen Landes schließen. Wie hoch die Anteile von auto und fiktional an der autofiktionalen Geschichte sind, werden wir nie herausfinden, denn Anne Rabe äußert sich in Interviews zu diesbezüglichen Fragen nicht (zum Beispiel beim taz-Lab-Gespräch mit Simone Schmollack).
Zwei Briefe sprechen die Frage nach den absoluten und den relativen Zahlen bei Kindstötungen an und einer unterstellt mir eine bewusste Falschdarstellung. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verwendet relative Zahlen, um die Zahlen überhaupt vergleichbar zu machen. Ich möchte das an einem Beispiel erklären: Im Fall der so genannten Neonatizide, also der Kindstötungen direkt nach der Geburt, sind absolute Zahlen nicht aussagekräftig, denn in Bremen wurden zum Beispiel im Jahr 2022 nur 6.720 Kinder geboren. In NRW waren es im selben Zeitraum dagegen 164.496 Kinder. Wenn in beiden Bundesländern jeweils ein Kind getötet worden wäre, wäre die absolute Anzahl gleich, aber für Bremen wäre die relative Anzahl, also die Anzahl im Vergleich zu den Kindern, die überhaupt Opfer hätten werden können, viel größer. Nehmen wir an, in Bremen wären 6.720 Kinder getötet worden, dann wären es 100% gewesen. 6.270 Kinder in NRW wären aber nur 4,1%. Der Vergleich absoluter Zahlen ist also offensichtlich unsinnig. In der PKS wird deshalb der absolute Wert auf Opfer pro 100.000 mögliche Opfer umgerechnet. In Bremen wäre die ermittelte Zahl dann also größer als die tatsächliche Zahl und in NRW kleiner. So werden die Neonatizide in Bremen und NRW vergleichbar. Das ist auch in der zitierten Studie zu den Kindstötungen auf S. 337 erklärt (Höynck, Behnsen & Zähringer, 2015). Ich zitiere genau diese Seite in meinem Blog-Post vom 20.02.2024, der die Kindstötungen ausführlicher bespricht, als das in der Berliner möglich war. Im Artikel, der als Print-Version erschienen ist, sind die Quellen aus Platzgründen ausgelagert worden. Wenn man nun über die Kindstötungen von Kindern unter 6 Jahren spricht, muss man als Bezugsgröße 100.000 Kinder in den jeweiligen Bundesländern annehmen. Ein Bezug auf die Gesamtbevölkerungszahl, wie von einem Leser vorgeschlagen, wäre nicht korrekt. In meiner Originaleinreichung war ein Satz zu den relativen Zahlen bzgl. 100.000 möglichen Opfern enthalten. Ich wurde gebeten, das noch besser zu erklären und habe deshalb die Sätze eingefügt, die darlegen, wie absurd das Ergebnis würde, wenn man von absoluten Zahlen ausginge. Die PKS und auch die Presseberichte darüber haben sich auf relative Zahlen (Fachwort Opferzahlen/OZ) bezogen, Anne Rabe hat aber geschrieben: „Die Zahl der Kindstötungen ist im Osten Deutschlands in den 90er und 00er Jahren doppelt so hoch wie im Westen und steigt im Jahr 2006 sogar auf das Vierfache an.“ Diese Aussage ist faktisch falsch. Ein Leser schrieb mir AR hätte die relative Zahl gemeint. Was jemand gemeint hat, ist aber nicht relevant, entscheidend ist, was jemand veröffentlicht hat. Als Sprachwissenschaftler kann ich einschätzen, was ein Satz bedeutet und als Mathematiker und promovierter Informatiker weiß ich, was Anne Rabe stattdessen hätte schreiben müssen. Dass ich das jetzt nicht hinterher irgendwie zurechtgebogen habe, sieht man, wenn man sich den Print-Artikel ansieht: Dort sind die Bevölkerungsgröße und die Geburtenraten erwähnt. Nur der eine Satz mit der Bezugsgröße 100.000 ist leider im Ping-Pong mit der Redaktion verloren gegangen. Ich hätte besser aufpassen müssen. Der Punkt mit den absoluten und relativen Zahlen hat jetzt in der Diskussion und auch im Artikel einen viel zu großen Raum eingenommen. Wichtig ist, und das sagen Höynck, Behnsen & Zähringer (2015: 337) auch sehr klar (auch an anderen Stellen in ihrem im renommierten Wissenschaftsverlag Springer erschienen Buch), dass man aus der PKS nichts ableiten kann. Der wichtigste Punkt ist, dass die Zahlen (glücklicherweise) zu klein sind. Die Autorinnen listen weitere Probleme auf, die zeigen, dass das Ziehen von Schlüssen aus der PKS zu Kindstötungen unzulässig ist. Es wurde in vielen Briefen kritisiert, dass ich auf Wikipedia verwiesen habe. Ich bin Professor und bilde zukünftige Wissenschaftler*innen aus. Ich weiß sehr wohl, was Wikipedia kann und was Wikipedia nicht kann. In meinem Blog-Beitrag zu den Leserbriefen gehen ich darauf auch genauer ein. Der Punkt ist hier, dass genau diese Studie und auch die entsprechende Seite im Wikipedia-Eintrag zu Kindstötungen zitiert wird. Wenn also jemand einen Quickcheck zu Anne Rabes Behauptungen hätte machen wollen (Verlag, Jury, Rezensenten), so wäre es ein Leichtes gewesen, in Wikipedia die Stelle für weitere Nachforschungen zu finden. Das Problem für dieses Land ist, dass niemand sich die Mühe gemacht hat. Die Gruselgeschichte war doch zu schön.
Bernhard Kavemann liest aus meinem Artikel, dass ich kein Verständnis für Kausalität hätte. Ich habe in mathematischer Logik eine 1,0 im Studium gehabt, habe ein System mit Diskursrepräsentationstheorie implementiert und Logik und Computationale Semantik an diversen Unis gelehrt. Wie Schlüsse funktionieren, weiß ich sehr wohl. Ich habe nirgends behauptet, dass es im Osten keine Nazis gab. Weshalb wäre ich sonst wohl 1989 im Antifa-Block marschiert (was ich im Artikel auch erwähnt habe). Ich habe behauptet, dass Anne Rabe faktisch falsche Behauptungen in ihren Roman eingebaut hat. Den Nachweis dafür haben ich im Artikel und noch detaillierter in den Blog-Posts erbracht. Bernhard Kavemann schreibt weiter: „Der Versuch mit den AfD-Politikern geht ebenfalls daneben: „Höcke und Kalbitz sind aus dem Westen.“ Ja, aber da sind sie nichts geworden, waren kleine Lichter, groß sind sie erst im Osten geworden.“ Im Artikel habe ich bereits Georg Maaßen erwähnt, der nicht im Osten groß geworden ist, sondern im Verfassungsschutz. Das Bundeskabinett hat ihn 2012 auf Vorschlag des Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich (CSU) zum Chef gemacht. Inzwischen wird Maaßen von der Behörde, der er vorsaß, beobachtet. Auch Dr. Alexander „Wir werden sie jagen“ Gauland ist nicht durch Ossis groß geworden. Vogelschiss-Gauland war von 1973 bis 2013 in der CDU, war im Magistrat von Frankfurt/Main, und leitete von 1987 bis 1991 die Hessische Staatskanzlei. Er ist jetzt Ehrenvorsitzender der Höcke-AfD und Vorsitzender der Bundestagsfraktion. Alle diejenigen, die noch ein bisschen Anstand haben, sind bereits aus der AfD ausgetreten. Wo kommen die führenden Nazis her? Wer hat sie groß gemacht? Gern bitte in meinem Blog in der Rubrik Nazis nachlesen.
Helgard Most merkt an, dass man bei der Diskussion mit Anne Rabe beim taz-Lab meine Behauptungen nicht nachprüfen konnte. Dafür habe ich den Blog geschrieben und den Artikel in der Berliner Zeitung veröffentlicht. Die Blog-Beiträge hatte ich ausgedruckt beim taz-Lab mit. 80 Seiten. Ich hätte sie Anne Rabe geschenkt. Wirklich. HM behauptet weiter: „Wir Leser*innen sind intelligent genug, zwischen einem Roman, der Anregungen für eigene Gedanken geben soll, und der Pauschalisierung einer ganzen Bevölkerung, wie Herr Müller sie behauptet, zu unterscheiden.“ Das mag für Frau Most zutreffen, ist aber im Allgemeinen leider nicht richtig. Mein erster Anne Rabe-Post im Blog bezog sich deshalb auch nicht auf den Roman, den ich damals noch nicht gelesen hatte, sondern auf die Diskussion, den dieser Roman ausgelöst hat. Da wird pauschalisiert, die Mär von der gewalttätigen DDR wird verbreitet. Endlich eine Erklärung dafür, wie komisch die Ossis sind. Ich möchte hier ein weiteres wichtiges Beispiel für die Roman/Sachbuch-Diskussion geben. Anne Rabe behauptet: „Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.“ Das ist eine Tatsachenbehauptung. Der Kontext ist:
In der DDR drohte die Diktatur zudem ständig, einen für die Vergangenheit zur Verantwortung zu ziehen. Auch deshalb wurde geschwiegen. In einem Land, in dem der Antifaschismus Staatsräson war, wie soll man da über das sprechen, was man in der »faschistischen Wehrmacht« getan hatte? Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
S. 215
Das ist nicht ein Satz, den irgendeine Person im Roman sagt. Das ist eine Erklärung für den Leser. Und sie ist faktisch falsch. Ich habe das in meinem Blog-Post zum Holocaust ausführlich besprochen und es gibt auch diverse andere Posts, zum Beispiel einen, der eine wissenschaftliche Studie zu Politikern in Ost und West auswertet. Im Osten gab es in den verschiedenen Regierungen neun, dann acht, dann einen jüdischen Politiker. Unter anderem Klaus Gysi. Im Westen gab es nie in irgendeiner Regierung einen. Null. Wichtige Politiker, Musiker, Künstler der DDR waren Juden. Der Vater von Anetta Kahane war ganz vorn mit dabei: Er hat die Nachrichtenagentur ADN aufgebaut und leitete das Neue Deutschland. Wolf Biermann hatte mit Margot Honecker mehrere Jahre in einem Haushalt gelebt. Marion Brasch hat als Jüdin Yassir Arafat am Werbellinsee begrüßt. Als ich einen Bremer Professor für Politikwissenschaft nach seiner Evidenz bezüglich tradierten Antisemitismus’ in der DDR fragte, schrieb er mir zurück, ich solle doch mal das Buch von Anne Rabe lesen. Das ist das Niveau, auf dem die Diskussion läuft. Ein Wissenschaftler verweist mich auf ein Buch, das nicht als Sachbuch bewertet wurde und deshalb auch nicht das wissenschaftliche Qualitätssicherungssystem durchlaufen hat. Beim taz-Lab gab es eine Diskussion zwischen dem Schriftsteller Marco Martin und der Historikerin Katja Hoyer. Ich habe Hoyers Buch noch nicht gelesen und kann zu seiner Qualität nichts sagen, aber Marco Martin behauptete, dass es nicht wahr sei, dass die Sieger die Geschichte schreiben, und führt zum Beispiel Ines Geipel und Anne Rabe als ostdeutsche Stimmen an, die ja den Gegenpart zu den Siegern übernähmen. Das heißt, dass Anne Rabe auf eine Stufe mit Historikern gestellt wird, die in einem Qualitätssicherungssystem arbeiten und veröffentlichen. So wird aus einem Roman ein Sachbuch. Zu Ines Geipel gibt es eine Dokumentation des MDR, die diskutiert, dass Geipel weder Olympionikin, noch Weltrekordhalterin war, dass die Zahlen der Dopingopfer, die sie als Chefin der Dopingopferhilfe genannt hat, viel zu hoch waren. Geipel hat eine Programmbeschwerde beim Rundfunkrat eingelegt. Die 101-seitige Erwiderung des MDR liegt mir vor. Die Autor*innen nennen Geipel darin eine Lügnerin und Hochstaplerin, die Wörter Unverfrorenheit und Dreistigkeit kommen vor. Wieso soll jemand, der in Bezug auf seine eigene Geschichte lügt, eine glaubwürdige Quelle für unser aller Geschichte sein? Über den Holocaust schreibt Geipel: „Mit dieser instrumentellen Vergessenspolitik wurde im selben Atemzug der Holocaust für 40 Jahre in den Ost-Eisschrank geschoben. Er kam öffentlich nicht vor.“ Das ist faktisch falsch, wie ich ausführlich in Der Ossi und der Holocaust nachgewiesen habe. Anne Rabe und ihre (ehemalige?) Freundin Ines Geipel sind keine verlässlichen Quellen, was die Geschichte der DDR angeht. Das in Bezug auf Anne Rabe zu zeigen, war das Ziel meines Beitrags in der Berliner Zeitung. Und dann bleibt die Frage: Wer schreibt unsere Geschichte?
Den Leserbrief zu den Blumentöpfen verstehe ich nicht. Ich weiß nicht, warum die Leserbriefredaktion ihn ausgesucht hat.
Reinhard Brettschneider wirft mir vor, dass ich die Spaltung erhalten will. Nichts liegt mir ferner. Wie gesagt: Ich habe mich bis 2013 nicht als Ossi gesehen. Die Spaltung ist jedoch real. Vieles wird man nicht mehr reparieren können. Eigentumsstrukturen werden immer so bleiben: Vermieter wohnen im Westen, die Einnahmen fließen dorthin ab. Firmensitze liegen im Westen, Einnahmen und Patente gehen in den Westen. Steuern werden nicht im Osten gezahlt, sondern am Firmensitz. Aber man könnte einige Dinge ändern, die zur Verheilung einiger Wunden beitragen könnten. Dazu gehört, dass respektvoll über den Osten geschrieben wird, ja, dass die Menschen dort überhaupt als solche wahrgenommen werden. Ich habe in meinem Blog einige Fälle diskutiert, in denen West-Autoren und ‑Wissenschaftler über den Osten reden, als wäre er nicht Teil des Landes. Und das in Artikeln, die einen positiven Beitrag zur Ost-West-Debatte leisten wollen. Ich kämpfe dafür, dass für diese Probleme überhaupt erst mal ein Bewusstsein entsteht. Das ist dringend notwendig, denn ein vernünftiges Miteinander ist auch ein Betrag im Kampf gegen den Faschismus. In der taz schreibt Georg Seeßlen: „Die Menschen, die einem Maximilian Krah zujubeln, […] trotz der Nachrichten über diesen Mann, müssen einen fundamentalen Bruch vollzogen haben.“ Der Punkt hier ist: Diese Menschen wurden von den relevanten Nachrichten wahrscheinlich nicht erreicht, denn sie sind nicht mehr Teil des gesellschaftlichen Diskurses. 2021 schrieb Anne Fromm in der taz: „2,5 Prozent ihrer Gesamtauflage verkauft die Süddeutsche Zeitung in den Neuen Bundesländern. 3,4 Prozent sind es bei der FAZ, etwa 4 Prozent beim Spiegel. Bei der taz sind es, das steht nicht in der Studie, rund 6 Prozent. […] Die Ostdeutschen lesen also keine Zeitungen, zumindest keine überregionalen mit Sitz in der alten BRD.“ Warum soll ich Geld für Druckerzeugnisse bezahlen, in denen dauernd merkwürdige Dinge über mich stehen? Ich möchte, dass es wieder einen Diskurs gibt. Dass wir miteinander reden, nicht übereinander. Ich bin also kein Spalter. Ich kämpfe für ein Miteinander, eine Einigung, für die deutsche Einheit! Wer hätte das 1989 gedacht?
Höynck, Theresia & Behnsen, Mira & Zähringer, Ulrike. 2015. Tötungsdelikte an Kindern unter 6 Jahren in Deutschland: Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997–2006). Wiesbaden: Springer. (https://doi.org/10.1007/978–3‑658–07587‑3)
Ich habe viele, viele Reaktionen zu meinem Artikel über Anne Rabes Buch in der Berliner Zeitung bekommen: Leserbriefe über die BLZ, Emails direkt an mich, Briefe und Post-Karten, Anrufe, Hinweise auf Bücher mit eigenen Biografien, ja sogar ein Päckchen mit einem solchen Buch. Eine Zuschrift war eine Interviewanfrage eines Hamburger Radio-Senders. Das Interview in „Heiße Tasse“ hat inzwischen stattgefunden und ist auch Bestandteil meines Blogs geworden. Insgesamt waren von den Zuschriften 30 positiv und sechs in einzelnen Punkten kritisch oder insgesamt negativ (Stand 14.06.2024). Zu den negativen/kritischen möchte ich hier Stellung nehmen. Teile positiver und negativer Briefe wurden in der Berliner Zeitung am 01.06.2024 veröffentlicht. Dazu gibt es eine Antwort in der BLZ vom 15.06.2024. Der ursprüngliche Antworttext war 17.000 Zeichen lang und lag somit deutlich über den 5.000 zur Verfügung stehenden Zeichen. Dieser Text überlappt sich etwas mit den Antworten hier.
Saarbrücken ist nicht Neunkirchen
Auf Mastodon und von einem Leser wurde ich darauf hingewiesen, dass Erich Honecker nicht in Saarbrücken sondern in Neunkirchen geboren ist. Dieser Fehler tut mir Leid. Er war im ursprünglichen Blogpost nicht enthalten und meine Erinnerung hat mich wohl der Pointe wegen beim Schreiben des Artikels getäuscht. Da ich den gedruckten Artikel in der Berliner Zeitung nicht mehr ändern kann, werde ich den Honecker-Eintrag in der Wikipedia ändern. (Das war ein Scherz, der zum nächsten Abschnitt überleitet.)
Wikipedia ist keine wissenschaftliche Quelle
Mehrfach kam der Einwand, dass Wikipedia keine wissenschaftliche Quelle ist. Das ist mir durchaus bewusst. Ich bilde Student*innen im wissenschaftlichen Arbeiten aus (siehe hier meine Richtlinien für Hausarbeiten). In der Online-Version des Artikels sind die wissenschaftlichen Quellen zitiert. Im Druck-Artikel war dafür kein Platz, aber am Ende des Artikels gibt es einen Verweis auf die Online-Version.
Wikipedia ist auch für Wissenschaftler*innen ein erster Anlaufpunkt. Man kann dort nachlesen und dann die dort zitierte Fachliteratur konsultieren. Im Fall der Amokläufe und der Kindstötungen habe ich das getan. Der Verweis auf Wikipedia im BLZ-Artikel und hier im Blog-Post hatte den Sinn zu zeigen, wie einfach es gewesen wäre, einen Startpunkt für weitere Recherchen zu finden. Weder Anne Rabe noch irgendeine*r der Buchpreis-Juror*innen oder Rezensent*innen (Ausnahme Wiebke Hollersen) hat das getan. Ich zitiere hier meinen Artikel:
Zusammenfassend kann man sagen, dass Anne Rabes Buch an vielen wichtigen Stellen gravierende Fehler enthält, die oftmals durch nur einen Klick in die entsprechenden Wikipedia-Artikel oder einen zweiten Klick in die dort verlinkte Fachliteratur als solche erkannt werden können.
Ein weiterer Grund, Wikipedia in bestimmten Situationen zu verwenden, ist, dass Argumentationen nachvollziehbar sein sollen. Die verlinkten Dokumente müssen dazu zugänglich sein. Das ist bei Fachpublikationen leider immer noch nicht der Fall. Eine Zusammenstellung der Fakten über die Wehrsportgruppe Hoffmann wäre zum Beispiel nicht zu leisten. Ich müsste dazu im Prinzip Wikipedia replizieren.
Absolute und relative Zahlen
Ein Professor schreibt mir:
Wenn Herr Professor Müller so stark auf die Richtigkeit der Fakten abstellt, was die Aussagen von Frau Rabe in Ihrem Buch „Die Möglichkeit von Glück“ angeht, so ist das nicht zu beanstanden. Es stimmt mich aber bedenklich — und das stellt dann auch den ganzen Artikel in Frage — wenn die Aussagen der Autorin bewusst (?) nicht richtig interpretiert werden. Wenn im Jahre 2006 im Westen 48 und im Osten 34 Kindstötungen erfolgten, dann kann man nicht einfach sagen, dass dies 29% weniger Tötungen im Osten waren als im Westen. Wer diese Zahlen nämlich ins Verhältnis zum Bevölkerungsanteil setzt, der stellt fest, dass 2006 4x mehr Westdeutsche als Ostdeutsche in Deutschland lebten. Wenn ich die Zahl 48 mit 4 multipliziere, dann ist das Ergebnis 192. Die Aussage von Frau Rabe — richtig interpretiert — fällt sogar noch günstig für die Ostdeutschen aus.
Herr Professor Müller: Wenn man so anspruchsvoll daherkommt, sollte man sich schon etwas mehr Mühe geben.
Leserbrief OL
Diese Aussage enthält die Unterstellung, ich hätte die Autorin bewusst fehlinterpretiert. Hier ist die zitierte Stelle aus meinem BLZ-Artikel:
Als letzten Punkt möchte ich die Kindstötungen ansprechen. Anne Rabe behauptet in ihrem Nicht-Sachbuch, dass die Zahl der Kindstötungen in den 90er- und 2000er-Jahren im Osten doppelt so hoch war wie im Westen und im Jahr 2006 auf das Vierfache anstieg. Schaut man in Studien zur Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) dieser Jahre, stellt man fest, dass die Fallzahlen insgesamt so klein sind, dass man keine statistisch relevanten Aussagen machen kann.
Außerdem weisen die Autorinnen darauf hin, dass die Fälle mit dem Jahr der Erfassung in die PKS eingehen. Das war für die neun Kindstötungen, die in Frankfurt (Oder) zwischen 1988 und 1999 stattfanden, das Jahr 2006. Dadurch ist der extreme Anstieg von 2006 zu erklären, denn die Fallzahlen insgesamt sind sehr klein. Zu guter Letzt ist die Aussage von Anne Rabe, die Zahl der Kindstötungen sei im Osten doppelt so hoch wie im Westen gewesen, schlicht falsch. Wenn dem so wäre, wäre das wirklich extrem, denn im Osten gibt es viel weniger Menschen und viel geringere Geburtenraten als im Westen.
Die absoluten Zahlen für 2006 betragen 48 tote Kinder für Westdeutschland und 34 für Ostdeutschland – das sind 29 Prozent weniger. Wenn die absoluten Zahlen im Osten viermal so groß wie im Westen gewesen wären, hätten es 192 statt 34 Kindstötungen sein müssen.
Die Kritik des Lesers ist sehr merkwürdig, denn ich habe im Satz vor den absoluten Zahlen geschrieben, dass es im Osten viel weniger Menschen und viel niedrigere Geburtsraten gibt als im Westen und dass man, wenn man die absoluten Zahlen betrachten würde, nicht auf eine um den Faktor vier höhere Tötungszahl kommen könnte. Im von mir eingereichten Beitrag stand auch noch ein Satz zur Ermittlung der Opferziffern (OZ). Relevant sind die Kindstötungen pro 100.000 Menschen im relevanten Alter (Kinder unter sechs Jahren).
Leider ist dieser Satz im Redaktionsprozess verloren gegangen, was mir nicht aufgefallen ist. Ich hätte den ganzen Absatz noch einmal sorgfältig lesen müssen. Jetzt steht folgendes in der Online-Version:
Die absoluten Zahlen für 2006 sind für Westdeutschland 48 und für Ostdeutschland 34. Was untersucht wurde, ist die Anzahl der Kindstötungen pro 100.000 Kindern unter sechs Jahren.
Im Original-Blogpost zum Thema ist das richtig. Hier noch einmal die Grafik aus der Polizeistatistik mit den relativen und absoluten Zahlen:
Man sieht sehr schön, dass die relativen Zahlen (West 1,28 vs. Ost 5,76) sich anders verhalten als die absoluten (48 vs. 34). Die relativen Zahlen sind in der Tat um den Faktor vier höher, die absoluten Zahlen sind aber um 29 % niedriger.
Wer spricht?
Leser Reinhard Brettschneider schreibt:
Sehr geehrter Herr Müller, liebe Berliner Zeitung, es ist sehr gut, dass die Berliner Zeitung so vielfältig und frei Menschen ihre Meinung schreiben lässt. Ich finde es super, Herr Müller, dass Sie diesen Freiraum nutzen. Ich bin froh, dass ich, seinerzeit 29 Jahre alt, mit dem Ende der DDR diese Freiheiten auch dort erleben konnte.
Ich finde mich in Ihren Artikel in keiner Weise wieder. Für mich ein Artikel mehr, der Spaltung zwischen Ost und West erhalten will. Und ich persönlich bin sehr froh, dass ich sowohl persönlich als auch beruflich diesen Spaltergeist nicht erlebe.
Eine Sache hat mich besonders irritiert. Gleich am Anfang schließen Sie 2 Gruppen aus dem Diskurs aus und Ihre Begründungen klingen für mich wie „niedrige Beweggründe“ mit denen beide Gruppe, ihre Meinung zur DDR bilden.. Wenn ich ehemalige Oppositionelle in Medien oder anderswo erlebe, so haben sie sehr unterschiedliche und differenzierte Meinungen. Zu der anderen Gruppe hatte und habe ich zu wenig Kontakt.
Ich bin Physiker und deshalb etwas zahlenaffin. Herr Müller, Sie haben vollkommen recht, dass Frau Rabe falsch liegt, wenn sie behauptet hat, dass die absolute Zahl der Kindstötungen in in den neuen Bundesländern über den der alten Länder lag. Ich kenne das Originalzitat von Frau Rabe nicht, aber üblich sind in solchen Fällen für Vergleiche natürlich relative Zahlen. Grobe Zahlen zum einfachen Rechnen: Neue Länder ca. 14 Mio (inkl. 1,4 Mio Berlin), alte Länder 70 Mio., 25 (=34–9 wegen des Sondereffekts) vs. 48 macht einen Anteil von 1,8 pro Mio Einwohner gegen 0,7 pro 1 Mio. Das ist etwa das 2,5 fache. Das ist schon eine deutliche Korrelation, insbesondere wenn es über einen langen Zeitraum so war. Korrelation ist keine Kausalität. Und ich vermute, dass die absolute Zahl (zum Glück) so klein ist, dass die gewiss vielfältigen Ursachen nicht wissenschaftlich erforscht werden.
Liebe Berliner Zeitung, auch wenn Sie für die OS-Artikel inhaltliche Verantwortung ausschließen, wäre ein Faktencheck bei einem Artikel, der sich auf Fakten beruft, vielleicht doch angebracht.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Hier die einzelnen Punkte kommentiert:
Für mich ein Artikel mehr, der Spaltung zwischen Ost und West erhalten will. Und ich persönlich bin sehr froh, dass ich sowohl persönlich als auch beruflich diesen Spaltergeist nicht erlebe.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Sehr geehrter Herr Brettschneider, ein erster Beitrag zur Heilung wäre ein angemessene Wahrnehmung der Tatsachen, eine faire Berichterstattung in den Medien. Diese ist nicht gegeben, weshalb ich diesen Blog betreibe. Ich erlebe diesen Spaltergeist auch weder beruflich noch persönlich. Wir hatten gerade eine private Party mit ca. 70 Menschen, bei denen wahrscheinlich 80 Prozent aus dem Westen waren. Wir waren mit Familien aus dem Westen im Urlaub usw. In meinem Umfeld an der Humboldt-Uni komme ich primstens mit allen aus. Einige meiner Kolleg*innen haben mich auch auf den Artikel angesprochen. Positiv. Die Spaltung ist real. Gerade auch bei Professuren zeigt sie sich. Ich bin an unserem Institut an einer Ost-Uni der einzige Ossi von neun Professuren. Von 22 Jura-Professor*innen sind zwei aus dem Osten. Ich habe in Ich will was sagen über meine Entwicklung zum Ossi und die Gründe für diesen Blog geschrieben. Spaltung liegt mir fern. Wissenschaft geht auch ohnehin nur gemeinsam. Ich habe lange Jahre in Saarbrücken, Bremen, in Jena und auch an der FU-Berlin gearbeitet. Ausschließlich mit West-Professor*innen. Ich bin auch ins DFG-Fachkollegium gewählt worden. Das Fachkollegium vergibt die Forschungsmittel, die Wissenschaftler*innen beantragen können. Wählen dürfen alle im betreffenden Fach Promovierten. Auch dort war ich der einzige Ossi. Ich habe als Ossi im beruflichen Umfeld keinerlei Probleme. Ich möchte hier auf Missstände hinweisen und die Spaltung überwinden. Dazu ist es wichtig, dass tendenziöser Berichterstattung etwas entgegengestellt wird.
