„Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ Eine Erfindung bepisster Ost-Nazis?

Wenn Ihr wis­sen wollt, was vie­le Ossis auf­regt, dann lest die­sen Bei­trag in der taz: Den Radi­ka­li­sie­rungs­mo­tor stop­pen. Gareth Jos­wig schreibt über Nazis von der Jun­gen Alter­na­ti­ve in Bayern:

Wie radi­kal die Jun­ge Alter­na­ti­ve ist, haben vor­letz­te Sams­tag­nacht wie­der eini­ge ihrer Mit­glie­der beim Fei­ern nach einem Par­tei­tag im mit­tel­frän­ki­schen Gre­ding in Bay­ern zur Schau gestellt. Eine Grup­pe von bis zu 30 Per­so­nen gröl­te tan­zend in einer Dis­ko­thek den stump­fen Neo­na­zi-Slo­gan: „Deutsch­land den Deut­schen! Aus­län­der raus!“

Soweit so gut, aber dann geht es weiter:

– also exakt jene Paro­le, die Neo­na­zis 1993 bei den Pogro­men von Ros­tock-Lich­ten­ha­gen rie­fen, wäh­rend sie Brand­sät­ze auf ein Wohn­heim für viet­na­me­si­sche Ver­trags­ar­bei­ter warfen.

Was soll das? Lich­ten­ha­gen hat in dem gan­zen Arti­kel nichts zu suchen. Was Gareth Jos­wig hier macht, viel­leicht unbe­wusst, ist zu sagen: Ach gucke, die Bay­ern sind Nazis, aber die Ossis sind noch viel schlim­mer. Obwohl das aktu­ell für den Arti­kel nicht der Punkt ist. Sol­ches Ossi-Bas­hing kommt immer wie­der zur Selbst­ent­las­tung und ist so was wie What­a­bou­tism oder auch die­se Huf­ei­sen-Geschich­te: Immer wenn jemand auf die Rech­ten schimpft, wird auch gleich mal kräf­tig auf die Lin­ken geschimpft. 

Inhalt­lich ist es gro­ber Unfug, den Ossis die­sen Spruch anhef­ten zu wol­len. Wenn man mal bei Goog­le-Books nach­guckt, wie die­se Phra­sen ver­wen­det wer­den, dann fin­det man … Überraschung.

Die Phra­se „Aus­län­der raus“ gab es ab 1973 in Buch-Publi­ka­tio­nen. (Neben­be­mer­kung: Den Ossis wird immer erklärt, dass es im Osten Faschis­mus und Ras­sis­mus gäbe, weil es dort kein 1968 gege­ben habe. Des­halb ist es natür­lich inter­es­sant zu sehen, dass die Aus­län­der­feind­lich­keit erst nach 1968 auftrat.) 

Am häu­figs­ten war die Phra­se um 1992.

Die Aus­schrei­tun­gen in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen fan­den im August 1992 statt. Da Bücher eine gewis­se Vor­lauf­zeit haben, bis sie in den Druck und den Han­del gehen, dürf­te der Höhe­punkt der Ver­wen­dung ein bis zwei Jah­re vor den Aus­schrei­tun­gen gele­gen haben. Das heißt der Spruch geht nicht auf die pöbeln­den bepiss­ten Ost-Nazis aus Lich­ten­ha­gen zurück, son­dern war schon vor­her weit ver­brei­tet. Man kann sich die Stel­len in den Publi­ka­tio­nen auch anse­hen, indem man unten auf die Jah­res­zah­len klickt. Man fin­det dann Publi­ka­tio­nen, die sich mit Aus­län­der­hass beschäf­ti­gen.

„Gast­ar­bei­ter raus!“ in Arbeit und Arbeits­recht von 1976.

Hier ein Aus­schnitt aus einem 1984 erschie­nen Buch:

Aus­schnitt aus „Tür­ken raus? oder Ver­tei­digt den sozia­len Frie­den:
Bei­trä­ge gegen die Aus­län­der­feind­lich­keit von 1984 im Rowohlt-Ver­lag erschie­nen. Es geht auch um Gewalt gegen Ausländer*innen.

Die Paro­le wird Anfang der 80er in vie­len Publi­ka­tio­nen im Zusam­men­hang mit der NPD diskutiert.