Eine Sache hat mich besonders irritiert. Gleich am Anfang schließen Sie 2 Gruppen aus dem Diskurs aus und Ihre Begründungen klingen für mich wie „niedrige Beweggründe“ mit denen beide Gruppe, ihre Meinung zur DDR bilden.. Wenn ich ehemalige Oppositionelle in Medien oder anderswo erlebe, so haben sie sehr unterschiedliche und differenzierte Meinungen. Zu der anderen Gruppe hatte und habe ich zu wenig Kontakt.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Ich habe zu diesem Punkt in einem Blog-Post über einen Artikel von Patrice Poutrus geschrieben. Ad hominem-Argumente sind immer schwach, in bestimmten Diskussionen sogar schlecht, eine Form von Whataboutism. Aber in der aktuellen Situation ist es schon wichtig zu schauen, wer spricht. Mir geht es um extreme Ansichten. Es gibt Historiker oder andere Autor*innen, die kein gutes Haar an der DDR lassen und eben auch faktisch Falsches oder logisch Unhaltbares von sich geben. Und man fragt sich dann, warum sie das tun. Patrice Poutrus war in der DDR hauptamtlicher FDJ-Sekretär. Er hat vor der Wende angefangen Geschichte zu studieren. Das waren nur die rötesten Socken. Genauso kommt Ines Geipel aus einem Elternhaus mit Stasi-IM, der für Terroranschläge auf dem Gebiet der BRD zuständig war. Kahane ist die Tochter eines führenden DDR-Journalisten. Diese Menschen haben sich irgendwann von ihrer Vergangenheit gelöst, sind dabei aber über das Ziel hinausgeschossen. Sie sind keine verlässlichen historischen Zeitzeugen, so wie Anne Rabe auch keine verlässliche Quelle in Bezug auf die DDR ist. Der Abschnitt mit der Selbstvorstellung in der Berliner Zeitung ist – gemessen an dem, was ich hätte auch noch sagen wollen und müssen – vielleicht etwas zu lang geraten. Er war nötig, um zu zeigen, dass ich kein „Im Osten war alles dufte“-Mensch bin, kein Ostalgiker und kein Jammer-Ossi (ein Begriff zur pauschalen Zurückweisung aller Klagen).
Übrigens war ich beim taz-Lab mit zwei Ostlerinnen, die beide in der Jungen Gemeinde waren. Eine der beiden ist in der zehnten Klasse aus politischen Gründen von der Schule geflogen. Sie hat einen Ausreiseantrag gestellt und durfte zwei Wochen vor Maueröffnung in den Westen ausreisen. Wir fanden es alle drei kurios, dass jetzt die Dissident*innen die DDR verteidigen müssen. Also: Es gibt immer sone und solche. Ich versuche, ein differenziertes Bild von der DDR zu zeichnen.
Ich bin Physiker und deshalb etwas zahlenaffin. Herr Müller, Sie haben vollkommen recht, dass Frau Rabe falsch liegt, wenn sie behauptet hat, dass die absolute Zahl der Kindstötungen in in den neuen Bundesländern über den der alten Länder lag. Ich kenne das Originalzitat von Frau Rabe nicht, aber üblich sind in solchen Fällen für Vergleiche natürlich relative Zahlen. Grobe Zahlen zum einfachen Rechnen: Neue Länder ca. 14 Mio (inkl. 1,4 Mio Berlin), alte Länder 70 Mio., 25 (=34–9 wegen des Sondereffekts) vs. 48 macht einen Anteil von 1,8 pro Mio Einwohner gegen 0,7 pro 1 Mio. Das ist etwa das 2,5 fache. Das ist schon eine deutliche Korrelation, insbesondere wenn es über einen langen Zeitraum so war. Korrelation ist keine Kausalität. Und ich vermute, dass die absolute Zahl (zum Glück) so klein ist, dass die gewiss vielfältigen Ursachen nicht wissenschaftlich erforscht werden.
Liebe Berliner Zeitung, auch wenn Sie für die OS-Artikel inhaltliche Verantwortung ausschließen, wäre ein Faktencheck bei einem Artikel, der sich auf Fakten beruft, vielleicht doch angebracht.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Lieber Herr Brettschneider, ich habe angefangen, Mathematik zu studieren, dann – als es den Fachbereich gab – zu Informatik gewechselt und in Informatik promoviert. Ich bin auch zahlenaffin. Im vorigen Abschnitt habe ich erklärt, was schief gegangen ist. Der Satz bezüglich der Kindstötungen pro 100.000 Geburten ist dem Ping-Pong mit der zuständigen Redakteurin zum Opfer gefallen. Sie hatte angemerkt, dass mit den absoluten Zahlen etwas unklar sei, weshalb ich dann noch eingefügt hatte, wie hoch die absoluten Zahlen sein müssten, wenn man Anne Rabes Aussage zugrundelegen würde. Hier können Sie auch sehen, dass die Redaktion durchaus auch inhaltlich mit mir an dem Artikel gearbeitet hat. Die Veröffentlichung wurde um mehrere Wochen verzögert, weil da noch Dinge geprüft wurden. Es wäre übrigens nicht korrekt, wie Sie vorgeschlagen haben, die Bevölkerungsgrößen zum Vergleich heranzuziehen. Das kann man sehen, wenn man sich überlegt, was wäre, wenn in den neuen Bundesländern in einem Jahr nur ein Kind geboren würde. Wenn dieses dann getötet würde, wäre die Zahl der getöteten Kinder pro Einwohner extrem gering. Die Zahl der Kindstötungen pro Geburt läge aber bei 100%. Was in der Polizeistatistik also angegeben wurde sind die Zahl der Kindstötungen pro 100.000 Geburten. Das wäre vergleichbar, wenn es nicht Probleme mit Dunkel- und Hellfeld in der Erfassung und das Problem der insgesamt zu niedrigen Fallzahlen gäbe, die Sie ja auch ansprechen. Man kann daraus absolut nichts ableiten. Das habe ich im Artikel auch geschrieben:
Die Autorinnen der zitierten Studie schreiben das auch explizit (Höynck, Behnsen & Zähringer. 2015: 337). Sie können in der Studie auch noch weitere problematische Aspekte finden. Zum Beispiel Aufnahme des Falls durch die Polizei vs. Anklage vs. Verurteilung. Die PKS listet die Fälle erst mal nur aus der Sicht der Polizei. Es kann sich dann immer noch herausstellen, dass die Sachlage anders war. Ich bitte Sie, noch meinen originalen Blog-Post zu dem Thema Kindstötungen zu lesen. Da sind die Gründe, warum man aus der PKS nichts ableiten kann, genau erklärt. Leider konnte ich auf der einen Seite, die mir zur Verfügung stand, nicht tiefer ins Detail gehen.
Kausalität und Faktencheck
Im folgenden Leserbrief geht es um die Tatsache, dass der Faschismus im Osten in seiner jetzigen Ausprägung nicht ohne den Westen möglich gewesen wäre. Wie ich im Original-Artikel ausgeführt habe, haben die Polizei und auch zuständige Politiker*innen in Rostock-Lichtenhagen massiv versagt. Alle beteiligten waren aus dem Westen und trotz Ankündigung der Ausschreitungen im Wochenende. Parteistrukturen wurden von Neonazis aufgebaut (Deutsche Alternative), rechte und rechtsextreme Aktivitäten von Gerichten und Verfassungsschutz geschützt oder gedeckt. Ich gebe hier einen Leserbrief komplett wieder und gehe dann auf Details ein:
Das Lesen des Beitrages von Herrn Stefan Müller hat mich doch etwas ärgerlich gemacht, denn von einem Hochschullehrer hätte ich doch ein wenig mehr erwartet. Aber mal im einzelnen: Ich fand den Ton des Beitrages schon etwas geifernd, was eigentlich unnötig ist, denn wenn man jemanden Fehler nachweisen kann, kommt das in sachlicher Tonlage durchaus besser an. Ein Verständnis von Kausalität, was ist Ursache und was ist Folge, hat Herr Müller offenbar auch nicht so recht. Denn zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen schriebt er triumphierend: „Die Neonazis aus dem Westen kam am zweiten Tag“ – ja, wenn es einen ersten Tag, völlig ohne Neonazis aus dem Westen nicht gegeben hätte, dann hätte es auch keinen zweiten Tag geben können. Der Versuch ging dann doch in die Hose. Und der Versuch mit Höcke und Kalbitz geht daneben: „Höcke und Kalbitz sind aus dem Westen“. Ja, natürlich, aber da sind sie nichts geworden, waren kleine Lichter, groß sind sie erst im Osten geworden. Und ein paar Zeilen später sieht Herr Müller das dann offenbar auch selbst ein: „Natürlich gehört zum Erfolg der Nazis in Ostdeutschland das Fußvolk, das begeistert mitmacht“. Ja, natürlich, ohne Fußvolk kann man in der Politik gar nichts werden.
Und dann die Geschichte mit den „Nazi-Aufmärschen“. Dass die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut ist, ist gerade erst zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes wieder betont worden, und dass es hohe Hürden gibt, bevor eine Demonstration verboten werden kann sollte auch bekannt sein. Dafür die Verwaltungsrichter in Gera zu schelten und dann auch noch darauf hinzuweisen, dass alle drei „Wessis“ sind, das geht nun wirklich an der Sache vorbei. Es gibt in der Bundesrepublik – anders als früher in der DDR – eine politisch unabhängige Justiz, die nach Recht und Gesetz zu entscheiden hat und nicht nach politischer Opportunität. Dass das manchmal schwer auszuhalten ist, verstehe ich, zumal der zitierte Jenaer Bürgermeister, der den Aufmarsch verbieten wollte, ein Parteifreund von mir ist. Aber das gehört leider nun mal zu einem freiheitlichen Rechtsstaat dazu.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Ich verstehe die Emotionalität des Leserbriefschreibers. Ich bin auch manchmal emotional.
Nun zu den Details:
Ein Verständnis von Kausalität, was ist Ursache und was ist Folge, hat Herr Müller offenbar auch nicht so recht. Denn zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen schriebt er triumphierend: „Die Neonazis aus dem Westen kam am zweiten Tag“ – ja, wenn es einen ersten Tag, völlig ohne Neonazis aus dem Westen nicht gegeben hätte, dann hätte es auch keinen zweiten Tag geben können.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Wer am ersten Tag da war, weiß ich nicht. Darum geht es auch in dem Beitrag nicht. Es geht um die Fakten bzgl. Rostock-Lichtenhagen und da liegt Anne Rabe falsch. Bitte lesen Sie auch den Blog-Abschnitt „Nazis aus dem Westen“ zu diesem Thema. Man hätte diese Ausschreitungen sofort unterbinden müssen. Das ist nicht geschehen, weil die Polizeiführung und Politiker allesamt zuhause waren und der Mob trotz monatelanger vorheriger Ankündigung ungehindert toben konnte. Nazi-Verbrechen sind nie konsequent verfolgt worden, weshalb sich das Problem immer weiter zugespitzt hat.
Und der Versuch mit Höcke und Kalbitz geht daneben: „Höcke und Kalbitz sind aus dem Westen“. Ja, natürlich, aber da sind sie nichts geworden, waren kleine Lichter, groß sind sie erst im Osten geworden. Und ein paar Zeilen später sieht Herr Müller das dann offenbar auch selbst ein: „Natürlich gehört zum Erfolg der Nazis in Ostdeutschland das Fußvolk, das begeistert mitmacht“. Ja, natürlich, ohne Fußvolk kann man in der Politik gar nichts werden.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Bitte lesen Sie die Zusammenstellung der rechtsextremen AfD-Politiker*innen und auch der Landesvorsitzenden, die auch aus der Online-Version des Artikels verlinkt ist. Da können Sie sehen, welche anderen AfDler es noch gibt und gab. Sie können ihre Lebensläufe studieren und selbst nachprüfen, ob aus den jeweiligen Personen im Westen nichts geworden ist. Die AfD ist von neoliberalen Professor*innen aus dem Westen gegründet worden. Diese waren Mitglieder der CDU/CSU, der FDP und ja, sogar der SPD. Die Partei wurde nach und nach immer extremer. Nicht nur im Osten sind extrem rechte Politiker*innen am Werk. Die im Westen werden auch von ihren Landesverbänden immer wieder gewählt. Auch trotz Ausschlussverfahren wegen Holocaust-Leugnung und so weiter. Alles bestens verlinkt. Ich erinnere nur an Dr. Alexander „Wir werden sie jagen“ Gauland, Oberst a. D. Georg Pazderski, Dr. Alice Weidel, Offizier Martin Reichardt, Doris von Sayn-Wittgenstein, PD Dr. phil. Hans-Thomas Tillschneider, Dr. Wolfgang Gedeon. Das sind Menschen mit hohem Bildungsniveau, aus denen im Westen schon was geworden war. Der eindrücklichste Beweis:
Gauland war von 1973 bis 2013 Mitglied der CDU. Er war im Laufe seiner Parteikarriere im Frankfurter Magistrat und im Bundesumweltministerium tätig und leitete von 1987 bis 1991 die Hessische Staatskanzlei unter Ministerpräsident Walter Wallmann, der sein Mentor war.
Und vielleicht sollte man auch den Chef des Bundesverfassungschutzes Hans-Georg Maaßen erwähnen, der durch Bundesinnenminister Horst Seehofer ins Amt geholt worden war und der nun selbst durch seine eigene Behörde beobachtet wird. Wie wird man groß?
Und dann die Geschichte mit den “Nazi-Aufmärschen”. Dass die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut ist, ist gerade erst zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes wieder betont worden, und dass es hohe Hürden gibt, bevor eine Demonstration verboten werden kann sollte auch bekannt sein. Dafür die Verwaltungsrichter in Gera zu schelten und dann auch noch darauf hinzuweisen, dass alle drei „Wessis“ sind, das geht nun wirklich an der Sache vorbei. Es gibt in der Bundesrepublik – anders als früher in der DDR – eine politisch unabhängige Justiz, die nach Recht und Gesetz zu entscheiden hat und nicht nach politischer Opportunität. Dass das manchmal schwer auszuhalten ist, verstehe ich, zumal der zitierte Jenaer Bürgermeister, der den Aufmarsch verbieten wollte, ein Parteifreund von mir ist. Aber das gehört leider nun mal zu einem freiheitlichen Rechtsstaat dazu.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Bitte lesen Sie den auch verlinkten Artikel über die drei Richter in der taz. Wenn man sich anguckt, wie ihre Urteile im Vergleich zum Bundesgebiet ausfallen, ist klar, wer da sitzt.
In Jena durfte die NPD Märsche im Gedenken an die Reichspogromnacht und an den Tod von Hitlerstellvertreter Rudolf Heß durchführen. Die Neonazi-Gruppe „Thügida/Wir lieben Ostthüringen“ durfte Hitlers Geburtstag am 20. April 2016 mit einem Fackelzug in Jena feiern. Das Gericht kassierte dabei immer wieder zuvor verhängte Versammlungsverbote des damaligen SPD-Oberbürgermeisters Albrecht Schröter.
Ist das von der Versammlungsfreiheit gedeckt? Freudenmärsche zur Reichsprogromnacht? Feiern zu Hitlers Geburtstag? Wirklich? Das Bundesverwaltungsgericht sah das bezüglich Heß-Aufmärschen in Wunsiedel anders:
Der erweiterte Paragraf 130 stelle tatsächlich einen Eingriff in die Meinungsfreiheit dar, urteilten jetzt die Leipziger Richter. Dieser sei jedoch gerechtfertigt, weil es dem Schutz des öffentlichen Friedens und der Menschenwürde der Opfer und ihrer Nachkommen diene. Der verbotene Aufmarsch in Wunsiedel hätte laut Urteil den öffentlichen Frieden gestört. Er hätte weit über die Stadt hinaus Beachtung gefunden und insbesondere bei Opfern des NS-Regimes die verständliche Furcht ausgelöst vor der gefährlichen Ausbreitung des Gedankenguts der Neonazis, hieß es.
Erleichtert reagierte Wunsiedels Bürgermeister Karl-Willi Beck (CSU): “Wir sind wirklich sehr froh. Damit ist ein gewichtiger Kelch an uns vorüber gegangen.” Die Entscheidung sei jedoch nicht nur für die Kommune von großer Bedeutung, sondern bundesweit.
“Wir freuen uns, dass der Spuk im August beendet ist”, sagte Wunsiedels Landrat, Karl Döhler (CSU). Die Richter hätten seine Behörde auf der gesamten Linie bestätigt. Bayerns Ministerpräsident Günter Beckstein (CSU) sprach von einem “guten Tag für den Rechtsstaat”. Die Entscheidung stärke diesen gegen Verfassungsfeinde.
Auch zu anderen Gelegenheiten wurden NPD-Demos verboten. Ich habe im folgenden nur Fälle aufgeführt, bei denen keine besonderen Verbotsgründe (Corona-Infektionsschutzmaßnahmen, polizeiliche Überlastung am 1. Mai usw.) angeführt wurden:
Rechtsextremistische Aufzüge an geschichtsträchtigen Orten und Gedenktagen sind künftig leichter zu verbieten. Laut einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss einer zuerst angemeldeten Demonstration nicht zwingend Vorrang gewährt werden.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVG) in Karlsruhe hat die für Samstag geplante Demonstration der rechtsextremen NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) in Berlin endgültig verboten. Das teilte ein Sprecher der Berliner Polizei mit. Das Gericht wies in letzter Instanz eine Beschwerde der Partei gegen das polizeiliche Verbot des Aufmarsches zurück und bestätigte damit eine entsprechende Entscheidung der Vorinstanzen.
Zuvor hatten bereits das Verwaltungsgericht (VG) und das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin das Verbot bestätigt. In den Vorinstanzen hatten die Gerichte das Verbot der Demonstration damit begründet, dass bei dem Aufmarsch mit Straftaten wie Volksverhetzung zu rechnen sei. Zudem ziele das Motto der gegen islamische Zentren in der Stadt gerichteten Demonstration — “Berlin bleibt deutsch” — darauf ab, Feindseligkeiten gegen moslemische Bürger und insbesondere gegen Türken zu schüren. Die Veranstalter hatten rund tausend Teilnehmer erwartet.
Es schockiert mich, dass ein SPDler im Eilentscheid aufgehobene Verbote von NPD-Demos zum Hitlergeburtstag normal findet, während sogar CSUler für ein Verbot von Demos am Todestag von Hitlers Stellvertreter gefochten haben und erleichtert sind, dass der Spuk vorbei ist.
Herr Kavemann, Mitglieder meiner Familie haben im KZ gesessen (siehe Blog-Post zur Kollektivschuld bei Anne Rabe) oder sind gerade noch so einer Verhaftung entgangen (aus beiden Teilen der Familie). Sie waren alle in Ihrer Partei bzw. deren Jugendorganisation SAJ. Und Sie schreiben mir, dass es schon ok ist, dass eine verfassungsfeindliche Organisation am Hitlergeburtstag mit Fackeln durch die Stadt zieht?
Wie die Zitate oben zeigen, gibt es Gestaltungsmöglichkeiten. Die rechten Richter hätten also anders entscheiden können. Und selbst wenn dem nicht so wäre: Die Richter sprechen unser Recht. Wir können es ändern. Wir könnten dafür sorgen, dass solche Aufmärsche verboten wären, so wie es für Wunsiedel ja auch getan wurde. Wenn so eine Rechtsanpassung für Verbote von NPD-Aufmärschen nötig wäre, so müsste das von den zuständigen Stellen umgesetzt werden, die hauptsächlich mit West-Jurist*innen besetzt sind. Wir sind also wieder da gelandet, wo wir angefangen haben: Das ganze Land hat ein Problem und an den Positionen, wo man etwas tun kann, sitzen überwiegend Westler.
Jammer-Ossi
Brief aus Rostock.
ich, „Wessi“ lebe und arbeite in Rostock.
Ich lebe hier gerne und bin dieses Ost- West ziemlich müde.
Was mich an diesem (leider pseudo- wissenschaftlichen) Artikel massiv stört, ist das was ich hier so oft höre.
Die mangelnde Übernahme der Eigenverantwortung. Man war ja doch nur Opfer, man bekam etwas übergestülpt, es gibt doch einen großen Wessi Plan hinter allem, dahinter stecken doch amerikanische Mulits und „es gab auch sehr viel Gutes in der DDR“.. das Softeis und der Original DDR Eierlikör…
Ich kann’s nicht mehr hören!
1. Es gab und gibt viele “Ossi” die Gewinner sind. Rostock ist voll von gut situierten gebürtigen Rostockern, auch die ehemaligen LPG Vorsitzenden im Landkreis haben sich gut bedient.
2. Zur Wahrheit gehört auch: MV ist das Bundesland mit der höchsten Alkoholikerquote, der höchsten Schulabbrecher Quote, die höchste Rate an Diabetikern,… ( Ich arbeite im Gesundheitswesen…). Das ist jetzt mal kein Wessi Ding aus, denn das war zu Zeiten der DDR nicht anders- nur besser vertuscht.
3. Fragt man nach Beweisen, wo genau die Wessi überall hinter stecken… Kommt nix! Auch mit den amerikanischen Multis… Nix.
Was für eine bequeme mär
4. Unwissenschaftlich: In MV (darüber weiß ich inzwischen gut Bescheid — auch über Lichtenhagen) leben 1.7 Mio. Menschen. Tendenz steigend — leider nur durch Zuzug 65+ Menschen aus dem Westen).
Wenn man schon Zahlen vergleicht, Herr Professor, dann sollte die Bezugsbasis stimmen. 1.7 Mio Menschen leben alleine in der Region Hannover mit Braunschweig, da komme ich ursprünglich her.
Es nervt total, dass sich die „Ossis“ selber gerne schön rechnen.…dann braucht man ja nicht ins Handeln zu kommen.
Wikipedia ist übrigens keine akzeptierte Quelle… Eher hier zur Verdummung des Lesers genutzt.
Auch das die linientreuen Richter, Polizisten, sprich der Kader, initial durch Wessis ausgetauscht wurde, ist jetzt kein Geheimnis und war auch richtig – oder sollten die SEDler weiter machen? Mein Onkel gehörte zum Kader auch dazu – und ist noch heute so was von linientreu… würde alles zurückdrehen. Echt unerträglich!
Es gibt hier (in MV) echt viele Probleme – genauso wie im Westen.
Mit dem Unterschied, daß sich dort niemand mit Wende, die Wessis, … rausreden kann.
Und dieses Narrativ sollte jetzt hier endlich auch mal aufhören.
Es gibt viele Rostocker die anpacken, die gestalten.
Es gibt aber auch viele, die genau so einen Artikel nutzen um sich entspannt zurück zu lehnen, als Opfer rumstöhnen, anstatt sich der eigenen Geschichte und Verantwortung kritisch zu stellen. Es gibt ihn schon: den Jammer Ossi.
Rechtfertigen tun sich die Ossis nur dauernd vor sich selber… und vergewissern sich, das sie ja nichts machen können.
Kann das endlich mal aufhören?!
Leserbrief HR
Ich war mir erst nicht sicher, ob der Vorstellungsteil, in dem ich über meinen Hintergrund geschrieben habe, nicht zu lang war. Jetzt bin ich froh, dass ich ihn geschrieben habe. Zur mangelnden Übernahme von Eigenverantwortung kann ich sagen, dass ich das aus eigener Anschauung bestätigen kann. Ich habe nach der Wende mit Glück eine Stelle im Wissenschaftlerintegrationsprogramm bekommen. Dieses Programm war für Ostwissenschaftler*innen als Brücke gedacht. Sie wurden drei Jahre finanziert und sollten diese Jahre dazu benutzen, sich in das neue akademische System zu integrieren. Ich hatte kurz nach der Wende bei Prof. Kunze an der Akademie der Wissenschaften eine Hilfskraftstelle und habe dann, als er an die Humboldt-Universität wechselte, eine Mitarbeiterstelle bekommen, weil seine Integrationsmittel frei wurden, da er einen Lehrstuhl an der HU bekam. Kurz vor Ablauf der Dreijahresfrist gab es ein Treffen all derjenigen, die in diesem Programm waren. Ich war auch dabei und war erschüttert: Alle klagten darüber, dass sie nun arbeitslos werden würden und fanden, die Politik müsse etwas tun. Dabei wäre es an ihnen gewesen, sich irgendwie innerhalb dieser drei Jahre zu bewerben.
Ich möchte Ihren Brief jetzt nach den Punkten beantworten:
1. Es gab und gibt viele „Ossi“ die Gewinner sind. Rostock ist voll von gut situierten gebürtigen Rostockern, auch die ehemaligen LPG Vorsitzenden im Landkreis haben sich gut bedient.
Leserbrief HR
Ich sehe mich als absoluten Gewinner an. Das habe ich auch in Ich will was sagen so geschrieben. Ich habe eine Familie, ein tolles Fahrrad (von 1997), eine Wohnung und eine Arbeit, die mir großen Spaß macht. Ich bin Professor am besten sprachwissenschaftlichen Institut, das es in diesem Land gibt. Zur Zeit bin ich sogar Direktor dieses Instituts. Ich habe über 500.000€ an Drittmitteln eingeworben und damit vielen Menschen eine Arbeitsstelle in meinen Projekten geben können. Seit 2014 bin ich Mitglied in der Academia Europaea, Section Linguistic Studies. Meine Erdős-Zahl ist 4. Mein h‑index liegt bei 35 (Google-Scholar-Profil). Ich habe mit meinem Leipziger Kollegen Prof. Dr. Martin Haspelmath (aus dem Westen und sehr in Ordnung) den wissenschaftlichen Verlag Language Science Press gegründet, der sprachwissenschaftliche Bücher im Open Access veröffentlicht. Über tausend Autor*innen haben bei uns veröffentlicht, der Verlag hat insgesamt über 2 Mio Downloads. Noam Chomsky ist einer unserer prominenten Unterstützer*innen. Steven Pinker gehört auch dazu. Ich habe mich nirgends bedient, das war alles harte Arbeit. Politisch aktiv bin ich auch: 2021 war ich Kanzlerkandidat für die Partei Die PARTEI. Außerdem arbeite ich nebenberuflich als Fotograf. Mein Leben ist erfüllt, man könnte auch sagen überfüllt. Mangelnde Eigeninitiative können Sie mir sicher nicht vorwerfen.
Mein kleiner Bruder ist Professor, meine kleine Schwester promoviert. Uns allen geht es gut. Meine Eltern sind bis auf kurze Unterbrechungen bei meiner Mutter sogar als Wissenschaftler*innen durch die Wende gekommen. Es tut mir Leid, wenn ich Sie nerve, aber ich jammere nicht. Ich beschwere mich! Ich tue das, um Probleme zu lösen, um Dinge zu ändern. Nicht für mich, sondern für dieses Land. Sehen Sie sich die Wahlergebnisse an, dann verstehen Sie vielleicht meine Motivation.
Zu 2. habe ich nichts zu sagen. Ich weiß nicht, was das mit meinem Beitrag zu tun hat.
3. Fragt man nach Beweisen, wo genau die Wessi überall hinter stecken… Kommt nix! Auch mit den amerikanischen Multis… Nix.
Was für eine bequeme mär
Leserbrief HR
Ich habe in meinem Beitrag konkrete Personen bzw. Ereignisse genannt, an denen West-Personen beteiligt waren. Politiker*innen und Polizisten in Lichtenhagen, Politiker, die ehemals Verfassungsschutzpräsidenten waren, die rechten Richter aus Gera, die Politiker der AfD.
Ansonsten gibt es inzwischen auch viel Information zur Treuhand. Der erste Chef von Kahla-Thüringen Porzellan hatte keine Ahnung von Porzellan. Seine einzige Qualifikation bestand darin, dass er einen Bruder bei der Treuhand hatte. Er hat dann auch sehr schnelle eine Pleite hingelegt. Zum Glück war sein Nachfolger ein Porzellaner von Rosenthal. Über die Abwicklung von Elmo in Wernigerode können Sie auch in der Berliner Zeitung lesen. Die Vorstellungen von Birgit Breuel und Detlef Rohwedder können Sie auch dem Artikel entnehmen. Aber eigentlich war das nicht Thema des Artikels.
Zu viertens: Was die Einwohnerzahl von MV mit irgend etwas, was in dem Artikel besprochen wurde, zu tun haben soll, ist mir unklar. Zu Wikipedia siehe oben.
Auch das die linientreuen Richter, Polizisten, sprich der Kader, initial durch Wessis ausgetauscht wurde, ist jetzt kein Geheimnis und war auch richtig – oder sollten die SEDler weiter machen? Mein Onkel gehörte zum Kader auch dazu – und ist noch heute so was von linientreu… würde alles zurückdrehen. Echt unerträglich!
Leserbrief HR
Ja, das stimmt, denn das Fachwissen war auf Ostseite außer bei ein paar Fachanwält*innen, die bei Schalk-Golodkowski gearbeitet haben, nicht vorhanden. Durch den selbst gewählten Anschluss galt plötzlich das westdeutsche Rechtssystem. Man hätte aber den Aufbau-Ost anders gestalten können und zum Beispiel Ost-West-Tandems für Posten bilden können. Ossi wird eingearbeitet und übernimmt dann später. Stattdessen gab es das Gefühl fremdbestimmt zu sein. Das rächt sich jetzt bitter, weil viele rechtsextrem wählen. Die AfD holt die Frustrierten ab.
Es gibt hier (in MV) echt viele Probleme – genauso wie im Westen.
Mit dem Unterschied, daß sich dort niemand mit Wende, die Wessis, … rausreden kann.
Leserbrief HR
Bitte schauen Sie sich statistische Karten an. Sie werden immer die Umrisse der DDR erkennen. Der Wohlstand ist verschieden verteilt. Die Firmen sitzen im Westen und besitzen den Osten. Steuern werden im Westen am Firmensitz gezahlt nicht vor Ort. Patente werden im Westen am Firmensitz angemeldet. Darüber kann man schon klagen. Übrigens ist der Passus mit den „gleichartigen Lebensverhältnissen“ in allen Landesteilen 1994 aus dem Grundgesetz gestrichen worden.
War in Artikel 72 Grundgesetz einst das Handlungsziel „einheitlicher Lebensverhältnisse“ verankert, wurde das Adjektiv „einheitlich“ 1994 durch das interprerarionsoffenere „gleichwertig“ ersetzt.
Mau, Steffen (2019). Lütten Klein. S. 163
Das Buch meines Kollegen Prof. Dr. Steffen Mau kann ich Ihnen nur wärmstens empfehlen. Er ist Soziologe und präsentiert Ihnen noch weitere Fakten. Auch zur Abwicklung der Eliten im Osten und zu den Transformationen im Ost-Block allgemein.
Es gibt aber auch viele, die genau so einen Artikel nutzen um sich entspannt zurück zu lehnen, als Opfer rumstöhnen, anstatt sich der eigenen Geschichte und Verantwortung kritisch zu stellen. Es gibt ihn schon: den Jammer Ossi.
Leserbrief HR
Das kann schon sein. Mir geht es um die andere Seite, die den gesamten Osten seit Jahrzehnten pauschal beschimpft. So wie auch Sie es getan haben. Ich weise darauf hin, dass die Schuld am Faschismus nicht der Osten allein trägt. Und ich kann das tun, weil ich kein Jammer-Ossi sondern ein erfolgreicher Wissenschaftler bin. Und nein, das hört nicht auf. Ich fange gerade erst an.
Kinderverschickung
Es erstaunt, dass ein deutscher professor ständig wikipedia als beweis bemüht. Seine meinung über kindstötungen ist einseitig: im westen hat niemand gleich mehrere neugeborene in blumentöpfen abgelegt. Aber im westen hat bisher niemand alle blumentöpfe untersucht und das ergebnis bei wikipedia verewigt. Die erwähnte „kinderlandverschickung“ fand übrigens im bombenkrieg statt. Gemeint ist hier schlicht die kinderverschickung – bei der es im osten wie im westen zu gewalt und missbrauch kam. Das sollte man bei wikipedia nachtragen.
Leserbrief F.F., Berlin-wilmersdorf
Es stimmt, es hätte Kinderverschickung heißen müssen. Vielen Dank für den Hinweis, das wurde jetzt im Artikel und überall hier im Blog korrigiert. Kinderverschickung habe ich in einem Blog-Post diskutiert. Soweit ich weiß, sind keine Fälle von Missbrauch bekannt. Das ganze Gesundheitssystem war anders organisiert. Nicht überwiegend kirchlich und nicht profitorientiert. Die Prügelstrafe war – anders als im Westen – bereits 1949 abgeschafft worden (siehe Blog-Beitrag Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten), die staatliche und gesellschaftliche Kontrolle war in allen Bereichen des Lebens strikter.
Was haben die Blumentöpfe mit der Diskussion zu tun? Es geht um die Anzahl der Kindstötungen pro 100.000 Geburten pro Jahr. Dazu gibt es die Polizeiliche Kriminalstatistik. Und Forschungsliteratur.
Dunkeldeutschland
Auch, dass es ein „Dunkeldeutschland“ gar nicht gab, sondern eine Erfindung von Anne Rabe ist. Ich war übrigens bei der Lesung und Diskussion des Romans auf dem taz Kongress und habe die aggressiven, atemlos vorgetragenen detaillierten Vorwürfe des Herrn Stefan Müller mit angehört. Seine Wut war kaum zu bremsen. Niemand konnte seine Behauptungen nachprüfen.
Wir Leser*innen sind intelligent genug, zwischen einem Roman, der Anregungen für eigene Gedanken geben soll, und einer Pauschalisierung einer ganzen Bevölkerung wie Herr Müller behauptet, zu unterscheiden. Herr Müller war touché.
Ich habe nicht gesagt, dass es Dunkeldeutschland nicht gab.
Weil es so eine schöne Geschichte ist, die zu allem passt, was man über Dunkeldeutschland zu wissen glaubt.
Zitat aus meinem Artikel
Ich verwende den Begriff ja sogar selbst. Wenn auch sarkastisch. Ich möchte vorschlagen, dass man seine Verwendung auf das ganze Land ausweitet, denn es sieht allgemein recht finster aus (Man rechne nur mal die Wahlergebnisse von CSU, Freien Wählern und AfD in Bayern zusammen.) Übrigens habe ich im dunkelsten Erlangen für einen Aufbau West gekämpft. Laut CSU hat Erlangen marode Straßenlampen, weshalb da nur ein Plakat dran hängen darf. Das von der CSU. Leider hat es nicht für eine Mehrheit gereicht.
Hier ist das Video vom taz-Lab an der Stelle mit meinem Kommentar. Ich hatte Anne Rabe angeboten, ihr einen 80seitigen Ausdruck meiner Blog-Posts zu überlassen. Sie wollte ihn nicht haben und auch nicht darüber reden. Damit man meine Behauptungen nachprüfen kann, habe ich die Blog-Posts mit Quellenangaben und dann den Artikel in der Berliner geschrieben. Die Behauptungen über den „Ossi an sich“ finden sich im Roman, der kein Sachbuch ist. Zum Beispiel an den Stellen über Amokläufe, zum Beispiel an den Stellen über die Kindstötungen. An Stellen, wo einfach mal behauptet wird, dass Antisemitismus Bestandteil der realsozialistischen Ideologie war:
Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 271
Anne Rabe wird dann von einem Bremer Politikprofessor als Quelle für seine nicht belegten Behauptungen bezüglich Antisemitismus zitiert. Das ist ein sich gegenseitig stützendes Netz von Falschbehauptungen. Hier der Blog-Post zum Politik-Professor. Und falls es Fragen zum Antisemitismus und zu offiziellen Einstellungen zum Holocaust in der DDR gibt, kann ich gleich noch den Blog-Beitrag Der Ossi und der Holocaust empfehlen.
Danksagungen
Ich möchte mich bei allen Leserbriefschreiber*innen bedanken. Außerdem danke ich allen Nutzer*innen von Mastodon, die sich an der Diskussion beteiligt haben und auch bei der Suche nach NPD-Gerichtsurteilen Tipps gegeben haben.
Karlsruhe erleichtert Verbot von NPD-Demos. 2005. Der Spiegel. Hamburg.
Höynck, Theresia & Behnsen, Mira & Zähringer, Ulrike. 2015. Tötungsdelikte an Kindern unter 6 Jahren in Deutschland: Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997–2006). Wiesbaden: Springer. (https://doi.org/10.1007/978–3‑658–07587‑3)
Ich dachte, ich sei fertig mit Anne Rabe (siehe Posts in Kategorie Anne Rabe), aber ich wollte die Sendung Zwischentöne mit ihr noch mal komplett hören. Es ist wirklich erschütternd, wie wenig Anne Rabe über die DDR weiß. Da ihre Gesprächspartner*innen meist aus dem Westen sind, bleiben ihre Aussagen auch unwidersprochen und werden weiterverbreitet.
Waschmaschinen
Anne Rabe behauptet, in der DDR hätte es keine Waschmaschinen gegeben.
Tatsächlich auf jeden Fall weiß ich, dass meine Mutter zu der Zeit allein gelebt hat mit uns, weil mein Vater noch woanders studieren war und das ist was, worüber ich manchmal so nachdenke, weil tatsächlich, also diese tatsächliche materielle Armut besonders für die Frauen so in den 80er Jahren ein ziemlich hartes Leben bedeutete, so ohne Waschmaschinen, ohne Badezimmer, also dieses Windeln auskochen, ohne das, was wir heute alles so haben und die Kinder eben sehr früh morgens in den Kindergarten bringen und dann weiter zur Arbeit. Also das ist was, worüber ich manchmal nachdenke, dass das doch ein sehr, sehr anstrengendes Leben gerade für junge Mütter war.
Anne Rabe im Interview in den Zwischentönen
Wikipedia schreibt zum Thema Waschmaschinen:
Die WM 66 war eine Waschmaschine, die in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ab 1966 gebaut und verkauft wurde. Die Bezeichnung WM stand für Wellenradwaschmaschine. Aufgrund der einfachen technischen Konstruktion war sie vergleichsweise preiswert und gekennzeichnet durch leichte Bedienbarkeit, eine kompakte Bauform, sehr geringe Stör- und Fehleranfälligkeit sowie eine lange Lebensdauer. Dies trug dazu bei, dass sie sowohl für den DDR-Markt als auch für den Export millionenfach produziert wurde. Die weite Verbreitung der WM 66 machte sie zu einem der bekanntesten Elektrohaushaltsgeräte in der DDR und zum Symbol für den Anstieg des Lebensstandards, der ab dem Ende der 1960er und dem Beginn der 1970er Jahre die soziale Entwicklung in der DDR kennzeichnete. Hersteller war der VEB Waschgerätewerk Schwarzenberg – Betrieb des Kombinates Haushaltsgeräte.
Wikipedia-Artikel zur WM 66.
Und so sah sie aus:
Meine Eltern hatten auch eine Waschmaschine. Sogar einen Waschvollautomat. Meine Mutter hat damit meine Hosen geschrumpft, weshalb ich mich genau daran erinnern kann. Die Waschmaschine stand im Bad. Eine Trommelwaschmaschine. Ein Toploader. Wir sind 1976 in die Wohnung gezogen. Da war sie schon da. Nach Auskunft meiner Mutter war es eine WVA66. Meine Mutter hatte sie zu meiner Geburt (1968) von meinem Großvater bekommen. Die hatte 2800 Mark gekostet, was viel, viel Geld war, aber mein Opa war Ingenieur bei Zeiss. Wikipedia schreibt zu diesem Gerät:
1966 wurde ein Waschvollautomat ohne Bodenbefestigung in Schmalbauweise mit der Typbezeichnung WVA 66 (Nachfolgegerät WVA 68) vorgestellt. Die Beschickung der Waschtrommel mit Wäsche erfolgte von oben (Toplader). Die Behälterbaugruppe mit Antriebssystem war schwingbeweglich in Federn zur Kompensation der Unwuchtkräfte während des Schleuderganges aufgehängt, sodass das Gerät ohne Bodenbefestigung betrieben werden konnte. Die Schleuderdrehzahl betrug 850/min. Das Gerät war auf ausfahrbaren Laufrollen ortsbeweglich.
Wellenradwaschmaschinen gab es ab 640 Mark. Ich hatte auch selbst so eine Wellenradwaschmaschine, als ich eine eigene Wohnung hatte (1989). Das Rad am Boden riss alle Knöpfe ab. Wikipedia: „Nachteil des Wellenradsystems ist der relativ hohe Wäscheverschleiß, da die Wäsche teilweise auch vom rotierenden Wellenrad erfasst wird.“ Aber Windeln und Karate-Anzüge haben keine Knöpfe, dafür waren sie auf alle Fälle geeignet. Die Schleuder war extra. Als Student hatte ich das Geld, was ich als Stipendium bekam. Das waren 300 Mark, weil ich bei der Armee gewesen war. Sonst lag es bei 200 Mark. Ich weiß nicht, wo ich die Waschmaschine her hatte. Kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass Geld ein Problem gewesen wäre. Vielleicht habe ich sie gebraucht gekauft oder geschenkt bekommen von jemandem, der sich eine bessere gekauft hat.
Welcher DDR-Bürger kennt diese Waschmaschinen nicht. Der Name Schwarzenberg war ein Begriff.
1961 entstand der Waschvollautomat WVA 61. 1966 die WVA 66 mit Schleudergang, 1987 der Waschvollautomat VA 68‑E.
Die erste Waschmaschine vom Typ „WM 66“ wurde ab 1966 hergestellt. Die Maschine konnte weder spülen noch schleudern. Die Bezeichnung WM steht für Wellenradwaschmaschine. Die Hausfrau benötigte zum Schleudern eine Tischschleuder.
Auf der Museumsseite gibt es Bilder der verschiedenen Modelle und der Schleudern. Auf der Wikipedia-Seite des Waschgerätewerks Schwarzenberg findet man Information zu den verkauften Stückzahlen. Anne Rabe scheint die einzige DDR-Bürgerin zu sein, die diese Waschmaschinen nicht kennt. Vielleicht hatte ihre Mutter die Maschine im Keller und hat das vor ihrer Tochter geheim gehalten. Anders ist das nicht zu erklären. Vielleicht hatten sie auch wirklich keine, obwohl es eine Funktionärsfamilie mit zwei arbeitenden Erwachsenen und einem Funktionärsgroßvater waren, aber dann müssen sie das Geld irgendwie anders verplämpert haben.
Übrigens: Es gab in der DDR Ehekredite, die man „abkindern“ konnte. Die waren genau für solche Dinge wie Waschmaschinen gedacht.
Zwischen 1972 und 1988 wurden 1.371.649 Ehekredite mit einem Gesamtvolumen von 9,3 Milliarden Mark vergeben, von denen etwa ein Viertel „abgekindert“ wurde.
Die Ehekredite gab es für Paare, „deren gemeinsames Einkommen bei Eheschließung nicht über 1.400 Mark lag“. Rabe sagt, dass ihre Mutter gearbeitet hat. Ihr Vater hat vielleicht ein Stipendium bekommen. Entweder, sie haben über 1400 Mark verdient, dann konnten sie eine Waschmaschine kaufen oder sie haben weniger verdient, dann hätten sie einen Kredit über 5000 Mark bekommen, von dem sie nur 2500 Mark hätten zurückzahlen müssen. Das wäre praktisch ein geschenkter Waschvollautomat gewesen.
(Nachtrag: 09.04.2024 Peer hat mich auf folgende Information zur Verbreitung von Waschmaschinen hingewiesen:
1986 befanden sich in 94,4 Prozent aller DDR-Haushalte Waschmaschinen, davon ca. 13 Prozent Waschvollautomaten, ca. 40 Prozent Waschautomaten und ca. 47 Prozent Bottichwaschmaschinen; Hans-Joachim Scheithauer u. Michael Laue, Moderne Waschmaschinen – sparsame Helfer im Haushalt, in: Energieanwendung 37, 1988, H. 6, S. 229ff., hier S. 229; Statistisches Amt der DDR (Hg.), Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990, Berlin 1990, S. 324f.
Wölfel, Sylvia. 2012. „Planmäßige Verringerung des Bedarfs“ Die Entwicklung verbrauchsarmer Haushaltsgeräte in der DDR. Technikgeschichte 79(1). 45–60. (doi:10.5771/0040–117X-2012–1‑45)
Diese Verbreitung entspricht in etwa der heutigen Verbreitung in der Bundesrepublik, die bei 96,2% liegt.
Das bedeutet, so die Aussage über „tatsächliche materielle Armut“ und die fehlende Waschmaschine in der Familie Rabe denn korrekt ist, dass diese Familie sehr speziell war. Aber diesen Verdacht hatte ich ja schon mehrfach und Rabe selbst äußert sich ja auch so bzgl. der Gewalt in ihrer Familie.)
Homosexualität
Im Interview in den Zwischentönen beschreibt Anne Rabe, wie sie festgestellt hat, dass der Sozialismus der DDR ganz schrecklich war:
Rabe: Eigentlich gab es einen Moment, einen Auslöser, an den ich mich sehr gut erinnere und zwar war ich so mit 18, Silvester in Hamburg und war dann mit meinem Freund damals im Kino und wir haben den Film geguckt von Julian Schnabel, Before Night Falls. Ein ganz toller Film, den ich sehr empfehlen kann, über den kubanischen Schriftsteller Reynaldo Arenas, einen homosexuellen Schriftsteller, der deshalb auf Kuba verfolgt wurde für seine Homosexualität. Und das war ein sehr berührender Film, da gibt es dann auch so Verschnitte mit vielen Castro-Reden über Homosexualität und das war der Moment, ich konnte hinterher gar nicht aufstehen aus dem Kinosessel, wo mir so bewusst wurde, dass das, ich bin mit einem sehr positiven DDR-Bild, einem sehr positiven Bild vom Sozialismus und auch so sehr naiv damals noch so im Sinne von „Das wäre eigentlich die Lösung für die Probleme unserer Zeit jetzt.“ aufgewachsen, hatte nicht viel gehört über die Abgründe dieses Systems und das war für mich dann klar, ach so, das ist alles ganz, ganz anders und ich selbst wusste damals auch schon eben, ich bin nicht heterosexuell, ich bin selber queer, für mich gäbe es da keinen Platz vielleicht oder das wäre infrage gestellt und das war so ein ganz, ganz berührender Moment, der mich richtig geschockt hat und da war mir klar, ach nee, hier stimmt eigentlich gar nichts.
Schwarz: Mit 18, im Jahr 2002, nee 2004.
Rabe: Genau und dann habe ich tatsächlich angefangen auch darüber zu lesen und mir selbst ein Bild zu machen über die DDR, über das, was da so alles so los war und dann gerät man ja relativ schnell, kommt man da auf ziemlich finstere Angelegenheiten sozusagen. Ja doch, wenn man sucht schon, also das geht schon.
Nun ist es aber so, dass die Einstellung zur Homosexualität im katholisch geprägten Kuba sicher eine andere war als in der DDR der 80er Jahre. Die DDR hatte 1968 den Paragraph 175 gegen Homosexualität lange vor der BRD (1994) abgeschafft und in den 80er Jahren gab es Schwulengruppen in der FDJ und der SED, die versuchten, den kirchlichen Gruppen, die es schon seit den 70ern gab, Konkurrenz zu machen bzw. mit denen zu kooperieren.
Man kann dazu bei der Bundeszentrale politischer Bildung nachlesen:
1988/89 kam es zur Gründung von schwul-lesbischen Gruppen bei der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und in Klubhäusern. In Leipzig nannte man sich „RosaLinde“, in Dresden „Gerede“. Ziel war es, ein schwul-lesbisches Engagement außerhalb der Kirche zu initiieren. Man versuchte auch, Parteimitglieder in bestehende Organisationen einzuschleusen oder dort angeschlossene Genossen für die SED-Ziele zu instrumentalisieren, beispielsweise im Sonntags-Club. Nachdem dieser Versuch gescheitert war, wurde – als Konkurrenz – die Gruppe „Courage“ gegründet. Die FDJ gab allen Jugendklubs vor, einmal im Monat eine Veranstaltung zum Thema Homosexualität zu organisieren. Die unter dem Dach der SED in verschiedenen Städten gegründeten Gruppen bildeten die „Interessengruppe Theorie“, die schwul-lesbische Politik auf marxistisch-leninistischer Basis, aber auch eine Vernetzung mit den kirchlichen Arbeitskreisen anstrebte.
Ich hatte einen schwulen Klassenkameraden, der mir Infomaterial kirchlicher Gruppen zu Homosexualität gegeben hat (ca. 1985). Jörg ist jetzt Pfarrer und hat es sich erkämpft, dass er mit seinem Mann im Pfarrhaus wohnen darf (Mayer, 2015).
John Zinner hat sich in Lauscha, einer kleinen Stadt in Thüringen, geoutet. Er ist stadtbekannt. Das Outing war wegen seines homophoben Stiefvaters nicht einfach, aber er hat es nach einer abgebrochenen Republikflucht doch durchgezogen. Das kann man in einem Artikel in der Zeit von 2016 nachlesen.
Kneipen
Wir wussten von Schwulentreffs in der DDR. Von einem Lokal an der Schönhauser Allee Ecke Kastanienallee hat mir mein Mathelehrer erzählt. Den Namen habe ich leider vergessen. Wahrscheinlich war es das Cafe Schönhauser. Es gab die Offenbachstuben. Die Prenzlauer-Berg-Nachrichten schreiben über schwule Treffpunkte:
Nach der Zeit vor der Wende befragt, fallen Patrick mehrere legendäre Locations für schwules Publikum ein: „Es gab das Café Schönhauser, die Schoppenstube und den Burgfrieden“, zählt er auf. „Der Film Coming Out wurde in diesen Kneipen gedreht“, weiß Walter zu berichten. Und das war ein wahrer Meilenstein: Coming Out (Regie: Heiner Carow) war der einzige Film mit zentral schwuler Thematik, der in der DDR je produziert wurde – im November 1989 kam er in die Kinos. Auch (Ost-)Berlins bekannteste Trans*-Person, Charlotte von Mahlsdorf, ein Name, der im Laufe des Abends häufiger fällt, hatte eine Rolle in Coming Out.
In Könne (2018) wird angemerkt, dass es in Ost-Berlin viel weniger Schwulen-Kneipen gab als vor dem Krieg. Dazu muss man allerdings wissen, dass es in Ost-Berlin insgesamt eine Unterversorgung mit Kneipen gab. Man müsste das also ins Verhältnis zur Gesamtkneipendichte setzen, wenn man irgendetwas daraus ableiten will.
Papier
Könne (2018) schreibt zu Papierkontingenten:
Selbst Papierkontingente für Flugblätter wurden staatlicherseits nicht genehmigt.
Das hört sich für Nicht-Ossis oder Nachgebohrene sicher nach schlimmer Unterdrückung an. Die fehlende Hintergrundinformation ist, dass es einen extremen Mangel an Papier gab. Die meisten Druckerzeugnisse waren so genannte Bückware. Man konnte nicht ohne weiteres Abos für Periodika abschließen. Ich habe jahrelang für meine Mutter auf dem Schulweg am Bahnhofskiosk versucht, die Für Dich und die NBI zu ergattern. Ich war früh um 7:00 dort und es hat meistens geklappt. Wenn ich es verbaselt hatte, war meine Mutter sauer.
Das Mosaik habe ich auch meistens bekommen, aber meine Sammlung hatte auch Lücken.
Das Magazin (monatlich erscheinende Zeitschrift mit Geschichten und Akt-Bildern)
Wenn also der Staat den Schwulen- und Lesben-Verbänden Papier genehmigt hätte, dann hätte das bedeutet, dass er Homosexualität nicht nur nicht behindert, sondern auch fördert. Das passte nun aber gar nicht ins System. Wieso sollte der Staat etwas fördern, das er nicht unter Kontrolle hatte und das ihm eventuell Schwierigkeiten bereiten würde? Gefördert wurden eigene Massenorganisation oder Gruppen, die die eigene Ideologie propagierten.
Vervielfältigungsmaschinen und Papier gab es nicht. Ich habe eine Zeitschrift, die ich mit einem Freund gemacht habe, auf NVA-Druckern ausgedruckt. Der Telegraph wurde mit Uralt-Druckwalzen vervielfältigt.
Stasi
Könne (2018) schreibt, dass die Stasi Schwulen- und Lesbenverbände bespitzelt hat. Das hört sich schlimm an und es war auch schlimm, aber als Hintergrundinformation muss man wissen, dass alle Gruppierungen, die sich gebildet haben, von der Stasi unterwandert und beobachtet wurden. Allen war klar, dass bei einem Treffen von drei Leuten, einer bei der Stasi war. Manche, wie zum Beispiel Vera Wollenberger, hatten die Stasi mit im Bett. Da war sie sogar in Zweiergruppen dabei. Das war die DDR. Ein Staat, der seiner Bevölkerung nicht traute und sie lückenlos überwacht hat.
Die Schwulen- und Lesbenverbände haben das einzig Richtige getan: Sie haben die Stasi mit offenen Armen empfangen.
Einstellung zu Homosexualität in Aufklärungsbüchern und der Wissenschaft
Im Aufklärungsbuch „Mann und Frau intim“ gibt es ein Kapitel zur Homosexualität, das im Wesentlichen dem entspricht, was fortschrittliche Menschen heute über Homosexualität denken. Das Buch ist 1971 erschienen und wurde wiederholt unverändert nachgedruckt. Mir liegt die 12. unveränderte Auflage von 1979 vor. Meine Ausgabe ist aus dem Verlag Volk und Gesundheit, Berlin. Nach Wikipediaeintrag des Autors Schnabl ist es vorher 1969 in Rudolstadt und auch als geringfügig gekürzte Lizenzausgabe 1969 in der BRD veröffentlicht worden. Das Buch wurde ins Tschechische (1972), Bulgarische (1979) und Russische (1982) übersetzt. Bis 1990 hatte das Buch 18 Auflagen.
Da in der DDR nicht einfach irgendwer irgendwelche Bücher veröffentlichen konnte, kann man davon ausgehen, dass das die offizielle Meinung zum Thema war. Können (2018) schreibt:
Dies zeigte sich in den Ratgebern zur Sexualität für Erwachsene. So wurde 1977 Homosexualität im Aufklärungsbuch „Mann und Frau intim“ als eine von mehreren Möglichkeiten menschlicher Sexualität dargestellt. 1984 fand sich in „Liebe und Sexualität bis 30“ erstmals ein Kapitel zur Homosexualität, das diese positiv darstellte. Es ist nicht belegt, dass eine solche Änderung auch in den Unterrichtshilfen erfolgte. Im selben Jahr wurde vom Berliner Magistrat, der Ost-Berliner Stadtverwaltung, eine Gruppe von Wissenschaftlern an der Humboldt Universität eingesetzt, die Konzepte erarbeiten sollte, um die Lebensumstände und Lebensbedingungen von Schwulen und Lesben zu verbessern.
DDR-weit gab es von 1985 bis 1990 drei interdisziplinäre Workshops an verschiedenen Universitäten mit dem Fokus auf homosexuellen Emanzipationsbewegungen. 1987 erschien mit „Homosexualität“ die erste populärwissenschaftliche Publikation in der DDR. 1988 produzierte das Deutsche Hygiene-Museum Dresden den Aufklärungsfilm „Die andere Liebe“. Die Broschüre zum Film informierte über die Geschichte und das aktuelle Leben Homosexueller sowie über die Kenntnisse der Wissenschaft und gab Tipps für den Alltag des Einzelnen – und speziell für Eltern und Erzieher.
Es gab ein Aufklärungsbuch für Jugendliche ab 12 Jahren: Denkst Du schon an Liebe von Heinrich Brückner.
Zu DDR-Zeiten habe ich es gelesen, es stand bei meinen Eltern im Schrank. Ich habe es mir extra jetzt noch einmal gekauft (4. Auflage von 1976). Es gibt auch in diesem Buch ein Kapitel über Homosexualität und diese wird als normale Variante dargestellt. Ich denke, dass das auch den Ansichten entspricht, die heute Stand der medizinischen Forschung sind. Einziger Unterschied ist wahrscheinlich das Schutzalter (§151), das in dem Buch noch gerechtfertigt wird, aber in der DDR auch 1988 abgeschafft wurde.
Kuba und Homosexualität
Kuba war nach der Revolution bis zu Fidel Castros Tod von diesem kontrolliert und gelenkt. Wie Rabe schreibt, gab es Reden von Castro mit homosexuellefeindlichen Äußerungen. Nach dessen Tod wurden wichtige Ämter von Raúl Castro übernommen. Interessanterweise leitete ab 1980 Raúl Castros Tochter Mariela Castro Espín das Zentrum für Sexuelle Bildung. Seit 1990 ist sie Direktorin des Centro Nacional de Educación Sexual (Nationales Zentrum für sexuelle Aufklärung – CENESEX). Sie ist LGBTQ-Aktivistin und setzt sich sehr stark für die Rechte der Homosexuellen ein. Der Cuba-Buddy, eine Tourismus-Seite mit Spezialisierung auf Kuba, schreibt:
In den letzten Jahren hat sich die Situation der LGBTQ-Gemeinschaft auf Kuba deutlich verbessert. Im Jahr 2008 wurden Gesetze eingeführt, die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung verbieten. Die Geschlechtsumwandlung wurde legalisiert und ist für jede Kubanerin und für jeden Kubaner kostenfrei und wird vollständig von den Krankenkassen übernommen.
Im September 2022 stimmte eine große Mehrheit der Bevölkerung außerdem bei einem Referendum für eine Reform des Familiengesetzes. Damit ist die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe, die Möglichkeit der Leihmutterschaft für homosexuelle Paare sowie Adoption und härteres Vorgehen gegen geschlechterspezifische Gewalt beschlossen worden.
Vor genau zehn Jahren, 2013 fand die erste offizielle Pride-Woche in Havanna statt, an der Tausende von Menschen teilnahmen. Seitdem erstrahlt die Hauptstadt jedes Jahr für eine Woche in den Farben der Community.
Aus wirtschaftlichen Gründen intensivierte Kuba ab den 80er Jahren den Tourismus und war deshalb auch an einer fortschrittlicheren Sicht auf Homosexualität interessiert. 2022, also ein Jahr vor dem Interview mit Rabe, wurden die Familiengesetze in Kuba modernisiert, so dass man jetzt gleichgeschlechtlich heiraten kann. Kuba hat jetzt eins der liberalsten Familiengesetze weltweit.
Kuba ist immer noch ein sozialistisches Land, ein Einparteiensystem mit einer kommunistischen Partei. Die Frage, die man sich stellen muss, ist, warum es so lange gedauert hat, bis die Gesetze geändert wurden. Und die Antwort ist, dass in solchen Diktaturen des Proletariats, also de facto Einparteiensystemen, je nach Gegebenheiten im jeweiligen Land, viel an Einzelpersonen hängen kann. Die Menschen, die, als Rabe drei Jahre alt war, an den runden Tischen saßen, waren zum Teil für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Mehr Beteiligung, weniger Überwachung. Eine eigenständige, linke, progressive DDR.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass das Familiengesetz aufgrund eines Referendums geändert wurde. Das zeigt, dass es in Kuba heutzutage eine Beteiligung des Volkes gibt. Übrigens setzt sich auch hier Mariela Castro für die Stärkung partizipativer Mechanismen ein.
Schwule und der Sozialismus
Anne Rabe leitete ja aus einem Film über einen Schriftsteller im katholischen Kuba irgendetwas über „den Sozialismus“ ab. Man hätte ja mal gucken können, wie es in der DDR war, um herauszufinden, ob das im Film Gezeigte für den Sozialismus an sich typisch gewesen war. Aber selbst wenn es in der DDR auch so schlimm gewesen wäre, wäre man noch nicht fertig gewesen. Es hätte ja sein können, dass die DDR vielleicht als Nazi-Erbe noch bestimmte spezielle homophobe Einstellungen tradiert hätte, die aber nicht zwangsläufig mit dem Sozialismus gekoppelt gewesen sein müssten. Dazu hätte man überprüfen müssen, wie es in anderen Ländern des Ost-Blocks gewesen ist. Können (2018) schreibt dazu:
Die sich in der DDR formierende Emanzipationsbewegung war durch dieselbe Filmproduktion beeinflusst wie die der Bundesrepublik und suchte sich auch später ihre Vorbilder im Westen. Solche aus der frühen Geschichte der UdSSR, wo die Strafbarkeit für Homosexualität – zwischen 1917 und 1934 – abgeschafft worden war, wurden nicht genutzt. Kontakte mit Homosexuellen aus anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks wie Polen, ČSSR oder Ungarn, in denen Homosexualität teilweise ebenfalls seit den 1960er straffrei war, sind aber ab 1987/88 bezeugt.
Das zeigt, dass die Sowjetunion, wo zumindest die spätere Hälfte des Marxismus-Leninismus herkam, schon vor 1934 eine andere Einstellung zur Homosexualität hatte als die Deutschen, die ihr 1000jähriges finsteres Kapitel da gerade erst begonnen hatten. 1934 wurde Röhm ermordet und dann war der Weg frei für die systematische Verfolgung und Vernichtung Homosexueller (Wikipedia: Homosexualität in der Zeit des Nationalsozialismus). In Polen wurde die Homosexualität sogar 1932 schon straffrei und homosexuelle Prostitution 1968 legalisiert.
Schlussfolgerung
An der DDR gab es viel zu bemängeln und ich war auch im Oktober 1989 in der Gethsemane-Kirche und habe protestiert, aber aus einem Film über das schwere Leben eines schwulen Schriftstellers in Kuba abzuleiten, dass der Sozialismus schlecht ist, halte ich für etwas gewagt. Schlimm ist es dann, wenn eine queere Person 2023, also 19 Jahre später, diese Geschichte völlig unreflektiert erzählt.
Der Sozialismus ist tot, es lebe der Solzialismus!
Anne Rabe ist Mitglied der SPD. Aus meinen verschiedenen Blog-Beiträgen sollte klar geworden sein, dass Anna Rabes Arbeit sich nicht durch Gründlichkeit auszeichnet. So hat sie wahrscheinlich auch nicht wirklich nachgeschaut, in welche Partei sie eingetreten ist. Die SPD war ursprünglich eine Arbeiterpartei. Mein Opa war drin, sein Bruder war in der SAJ, der Jugendorganisation der SPD. Er hat im KZ gesessen für Flugblätter für eine Einheitsfront aus KPD und SPD (siehe Blog-Post zu Rabes Ideen von Blutschuld). Die SPD war bis 1959, bis zum Godesberger Programm, eine marxistisch-leninistische Partei. Das haben sie dann aus dem Programm geworfen, aber sie wollen immer noch den (demokratischen) Sozialismus aufbauen (siehe Hamburger Programm, 2007). Ob das mit dem aktuellen Personal was wird, ist noch eine andere Frage, aber das ist zumindest das Ziel. Die SPD steht zur Zeit nirgendwo im Osten da, wo sie stehen könnte, in Sachsen bei 6%, und Anne Rabe ist Teil des Problems. Sie hilft dem Westen, wie Oschmann es sagen würde, sich einen Osten zu konstruieren. Mit diesen Menschen möchte im Osten niemand zu tun haben. Damit dieses Problem irgendwann im Westen ankommt, schreibe ich diese Blog-Beiträge.
Zusammenfassung
Liebe Wessis, liebe dritte oder vierte Generation Ossis: Anne Rabe ist keine zuverlässige Quelle für irgendwas. Wenn Ihr sie interviewt, bereitet Euch gut darauf vor. Wenn Ihr über Ihre Aussagen schreibt, recherchiert selbst. Ihr werdet sonst auch Teil der großen Peinlichkeit.
Wölfel, Sylvia. 2012. „Planmäßige Verringerung des Bedarfs“ Die Entwicklung verbrauchsarmer Haushaltsgeräte in der DDR. Technikgeschichte 79(1). 45–60. (doi:10.5771/0040–117X-2012–1‑45)
Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 271
Die Besprechung dieses einen Satzes ist viel zu lang geraten, so dass ich beschlossen habe, sie in einen extra Blog-Post auszulagern. Das ist dieser hier.
Ad hominem: Wer spricht?
Ich habe mich gefragt, wo hat Anne Rabe das nur herhat. Quellen hat sie keine angegeben. Da steht nur dieser eine Satz. Na, vielleicht von Ines Geipel. Dass sie mit Ines Geipel befreundet war/ist habe ich aus einem Artikel in der NZZ über ein angebliches Plagiat von Rabe erfahren (siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Dass Anetta Kahane und Ines Geipel gelogen haben (oder extrem unwissend sind), wenn sie behaupten, der Holocaust sei im Osten nicht vorgekommen, habe ich schon in Der Ossi und der Holocaust besprochen. Zum (fast) nicht vorhandenen Antisemitismus in der DDR hat die Jüdin Daniela Dahn viel geschrieben. Manches ist auch im Holocaust-Post erwähnt. Andere Sachen bespreche ich im Post über die Ausstellung über jüdisches Leben in der DDR, die vom jüdischen Museum organisiert wurde.
Ich habe diverse Interviews mit Anne Rabe gelesen und in einem Interview von Cornelia Geißler von der Berliner Zeitung steht:
Auch der Historiker Patrice G. Poutrus, der eher Oschmanns Generation angehört, hat beobachtet, dass Rechte und Rechtsextreme im Osten auf ein festes nationalistisches Weltbild trafen.
Ich bin ja immer bereit, Neues zu lernen und dachte mir: „Gut, mal gucken, was der Historiker Poutrus herausgefunden hat.“ Als erstes: Kurzer Chek: Er ist aus dem Osten. Also gut, mal gucken. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung habe ich einen Aufsatz von ihm gefunden, den er gemeinsam mit Jan C. Behrends und Dennis Kuck verfasst hat: Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern.
Anschließend arbeitete er als hauptamtlicher FDJ-Funktionär erst im VEB Werk für Fernsehelektronik und dann in der FDJ-Bezirksleitung Berlin. 1988 legte er sein Abitur an der Abendschule der Volkshochschule Berlin-Treptow ab. 1989 wurde er zum Fernstudium der Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin zugelassen.
Nun ja, nun ja. Ein FDJ-Sekretär, der sich für ein Geschichtsstudium beworben hat. In der DDR. Fächer wie Geschichte und Philosophie studierten in der DDR nur die rötesten Socken. Für mich fällt Poutrus damit in eine Gruppe mit Geipel (Vater IM für terroristische Anschläge auf BRD-Gebiet), Kahane (Vater ND-Chefredakteur, sie selbst IM, die aktiv jüdische Freunde verraten hat, siehe Wikipediaeintrag) und Rabe (Funktionärskind): ehemalige rote Socken bzw. Funktionärskinder, die auf die andere Seite vom Pferd gefallen sind. Der Punkt ist: Als belasteter Mensch darf man auf keinen Fall irgendetwas Gutes an dem finden, was man hinter sich gelassen hat, denn andere könnten ja dann denken, man sei immer noch „so einer“.
Rote Vergangenheit allein bedeutet nichts. Menschen können sich ändern. Ad hominem-Argumente sind in der normalen Wissenschaft unzulässig. Aber irgendwie scheint mir hier doch ein Muster vorzuliegen und es geht bei gesellschaftlich relevanten Aussagen eben doch darum, wer spricht. Die echten Argumente zu Poutrus kommen in den nun folgenden Abschnitten. Die gegen Kahane und Geipel habe ich bereits in Holocaust-Post vorgebracht. Die gegen Rabe in den beiden zu Beginn zitierten Blog-Posts und auch vermischt mit dem, was jetzt kommt.
Jugendliche Rechtsextremisten in Jugendtreffs
Ich gehe den Text von Poutrus, Behrends & Kuck einfach mal der Reihe nach durch. Die Autoren schreiben:
Trotz Vereinheitlichungstendenzen und internationaler Vernetzung in der rechten und Skinhead-Szene sind deutliche Unterschiede zwischen der Situation in Ost- und Westdeutschland zu beobachten. Kennzeichnend ist nicht nur die ’starke Dominanz jugendlicher Rechtsextremisten’ in den Jugendtreffs verschiedener ostdeutscher Brennpunkte, sondern die inzwischen erreichte voraussetzungslose Gewaltbereitschaft.
Hierzu möchte ich der geneigten Leser*in folgendes Video ans Herz legen:
Der Beitrag zeigt einen Jugendclub in Cottbus, in dem sich Rechtsradikale treffen. Sie werden dort vom CDU-Innenminister Jörg Schönbohm besucht, der die Jugendlichen prima findet (12:30). Die Familie Schönbohm floh 1945 in den Westen. Schönbohm war Generalleutnant in der Bundeswehr und Landesvorsitzender der CDU Brandenburg. Auch sieht man im Video, dass die Nazi-Partei Deutsche Alternative, die in Brandenburg aktiv war, von Menschen aus dem Westen aufgebaut wurde (11:25). Rabe schreibt dazu auch an einigen Stellen etwas und stellt den Einfluss von West-Nazis und Westpolitikern in Frage. Ihre Aussagen im Buch zum Beispiel bzgl. Lichtenhagen sind einfach falsch. Zu dieser Diskussion siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück.
Nationalstolz
Die Autoren argumentieren, dass die DDR einen Nationalstolz zu etablieren versucht habe, der dann später in den jetzt zu beobachten Nationalismus umgeschlagen sei. Im Folgenden möchte ich einige Bereiche untersuchen, auf die man hätte stolz sein können oder sollen.
Sport
Die Staatsführung wollte, dass wir stolz auf unser Land sind. Verständlich. Sie wollte, dass wir gern dort leben und nicht bei der erstbesten Gelegenheit abhauen. Aber hat das irgendwie geklappt? Ich bin ja fast noch nachträglich stolz auf die DDR geworden, als ich gestern gesehen habe, wie gigantisch die Last war, die die Generation meiner Eltern und Großeltern gestemmt hat: Reparationsleistungen und Wiederaufbau (siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Aber zu DDR-Zeiten war ich nicht stolz auf die DDR und kannte außer anderthalb Stasi-Kindern wahrscheinlich auch niemanden, der stolz war. Die DDR hat es versucht. Mit Sport. Katarina Witt war super. Ich habe sie als Kind beim Schaulaufen gesehen. Im Sport- und Erholungszentrum im Friedrichshain. Beim Kinderschaulaufen. Sie war ein Schlumpf. Wahrscheinlich so 14 Jahre alt. Später hing in jedem Klassenraum ein Bild von ihr. Im FDJ-Hemd. Sie war Mitglied der Volkskammer. Sie kannte Bryan Adams und hatte dafür gesorgt, dass er zu einem Konzert nach Berlin kam.
Sie ließ es sich nicht nehmen, ihn anzukündigen. Vor 65.000 Menschen. Sie haben sie ausgebuht.1 Die Gold-Käthe hat es nicht verstanden. Wo kam nur diese Abneigung her? Sie hatte doch alles gewonnen, was man gewinnen konnte? Für die FDJ, für Erich Honecker, für ihr Land. Wir mochten sie nicht.
Nach der Wende hat sie das Land verlassen. Wie man dem folgenden Video entnehmen kann, hat sie heute noch nicht verstanden, warum wir sie nicht mochten.
Sandow hat sogar ein Lied über die Konzerte damals (mit Bruce Springsteen) und über unseren Stolz auf Katharina Witt geschrieben:
Wir bauen auf und tapeziern nicht mit Wir sind sehr stolz auf Katharina Witt Katharina was born Born in the GDR.
Sandow: Born in the GDR. 1989
Betriebe
Meine Mutter hat Betriebsbesichtigungen organisiert. (Für die, die es nicht erlebt haben: Ein Großteil des kulturellen Lebens fand in der DDR auch über die Betriebe statt. Musik, Ausflüge usw. Freigeister fanden das doof. Diese klebrige Enge. Aber das war alles weg, als nach der Wende die Arbeitslosigkeit kam. Persönliche Bindungen weg, Arbeit weg, Kultur weg. Es blieb nur ein Trümmerhaufen.) Jedenfalls habe ich eine Lichtleiterfabrik, eine Fabrik von Sternradio und ein Kugellagerwerk besichtigt. Ich dachte, dass eine Lichtleiterfabrik etwas Hochmodernes sein müsste. Es war eine kleine Klitsche mit Maschinen aus den 70er Jahren. Die Kugellagerfabrik funktionierte. Ich fand es lustig, dass die fertigen Kugellagerrollen auf Schienen durch die Halle rollten. Die Fertigungsanlage für Sternradio wurde aus Schweden importiert. Cooles Zeug. Nestbauweise. Wir konnten sehen, wie die Schaltkreise auf die Platinen kamen usw. Die Taktstraße stand in einem alten Fabrikgebäude. Die Sternrecorder – muss wohl der SKR 700 gewesen sein – wurden ganz oben produziert. Wenn sie fertig waren schwebten sie am Förderband ins Treppenhaus, wo sie dann ins Erdgeschoss hinabgelassen werden sollten. Das Abbremsen der Recorder im Treppenhaus funktionierte nicht, so dass eine große Anzahl der Recorder sechs Stockwerke in die Tiefe stürzte. 1540 Mark einfach futsch. Pfusch. Sollte ich darauf stolz sein?
Ich bin in Buch aufgewachsen. In den Neubauten. Es gab die alten Neubauten, die Neubauten und die neuen Neubauten. Ich konnte dabei zusehen, wie Teile der Neubauten und der neuen Neubauten entstanden. Die Baustellen standen oft Monate lang still, weil Material fehlte. Die Bauarbeiter saßen in den Bauwagen davor. Sollte ich darauf stolz sein? Es gab Wohnungsnot. Später im Westen habe ich mich darüber gewundert, wie schnell man Häuser bauen konnte.
1987 war ich für drei Wochen im Braunkohlewerk Espenhain. Die Schwelerei war zugefroren und das Werk hatte die Armee um Hilfe gebeten. Die Kompanie vor uns hatte die Schwelerei vom Eis befreit, so dass die Förderbänder wieder liefen. Wir waren nur noch zur Sicherheit dort im Einsatz. Ich erinnere mich genau daran, wie wir hingefahren sind. Wir saßen auf einem Laster, ich war eingeschlafen. Irgendwann bin ich aufgewacht, hab einen kurzen Blick nach draußen geworfen und wusste: Wir sind da. Der Schnee war schwarz. Ich habe in der Nachtschicht gearbeitet und meine Aufgabe war es, ab und zu an ein Rohr einer Filteranlage zu klopfen, damit die Asche in einen mit Wasser gespülten Kanal fiel, denn die Klappe dafür verklemmte sich ab und zu. Es gab Förderbänder über die Kohlebriketts aus den Kohlepressen in Bahnwaggons transportiert wurde. Die Briketts kamen aus der Presse über Doppel-T-Träger aus Stahl. Die Träger waren so abgenutzt, dass in der Mitte das Metall weg war. Deshalb verklemmte sich ab und zu ein Brikett, die umliegenden Brieketts ploppten raus und fielen neben die Träger. Unsere Aufgabe war es, die Kohle auf die Bänder zu schippen. Ein Angestellter erzählte uns, dass das normalerweise „die Russen“ machen. Die T‑Träger befanden sich in der Höhe von 2 bis 3 Metern. Wenn dann so viele Briketts runtergefallen waren, dass sie in die Höhe der T‑Träger kamen, wurden die „Freunde“ gerufen und schippten das alles in einem Rutsch weg. Aber da wir nun schon mal da waren, konnten wir das auch erledigen.
Wenn es regnete, sah man die Pfützen nicht. Der Staub lagerte sich auf ihnen ab.
Das Werk Espenhain wurde 1937 von den Nazis gebaut. Schon kriegssicher in redundanter Doppeltausführung: zwei gleiche Kraftwerke nebeneinander.
Nach dem Kohleeinsatz bekamen wir drei Tage verlängerten Kurzurlaub (VKU). Ich habe jeden Tag gebadet. Die Kohle war noch lange in den Poren. (Nicht, dass wir in Espenhain nicht geduscht hätten. Das hat nur nicht viel geholfen.)
Sollte ich auf Espenhain stolz sein? Das war ein komplett runtergerocktes Kraftwerk!
Das steht hierzu in Wikipedia:
In den 1960er Jahren waren die Anlagen im Zusammenhang mit der Wirtschaftsorientierung auf die Erdölchemie massiv auf Verschleiß gefahren worden. Als Anfang der 1970er Jahre die Kohlechemie wieder an Bedeutung gewann, wurde die Produktion in den verschlissenen Anlagen auf maximale Leistung gesteigert. Dadurch und durch nicht vorhandene Investitionen im Bereich des Umweltschutzes stiegen die Schadstoffemissionen in Luft und Wasser sehr stark an. Über dem Ort und seiner Umgebung lag immer eine Wolke von Phenolen, Schwefel, Ruß und Asche. Der hohe Schadstoffausstoß machte es erforderlich, jeden Morgen Straßen und Gehwege zu kehren, da sich eine dicke Ascheschicht niedergelassen hatte. Einige Einwohner berichten, dass gelegentlich die Sonne hinter Aschewolken verschwand und dass Autos tagsüber mit Licht fahren mussten. Die gesundheitlichen Auswirkungen auf die Einwohner der Stadt waren verheerend. Die Lebenserwartung lag infolgedessen einige Jahre unter dem landesweiten Durchschnitt. Vor allem Kinder litten stark unter den auftretenden Haut- und Atemwegserkrankungen, wie z. B. Ekzemen und chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung (COPD). Auch heute noch sind viele Einwohner von Spätfolgen betroffen
Im Konsum des Werkes gab es Schnaps für 60 Pfennig (Wikipedia sagt 1,12 M) die Flasche (Brauseflasche). Der wurde Kumpeltod genannt. Bergleute und Leute in den Kraftwerken wurden exklusiv damit versorgt. Ich hab das nicht getrunken. Vielleicht bin ich darauf stolz …
In den Nachrichten wurde der 1‑Megabit-Chip gefeiert. Sollte ich darauf stolz sein? Freunde hatten West-Computer, ich arbeitete an Ost-Computern. Ich wusste, wo wir standen.
Alle wussten es. Es gab Witze: „Ein Japaner kommt in die DDR und reist durchs Land. Kurz vor seiner Abreise wird er gefragt, was er am besten fand. Die Antwort: ‚Die ganzen Museen: Pergamon, Robotron, Pentacon.’“ (Nebenbemerkung: Das bedeutet nicht, dass alles Schrott war. Es gab neu errichtete Werke, gut funktionierende Werke, es gab Bodenschatzvorkommen, die ergiebiger waren als die im Westen (Kali). Das alles konnte man in einem Film über die Treuhand sehen, der aber leider privatisiert wurde … (auf youtube auf privat gestellt wurde.))
Ich war nicht stolz auf die DDR. Ich war auch nicht stolz Deutscher zu sein. Wir hatten gelernt, dass Nationalismus das Wurzel allen Übels war. Ich bin nach der Wende noch jahrelang zusammengezuckt, wenn jemand „Deutschland“ gesagt hat, und würde dieses Wort auch heute noch gerne nicht verwenden.
Die Autoren schreiben:
Hilflos gegenüber der Allgegenwart des Westfernsehens und der wirtschaftlichen Überlegenheit der Bundesrepublik, versuchte die Partei eher durch den Vergleich mit den sozialistischen Bruderländern, den Verweis auf die eigene Spitzenstellung (hinter der Sowjetunion), Punkte zu sammeln. Insbesondere in Krisensituationen war die Parteiführung auch bereit, ungeniert antipolnische Stereotype (‘polnische Wirtschaft’) zu bedienen
Es stimmt, dass wir wussten, dass wir die Besten der Abgehängten waren. Noch vor der Sowjetunion. Ich war 1984 in Polen und 1988 in Rumänien und die Versorgung dort war unglaublich schlecht. Aber ich dachte: Puh, da haben wir aber Glück. Und muss ja, weil wir das Schaufenster waren (siehe Bananen im Post Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Stolz war ich darauf nicht. Die Sache mit den Polen stimmt. Das ging gegen Solidarność.
Worauf war ich stolz, worauf konnte ich stolz sein? Auf meine eigenen Erfolge im Sport? Im Schach? In Mathematikolympiaden? Ja.
Auf unsere Täterätä – wie Manfred Krug sie nannte – stolz zu sein, wäre mir nie im Traum eingefallen. Das war bei FDJ-Funktionären und bei Sachsen vielleicht anders.2
Nationalismus und Rassismus
Nationalismus
Zum Nationalismus schreiben die Autoren:
In der ‘patriotischen Erziehung’ der DDR wurden Begriffe wie ‘Heimatliebe’ oder ‘Stolz auf die Errungenschaften’ der DDR mit sozialistischer Ideologie aufgeladen. ‘Sozialistischer Patriotismus’, das hieß unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion, Liebe zur SED und Verehrung für die Parteiführung und Solidarität mit den ‘unterdrückten’ Völkern der Welt. Uns erscheint aber zweifelhaft, ob die Bevölkerungsmehrheit all diese Implikationen nachvollzog oder ob nicht eher nach der prägenden Kraft dahinterstehender tradierter Denkstrukturen, nämlich der kritiklosen Überhöhung des Eigenen und der exklusiven Identifikation mit dem eigenen Kollektiv zu fragen ist. Beruhte diese ‘imagined community’ (Benedict Anderson) also auf genau jenen Mechanismen, die für das Gefühl und das Erlebnis, einer ethnisch definierten ‘Nation’ anzugehören, typisch sind? Einige fachspezifische Forschungsergebnisse weisen in diese Richtung: Die bildungsgeschichtliche Studie von Helga Marburger und Christiane Griese attestiert der DDR-Pädagogik einen starken Homogenisierungsdruck nach innen. ‘Das Eigene war kollektives Eigenes und als solches streng genormt.’
Hm. Ja. Vielleicht. Wie die Autoren selbst schreiben, war es mit „Liebe zur SED und Verehrung für die Parteiführung“ nicht weit her. Den Erich haben wir nicht geliebt. Wir haben ja nicht mal die Katharina geliebt und die sah wirklich gut aus. Was die Staatsführung wollte und was real war, klaffte nicht nur bei der Wirtschaft auseinander.
Aber ist jetzt das DDR-System schuld daran, dass es wollte, dass die Bevölkerung dieses Land liebte und da blieb, statt bei der nächstbesten Gelegenheit in den Westen zu verschwinden? Die exklusive Identifikation mit dem eigenen Kollektiv gehörte sicher nicht zu den „dahinterstehenden tradierten Denkstrukturen“, denn uns wurde immer der Wert der Völkerfreundschaft beigebracht. Internationale Solidarität. Im Kampf für eine bessere Welt, ohne Ausbeutung usw. Das schreiben die Autoren ja auch selbst. Der oben zitierte Absatz scheint mir inkonsistent zu sein.
Weiter:
Lohnend ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf das Verhältnis der Stasi zu den auch in der DDR existenten Skinheadgruppen. In den Stasi-Akten zum Skinheadüberfall auf die Zionskirche von 1987 wird deutlich, wie stark die Denkschemata der Ermittler durcheinander gerieten. Waren doch die Opfer – Ziel des Überfalls war ein Punkkonzert – durch ihren Non-Konformismus bis dahin selbst Objekt von Beobachtung und Verfolgung der Sicherheitsorgane, weil ihre Einstellung als systemfeindlich galt. Was die rechten Schläger betrifft, so reichen die Akten über rechtsextreme Vorfälle bis 1978 zurück. Gleichwohl passte die ‘faschistische’ Orientierung dieser Tätergruppe nicht in das Raster der klassenkämpferisch geschulten Geheimdienstler, hatten die Skins doch wesentliche ’sozialistische Werte’ wie Arbeitsliebe, Ordnung, Sauberkeit und Bereitschaft zum Militärdienst für sich angenommen. Dieses Beispiel verdeutlicht die ’sozial-hygienischen’ Gemeinsamkeiten staatssozialistischer und rechtsextremer Leitbilder. Diese Übereinstimmung war es, die eine couragierte und offene Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus unmöglich machte, wären damit doch die genannten Grundwerte der DDR und letztlich der beschriebene Herrschaftsmodus der SED in Mitleidenschaft gezogen worden.
Sorry. Das geht nicht auf als Argument. Gruppe 1 hat Werte A, B, C, D. Gruppe 2 hat Werte A, B und X. Warum soll Gruppe 1 nicht Gruppe 2 wegen X bekämpfen können? Wenn es Nazi-Musik gibt, liegen Straftaten vor, gegen die man vorgehen kann. Ich hatte Kassetten in der Hand, auf denen Songs wie „Töte Deinen Nachbarn!“ und „Mein goldener Schlagring“ waren.
Übrigens kann man den Stasi-Unterlagen zum Vorfall in der Zionskirche auch entnehmen, dass da Skinheads aus West-Berlin dabei waren. Just saying.
Reisen
Zum Thema „Fremde und Ausländer in der DDR“ schreiben die Autoren:
Spätestens seit dem Mauerbau waren Auslandsreisen und internationale Mobilität aus dem Alltag der DDR verbannt. Nur wenige konnten sich private Urlaubsreisen etwa nach Bulgarien oder Ungarn leisten. Besuche im Westen waren Ausnahmen im Falle wichtiger Familienangelegenheiten. Für die Mehrheit der DDR-Bürger war Reisen ein staatlich gewährtes Privileg. Diesen eingeschränkten Erfahrungshorizont gilt es zu berücksichtigen, wenn man den Aufenthalt von Fremden und Ausländern in der DDR betrachtet. Die staatssozialistische Diktatur mit ihrem allumfassenden Regelungsanspruch ‘offizialisierte’ jede Form und Gelegenheit des Kontakts zu Fremden, so wie sie das mit allen sozialen Beziehungen zu verwirklichen suchte. ‘Gesellschaft’ im Sinne eines relativ autonomen Bereichs sozialer Beziehungen und Institutionen, wie er für bürgerlich-liberale Staaten typisch ist, sollte es in der DDR nicht geben, und das galt auch und gerade auf diesem Gebiet. Kontakte und Umgang außerhalb der staatlich festgelegten Regeln waren nicht vorgesehen, entweder explizit verboten, zumindest aber unerwünscht. Angehörige unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten sollten sich der SED-Ideologie zufolge gewissermaßen daher immer als ‘Repräsentanten’ ihrer jeweiligen Staatsvölker, quasi in diplomatischer Funktion, begegnen, nicht jedoch auf einer ‘Von-Mensch-zu-Mensch-Basis’. Das einander Akzeptieren als ‘Menschen wie du und ich’, als individuelle Gäste und Gastgeber, Durchreisende und Einheimische, als Zufallsbekanntschaften etc. wurde dadurch von vornherein erschwert bzw. erforderte bewusstes, eigensinniges Gegenhalten — wofür es durchaus Beispiele gab! Die Botschaft der offiziellen Regelungswut war aber: ‘Staatszugehörigkeit’ (und die machte sich praktisch an der Nationszugehörigkeit fest) ist eminent ‘wichtig’, der Internationalismus stellte die Vorrangstellung der Nation nie infrage .
Das hat mich einigermaßen verwundert. Denn ich war in Moskau, Carlovy Vary (Karlsbad) Prag, Budapest, Brașov, Bukarest, Sofia, Sosopol, Varna, Warschau und Puławy. An vielen Orten war ich mehrfach. Das Einzige, was man bezahlen musste, war eine Zugfahrkarte. Die war nicht teuer. Lebensmittel kosteten genau so viel wie zu hause. Geschlafen haben wir auf dem Zeltplatz. Ich war im Bucegi-Gebirge wandern. Wir hatten Seife und Kaffee mit. Beste Zahlungsmittel in Rumänien damals. Die Tour Berlin–Sosopol war der Standard damals. Ich weiß noch, dass die Sonnenschirme in Sosopol 3 Mark gekostet haben. Das haben wir uns nicht geleistet. Einmal hatte ich Fieber, da mussten wir. Man hat unterwegs dieselben Leute in Prag und Budapest getroffen. Die Reisen fanden zwischen 1984 und 1989 statt. Ich war jung und hatte kein Geld. Es ging dennoch.
In Budapest schliefen die Ossis immer einfach unter freiem Himmel auf der Magareteninsel. Das ging den Ungarn irgendwann so auf die Nerven, dass sie eine Speziallösung für uns Ostdeutsche entwickelten: Es gab am Ende der U‑Bahn-Linie einen mit Stacheldraht umzäunten Platz, auf dem man umsonst schlafen konnte (steht auch im Wikipediaeintrag zur Magareteninsel). Man musste seinen Personalausweis am Eingang abgeben und am Morgen kam um 6:00 die rendőrség, stellte sich neben die Schlafenden und drehte einmal voll die Sirene auf. Alle waren wach. Bis um 7:00 oder 8:00 hatte man das Gelände wieder zu verlassen. Manche haben gezeltet, manche unter freiem Himmel geschlafen. Findige Ungarn haben ein Geschäftsmodell entwickelt: Man konnte seinen Rucksack bei ihnen im Garten abstellen, denn die Schließfächer an den Bahnhöfen waren alle belegt. Ich habe einmal da draußen gezeltet. Wo dieser Zeltplatz war, konnte man herausfinden, indem man andere Ossis fragte. Wir haben uns an den Schuhen (Römerlatschen oder Tramper) erkannt. Bei meinen anderen Budapest-Besuchen habe ich immer in einem privaten Garten gezeltet. Mehrere Ungarn hatten ihre Gärten zu Zeltplätzen umfunktioniert.
Von der Schule aus war ich in Moskau, Carlovy Vary und Polen (Puławy, Warschau, Auschwitz). Das entspricht dem, was die Autoren geschrieben haben: Wir waren in diplomatischer Funktion dort. Ich bin auch Ehrenpionier der Sowjetunion geworden, was mir später in meiner Zeit als Kanzlerkandidat der Partei Die PARTEI sehr helfen sollte (siehe Korrektur Lebenslauf).
Ich brauchte keine rote Krawatte mehr zu kaufen, sondern habe einfach das rote Halstuch genommen, das noch im Keller lag. (Oh, gehöre ich jetzt zu einer Gruppe? Bin ich mitschuldig geworden? Im Sinne der Blutschuld, die Anne Rabe vertritt?) Der Rest der Reisen waren Individualreisen.
Nun kann man einwenden, dass ich und die anderen Menschen, die ich kannte, nicht repräsentativ für die DDR war. Schließlich war ich Abiturient und die Anzahl der Abiturient*innen war insgesamt eher gering. Zwei Schüler*innen aus einer POS-Klasse mit 30–31 Schüler*innen. Peer, ein Schulfreund, der auch mit in Moskau war, hat diesen Einwand auch sofort gebracht. Da er aber auch die beste Such-Maschine der Welt ist, hat er ihn dann auch gleich entkräftet. Und zwar so richtig.
Eine Meldung aus dem Jahre 1989 kündigt den neuen internationalen Jugendherbergsausweis an.
Da dieser Ausweis damals neu war, gab es das vorher noch nicht. Aber immerhin zeigt das schon mal, dass die Aussage der Autoren nicht richtig sein kann. Es geht explizit um Individualreisen, günstige Individualreisen ins Ausland.
Aber auch schon 1976 gab es Individualreisen nach Ungarn. Mit dem Bus.
Im Artikel steht, dass Privatquartiere am Balaton vermittelt werden. Das passt nicht zu den Angaben der Autoren. Staatlich organisierte Individualreisen. Unterstützender geht es nicht.
Peer hat auch Anzeigen für Fahrten ins Ausland gefunden:
Peer merkt an:
Dass man nicht alles glauben sollte, was in Zeitungen steht oder gar in DDR-Zeitungen stand, gilt hier natürlich auch. Aber es wäre keine propagandistische Glanzleistung, eine Nachfrage bzw. ein Bedürfnis nach Auslandsreisen zu wecken, das man eigentlich verhindern wollte.
Den Punkt „Ossis haben noch nie andere Menschen gesehen.“ können wir also getrost abhaken.
Jugend-Feldbettspiele
Die Autoren schreiben:
Tatsächlicher Kontakt der Bürger mit Ausländern stellte für die SED-Diktatur dagegen ein Sicherheitsrisiko dar. So unterlagen auch die wenigen internationalen Veranstaltungen wie die ‘Weltfestspiele der Jugend und Studenten’ im Sommer 1973 oder die ‘Festivals des politischen Liedes’ politischer Kontrolle.
Hey, warte mal. Auch das habe ich anders gehört. Es gab nach dem Festival viele internationale Kinder. Es war ein Fest der Völkerfreundschaft. Sollten die Organe des Inneren so versagt haben und komplett die Kontrolle über die äußeren Organe verloren haben? Das Festival der Jugend war unser summer of love.
Das schreibt der Tagesspiegel dazu:
Das eigentliche Festival findet nicht in den Bars oder Klubs statt, sondern unter freiem Himmel. Zehntausende von Jugendlichen kampieren in den Grünanlagen der Ost-Berliner Innenstadt. Das bleibt nicht ohne Folgen. Das Festival zeitigt Festival-Ehen und Festival-Kinder, und im Volksmund heißen die Jugend-Weltfestspiele bald Jugend-Feldbettspiele.
Es waren 8 Millionen Menschen in der Stadt. Es war die Hölle los. Der Tagesspiegel beschreibt auch die Maßnahmen der Stasi, aber die Verbrüderung bzw. Verschwesterung oder Vermenschung der 8 Millionen konnte und sollte nicht verhindert werden. Alle sprachen offen. Sogar mit den Typen von der CDU.
Vertragsarbeiter
Was stimmt, ist, dass man die Vertragsarbeiter eigentlich nicht gesehen hat und zu den Sowjetsoldaten hatte man im Prinzip auch keinen Kontakt. Ich hatte mal „diplomatischen“ Kontakt, weil wir bei unseren Freunden in ihrer Kaserne waren und Schach gespielt haben. Ich habe gewonnen. Geredet haben wir nicht viel. Wohl eher, weil mein Russisch zu schlecht war. Als Schüler habe ich bei Bernau Erdbeeren gepflückt. Da waren auch ein paar Sowjetsoldaten. Ich habe gegessen und gepflückt, sie haben nur gepflückt. Sie waren unglaublich schnell. Geredet haben wir nicht. Über „Меня зовут Стефан.“ wäre ich auch nicht hinausgekommen und vielleicht hätten sie auch Ärger bekommen. Bei meiner Frau an der Burg Giebichenstein in Halle haben Kubaner, Vietnamesen, Tschechen und Bulgaren studiert. Es gab Verträge mit den jeweiligen Ländern. An der Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin gab es Student*innen aus der Bulgarien, Mongolei, Nordkorea, China, der UdSSR, Kuba. Für diesen Austausch gab es Verträge. Das lief unter Entwicklungshilfe. Dass die Student*innen dann nicht hier geblieben sind, lag an ihren Entsenderländern. Bulgarien wollte eine hohe Summe für die Ausbildung ihrer Staatsbürger*innen als Ablöse, wenn diese nicht zurückkamen. Ehen und andere Gründe waren dabei egal.
Dass es Konflikte und rassistische Vorfälle mit den Vertragsarbeiter*innen in den Betrieben gab, kann ich mir vorstellen. Auch dass diese vertuscht wurden, weil nicht sein konnte, was nicht sein darf. Aber dass diese eben nicht sein durften, war die offizielle Staatslinie. Das war der Anspruch. Der Rassismus war nicht etwas, was den DDR-Bürger*innen beigebracht wurde. Als Beleg möge die folgende Seite aus Bummi für Eltern 1/1981 gelten:
Das Stück ist eindeutig ein Propagandatext. Es geht um den guten Menschen Lenin. Dann geht es um Urlaub im Ausland (erneut ein Widerspruch zu den Behauptungen der Autoren) und um ihren Freund aus Afrika. Auch wenn diese Texte vielleicht nicht viele gelesen habe, schon gar nicht bis zu der Stelle nach Lenin, so ist die Aussage des Bildes doch klar. Die Menschen aus Afrika sind lieb. Sie tragen unsere Kinder. Papi war ein Jahr dort und hat ihnen geholfen und jetzt studiert Ibrahima hier. Geht so Rassismus? Ich bin nicht zum Rassismus erzogen worden, sondern zu Völkerfreundschaft und Verständigung. Und zwar vom Kindergarten bis zum Untergang der DDR.
Mit der Zuspitzung der Versorgungskrise der DDR Ende der achtziger Jahre hielten die Schlagworte ‘Schmuggel’ und ‘Warenabkauf’ durch Ausländer Einzug in die gesteuerten DDR-Medien, versuchte die SED doch auf diesem Wege von ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik abzulenken. Die im Band Ausland DDR veröffentlichte Leserbriefsammlung der Berliner Zeitung aus der Zeit des Mauerfalls zeigt, welche Blüten die Fremdenfeindlichkeit bereits weit vor der Einheit getrieben hatte. Sie bietet ein Panorama aus besonders antipolnischen Vorurteilen (‘arbeitsscheu’, ‘faul’), Ausverkaufs- und Überfremdungsängsten (‘wollen wir etwa eine Mischrasse?’), aber auch wenigen mahnenden Stimmen .
Das kann sein. Und wenn diese Botschaften wirklich über die DDR-Medien verbreitet worden sind, dann ist auch wirklich die DDR-Führung dafür verantwortlich zu machen. Ansonsten ist die Tatsache, dass eine bestimmte Frage in der Leserbriefsammlung vorkam, noch nicht viel wert, denn es geht ja darum, den höheren Grad an Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der DDR zu erklären. Und diese Stimmen hätte man wohl im Westen mit seiner ungebrochenen Nazi-Tradition3 auch finden können. Ich erinnere nur an Horst Seehofer, der den Verfassungsschutzbericht über die Einstufung der AfD als rechtsextreme Partei hat ändern lassen, weil die CSU zum Teil dieselben Sprüche klopft, wie die AfD (Süddeutsche, 21.01.2022).
Medizinische Versorgung
Ich bin in Berlin Buch aufgewachsen. Meine Klassenkamerad*innen waren zum großen Teil Kinder von Ärzt*innen und sonstigem medizinischen Personal. In den 70ern und 80ern gab es eine spezielle Krankenstation zur Pflege und Versorgung Schwarzer Menschen, die in Namibia und Angola in der SWAPO im Widerstandskampf gegen das südafrikanische Apartheidsregime gekämpft hatten. Über diese Krankenstation und die Menschen und ihre Versorgung wurde in der Aktuellen Kamera und auf Titelseiten von gern gelesenen Zeitschriften berichtet.
Rassismus war explizit ein Thema:
Für mich sind Rassisten Menschen, die solche Verbrechen begehen oder gutheißen. Nicht aber diejenigen, die sie anprangern und den Opfern dieser Verbrechen helfen und sie über lange Jahre gesund pflegen.
Ich war mit einem Jungen befreundet, dessen Vater ein Dichter aus Syrien war und dessen Mutter Ärztin. Er war voll integriert, anerkannt in der Schule. Null Problemo. Die Beziehung wurde nicht unterbunden. Es gab viele geflüchtete Kommunisten, die in der DDR Zuflucht gefunden hatte. Ein Junge aus meiner Klasse hatte einen italienischen Vater. Er war Chefarzt in einem Krankenhaus. Es waren Menschen aus Chile und aus Griechenland in der DDR. Honecker hatte einen chilenischen Schwiegersohn, zu dem er dann nach der Wende auch ausgewandert ist.
Der nationalistische Taumel der Wiedervereinigung
Ganz zum Schluss, im Fazit, wird das angesprochen, was ich für den eigentlichen oder zumindest den wichtigsten Grund halte.4 Im Fazit steht das wichtigste Wort: Wiedervereinigungseuphorie. Das ist der Punkt. Kohl kam nach Dresden. Er schwamm in einem Meer aus Fahnen. Ein nationalistischer Taumel. Vom Westen gewollt und gefördert. Die taumelten drüben genauso. Vielleicht ist es zu einfach, aber wir haben das damals gesehen.
Wir hatten Angst davor.
Deutschtümelei! Nationalismus! Das kam von der Bundesregierung. Nicht in Berlin. In Berlin wurde Kohl ausgebuht.
In Sachsen wurde er mit offenen Armen empfangen. Er hat den Ossis blühende Landschaften versprochen. Von Oskar Lafontaine, dessen Herz links schlug, und der damals Kanzlerkandidat der Partei war, in der auch Anne Rabe Mitglied ist, wollte niemand etwas Wissen. Er hat die Wahrheit gesagt. Aber „die Wahrheit ist hässlich und hat stinkenden Atem“.
Sicher ist alles nicht monokausal. Die Sache mit den Vertragsarbeiter*innen spielt bestimmt eine Rolle, aber den gesamtdeutschen Nationalismus nur in einem Satz zu erwähnen, ist nicht angemessen.
Zusammenfassung
Ich habe zu Beginn besprochen, dass einer der Autoren des hier besprochenen Aufsatzes, so wie Geipel, Kahane und Rabe, stark mit der DDR verbandelt war. Eine Erklärung für einseitige und falsche Positionen oder Sichtweisen kann dann sein, dass man überhaupt nicht erst in den Verdacht von Systemnähe kommen will.
Zu den „jugendlichen Rechtsextremisten in Jugendtreffs“ habe ich angemerkt, dass diese dort von höchster Stelle geduldet waren. Von Jörg Schönebohm, Generalleutnant der Bundeswehr a.D. und Vorsitzender der CDU, Brandenburg. Nazi-Aktivitäten wurden im Osten durch die Verantwortlichen, die fast ausschließlich aus dem Westen waren (siehe Rabe-Post) nicht ausreichend verfolgt. Die Autoren sprechen vom Nationalstolz, der in der DDR gefördert wurde. Vielleicht waren Menschen stolz auf verschiedene Sportler oder auf Gesamtergebnisse bei Olympiaden, aber bei Katharina Witt war das nicht der Fall. Sie wurde von Tausenden ausgebuht. Nach der Wende hat sie das Land verlassen, weil sie nicht verstanden hat, woher die Abneigung kam. Die Wirtschaft war marode, nichts worauf man stolz sein konnte. Die Behauptung, man hätte in der DDR nicht reisen können und Individualreisen seien unerwünscht gewesen, ist schlicht falsch. Auch die Bemerkungen zu den Jugend-Weltfestspielen entsprechen nicht den Tatsachen, wie man auch noch genauer im zitierten Tagesspiegel-Artikel nachlesen kann. Dass es nicht viel Kontakt zu Vertragsarbeitern gegeben hat, stimmt. Der nationalistische Taumel nach der Wende, der vom Westen auch befeuert wurde, ist sicher ein relevanter Faktor, wurde aber von den Autoren nicht angemessen diskutiert.
Für Anne Rabes Behauptung, im Osten hätte es ideologisch motivierten Nationalismus gegeben, liefern Poutrus, Behrends & Kuck jedenfalls keine Beweise.
Anne Rabe hat in ihrem Buch Eine Möglichkeit von Glück ihre traumatischen Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit in Wismar aufgearbeitet. Ihre Eltern und Großeltern waren DDR-Kader, ihr Großvater in Stalingrad gewesen und sie führt alle Gewalt auf die DDR-Zeit und die Kriegserlebnisse zurück. Ich habe in Keine Gewalt: Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe bereits dazu geschrieben, welche inhaltlichen Fehler ihr dabei unterlaufen sind und dass ihre Schlussfolgerungen nicht tragfähig sind. Hier möchte ich noch einige weitere Punkte diskutieren, die inhaltlich nicht in den ersten Blog-Post gepasst haben. Dabei geht es mir vor allem um eine korrekte Darstellung der DDR-Zeit aber es ist auch noch ein gravierender Fehler bezüglich der Vorfälle in Rostock-Lichtenhagen zu besprechen.
Nazis, Verantwortung und Scham
In diesem ersten Abschnitt möchte ich Rabes Ansichten bzgl. Kollektivschuld und ihre Scham bezüglich ihrer Eltern besprechen.
Schuld und Blut
Rabe schreibt, dass alle Deutschen „qua ihres deutschen Blutes“ zur SS, zur Wehrmacht, zu den Verbrechern gehören:
Die Nazis waren immer die anderen. Die SS, die Wehrmacht, die Verbrecher. Schlimm, schlimm das. So schlimm, dafür übernehmen wir sogar dann gern die Verantwortung, wenn wir ganz sicher sind, dass unsere Familien damit nichts zu tun haben. Aber qua Herkunft, qua Abstammung, qua unseres deutschen Blutes gehören wir eben dazu, sind wir eben mitverantwortlich.
S. 67
Ist das so? Ist das mit dem Blut nicht Nazi-Ideologie? Und niemand hat’s gemerkt? Die Lektorin nicht, kein Rezensent. Warum sollte irgendwer wegen Blut besser oder schlechter sein? Türke, Palästinenser, Jude, Russe, Deutscher? Ich empfehle allen den Wikipedia-Artikel zur Kollektivschuld. Das Folgende steht dort gleich zu Beginn:
Kollektivschuld bedeutet, dass die Schuld für eine Tat nicht dem einzelnen Täter (oder Tätern) angelastet wird, sondern einem Kollektiv, allen Angehörigen seiner Gruppe, z. B. seiner Familie, seines Volkes oder seiner Organisation. Das beinhaltet folglich auch Menschen, die selbst nicht an der Tat beteiligt waren. Das Strafrecht moderner Demokratien geht grundsätzlich von einer individuellen Verantwortlichkeit aus, so dass Kollektivschuld juristisch nicht relevant ist. Artikel 33 Genfer Abkommen IV bestimmt, dass keine Person für ein Verbrechen verurteilt werden darf, das sie nicht persönlich begangen hat. Eine Kollektivstrafe setzt Kollektivschuld voraus. Nach Art. 87 Abs. 3 Genfer Abkommen III und Artikel 33 Genfer Abkommen IV zählen Kollektivstrafen zu den Kriegsverbrechen.
Nun könnte man – völlig zu Recht – darüber nachdenken, ob die Sache mit den Deutschen vielleicht doch etwas spezieller ist. Die Alliierten verfolgten direkt nach dem Krieg einen Kollektivschuld-Ansatz. Das äußerte sich unter anderem darin, dass die Weimarer Bevölkerung durch das befreite KZ Buchenwald geführt wurde. Den Ettersberg kann man von Weimar aus sehen. Buchenwald hatten die Weimarer direkt vor der Nase. Sie haben den Rauch nicht gesehen, das verbrannte Menschenfleisch nicht gerochen. Oder es eben all die Jahre ausgeblendet. Es war richtig, sie alle sehen zu lassen, was ganz in ihrer Nähe geschehen war. Filmmaterial der US-Army und den Bericht einer Zeitzeugin, die den KZ-Besuch mitgemacht hat, hat der Spiegel veröffentlicht.
Im Urteil der Alliierten in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen steht 1948 Folgendes zur Kollektivschuld:
Es ist undenkbar, dass die Mehrheit aller Deutschen verdammt werden soll mit der Begründung, dass sie Verbrechen gegen den Frieden begangen hätten. Das würde der Billigung des Begriffes der Kollektivschuld gleichkommen, und daraus würde logischerweise Massenbestrafung folgen, für die es keinen Präzedenzfall im Völkerrecht und keine Rechtfertigung in den Beziehungen zwischen den Menschen gibt.“ (aus dem Urteil der Alliierten in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen gegen die I.G. Farben, 29. Juli 1948).
Richard von Weizäcker schlägt statt Kollektivschuld eine Kollektivhaftung vor:
auch Richard von Weizsäcker betonte in seiner viel beachteten Rede „Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“, die er am 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag hielt: „Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht“, rief aber gleichzeitig dazu auf, kollektiv die Verantwortung für das nationalsozialistische Unrecht zu akzeptieren. Weizsäcker bezeichnet diese Haltung als „Kollektivhaftung“.
Wikipedia über eine Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag
Diese Kollektivhaftung gab es für die DDR. Während die West-Alliierten den West-Deutschen den Marshall-Plan geschenkt haben, hat die Sowjetunion Fabriken und Infrastruktur abgebaut und nach Russland verschickt. Im Falle von Carl Zeiss Jena haben sie sogar Menschen mitgenommen, die die Fabrik in Russland wieder aufgebaut und über Jahre hinweg die Russen eingearbeitet haben. Die Russen haben alles mitgenommen, was ihnen nützlich erschien. In Wikipedia gibt es ein Liste aller seit 1882 stillgelegten Bahnverbindungen in Berlin und Brandenburg. In dieser Liste ist auch vermerkt, was die Russen mitgenommen haben.
Ich habe dazu auch eine persönliche Geschichte: Ab der fünften Klasse bin ich von Buch zur Humboldt-Uni zur Mathematischen Schülergesellschaft gefahren. Es gab damals noch eine direkte Verbindung von Buch zum Alexanderplatz. Die fuhr abwechselnd auf dem linken und auf dem rechten Gleis. Alle 20 Minuten. Dazwischen fuhr der Zug in die andere Richtung nach Bernau. Einmal war ich zu früh dran und sprang gerade noch in einen Zug auf dem linken Gleis. Die Türen schlossen sich, der Zug fuhr los. Leider in die falsche Richtung. Ich wartete auf die nächste Station, stürzte aus dem Zug und rannte hinüber zur anderen Seite, weil ich da den Zug in Gegenrichtung erwischen wollte. Aber, oh Schreck, da war gar kein Gleis! Die Russen hatten es mitgenommen. Von Röntgental bis Bernau ist die Strecke nur eingleisig.
Im Wikipediaartikel kann man auch lesen, dass die Sowjetunion fast die Hälfte des ostdeutschen Schienennetzes mitgenommen hat und mindestens 2000 der besten Betriebe. Und dann haben wir bis 1953 noch fast ein Viertel des Bruttosozialprodukts in die Sowjetunion abgeführt:
Die Reparationsleistungen der späteren DDR an die Sowjetunion geschahen bis 1948 hauptsächlich durch Demontage von Industriebetrieben. Davon betroffen waren 2000 bis 2400 der wichtigsten und bestausgerüsteten Betriebe innerhalb der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ). Bis März 1947 wurden zudem 11.800 Kilometer Eisenbahnschienen demontiert und in die Sowjetunion verbracht. Damit wurde das Schienennetz bezogen auf den Stand von 1938 um 48 Prozent reduziert. Der Substanzverlust an industriellen und infrastrukturellen Kapazitäten durch die Demontagen betrug insgesamt rund 30 Prozent der 1944 auf diesem Gebiet vorhandenen Fonds. Ab Juni 1946 begann sich mit dem SMAD-Befehl Nr. 167 die Form der Reparationen von Demontagen auf Entnahmen aus laufender Produktion im Rahmen der Sowjetischen Aktiengesellschaften zu verlagern, die von 1946 bis 1953 jährlich zwischen 48 und 12,9 Prozent (durchschnittlich 22 Prozent) des Bruttosozialprodukts betrugen. Die Reparationen endeten nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Auf der Grundlage erstmals erschlossener Archivmaterialien, vor allem in Moskau, kamen Lothar Baar, Rainer Karlsch und Werner Matschke vom Institut für Wirtschaftsgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin etwa 1993 auf eine Gesamtsumme von mindestens 54 Milliarden Reichsmark bzw. Deutsche Mark (Ost) zu laufenden Preisen bzw. auf mindestens 14 Milliarden US-Dollar zu Preisen des Jahres 1938.
Als die Reparationen 1953 für beendet erklärt wurden, hatte die SBZ/DDR die höchsten im 20. Jahrhundert bekanntgewordenen Reparationsleistungen erbracht.
Dem Plus der BRD aus dem Marshall-Plan von 1,41 Milliarden US-Dollar steht also ein Minus von mindestens 14 Milliarden US-Dollar für die DDR gegenüber. (Nebenbemerkung: Ej, liebe Wessis, „wir“ haben die aus der Haftung entstandenen Schulden übernommen und bezahlt und dann alles von vorn neu aufgebaut: die durch den Krieg zerstörte Infrastruktur und die demontierten Betriebe, wohingegen „Ihr“ schöne Geschenke bekommen habt bzw. Betriebe und Personal aus dem Osten mitgenommen habt. Unter anderem auch einen Teil von Carl Zeiss, Siemens, Schott usw. Außerdem konntet „Ihr“ „Eure“ Rohstoffe auf dem Weltmarkt kaufen (den globalen Süden ausbeuten), während „wir“ unsere Rohstoffe von „unsren Freunden“ kaufen mussten. Und zwar für West-Geld. Es gibt also keinen Grund zur Überheblichkeit und Arroganz.) (Nebenbemerkung 2: Insgesamt betrugen die Wiedergutmachungszahlungen 2022 81,967 Milliarden Euro. Die DDR hat sich an diesen Zahlungen nicht beteiligt, weil sie das Thema nach den Zahlungen an die Sowjetunion für erledigt gehalten hat. Ab 1989 war „die DDR“ natürlich an diesen Zahlungen beteiligt. Die Zahlungen wurden zu unterschiedlichen Zeiten geleistet, so dass die absoluten Zahlen nicht direkt vergleichbar sind.5
Weiter schreibt Wikipedia zum Thema Kollektivschuld:
Ralph Giordano wollte 1947 nicht von „Kollektivschuld“ sprechen. Es habe eine Minderheit von Deutschen gegeben, die ihrem Gewissen und nicht dem Führer gefolgt sei. Die Mehrheit habe jedoch kein Recht, sich dadurch entlastet zu fühlen und von deren Anständigkeit zu profitieren, besonders weil sie sich auch heute noch von dieser Minderheit distanziere.
Das ist wahr. Ein Verwandter meiner Frau, sollte in Norwegen Zivilist*innen töten und hat sich geweigert. Er wurde selbst erschossen. Der Westteils der Familie hat sich dafür geschämt. Sie haben nie darüber gesprochen. Und siehe auch den Bericht von Marianne Meyer-Krahmer Mein langer Weg zur Stunde Null, den ich hier im Blog veröffentlicht habe. Meyer-Krahmer ist die Tochter des Leipziger Oberbürgermeisters Goerdeler, der als einer der Hitler-Attentäter hingerichtet wurde. Sie saß im KZ. Übrigens ohne jeglichen Grund. Es war Sippenhaft. Sippenhaft ist die kleine Freundin von Kollektivschuld. Sie berichtet davon, wie ihr Menschen nach ihrer Befreiung begegnet sind, wie sie die Ablehnung der BDM-Mädchen, mit denen sie als Lehrerin zu tun bekam, überwand. Mit Goethe.
In Wikipedia findet man auch folgende Aussage des Neurologen und Psychiaters Viktor Frankl zum Thema Kollektivschuld:
es gibt nur zwei Rassen von Menschen, die Anständigen und die Unanständigen.
Frankl war Jude und hat Theresienstadt und Auschwitz überlebt. Seine restliche Familie wurde ermordet. Vater, Mutter, Bruder, Frau.
Rabe wirft ihren Lehrer*innen vor, dass diese keine vorwurfsvollen Allaussagen über die Vorfahren ihrer Schüler*innen gemacht hätten:
Diese ominösen deutschen Soldaten. Kein Lehrer sagte: Eure Großväter und Urgroßväter waren die deutschen Soldaten, die in Osteuropa und der Sowjetunion alles abgeschlachtet haben, was sich bewegte, die geraubt und vergewaltigt und ganze Dörfer angezündet haben.
S. 87
Vielleicht lag das daran, dass das zu platt und im Einzelfall auch nicht richtig gewesen wäre? Wenn wäre die Aussage ja wohl auch „Unsere Großväter und Urgroßväter“ gewesen. Und folgt es nicht automatisch, wenn man über die Verbrechen dieser Generation aufklärt, dass die Großeltern und Urgroßeltern von vielen, vielen Deutschen Täter*innen waren? Muss man diesen Gedanken nicht selbst denken?
Mein einer Opa war übrigens kriegswichtig (Ingenieur bei Körting in Leipzig) und deshalb nicht im Krieg und mein anderer war zwar bei der Wehrmacht aber als Koch.
Beide haben somit zwar irgendetwas zum Krieg beigetragen, aber der Vorwurf, den Rabes Lehrer*innen ihnen hätte machen sollen, hätte auf sie wohl nicht zugetroffen.
Der Großvater meiner Frau hat einem Juden ein Bahn-Ticket nach Wladiwostok gekauft, als Juden das schon längst nicht mehr konnten. Er hat ihm zur Flucht verholfen. Mit Hilfe eines israelischen Kollegen habe ich seinen Neffen in Israel ausfindig gemacht und mein Schwager hat ihn dann dort besucht. Der Großvater war Leiter des Arbeitsamtes in Insterburg. Er saß in der Nazizeit mehrfach im Gefängnis und stand mehrfach vor Gericht. Einmal hat ein Kind eines Menschen aus seiner Freundesgruppe sie verraten: Sie hatten Radio London gehört. Er konnte sich vor Gericht darauf berufen, dass die Aussage eines Kindes nicht zählen würde. Andere aus dem Freundeskreis kannten sich nicht aus und wurden verurteilt. Er wurde oft von Menschen gewarnt, denen er früher Arbeit verschafft hatte. Beim dritten Mal Schutzhaft half ihm der Polizeidirektor: Die anderen Angeklagten wurden ins KZ Dachau abtransportiert, der Polizeipräsident hielt den Großvater zurück mit der Behauptung, es habe keinen Platz mehr in den Transporten nach Dachau gegeben.
Ein Angehöriger der Familie meiner Frau hat sich im Krieg geweigert, norwegische Zivilist*innen (Partisanen) zu erschießen und wurde selbst erschossen. Ein Cousin meines Vaters ist in Norwegen mit einer Norwegerin desertiert und wurde erschossen.
Der Cousin scheint seine Waffe mitgenommen zu haben. Also: einmal Verweigerung des Schießens aus Menschlichkeit, einmal Fahnenflucht aus Liebe. „Todesanzeigen oder Nachrufe in Zeitungen, Zeitschriften und dergleichen sind verboten.“
Sind wir schuldig? Als Menschen mit deutschem Blut? Was ist das für ein rassistischer Unsinn! Sollten wir uns nicht alle daran messen, was wir jetzt tun? Wie wir die Taten anderer einordnen? An unserer Menschlichkeit? Am 4.11.1989 gab es eine große Demonstration am Alexanderplatz. Die erste freie Demonstration in der DDR. Ich lief im Antifa-Block mit. Die Stasi hat Bilder von diesem Block gemacht (siehe Wagner, 2018, Vertuschte Gefahr: Die Stasi & Neonazis).
Bin ich schuldig? Muss ich mich schämen? Ich habe nichts getan! Ich war sieben Mal in Buchenwald (siehe Weimartage der FDJ) und auch in Sachsenhausen, in Auschwitz. Ich habe mich intensiv mit der deutschen Vergangenheit auseinandergesetzt, aber ich konnte die 1000 Jahre zwischen 1933 und 1945 an keiner Stelle beeinflussen. Denn ich war da noch nicht gebohren. Für meine Eltern kann ich nichts, aber für meine Kinder. Ich würde mich schämen, wenn sie in die AfD eintreten würden und/oder die Vernichtung von Menschen planen würden.
Scham
Anne Rabe wird zum Opfer ihrer Vorstellungen von Kollektivschuld. Wie ich oben geschrieben habe: Sippenhaft ist die fiese kleine Schwester von Kollektivschuld. Das schreibt Rabe selbst:
Meine Eltern hatten studieren können und hatten es deshalb auch nach dem Systemwechsel leichter. Wir waren privilegiert und retteten einen Teil dieser Privilegien mit in die neue Zeit. Mutter und Vater würden sich auf dem Arbeitsmarkt etablieren können. Nicht ohne Probleme, nicht ohne Arbeitslosigkeit, nicht ohne Umschulungen und die berühmten Brüche in den Erwerbsbiografien, aber sie hatten bessere Startchancen als die meisten derjenigen, die das System zum Einsturz gebracht haben. Bessere Chancen als diejenigen, denen auch ich meine Freiheit zu verdanken habe. Ich schäme mich dafür. Immer noch.
S. 155
Jedes Mal, wenn ich von Hohenschönhausen, Torgau oder anderen Dunkelorten der DDR hörte, wurde ich von einer Schamwelle fortgeschwemmt, aus der ich mich nur langsam herauskämpfen konnte, indem ich sorgsam alles studierte.
S. 99
Aber wieso schämt sich Rabe für ihre Eltern? Sie kann nichts für ihre Eltern. Sie hat sich sogar von ihnen losgesagt. Damit ist dokumentiert, dass sie deren Haltung und ihre Gewalttätigkeit ablehnt. Rabe sollte sich nicht für ihre Eltern schämen. Aber sie könnte sich zum Beispiel für die inhaltlichen Fehler in ihrem Buch schämen. Für ihre Uninformiertheit. Für ihre nicht erfolgte Recherche zu Themen, über die sie geschrieben hat. Für den Schaden, den sie damit angerichtet hat. All ihre Fehler sind in Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch in diesem Blog-Beitrag dokumentiert. Oder für ihre Naivität bzw. Durchtriebenheit, auf die ich weiter unten zu sprechen komme.
Reden
Anne Rabe mahnt in ihrem Buch an, dass wir doch miteinander reden sollten. Dass wir Ossis unsere dunkle Vergangenheit aufarbeiten sollten. Aber sie selbst hat nicht geredet. Das Versagen liegt auch bei ihr. Hier einige Passagen aus dem Buch:
Ich bin einfach wütend. Auch auf Adas Eltern.
Auch sie haben uns im Stich und mit der ganzen Geschichte alleingelassen. Adas Vater hat über die roten Socken gesprochen, über sein Radar, das da anging bei meinen Eltern und anderen. Sein Hass, seine Wut, sie sind berechtigt gewesen. Aber statt sich mit denen auseinanderzusetzen, die dafür die Verantwortung trugen, statt mit ihnen die Dinge zu klären, hat er am Küchentisch seine Reden geschwungen und eben mich spüren lassen, wie wenig er mich leiden konnte.
S. 155–156
Adas Eltern waren Systemgegner*innen. Sie durften nicht studieren und haben unter der DDR gelitten. Unter Menschen wie Rabes Eltern. Und jetzt verlangt sie, dass die, die all das erlitten haben, zu denen gehen, die sich schuldig gemacht haben, und sich mal aussprechen?
Das zeigt ganz klar, dass sie das alles nicht verstanden hat. Sie hat nicht verstanden, was Bausoldat-Sein bedeutet hat. Man hatte sich komplett aus der restlichen Gesellschaft ausgeklinkt. Man konnte höchstens noch Theologie studieren. Ich war an einer Spezialschule mathematischer Richtung. Es gab dort einen Jungen, der nahm an internationalen Matheolympiaden teil. Er war genial. Er hat sich schon in der Schule geweigert, an dem zweiwöchigen GST-Lager, in dem wir auch mit automatischen Waffen geschossen haben, teilzunehmen. Die paramilitärische Ausbildung in der Schule war Pflicht. Der Schüler ist dann Schäfer geworden.
Ada hat mir erzählt, dass er in der DDR den Wehrdienst an der Waffe verweigert hat, was nur ging, wenn man sich den »Bausoldaten« zuteilen ließ. Das hatte Konsequenzen. Miese Schikanen während und nach der Dienstzeit – ein sehr bewusst gewähltes Außenseitertum, einer Gesellschaft zum Trotz, die einem keine Wahl lassen wollte. Der Preis, den Adas Vater für seine moralische Integrität hatte zahlen müssen, war hoch. Sein ganzes Leben würde davon bestimmt sein. Auf ein Studium brauchte er nicht mehr zu hoffen und überall, wo es sich anzustellen galt, hatte er sich ganz hinten einzureihen. Das hatte ihn dennoch nicht davon abgehalten, für seine Überzeugungen einzustehen.
S. 154
Jeder Kontakt mit dem System und dessen Kindern war potentiell gefährlich und in jedem Fall anstrengend. Als Bausoldat war man als Systemgegner aktenkundig geworden. Vielleicht wurde man bespitzelt. Rund um die Uhr. Arbeitskollegen meldeten Auffälligkeiten. Und sie verlangt jetzt von den Oppositionellen, dass sie mit ihren Eltern sprechen? Zwar nach der Wende, aber ???
Völlig unklar.
So wie Geipel und Kahane es nicht verstehen können, dass sie als rote Socken abgelehnt wurden, hat Rabe nicht verstanden, wie die DDR war und was man da nach der Wende gemacht hat und was nicht. Wir waren froh, dass wir Krenz & friends los waren. Mit denen wollte man nicht mehr reden. Ganz davon abgesehen, dass nach der Wende alle im Überlebenskampf waren, was Rabe ja auch selbst schreibt.
Wie kann Rabe eine Blutschuld für das gesamte deutsche Volk und alle Nachfahren fordern, für sich selbst aber verlangen, dass ihre Gegenüber ihr unvoreingenommen begegnen? Müsste diese Blutschuld nicht auch für sie gelten? Und für Anetta Kahane, deren Vater das Neue Deutschland, Zentralorgan der SED, geleitet hat? Und für Ines Geipel, deren Vater IM war und laut ihrem Wikipedia-Eintrag für „das Ausspähen von Objekten und die Vorbereitung von Sabotage auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland“ zuständig (Hartwich & Mascher, 2007)? Ist Unfug, oder? Anetta Kahane war übrigens selbst IM, nicht ihre Eltern. Sie hat ihre jüdischen Kumpels verpfiffen.
Ja, Adas Vater hätte sie nicht ablehnen sollen, so wie es auch von ihrer Lehrerin unprofessionell war, sie aufgrund ihrer Herkunft auszuschließen. Gerade in der Grundschule, wo ein betroffenes Kind das wahrscheinlich nicht verstehen kann. Aber als erwachsene Frau, und das ist die Ich-Erzählerin ja, sollte sie die Situation damals so weit einschätzen können, dass sie die Handlungen der Akteur*innen versteht. Aber das kann sie nicht, denn sie hat nicht mit ihnen gesprochen (ja, ja, das ist nur ein Roman, aber solche Romane würde man dann halte eben nicht schreiben, hätte man mit Menschen gesprochen):
Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich das Gespräch mit Adas Eltern plötzlich scheue. Ich will keine Absolution von ihnen, keine späte Verbrüderung mit denjenigen, die auf meine Eltern und ihr ganzes System zu Recht wütend waren. Ich wollte mich auch nicht als diejenige produzieren, die nun ihre Hausaufgaben gemacht und im Gegensatz zu den ewig Gestrigen verstanden hatte, aus was für einem Land sie kam.
S. 155
Hätte sie mit ihnen gesprochen, wüsste sie, dass Christ*innen in der DDR dazu genötigt wurden, vor der ganzen Klasse aufzustehen. „Wer von Euch glaubt an Gott? Du, Sabine? Dann steh mal bitte auf. Wer noch?“
Rabe schreibt:
Die Angehörigen der Opfer erfuhren nichts über den Verbleib ihrer Kinder, Väter, Mütter, Tanten, Onkel, Nachbarn und Freunde. Das Schweigen darüber war so total, dass heute kaum noch jemand um die Verbrechen der Anfangszeit der DDR weiß, obwohl es nahezu keine Familie geben kann, die davon unberührt blieb.
S. 265
Ich habe es immer geahnt: Ich bin einzigartig! Ich bin der einzige Ossi, der irgendwie wusste, dass in den 50ern Menschen abgeholt wurden. Dass es Menschen gab, die Angst hatten, wenn Autotüren klappten, weil sie dachten, jetzt würden sie geholt.
Sorry, Frau Rabe. „Auf der Suche nach Gatt“ wurde in der Schule behandelt. Da wurde uns natürlich erklärt, dass das am 17. Juni die Konterrevolution war. Aber man konnte seine Eltern fragen, was da war, was sie gemacht haben.
Der andere Teil meiner Familie kommt aus Frankfurt/Oder, einer Bezirkshauptstadt, der achzehntgrößten Stadt in der DDR, von der Sie schreiben: „Irgendwas Kleines in Brandenburg“. Die Mutter hat in der Bahnhofsmission gearbeitet. Der Vater war in den letzten Kriegstagen gefallen, als er sich vom Volkssturm abgesetzt hatte und von einer irrlichternden Granate erwischt wurde. Alleinstehende Frau mit fünf Kindern. Sie wurde eingesperrt. Das wissen wir, das weiß die ganze Familie, das weiß deren Umfeld. Christ*innen in der DDR wissen das. Sie haben halt nicht mit Ihnen drüber gesprochen und hätten das zu DDR-Zeiten auch nicht getan. Weil sie aus einer Funktionärsfamilie kommen. Mein Gott!
Sie fordern eine Aufarbeitung der SED-Zeit und Rezensenten greifen das begeistert auf: Ja, die Ossis sollen mal ihren Dreck im Keller aufarbeiten, so wie wir es ja getan haben 1968.
War Ihre Familie in das SED-Regime verwickelt? Gab es in Ihrer Familie Mitarbeiter der Staatssicherheit? Würden Sie sagen, dass Ihre Familie zu DDR-Zeiten eher Täter oder Opfer waren? Gehörten Sie zu den Mitläufern? Hat Ihre Familie vom SED-Regime profitiert? Gibt es in Ihrer Familie Mitglieder, die auf Grund ihres Glaubens oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt wurden? Hat Ihre Familie aktiven Widerstand gegen das SED-Regime geleistet? Ist es wichtig, dass kommende Generationen in der Schule über das Unrecht, das in der ehemaligen DDR begangen wurde, aufgeklärt werden?
Diese Fragen werden nicht gestellt. Man befragt uns nicht dazu und misst daran auch nicht den Grad unseres politischen Bewusstseins oder den Zustand der Republik.
S. 73
Sorry, Frau Rabe, da haben Sie wohl einen Ditsch von ihrem Elternhaus mitbekommen. Wer ist denn „man“? Wer soll denn was fragen? Der Staat uns? Sollten wir das nicht selbst tun? Und ja, 1) hat der Staat uns befragt bzw. unsere Daten abgefragt und 2) haben wir miteinander geredet. Das passierte in den 90ern ziemlich intensiv. Nur haben Sie davon nichts mitbekommen, weil Sie da noch zu klein waren. Das kann man Ihnen nicht vorwerfen, was man Ihnen vorwerfen kann, ist, dass Sie selbst nicht reden wollten (siehe oben) und dass Sie auch nicht recherchiert haben. Über „Wir müssen alle mal reden und wir brauchen ein 68 für den Osten“ habe ich auch in Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten noch ausführlicher besprochen.
Berlinerisch
Auf S. 210 schreibt Anne Rabe zum Berlinischen:
Zwar ist es in der intellektuellen Landschaft Ostberlins ganz schick gewesen, den Jargon der Arbeiter zu imitieren
S. 210
Anne Rabe hat an der FU-Berlin ab 2005 Germanistik und Theaterwissenschaften studiert. Als ich dort 2007 anfing, war sie wahrscheinlich schon weg. An der FU lehrte damals noch Prof. Norbert Dittmar, der zum Berlinischen geforscht hat. Aber eigentlich braucht es keine sprachwissenschaftliche Ausbildung, um zu wissen, dass das Berlinern in Berlin und Brandenburg in allen Bevölkerungsschichten üblich war. Ich konnte berlinern, schon bevor ich mit Arbeitern in Kontakt gekommen bin. Meine Eltern sind aus Jena und Wittenberg. Von denen habe ich es nicht gelernt. Das kam ganz normal über den Kindergarten und die Schule. So hat man gesprochen. Ein Kollege, der in den 90ern an der HU studiert hat, hat Vorlesungen in der Literaturwissenschaft gehört, in denen der Dozent bestens berlinert hat. Wir alle haben berlinert. Viele sind zweisprachig und können Standardsprache und Dialekt sprechen. Im Westen hat man den Schüler*innen das Berlinern ausgetrieben, so wie man in Bayern den Kindern das Bayrische abgewöhnt hat. Ich habe genau einen Freund aus Westberlin, der berlinert. Sonst sprechen alle West-Berliner hochdeutsch.
Ein möglicher Grund dafür, dass die Schulen nicht versucht haben, uns die Dialekte abzuerziehen, könnte natürlich sein, dass auch Funktionäre Dialekt sprachen, aber das ist etwas Anderes als das, was Anne Rabe geschrieben hat.
Jugendweihe – unser erster subversiver Akt
Zur Jugendweihe schreibt Rabe:
Das zweite Bekenntnis legte das Kind dann selbst ab. In der achten Klasse, also mit 14 Jahren, sollte das sozialistische Kind qua Jugendweihe in die Welt der Erwachsenen aufgenommen werden und musste dafür lauthals geloben, sich „mit ganzer Kraft für die große und edle Sache des Sozialismus einzusetzen“.
S. 114–115
Ja, die Jugendweihe war lustig! Und es war ganz praktisch, dass wir alle berlinerten (siehe vorigen Abschnitt). Wir sollten alle dieses blöde Gelöbnis sprechen bzw. dann immer jeweils nach einem Stück Text sagen: „Ja, das geloben wir!“
Was wir stattdessen sagten, war: „Ja, das globen wir.“, was übersetzt ins Standarddeutsche „Ja, das glauben wir.“ heißt. Wir hatten alle Spaß. Für viele war das ihr erster subversiver Akt. Hat keiner gemerkt.
Funktionärssprache
Ich hatte oben schon das Zitat zum Reden mit Oppositionellen. Darin war folgender Satz enthalten:
Ich wollte mich auch nicht als diejenige produzieren, die nun ihre Hausaufgaben gemacht und im Gegensatz zu den ewig Gestrigen verstanden hatte, aus was für einem Land sie kam.
S. 155
Ewig Gestrige ist für mich Funktionärssprache. Diese Floskel kam überall vor: im Geschichtsunterricht, im Staatsbürgerkundeunterricht, im FDJ-Studienjahr. Es ging um Revanchisten und Reaktionäre. Nun also Ossis. Hm. Vielleicht kommt diese Phrase auch im Westen vor. Ich hätte sie aber nicht in solch einem Roman verwendet.
Ein Scherz, oder?
Rabe schreibt als Ich-Erzählerin:
Hans ist das Licht des Laptops zu hell im Bett. Er stöhnt und will schlafen. Um sechs klingelt sein Wecker. Als du den Computer zuklappst, ist es nicht weniger hell. Der Mond scheint dich an. Du stehst auf und ziehst ins Wohnzimmer und schreibst: „Voller Mond, du dumme Sau/zieh dich zurück in deinen Verhau.“ Es geht doch. Geht doch noch.
Das ist ein Scherz, oder? Ich bin in der Lage Humor zu erkennen. Ist das der einzige fiktionale Teil im Roman? Oder doch mehr? Oder alles? Oder ist alles ernst?
Spinnen und Bananen
Anne Rabe bzw. ihre Ich-Erzählerin hatte es schwer. Ihre Kindheit war entbehrungsreich und hart. Sie musste auf ein Außenklo gehen, auf dem es Spinnen gab. Und grüne Bananen essen.
Liebe Frau Rabe, ich hab da ein paar Tipps für Sie: Wenn man nicht möchte, dass es an einem Ort Spinnen gibt, kann man sich ein Glas und Papier nehmen. Das Glas stülpt man über die Spinne. Das Papier schiebt man unter das Glas und dann kann man die Spinne zurück in die Natur befördern. Ich weiß, Ihre Kindheit war schwer, aber es gab hoffentlich Papier (zu meiner Zeit war das Papier knapp). Mindestens Klopapier wird es wohl gegeben haben und das sogar an dem Ort, wo sie es hätten benutzen können. Wenn es bei Ihnen kein Glas gab, gab es vielleicht diese Punkte-Becher:
Man hatte mit solch einem Becher leider keinen Sichtkontakt zur Spinne mehr, aber hey, Not macht erfinderisch. Wir Ossis haben eigentlich immer noch alles hinbekommen.
Und mit den grünen Bananen, das kann ich voll nachvollziehen. Die sind dann so klebrig. Aber auch da gibt es einen Trick: Man lässt die Bananen etwas liegen. Dann sind sie reif. Sie schreiben ja selbst, dass Sie schon einmal braune Bananen gesehen hätten.
Die Bananen, die ich nicht mochte, weil wir sie gegessen haben, wenn sie noch grün waren. Ich dachte lange, sie wären schlecht, sobald sie ein paar braune Stellen hatten.
S. 18
Dann müssten Ihnen doch eigentlich auch Bananen in mittlerer Reife untergekommen sein. Hätten Sie systematisch getestet, hätten Sie herausfinden können, dass man Bananen weder grün noch braun essen muss.
Übrigens: Bei uns damals war es so, dass wir überhaupt keine Bananen hatten. Auch keine grünen. Also, wir schon, denn wir lebten in Berlin und Berlin wurde immer besser versorgt als der Rest der DDR. Das hing damit zusammen, dass die Wessis nicht merken sollten, dass es bestimmte Dinge in der DDR nicht gab, wenn sie mal kurz ihr Mädchen aus Ostberlin besuchten. Also wir hatten welche, aber Ihre Eltern in Wismar nicht.
Bzw. sie hatten sehr selten welche. Ich erinnere mich an Bananen bei einer Kur in Ahlbeck. Die waren noch grün!!! In Berlin gab es aber auch nicht immer Bananen. Eigentlich gab es Südfrüchte immer so um die Weihnachtszeit, weshalb Obstsalat noch heute für mich mit Weihnachten verbunden ist.
Dass es die Südfrüchte nur zu Weihnachten gab, lag daran, dass Erich Honecker erst zum Jahresende genügend DDR-Oppositionelle in den Westen verkauft hatte, so dass dann die Bananen und Apfelsinen gekauft werden konnten. (Das war Sarkasmus.)
Übrigens: Die Szene mit der Badewanne. Ist das nicht genauso wie das mit den grünen Bananen? Stines Mutter, die Mutter der Ich-Erzählerin, war in der Küche, ihr Vater im Wohnzimmer. Sie stand in dem sehr heißen Wasser. Warum hat sie nicht einfach kaltes Wasser nachgefüllt? Warum hat sie sich und ihren kleinen Bruder in das heiße Wasser gestellt? Ich weiß, sie war noch klein und es war eine Stresssituation. Aber wenn das immer wieder passiert ist, hätte sie ja mal drüber nachdenken können. Oder war es vielleicht doch nicht so? Oder kann man das in diesem Alter noch nicht? Sie muss ja mindestens vier gewesen sein.
Mangelnde Eigenverantwortung und die Fahrt in den Abgrund
Wenn ich mich an Tim erinnere, spüre ich ihn hinter mir auf dem Schlitten sitzen. Damals in Tschechien, im Riesengebirge. Er klammert sich an mich, und wir fahren im Affenzahn einen Berg hinunter. Er vertraut mir, vertraut darauf, dass ich die Kurve noch kriege vor dem Abhang. Ich brülle: „Lenken, Timmi, du musst den Fuß raushalten!“ Aber Tim, der jünger ist als ich, vielleicht sechs oder sieben, weiß nicht, was ich meine, und so greife ich mit meinem rechten Arm hinter mich und rufe: „Spring!“ Der Schlitten saust ohne uns den Abhang hinunter.
S. 11
Die Frage ist: Wieso hat die Ich-Erzählerin nicht selbst die Füße rausgestellt? Ist Stine so? Ist Anne Rabe so? Warum greift sie nicht ein? Wenn so viel Zeit ist, dem zwei Jahre jüngeren Bruder Anweisungen zu geben, warum bremst SIE dann nicht? Ist das der bei Ossis immer wieder klischeehaft beschworene Mangel an Eigenverantwortung (siehe auch Leserbrief zum meinem Artikel in der Berliner Zeitung)? Oder nur ein schiefes Bild im Roman? Schlechte Literatur?
Schlagersüßtafel
Zum Thema Schlagersüßtafel schreibt Anne Rabe:
Darüber, wie die Revolution 89/90 auch durch die kleine Stadt gefegt war, schwieg sich meine Familie aus. Die DDR war dennoch oder gerade deshalb seltsam präsent. Ein verlorener Sehnsuchtsort. Ein Ort, an dem alles gut war und »wisst ihr noch, die Schlagersüßtafel?«. Diese Schokolade kam in fast allen Erzählungen der Eltern vor. Auch wenn sie sich ganz gut eingelebt hatten im schlechteren Deutschland, schien die Tatsache, dass es die Schlagersüßtafel nicht mehr zu kaufen gab, von größerer Bedeutung zu sein als das Haus, das sie nun bauten, die Urlaube, in die wir fuhren, und der Tenniskurs, den sie absolvierten. Irgendwann kamen sie zurück – die Ostprodukte. Sie füllten ganze Messehallen und auch die Regale in unserem Supermarkt. Plötzlich gab es wieder Bambina, Nudossi, Puffreis und Filinchen. Das erste Stück Schlagersüßtafel aber war eine Enttäuschung. So hatte sie also geschmeckt, diese DDR? Nach nichts, noch nicht einmal nach Kakaopulver. Vermutlich war das gar keine Schokolade.
S. 256
Schlagersüßtafel wird in Wikipedia als Genussmittel gelistet. Aber ich muss Anne Rabe Recht geben: Schlagersüßtafel war ungenießbar. Ich habe in Schlagersüßtafel und Klassenkeile bereits darüber geschrieben: Wir hatten sie gekauft, weil wir dachten, es wären Bilder von Schlagersänger*innen drin. Da sie zum Essen nicht taugte, benutzten wir sie, um Bauarbeiter zu bewerfen. Wie es dann weiterging, müsst Ihr in dem anderen Blog-Post lesen.
Wikipedia kann man auch die Zutaten entnehmen. Ein bisschen Kakao war drin, aber nur 7%. Übrigens lustig: Beim Lesen der Zutaten musste ich an die Mutter des Ich-Erzählers von Stern 111 denken. Sie war Lebensmitteltechnikerin und ihre Aufgabe war es, Ersatzlebensmittel aus in der DDR verfügbaren Rohstoffen zu kreieren. Vielleicht war sie ja an der Kreation der Schlagersüßtafel beteiligt. Stern 111 ist übrigens ein sehr gelungener Nachwenderoman. Wer wissen will, wie es vor der Wende war, sollte Der Turm und Krokodil im Nacken lesen.
Plagiat? Nee! Oder doch?
In einem Beitrag in der Neuen Züricher Zeitung schreibt Peer Teuwsen, dass Anne Rabes Roman auf den Schultern von Ines Geipel stehen würde. Es werden drei Stellen angeführt. In einer fahren Kinder Schlitten, in der zweiten trägt ein Vater seinen Sohn auf den Schultern und in der dritten sprechen Kinder über das Sternbild großer Wagen. Plagiat ist mein drittes Hobby. Ich bin selbst plagiert worden und habe ein entsprechendes Verfahren eingeleitet. Ich war in einer Plagiatskommission, die sich mit einer plagierten Dissertation auseindergesetzt hat. Ich habe dieses Jahr ein Plagiat in einer BA-Arbeit gefunden und ein 80seitiges Gutachten über ein Buch und das restliche Werk eines systematisch plagierenden Autors verfasst. Der Vorwurf des Plagiats gegen Rabe ist lächerlich. (Nachtrag 29.06.2024: Aber siehe unten.) Die Textstellen, die Teuwsen anführt, sind komplett verschieden, ja, sie haben inhaltlich außer den oben genannten Themen selbst nichts miteinander zu tun.
Die Antwort des Verlags ist interessant:
„Die Ähnlichkeiten sind aus unserer Sicht zufällig und allenfalls dadurch bedingt, dass die Bücher der beiden Autorinnen thematisch so nahe beieinander liegen. Die Autorinnen haben einen ähnlichen Blick auf die DDR und es gibt biografische Parallelen (so haben beide Autorinnen jüngere Brüder und kommen aus einem systemnahen Milieu)“, schreibt Rabes Verlag.
Die Brüder sind vielleicht relevant, DDR ist komplett irrelevant und Systemnähe auch. Schlitten, Brüder und den Großen Wagen gibt es auch im Westen. Jedenfalls kann man Teuwsens Artikel entnehmen, dass Geipel und Rabe befreundet waren: „Die Ältere fand es wunderbar, dass eine jüngere Autorin sich ihrer Themen annimmt und ihnen eine neue Stimme verleiht.“
Also kein Plagiat, aber der Einfluss von Ines Geipel ist wahrscheinlich für das gesamte Ideengeflecht relevant: Funktionärskinder kritisieren den Osten. Wie ich in meinem Blogpost Der Ossi und der Holocaust gezeigt habe, lügt Ines Geipel. Es geht Ihr und Anetta Kahane, ebenfalls Funktionärskind, nicht um eine Aufarbeitung von Unrecht. Sie stellen Dinge wahrscheinlich bewusst falsch dar. Wie ich damals schon sagte: Entweder sie lügen bewusst oder sie sind unwissend. Beides wäre schlecht, wenn man sich so weit aus dem Fenster lehnt. Und das ist auch für Anne Rabe so, wie ich in Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch hier gezeigt habe: Entweder sie lügt bewusst oder sie ist unwissend. Wahrscheinlich das Letztere. Schade nur, dass sie damit solch einen Schaden anrichtet.
Nachtrag vom 29.06.2024: In „Ines Geipel lügt“ habe ich eine Dokumentation des MDRs zu Ines Geipels Behauptungen zu ihrer Vergangenheit als Leistungssportlerin besprochen und auch wie sie gegen Gegner*innen vorgeht. Es sieht also so aus, als hätte sie allgemein Probleme mit der Wahrheit und ihre Behauptungen in Bezug auf den Umgang mit dem Holocaust gehen nicht auf Unwissenheit zurück. Ich habe jetzt ihr Buch Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass gelesen und habe dort erfahren, dass sie das Buch Nackt unter Wölfen kannte und auch in Buchenwald war.
Zum Thema Plagiat kann man folgendes festhalten: Das Buch von Anne Rabe ist von der Struktur genau parallel zu Ines Geipels Buch aufgebaut. Es gibt kurze Kapitel mit Impressionen aus dem Privatleben und dann längere essayistische Abschnitte mit politischer Analyse. Die Themen sind sehr ähnlich. Insgesamt gibt es einen entscheidenden Unterschied: Bei Ines Geipel gibt es ein relativ langes Quellenverzeichnis mit 79 Einträgen, überwiegend Fachaufsätzen zur DDR; das Quellenverzeichnis von Anne Rabe enthält 14 Einträge, von denen die meisten Gedichtsammlungen, Romane oder Filme sind, aus denen sie ihren Kapiteln Auszüge vorangestellt hat: Bachmann, Brasch, Brecht, Inge Müller, Einar Schleef, Wera Küchenmeister. Dazu ein Gesetz und ein allgemeiner Verweis auf das Stasi-Unterlagen-Archiv. Die Qualität der Bücher insgesamt spiegelt sich an den Quellenverzeichnissen: Professorin mit Studium der Germanistik auf der einen Seite und Person mit abgebrochenen Germanistikstudium auf der anderen Seite. Rabes Ausrede, sie habe ja kein Sachbuch geschrieben, ist lahm. Sie hat bzw. wollte genau so ein Buch schreiben wie Geipel. Sie hätte ein Quellenverzeichnis gebraucht und in diesem hätte Geipel zitiert werden müssen. Und Teuwsen ist zuzustimmen: Ines Geipel hätte in den Danksagungen als Ideengeberin genannt werden müssen. Interessanterweise gibt es bei Geipel eine Behauptung, die Rabe von dort übernommen zu haben scheint. Solche Übernahmen fallen auf, wenn das Übernommene falsch ist. Geipel schreibt:
26. April 2002. Der erste Schulamoklauf in Deutschland, die öffentlichen Morde eines Gymnasiasten, das Unvorstellbare schlechthin.
Ines Geipel, 2019: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass, Stuttgart: Klett-Cotta. S.110 des E‑Books.
Dieselbe Behauptung findet sich bei Anne Rabe und wie ich im Beitrag zu den Amokläufen gezeigt habe, ist die Behauptung falsch: Der erste Amoklauf war 1871 in Saarbrücken und dann gab es noch viele weitere. Mit Schusswaffen und Flammenwerfern usw. Zum Beispiel 1964 in Köln, 1983 in Eppstein, Hessen.
Also: Ja, es gibt auch hier ein Problem bei Anne Rabe.
Antisemitismus und Nationalismus
Auf S. 271 kommt mal eben so eine Aussage zu Antisemitismus und Nationalismus:
Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
S. 271
Wo hat sie das nur her? Quellen? Na, vielleicht von Geipel. Dass Anetta Kahane und Ines Geipel gelogen haben (oder extrem unwissend sind), wenn sie behaupten, der Holocaust sei im Osten nicht vorgekommen, habe ich schon in Der Ossi und der Holocaust besprochen. Zum (fast) nicht vorhandenen Antisemitismus in der DDR hat die Jüdin Daniela Dahn viel geschrieben. Manches ist auch im Holocaust-Post erwähnt. Andere Sachen bespreche ich im Post über die Ausstellung über jüdisches Leben in der DDR, die vom jüdischen Museum organisiert wurde.
Ich habe diverse Interviews mit Anne Rabe gelesen und in einem Interview von Cornelia Geißler von der Berliner Zeitung steht:
Auch der Historiker Patrice G. Poutrus, der eher Oschmanns Generation angehört, hat beobachtet, dass Rechte und Rechtsextreme im Osten auf ein festes nationalistisches Weltbild trafen.
Einen meiner Meinung nach entscheidenden Bestandteil des Nationalismus erwähnen die Autoren nur im Vorübergehen im Nachwort: den nationalen Taumel in der Wiedervereinigung.Dieser war vom Westen gewollt und gefördert. Die Ost-Linken haben das damals gesehen und sich davor gefürchtet. Mein Freund Jan Pautsch hat mir die beiden folgenden Grafiken geschenkt.
Deutschtümelei! Nationalismus! Das kam von der Bundesregierung. Nicht in Berlin. In Berlin wurde Kohl ausgebuht.
In Sachsen wurde er mit offenen Armen empfangen. Er hat den Ossis blühende Landschaften versprochen. Von Oskar Lafontaine, dessen Herz links schlug, und der damals Kanzlerkandidat der Partei war, in der auch Anne Rabe Mitglied ist, wollte niemand etwas Wissen. Er hat die Wahrheit gesagt. Aber „die Wahrheit ist hässlich und hat stinkenden Atem“.
Sicher ist alles nicht monokausal. Andere mögliche Ursachen werden im genannten Blog-Post diskutiert.
Nazis aus dem Westen
Im Post „Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern“: Kommentare zu einem Aufsatz von Patrice G. Poutrus, Jan C. Behrends und Dennis Kuck verlinke ich einen Fernsehbeitrag, der zeigt wie der CDU-Innenminister Jörg Schönbohm einen Jugendclub mit Nazi-Skins besucht und die Jugendlichen dort prima findet. Schönbohm war Generalleutnant in der Bundeswehr und Landesvorsitzender der CDU Brandenburg. Auch sieht man im Video, dass die Nazi-Partei Deutsche Alternative, die in Brandenburg aktiv war, von Menschen aus dem Westen aufgebaut wurde (11:25). Rabe schreibt dazu auch an einigen Stellen etwas und stellt das in Frage. Die rassistischen Ausschreitungen in Lichtenhagen erwähnt sie explizit. Auch Lichtenhagen ist ein schlimmes Beispiel von Polizeiversagen (siehe Rostock-Lichtenhagen 1992: Ein Polizeidebakel). Polizei, Justiz, Verfassungsschutz, alle Institutionen wurden vom Westen aufgebaut und waren von Westlern geleitet.6 Der Bruder meiner Schwiegermutter noch heute AfD-Wähler hat zum Beispiel das Landesarbeitsgericht in Dresden aufgebaut. Der für Lichtenhagen zuständige Polizist ist ins Wochenende gefahren. Nach Bremen. Er hat die bepissten Nazis pöbeln und zündeln lassen. Im Wikipediaeintrag zu den Ausschreitungen steht es noch krasser. Nach einer langen, langen Vorgeschichte mit Ankündigungen und Drohungen ist die gesamte politische und polizeiliche Führung ins Wochenende verschwunden. In den Westen:
Trotz der angekündigten Krawalle und der aufgeheizten Stimmung rund um die ZAst fuhr fast das gesamte politisch und polizeilich leitende Personal, das nach der Wende nahezu vollständig mit westdeutschen Beamten aus den Partnerländern Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen besetzt worden war, wie üblich am Freitag zu ihren Familien nach Westdeutschland. So waren am Wochenende der Ausschreitungen der Staatssekretär im Innenministerium, Klaus Baltzer, der Abteilungsleiter Öffentliche Sicherheit, Olaf von Brevern, der Abteilungsleiter für Ausländerfragen im Innenministerium und zum damaligen Zeitpunkt zugleich Ausländerbeauftragter der Landesregierung, Winfried Rusch, der Leiter des Landespolizeiamtes, Hans-Heinrich Heinsen, der Chef der Polizeidirektion Rostock, Siegfried Kordus, sowie der Einsatzleiter Jürgen Deckert nicht in Schwerin bzw. Rostock zugegen. Deckert hatte die Führung an den noch in der Ausbildung befindlichen Siegfried Trottnow übergeben.
Rabe lässt ihre Mutter bzw. Stines Mutter sagen, dass man Nazis aus dem Westen angekarrt habe:
Mutter hat gesagt, dass man nichts gegen Ausländer haben darf. Die machen hier die Arbeit, auf die die Deutschen keine Lust mehr haben. Und die Vietnamesen, wo sie in Rostock das Haus angezündet haben, die sind sogar schon zu Ostzeiten in Rostock gewesen, die können gar nichts dafür. Außerdem waren da auch viele Nazis aus dem Westen dabei. Die hat man extra da hingefahren, damit sie Randale machen. Das waren Rowdys. Aber im Fernsehen sagen sie immer, dass die alle Rostocker sind.
S. 88
Im Interview mit Cornelia Geißler sagt Rabe:
Als die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen in Brand gesetzt wurde, 1992, hieß es, die Neonazis seien nur aus dem Westen angefahren worden. Die Eltern, die Lehrer, die wollten das immer von sich weghalten. Aber wir Jugendlichen kannten die Nazis ganz gut, die saßen neben uns am Strand, in den Klassen, im Sportverein.
In den beiden Textpassagen gibt es verschiedene Aussagen. 1) Es waren viele Nazis aus dem Westen dabei. 2) Die Neonazis seien nur aus dem Westen angefahren worden.
Das sind die Fakten:
Gegen 12 Uhr am Sonntag hatten sich bereits wieder etwa 100 Personen vor der ZAst versammelt. Nun trafen Rechtsextremisten aus der ganzen Bundesrepublik in Rostock ein, darunter Bela Ewald Althans, Ingo Hasselbach, Stefan Niemann, Michael Büttner, Gerhard Endress, Gerhard Frey, Christian Malcoci, Arnulf Priem, Erik Rundquist, Norbert Weidner und Christian Worch. Von diesen wurde nur Endress während der Ausschreitungen festgenommen.
Also: Fakt ist, dass Neonazis aus dem Westen dabei waren. Ob die angefahren worden sind und wenn ja von wem, weiß ich nicht, aber ansonsten hatte Rabes (Roman-)Mutter Recht. Ja, auch ehemalige Funktionäre können Recht haben.
Bei den NSU-Morden war der Verfassungsschutz selbst dabei (taz, 03.04.2017). Maaßen, ein Neo-Nazi erst CDU, jetzt Werteunion, war der, der denjenigen abgelöst hat, der wegen des Versagens beim NSU gehen musste. In Leipzig Connewitz ist eine Horde von über 200 Nazis eingefallen und haben den Stadtteil verwüstet. Die Verfahren wurden verschleppt, viele sind straffrei davongekommen. Einer war Jura-Student. Er hat danach weiterstudiert und trat 2018 sein Referendariat an. Ein JVA-Mitarbeiter und Täter arbeitete fröhlich weiter in der JVA (taz: 11.01.2021, Schleppende Aufklärung). Die AfD wurde von Neoliberalen Wirtschaftsprofessor*innen aus dem Westen aufgebaut und nach und nach von West-Nazis übernommen. Das habe ich Oschmann nach seinem ersten Artikel geschrieben und ihn auf meinen Blog-Beitrag Der Ossi ist nicht demokratiefähig. Merkt Ihr’s noch? mit den Quellen verwiesen. Er hat sich herzlich bedankt und wird jetzt dafür zitiert. Die Quellenangabe hat er wohl vergessen.
Bei Enthüllungen von Correctiv zu den Deportationsplänen, die AfD-Mitglieder, CDU-Mitglieder und sonstige Neonazis diskutiert haben, habe ich mir auch mal den Spaß gemacht, zu schauen, wo die beteiligten Personen herkamen. Überraschung: Das Verhältnis West zu Ost ist 19:1. Bitteschön: Correctiv und die Nazi-Vorstellungen bzgl. Remigration.
In dieser Aufzählung darf Karl-Heinz Hoffmann nicht fehlen. Hoffmann ist ein extremer Rechtsextremist. Er hat die Wehrsportgruppe Hoffmann gegründet und hat mit 400–600 Kumpels bewaffnet für den Endsieg trainiert. (Ej, liebe Wessis, das gab es in der DDR wirklich nicht. Hört auf, vom „verordneten Antifaschismus“ zu faseln.) Hoffmann ging dann irgendwann doch in den Knast und kam schließlich 1989 wegen guter Führung und positiver Sozialprognose passend zur Maueröffnung wieder raus. Dankeschön! Hoffmann ist aus Kahla (Thüringen), ging sofort wieder rüber, kaufte die halbe Stadt auf und begann Neo-Nazi-Strukturen aufzubauen.
So war es. Wir wissen das. Nur Anne Rabe tut so, als wäre es anders. Weil sie es nicht weiß? Weil sie nie mit jemandem geredet hat? Außer mit Geipel? Weil sich das Gegenteil besser verkauft? Siehe unten.
Verbot des Themas
Anne Rabe nimmt die Kritik an ihrem Buch vorweg: Was wisst Ihr schon, Ihr Nachgeborenen!
„Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut In der wir untergegangen sind Gedenkt Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht Auch der finsteren Zeit Der ihr entronnen seid.“
Der blöde Brecht macht mich noch wahnsinnig. Er marschiert mir gerade rein in die Gedanken und mahnt und mahnt. Bilde dir kein Urteil! Bilde dir ja kein Urteil, du Nachgeborene! Ja, wieso eigentlich nicht? Das ist doch ein billiger Trick. Hinter der wortschönen Mahnerei drei Keller tief Schweigen. Dort habt ihr eure Schuld verbuddelt und verbietet uns, sie auszuheben. Sprecht uns ab, dass wir zu unserem eigenen Urteil kommen. Was kümmert’s euch? Was geht’s euch an, was wir über euch denken?
Tja, Frau Rabe. Hätten’se mal mit Adas Eltern gesprochen. Die hätten Ihnen erzählt, wie die DDR sich für Oppositionelle angefühlt hat. Das wollten Sie aber nicht. Sie haben sich geschämt. Wenn Sie ein Sachbuch über den Osten schreiben wollen oder einen sachlich richtigen Roman, dann müssen Sie recherchieren. Sie können sich nicht einfach etwas aus den Fingern saugen, von dem Sie annehmen, dass es sich gut verkauft. Die „drei Keller tief Schweigen“ fantasieren Sie herbei. Oder sie sind da. Im Haus Ihrer Eltern. Aber da hätten Sie vielleicht nicht suchen dürfen. Es ist alles besprochen und Sie haben es availible at your fingertips: einen Klick entfernt. Alles, was hier steht, kommt aus Wikipeidia bzw. den dort verlinkten Quellen. Sie habe es nicht für nötig gehalten, den Artikel über Lichtenhagen, den über Kindstötungen zu lesen. Sie dachten, dass Sie genug wüssten. So wie fast alle, die in Zeitungen und Zeitschriften über Ihr Buch geschrieben haben, sich in ihren Vorurteilen bestätigt sahen. Ich würde Ihre Arbeit nicht als Plagiat einordnen, aber als ein glattes „Durchgefallen“.
Schwarz: Das ist natürlich ein Buch auch, was, und das sage ich jetzt mal ganz bewusst als Westdeutsche, die Bundesrepublik total entlastet.
Rabe: Das ist aber interessant, weil das ist schön, dass man das immer, weil ich habe gar nicht an die Bundesrepublik gedacht dabei und ich sage das auch immer wieder, weil ja manchmal auch so Leute kommen ja aber in Westdeutschland gab es das auch und so. Da sag ich immer ja wunderbar, bitte schreibt die Bücher, weil ich finde, ich lese die auch gerne. Ich kann nur nichts darüber schreiben.
Schwarz: Aber Sie wissen was meine, ne?
Rabe: Ich weiß total, was Sie meinen.
Schwarz: Ich habe mir auch so gedacht, okay, warum lade ich denn jetzt Anne Rabe ein, um mit ihr über die dieses Buch zu reden. Warum spricht mich dann dieses Buch an? Hat das damit zu tun, dass es sozusagen …
Rabe: Ich könnte jetzt was ganz böses sagen.
Schwarz: Bitte. Nur zu.
Rabe: Das ist wirklich interessant, weil deswegen meinte ich, ich habe gar nicht an Westdeutschland gedacht bei dem Schreiben. Und ich finde auch nicht, dass man immer, wenn man über den Osten schreibt, damit automatisch was über den Westen sagt. Aber, dass sie als Westdeutsche anscheinend sofort denken, naja, das bedeutet was für mich als Westdeutsche, oder das bedeutet etwas Entlastendes für mich als Westdeutsche, wo der Westen eigentlich gar keine Rolle spielt in diesem Buch.
Das kann nicht sein. Rabe hat Germanistik und Theaterwissenschaft studiert. Sie hat den PEN Berlin mitgegründet. Sie ist politisch aktiv, Mitglied der SPD. Sie ist entweder absolut naiv oder durchtrieben. Das Buch schlägt genau in die Kerbe, in die von 60% der taz-Autor*innen und von weiß nicht wie vielen Autor*innen in Zeit, FAZ, Spiegel usw. geschlagen wird. Die Wunde ist tief und schmerzt. Und wenn keine neuen Schläge kommen, wird mal eben ein bisschen Salz reingeschüttet. Dieser Blog ist voll von Beispielen. Nur Frau Rabe hat von diesem Ost-West-Diskurs noch nichts gemerkt, obwohl sie ja einen Termin mit Oschmann auf der Leipziger Buchmesse hatte (zu dem Oschmann nicht gekommen ist).
Und weiter:
Schwarz: Ja, das bedeutet halt etwas …
Genau! Das lernt man in Pragmatik. Im Germanistik-Studium. Als Autorin und politischer Mensch sollte man das allerdings auch ohne Studium sehen können.
Rabe: Aber es ist ihr Zentrum anscheinend sofort wieder und vielleicht auch das Zentrum dieser Bundesrepublik immer noch zum Teil.
Schwarz: Ja, glaube ich jetzt nicht, dass es mein Zentrum ist, aber es bedeutet etwas für den Diskurs über Ostdeutschland, das es mir nicht so gefällt … […] Rabe: Das stimmt schon mit der Entlastung, aber das würde ich mir nicht anziehen.
Das Buch ist ein Erfolg und wird gefeiert, weil es den Westen entlastet. Die Ossis sind scheiße, alles Psychos, die in Schulen Amok laufen, ihre Kinder massenweise töten, Nationalisten und Antisemiten. Wir haben es immer gewusst und Anne Rabe hat es in ihrem Nicht-Sachbuch noch einmal gut zusammengefasst. Anschaulich bebildert mit Material aus ihrer eigenen Kindheit. Ich habe in der vergangenen Woche einem Professor für Politikwissenschaften einen kritischen Brief geschrieben. Er hat mir eine lange Antwort-Mail geschickt und mich dazu aufgefordert, doch einmal das Buch von Anne Rabe zu lesen. So gehen Fake News in unser Allgemeinwissen ein. Es wird in der Politikwissenschaft und in der Geschichtsforschung zitiert werden, obwohl es eben kein Sachbuch ist, obwohl es nicht von Fachwissenschaftler*innen begutachtet wurde.
Hier ein paar Ausschnitte aus den Rezensionen:
Die Zumutung dieses Buches besteht darin, erschütternde Lieblosigkeit und rohe Gewalt als Regelfall, nicht als Ausnahme dazustellen. Zu diesem Zweck durchziehen Archivrecherchen, Gesetzestexte und Umfrageergebnisse die 50 kurzen Kapitel. Sie vermischen sich mit Erinnerungen, Traumsequenzen und literarischen Zitaten zu einem kaleidoskopartigen Text.
Archivrecherchen hat es zu Anne Rabes Verwandten gegeben, aber wenn es Recherchen zu Rechtsextremen oder irgendwelchen DDR-Themen gegeben haben sollte, so sind sie nicht drei Keller tief gegangen, sondern waren oberflächlich. Umfrageergebnisse zum Osten gab es nicht. Rabe bezieht sich auf Umfragen wie den Erinnerungsmonitor der Uni Bielefeld und die von der Uni Hannover geleitete Mehrgenerationenstudie. Auf Ergebnisse von 2018 aus Bielefeld und es geht dabei um Erinnerungen an die Nazizeit. Diese sind „zu diesem Zweck“ ungeeignet.
Mit den folgenden Zitaten wirbt Anne Rabe selbst auf ihrer Web-Seite:
Liest man dieses Buch, sieht man Deutschland anders.
Dirk Hohnsträter, WDR 3
Ich hoffe, dass das Buch schnell in der Versenkung verschwindet. Und dass Dirk Hohnsträters Behauptung für diesen Blogbeitrag gilt.
Anne Rabe verbindet Archivarbeit mit politischem Essayismus und episodischer Autofiktion.
Katharina Teutsch, DLF Büchermarkt
Das Buch, das man jetzt lesen muss, wenn man nicht nach schlichten Antworten auf die schlichten Fragen sucht, was das Erbe des ersten sozialistischen Staats auf deutschem Boden sein könnte und warum ›im Osten‹ heute ›die Leute‹ wählen, wie sie wählen.
Ich würde ja die Antwort von Anne Rabe als schlicht bezeichnen. Sie nimmt die Gewalt, die sie in ihrer Familie erfahren hat, als monokausale Erklärung für alles.
Die Möglichkeit von Glück‹ (ist) ein Buch, das weit über seinen individuellen Gegenstand hinausreicht. Es erklärt, warum Ostdeutschland eine andere Gewaltgeschichte nach der Wiedervereinigung aufweist als Westdeutschland. (…) Und die auch den derzeit boomenden Büchern, die einer Normalisierung der DDR-Erfahrungen (und damit ihrer Relativierung) das Wort reden wollen, den Boden entziehen. Gegen den pauschalisierenden Blick hilft der aufs individuelle Schicksal. Dass es eines im Roman ist, nimmt ihm nichts an Wahrhaftigkeit. Oder an Erschütterungskraft.
Andreas Platthaus, FAZ
Ja. Ich bin erschüttert.
Wer sind eigentlich die Anderen?
Hier ist oft von „den Wessis“ und „den Ossis“, von „wir“ und „ihr“ die Rede. Das ist schlecht, denn diese Gruppeneinteilung ist Teil des Problems, das auch in diesem Beitrag besprochen wurde. Angefangen bei der Kollektivschuld, über die Scham Rabes, die angebliche Gewalttätigkeit des ganzen Ostens. Ich wollte nie ein Teil von „wir“ sein. Die DDR war mir zuwider. Zumindest der obere Teil. Also nicht Rostock sondern die Staatsführung. In einem Gymnasium in Gelsenkirchen habe ich mal gesagt, dass das Problem mit der DDR gewesen sei, dass die Herrschenden so doof gewesen seien. Das war sicher etwas vereinfachend, aber es war mein Problem. „Ihr“ habt mich zum Ossi gemacht. Prof. Dr. Naika Foroutan beschreibt das in ihrer Arbeit: „Ostdeutsche sind auch Migranten“. Mit „ihr“ sind in ihren Klischees gefangene Journalist*inne, Historiker*innen und sonstige Personen gemeint und ich hätte gehofft, dass „wir“ uns irgendwann auflösen, aber das ist nicht passiert. Wie ich an meinem eigenen Beispiel erfahren habe, werden „wir“ mehr, weil „ihr“ dafür sorgt. „Ihr“ konstruiert „Euch“ den Osten, so wie es der Oschmann gesagt hat. Jetzt helfen „Euch“ „unsere“ Kinder. Ich wünschte, das alles wäre nicht so. Ich wünschte, alle würden miteinander reden. Vielleicht hilft dieser Text.
„So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen.“
Ich bitte um Entschuldigung für diesen langen Blogpost. Und das war ja nur der zweite Teil zu den Möglichkeiten für Glück.
Daniela Dahn erklärt in ihrem 1997er Buch über mehrere Seiten, warum ein einziger Satz im West-Ost-Diskurs falsch gewesen ist, und schreibt danach:
So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen. Vielleicht versteht man, daß die Ostler zu solchem Kraftakt auf die Dauer keine Lust haben und oft nur abwinken: Ihr werdet es nie verstehen!
Dahn, Daniela. 1997. Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit S. 68
Ich musste viele Sätze in Anne Rabes Buch kommentieren. Entsprechend lang sind die Blog-Posts geworden. Ich würde mich freuen, wenn sie von genauso vielen Menschen gelesen werden wie Anne Rabes Buch. Das wird wahrscheinlich nicht passieren, denn ich habe keine Buchpreis-Jury und keine Marketingmaschine auf meiner Seite. Nur Euch. Aber vielleicht schaffen wir es ja. Empfehlt die Posts weiter. Danke. Bitte.
Schlussfolgerung
Anne Rabe hat Recht mit ihrer Aussage bezüglich Schlagersüßtafeln!
Danksagungen
Ich danke meiner Such-Maschine Peer für viele Belege und auch für die immer kritische Diskussion. Ich danke meinem kleinen Bruder dafür, dass er mir die Bummi-Hefte gekauft hat, weil die alten, an die ich mich erinnert hatte, irgendwann mal weggeworfen worden waren. Ich danke meiner Frau für die fortwährende Diskussion von Ostthemen. Wenn wir nicht über die Klimakatastrophe reden, reden wir eigentlich nur über den Osten. (Hat eigentlich schon mal jemand versucht, dem Osten die Klimakatastrophe anzuhängen? Ach ne, geht ja gar nicht, denn Deutschland steht ja nur deshalb halbwegs gut in der Klimabilanz da, weil die Ost-Industrie in den 90ern abgewickelt wurde.)
Und ich danke meinem Vater und meiner Mutter für die Erlaubnis, allein als Sechszehnjähriger bis ans Schwarze Meer zu fahren, und dafür, dass sie mich nicht zum Nazi erzogen haben.
Und Ihnen/Euch danke ich dafür, dass Ihr bis hierher gelesen und alle Videos angesehen und alle verlinkten Wikipediaartikel gelesen habt.
Goschler, Constantin. 1993. Paternalismus und Verweigerung: Die DDR und die Wiedergutmachung für jüdische Verfolgte des Nationalsozialismus. In Benz, Wolfgang (ed.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, vol. 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.
So, nun gibt es etwas Neues. Die Ossis bräuchten doch mal ein 1968, um mit ihren Eltern darüber zu reden, was die so während der DDR-Zeit gemacht hätten. 1968 wird auch immer wieder im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Faschismus erwähnt. Es wird behauptet, dass darüber im Osten genau so wenig wie im Westen gesprochen wurde und dass das eben daran läge, dass es im Osten kein 1968 gegeben hätte. Das ist Quatsch bzw. eine Lüge bzw. eine quatschige Lüge. Ich habe das ausführlich in meinem Blog-Post zum Umgang mit dem Holocaust in der DDR nachgewiesen: Im Osten wurde in der Schulbildung, mittels Briefmarken, Denkmälern, Straßennahmen, Schulnamen usw. auf die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus hingewiesen und zwar schon seit kurz nach dem Krieg, als es den Begriff Holocaust noch gar nicht gab. Es gab über 1000 Bücher zum Thema und über 1000 Filme. Das alles ist im Prinzip bekannt und gut dokumentiert durch zwei Bücher und eben auch diesen Blog-Beitrag, den es ja nun auch schon seit 2019 gibt. Jetzt sind zwei Bücher erschienen. Eins von einer Frau aus dem Westen, eins von einer Frau, die 1986, also drei Jahre vor der Wende, im Osten geboren wurde. Sie schreibt über eine Familie in der Kinder Gewalt ausgesetzt sind. Daraus werden dann diverse Schlussfolgerungen gezogen. Darüber, wie der Ossi so ist, dass es in den Familien Gewalt gab und letztendlich ergibt sich wieder die Erklärung dafür, warum die Ossis so scheiße sind.
Zwei Fragen hätte ich an Euch, liebe Wessis. Warum glaubt Ihr, mir mein Leben erklären zu dürfen? Woher nehmt Ihr die Gewissheit, nur irgendwie annähernd verstehen zu können, wie das war? Ihr regt Euch fürchterlich drüber auf, wenn ein Kind mit Federschmuck zum Fasching geht, Ausdruck großer Bewunderung für die amerikanischen Ureinwohner, oder wenn ein Kind im Kimono kommt. Aber Ihr kommt angeritten und wollt einem Fünftel der Landesbevölkerung erklären, wie es damals in deren Land war? Warum? Weil Ihr dieselbe Sprache sprecht? Ich sag jetzt jedes Mal, wenn Ihr wieder so einen Artikel verfasst habt, laut: Indianer. Drei Mal! Indianer, Indianer, Indianer. So, dit zeckt, wa?
Ihr habt die DDR übernommen. Die ahnungslosen Ossis haben sich Euch in die Arme geworfen. Die Bürgerbewegung wollte es mehrheitlich nicht, aber die Mehrheit wollte es schon. Nun isses so, wie es ist: Die Menschen sind arbeitslos geworden, die Industrie wurde abgewickelt, verschenkt oder zerstört. Wissenschaftler*innen wurden entlassen. Es bleiben ein paar still vor sich hinblühende Landschaften. Mit Männerüberschuss, komischer Altersstruktur, weil alle, die konnten, in den Westen zum Arbeiten gegangen sind. Und jetzt kommt Ihr an und wollt irgendwie herausfinden, warum wir so komisch sind? Ihr versucht das an einer Zeit festzumachen, die 34 Jahre zurückliegt und nur 40 Jahre lang war? Klingt irgendwie merkwürdig, zumal die entscheidende Zeit, die mit den größten Transformationen und den größten Brüchen ja für alle noch lebenden Ossis wohl die Wende 1989 sein dürfte.
Gewalt/Keine Gewalt
Anne Rabe verarbeitet ihre Gewalterfahrungen in einem Roman. Sie wurde 1986 geboren und war also zur Wende drei Jahre alt. Ich weiß nichts über die Familie und was da aus der DDR noch mitgekommen ist, aber die Eltern dürften vom Nachwendechaos beeinflusst gewesen sein, das natürlich ein zusätzlicher Stressfaktor für alle war und eventuelle Neigungen zu Gewalt verstärkt haben könnte. (Nachtrag: Ich habe das Buch jetzt gelesen und Rabe beschreibt darin keine Nachwendegewalt. Sie beschreibt eine gewalttätige Familie. Schlagende Großväter und eine psychopathische Mutter. Sie schreibt selbst, dass ihre Familie nicht normal war. siehe Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe, Nachtrag 2: Bereits 2021 gab es eine Studie der Uni-Leipzig, in der herausgefunden wurde, dass es im Westen mehr Gewalt als im Osten gab. Wie Sabine Rennefanz 2023 im Tagesspiegel anmerkte, wurde diese Studie in den Leitmedien komplett ignoriert (Rennefanz, 2023). Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre Anne Rabes Roman vielleicht nie geschrieben, veröffentlicht oder wahrgenommen worden.) Aus meinem Schulumfeld sind mir keine Fälle von Gewalt in Familien bekannt. Ich habe vor zwei Jahren von einer Bekannten von Gewalt in ihrer Familie erfahren, aber das jetzt als typisch für den Osten einzuordnen, wäre komplett verfehlt.
Dirk Knipphals, geboren 1963, in Kiel und Hamburg studiert, also wohl aus dem Westen, schreibt:
Die Privatheit, auch die Familie waren keine Schutzräume, die dem Zugriff des Regimes entzogen waren. Es gab den Überbau, für eine bessere, gerechtere antikapitalistische Welt zu streiten, und die Eltern der Ich-Erzählerin Stine glauben in dem Roman unbedingt daran – und zugleich fehlte die Möglichkeit, innerhalb der Familie nahe Beziehungen zwischen der Eltern- und der Kindergeneration aufzubauen. Das macht das individuelle Schicksal, das von Anne Rabe geschildert wird, allgemein interessant. Es trifft auf viele Familien der DDR zu.
Mit Verlaub, das ist einfach Quatsch. Viele Leute haben sich ausgeklinkt und ihr Ding gemacht. Es war klar, dass die Stasi versucht hat, alles zu unterwandern, was irgendwie dem System gefährlich werden konnte. Man musste dann damit rechnen, dass die Stasi irgendwo zuhört, aber man konnte eben doch sein Ding machen. Ich habe in den 70ern West-Bücher gelesen (Comics und Simmels Es muss nicht immer Kaviar sein), von Freunden geborgt. Ich habe 1988 Dialektik ohne Dogma von Robert Havemann und ein Buch von Rudolf Bahro von meinem Deutschlehrer geborgt bekommen. Mein Lehrer war sogar in der Partei, aber irgendwie trotzdem so eine Art Dissident.
Und die meisten DDR-Menschen waren einfach unpolitisch, sind nicht angeeckt und haben sich ins Private zurückgezogen. Natürlich gab es da Privatheit. Und woher nimmt Dirk Kipphals die Gewissheit, dass irgendetwas auf viele Familien zutrifft. Indianer, Indianer, Indianer! Echt, wenn Ihr so was behauptet, möchte ich Quellen. Untersuchungen. Und als Sprachwissenschaftler weiß ich auch, dass „viele“ vom Kontext abhängt. Drei? Drei Millionen? Mehr als im Westen? 15 Millionen?
Zur Gewalt in der DDR hier noch folgendes Zitat vom unverdächtigen Bayrischen Rundfunk:
In der DDR wurde in antifaschistischem Selbstverständnis die Prügelstrafe an Schulen 1949 abgeschafft, als „Relikt inhumaner Disziplinierungsmethoden des NS-Regimes“ – während in Westdeutschland der Bundesgerichtshof Lehrern noch 1957 ein „generelles Gewohnheitsrecht“ zum Prügeln zusprach.
In den bundesdeutschen Ländern wurde die Prügelstrafe erst 1973 verboten, Bayern schaffte sie als letztes Bundesland 1983 ab – ein Verdienst der 68er-Bewegung und deren Wunsch nach gewaltfreier Erziehung. Auch die Schüler selbst forderten damals eine andere Pädagogik.
In meiner POS gab es den Chemielehrer Herr Keil, der mit dem Schlüsselbund warf. Das hätte ins Auge gehen können. Niemand hat jemanden geschlagen.
Im privaten Bereich wurde in der BRD das Prügeln übrigens erst 2000 verboten, weil die BRD eine UN-Vorgabe umsetzen musste. Ej, Mann! Und da kommt Ihr uns mit der Gewalt in der DDR wegen eines repressiven Systems? Papa gibt mal ne Schelle, war im Westen ganz normal. Übrigens: große Errungenschaft: Ab 1957 durfte Mama auch ganz offiziell mit zulangen. Vorher war das dem Herr im Hause vorbehalten:
In Deutschland sprach der Bundesgerichtshof Lehrern noch 1957 ein „generelles Gewohnheitsrecht“ zum Prügeln zu. Ein Jahr später wurden Männer und Frauen gleichgestellt. Nun durften auch Mütter Schläge austeilen, vorher war das Züchtigungsrecht den Vätern vorbehalten.
Welche Auswüchse diese Kinderfeindlichkeit auch nach dem Krieg noch hervorbrachte, zeigten die unhaltbaren Zustände in vielen Kinderheimen bis Mitte der 1970er-Jahre. Das Unrecht wurde erst 2006 durch das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ in seinem ganzen Ausmaß publik. Mehr als eine halbe Million Kinder in kirchlichen und staatlichen Heimen wurden allein in Westdeutschland körperlich und seelisch schwer misshandelt. Aber auch in anderen europäischen Ländern.
Der Westen hat das also ganz ohne Diktatur geschafft. Im Namen des Herren wurden die Kinder aus Barmherzigkeit verprügelt. Ja, ich weiß, es gab im Osten Jugendwerkhöfe, ich kenne auch jemanden, der dort war und jetzt arbeitsunfähig ist. Im Westen waren aber auch normale Heime und Kuren wohl nicht so schön, wie jetzt herauskommt. Ich habe über Kuren im Osten und meine Erfahrungen bereits geschrieben.
1968
Die Wessis finden, es müsse doch eine Aufarbeitung der DDR-Zeit in den Familien geben, so wie es eine Aufarbeitung der Nazi-Zeit 1968 in der BRD gegeben habe. Man muss nur kurz darüber nachdenken, was das bedeutet, um die Ungeheuerlichkeit dieses Ansinnens zu verstehen. Es wird auch nicht besser, wenn man das selbst wie Dirk Knipphals in seinem Artikel erwähnt. Deutsche hatten Millionen Juden bestialisch umgebracht. Sie waren jahrzehntelang in einer Art Euphorie Hitler hinterhergetaumelt. Sie hatten alle fleißig ihre Ariernachweise zusammengestellt, glaubten sie würden zur Herrenrasse gehören und wollten bessere Menschen züchten. Sie hatten einen zweiten Weltkrieg angefangen. Die Mehrheit fand das großartig! Die Mitgliedsnummern der NSDAP gingen über 10 Millionen. Noch 1943 freute sich der Sportpalast auf den Totalen Krieg, den Deutschland dann auch bekam.
Da muss man Fragen stellen!
Ich habe in der DDR gelebt. Es war eine Diktatur. Wir haben das in der Schule gelernt: die Diktatur des Proletariats. Die Stasi hatte ein riesiges Überwachungsnetz aus hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter*innen installiert. Es war ein Überwachungsstaat. Man konnte dort nur leben, wenn man sich sagte, dass es egal ist. Alle wussten, dass alles irgendwie bei der Stasi landen konnte. In den ersten Jahren nach dem Krieg wurden Menschen abgeholt und verschwanden dann. Es gab auch später noch politische Gefangene, die ein gelbes Quadrat auf dem Rücken hatten, damit man sie besser erschießen konnte, sollten sie eine Fluchtversuch unternehmen. (Sie wurden dann aber doch gegen Apfelsinen eingetauscht.) Auch an der Mauer wurden Menschen erschossen. Aber, hey, 6 Millionen vergaste, erschossene, an Krankheiten in KZs gestorbene oder verhungerte Juden, Schrumpfköpfe, Lampenschirme aus Menschenhaut sind ja wohl eine gaaaanz andere Hausnummer.
Wie sollte denn Eurer Meinung nach eine Aufarbeitung aussehen? Es ist eine Aufarbeitung direkt nach der Wende erfolgt. Die meisten Gräueltaten sind bestens dokumentiert: in den Stasiunterlagen. Die Stasi wollte sie 1989 noch vernichten, Bürgerrechtler*innen konnten das zum größten Teil verhindern. Mein Schwager hat die geretteten Akten in der Normannenstraße bewacht. Jeder, der eine Stasiakte hatte, konnte Akteneinsicht beantragen. Viele haben das gemacht. Vera Wollenberger hat erfahren, dass ihr Man sie bespitzelt hat. Mein Chef hat erfahren, dass seine Mutter Informationen über ihn an die Stasi geliefert hat. Wir wissen das. Wir wissen auch, ob unsere Eltern in der Partei waren oder nicht. Meine waren nicht in der Partei. Wir wissen selber, ob wir drei Jahre zur Armee gegangen sind, um studieren zu können. Wir kennen Menschen, die sich quergestellt haben und Schäfer geworden sind, statt Mathematiker. Ihrer Ideale wegen. Wir kennen Menschen, die vier Jahre zur Armee gegangen sind, weil sie dann ein Jahr vor den Dreijährigen die Bewerbung auf das Medizinstudium sicher hatten. Niemand, selbst die röteste Socke aus dem Osten war an einer industriellen Auslöschung eines Teils der Bevölkerung beteiligt.
Ich habe mit meinen Eltern schon zu DDR-Zeiten über 1953 geredet. Wir hatten Auf der Suche nach Gatt in der Schule. Ich habe sie gefragt, wie es bei ihnen war. Sie waren damals zehn Jahre alt. Ihre Eltern, meine Großeltern haben sich nicht am Aufstand beteiligt. Schlimm?
Die Mehrheit der Menschen in der DDR haben so ihr Leben gelebt, um den offiziellen Teil herum. Den hat man soweit es ging ausgeblendet. Ich war zum Beispiel bei vielen Demos am ersten Mai. Das Erscheinen dort war Pflicht. Ich fand die Demos immer großartig, weil ich dort meine Kumpels aus anderen Schulen wiedergetroffen habe. Man ist hingegangen, hat sich so verhalten, dass der Klassenlehrer einen wahrgenommen hat und ist dann wieder verschwunden.
Ich wüsste nicht, was es außer den Stasiakten noch aufzuarbeiten gäbe. Für mich sieht die gesamte Diskussion mit 1968 + Gewalt nach Töpfchentheorie 2.0 aus. Erinnert Ihr Euch noch? Der Kriminologe Pfeiffer hatte damals herausgefunden, warum wir Ossis alle so anders sind: Weil wir alle im Kindergarten nebeneinander auf dem Töpfchen gesessen hatten. Nein? Ihr erinnert Euch nicht? Dann lest mal den Oschmann, er erinnert Euch.
Nachtrag 1: Aufarbeitung Die Firma
Charlotte Gneuß wurde 1992 geboren. Ihre Eltern haben im Osten gelebt und sind dann ausgereist. Sie nutzt die Erfahrungen ihrer Eltern für den Roman. Das ist der zitierte Ausschnitt zum 1968 für die Ostgeschichte:
Ich glaube, dass wir endlich anfangen sollten, in unseren Familien Fragen zu stellen. Wo wart Ihr damals? Was habt ihr vor 1989 gemacht? Ich glaube, das findet nicht genug statt. Wir haben in Deutschland ein faschistisches Erbe, im Osten kommt noch die Gewalterfahrung bis 1989 hinzu. Natürlich müssen wir das angehen. Wir können doch nicht immer die Emanzipationserfahrung Ost gegen das Gewaltgedächtnis ausspielen, wir müssen das gleichzeitig denken, die Geschichte muss in ihrer Komplexität erzählt werden. Fortschritt und Rückschritt gehen Hand in Hand. Und ja, wir brauchen ein 1968 für unsere Ostgeschichte, davon bin ich überzeugt. Vielleicht wird es irgendwann heißen: 2023, das war das Jahr, als die Kinder und Enkel begannen, Fragen zu stellen, die ihre Vorgänger nicht fragen wollten oder konnten.
Charlotte Gneuß im Interview mit der FAZ, 25.09.2023
Ich finde es völlig legitim, dass die Kinder Fragen stellen. Meine beginnen jetzt, sich langsam für die Themen zu interessieren, die ich ihnen schon länger nahezubringen versuche. Vielleicht gibt es Fragen, die ich mir nicht vorstellen konnte. Mir fällt aber selbst bei großer Anstrengung nichts ein. Ich weiß auch nicht, welche Gewalterfahrungen sie meint. In der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, gab es keine Gewalt gegen DDR-Bürger*innen, von den Fällen, wo es gegen harte Oppositionelle ging, abgesehen. 99% der DDR-Bürger*innen dürften keine Gewalterfahrungen haben. Weder als Handelnde noch als Leidende.
Oben habe ich meinen Lehrer und das Firma-Konzert erwähnt. Nach der Wende kam raus, dass Trötsch, der Sänger der Band Die Firma, bei der Stasi war. Er hat die Band nach der Stasi benannt.
„Firma“ war ein üblicher informeller Begriff für die Stasi in der DDR. Tatjana, die Sängerin, hat sich dann auch geoutet. Darüber wurde gesprochen. Ein Interview mit der Firma/Freygang/Ichfunktion wurde in der Szene-Zeitschrift NMI Messitsch veröffentlicht.
Ich habe die Firma fotografiert. Im CD-Booklet von Kinder der Maschinenrepublik sind zwei Bilder von mir. Ich habe mich mit Tatjana getroffen und wir haben über die Stasi-Geschichte gesprochen, über den Beruf ihres Vaters und dass sie sehr jung zur Stasi gekommen ist. So ähnlich wie die Heldin des Romans.
Wir haben gesprochen. Darüber wie das passieren konnte, wer sie ist, wer sie war. Die Firma hat zu DDR-Zeiten Lieder über die Verweigerung des Militärdienstes gesungen (Boris Vian: „Der Deserteur“).
Hier eine Aufnahme von 1988 mit schlechtem Ton, aufgenommen in einem Jugendklub in Friedrichsfelde-Ost:
Auf Verweigerung stand Gefängnis. Zivildienst gab es nicht. Die Firma war extrem wichtig für eine ganze Szene von Menschen. Sie hat Menschen Kraft gegeben. Dennoch: Sie ist jetzt auch im Stasimuseum in der Normannenstraße.
Alles ist im Prinzip bekannt, alles wurde besprochen. Nur hat es damals niemanden interessiert oder es wurde eben vergessen. Es ist nicht so, dass wir Leichen im Keller hätten. Ich kann verstehen, dass Menschen, die heute aufwachsen, Fragen haben und ich wäre auch jederzeit Bereit als Zeitzeuge zu berichten. Ich war vor einigen Jahren mal in der Schule einer befreundeten Lehrerin in Gelsenkirchen. Aus dem Informationsbedarf der jüngeren Generation jetzt aber abzuleiten, wir müssten etwas aufarbeiten und wir wären so komisch, weil da etwas Unverarbeitetes sei, ist einfach … Quatsch.
Nachtrag 2: Regelabfrage
Noch ein weiterer Punkt zur Aufarbeitung: Für alle, die im öffentlichen Dienst arbeiten wollten, gab es bis 2007 eine Regelanfrage beim Stasi-Unterlagen-Archiv. Belastete Personen wurden nicht eingestellt. Kam bei Personen im öffentlichen Dienst heraus, dass sie für die Stasi tätig waren, wurden sie entlassen. Ich habe im April 2007 einen Ruf an die FU-Berlin bekommen und wollte zum 01.08. dort anfangen. Der Fachbereichsleiter informierte mich, dass daraus wahrscheinlich nichts werden würde, da die Regelabfrage erst noch erfolgen müsse. Es sah so aus, als würde noch 18 Jahre nach der Wende die Stasi mein Leben negativ beeinflussen. Dann wurde aber gerade noch rechtzeitig die Regelabfrage aufgehoben, so dass dieser Schritt im Einstellungsverfahren wegfiel und ich im August beginnen konnte.
Der Punkt ist: Es gab staatliche vorgeschriebene Aufarbeitung für alle, die im öffentlichen Dienst arbeiten wollten. Die Arbeitsgruppe, in der ich nach der Wende gearbeitet habe, kam von der Akademie der Wissenschaften. Einige Mitglieder der Gruppe sind in die Industrie gegangen, weil ihnen klar war, dass sie die Regelanfrage nicht überstehen würden. Wir wussten, wer das war.
Nachtrag 3: Aufarbeitung Sascha Anderson
Im Prenzlauer Berg gab es zu DDR-Zeiten eine rege Kunstszene. Musiker*innen, Dichter*innen, bildende Künstler*innen usw. usf. Eine wichtige Figur war Sascha Anderson. Nach der Wende stellte sich heraus, dass Anderson IM war. Das ging groß durch die Medien. Wolf Biermann bezeichnete ihn als Sascha Arschloch. Alles wurde aufgearbeitet und besprochen. Es war ein großer Skandal. Viele Freundschaften sind zerbrochen. 2014 ist ein Film darüber erschienen.
Ich war zur Premiere. Viele der Betroffenen und auch Sascha Anderson selbst waren vor Ort.
Und obwohl die DDR da schon 25 Jahre Geschichte war, war alles immer noch sehr schmerzhaft und emotional für die Anwesenden.
Also: Es wurde gesprochen. Über große und über kleine Begebenheiten in der Vergangenheit. Anne Rabe schreibt in ihrem Roman selbst oder lässt die Ich-Erzählerin sagen, dass sie nicht reden wollte. Das kann sein, aber sie sollte es dann nicht anderen vorwerfen. Und ahnungslose Wessis sollten sich hüten, aus Anne Rabes Roman irgendetwas abzuleiten. Ich habe das in Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück genauer ausgeführt.
Ulke, C. & Fleischer, T. & Muehlan, H. & Altweck, L. & Hahm, S. & Glaesmer, H. & Fegert, J.M. et al. 2021. Socio-political context as determinant of childhood maltreatment: A population-based study among women and men in East and West Germany. Epidemiology and Psychiatric Sciences (30). 1–8. (doi:10.1017/S2045796021000585)