Wir kön­nen uns noch mal den Stand zur Wen­de angucken. 

1982 gab es ein Hoch, das dann aber 1989 noch über­trof­fen wur­de. Ein Drit­tel des Höchst­wer­tes von 1992 war 1989 bereits erreicht. Und es dürf­te klar sein, dass die ent­spre­chen­den Publi­ka­tio­nen nicht in der DDR erschie­nen sind. In der DDR gab es auch eini­ge Nazis (viel, viel weni­ger und anders als im Wes­ten nicht in lei­ten­den Funk­tio­nen), aber die­se hat­ten kei­nen Zugriff auf Dru­cke­rei­en. Es konn­te nur gedruckt wer­den, was vom Staat geneh­migt wur­de. Es gab nicht genug Papier und eben auch nur staat­li­che Dru­cke­rei­en. Umwelt­grup­pen haben in klei­nen Auf­la­gen Unter­grund­blät­ter pro­du­ziert (sie­he Umwelt-Biblio­thek in Ber­lin). Von Nazis ist mir nichts der­glei­chen bekannt und die ent­spre­chen­den Druckerzeug­nis­se dürf­ten es auch nicht zu Goog­le Books geschafft haben. Wenn es die Phra­se in Ost-Büchern gege­ben haben soll­te, dann wohl höchs­tens als Reflex der Vor­gän­ge und Ent­wick­lun­gen im Wes­ten. Offi­zi­ell war Völ­ker­ver­stän­di­gung und Völ­ker­freund­schaft die Linie im Osten.

Das heißt, von der Phra­se „Aus­län­der raus!“ die irgend­wel­che besof­fe­nen Jung-Nazis in Bay­ern grö­len, einen Schwenk nach Lich­ten­ha­gen zu machen, ist ten­den­zi­ös und faktenfrei.

Bit­te gebt Euch mehr Mühe, taz! Es ist wichtig.

Correctiv und die Nazi-Vorstellungen bzgl. Remigration

In dem Bei­trag Geheim­plan gegen Deutsch­land berich­tet Cor­rec­tiv über ein Geheim­tref­fen von Nazis und Fir­men­in­ha­bern zum The­ma Remi­gra­ti­on. Es geht um die Depor­ta­ti­on von 20 Mil­lio­nen Deut­schen. Deut­sche mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund und auch Anders­den­ken­den. Ich habe mir, wie immer (sie­he Der Ossi ist nicht demo­kra­tie­fä­hig? Merkt Ihr’s noch?) , den Spaß gemacht, nach­zu­schau­en, wo die Akteu­re herkommen.

Cor­rec­tiv gibt fol­gen­de Über­sicht über die beim Geheim­tref­fen anwe­sen­den Personen:

AfD

  • Roland Hart­wig (geb. Ber­lin, 1973 Abitur in Heil­bronn), rech­te Hand der Par­tei­che­fin Ali­ce Weidel
  • Ger­rit Huy (Braun­schweig), Bundestagsabgeordnete
  • Ulrich Sieg­mund (Havel­berg, Sach­sen-Anhalt), Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der Sachsen-Anhalt
  • Tim Krau­se (Fran­ken), stellv. Vor­sit­zen­der im Kreis Potsdam

Der Mörig-Clan

  • Ger­not Mörig, ein Zahn­arzt im Ruhe­stand aus Düsseldorf
  • Arne Fried­rich Mörig, Sohn von Ger­not Mörig
  • Astrid Mörig, Frau von Ger­not Mörig

Neonazis

  • Mar­tin Sell­ner, ein rechts­extre­mer Akti­vist aus Österreich
  • Mario Mül­ler (Bre­men), ein ver­ur­teil­ter Gewalttäter
  • Ein jun­ger „Iden­ti­tä­rer“

Gastgeber

Die Zeit schreibt über Huss:

Man­che ihrer Über­zeu­gun­gen habe Mat­hil­da Huss aber nicht ein­mal in die­sen Vide­os geteilt, sag­ten meh­re­re Zeu­gen ZEIT ONLINE. So soll Huss ver­gan­ge­nes Jahr im klei­nen Kreis behaup­tet haben, dass sich die indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on nega­tiv auf den Men­schen aus­ge­wirkt habe. Durch die stark gesun­ke­ne Kin­der­sterb­lich­keit wür­den seit­her zu vie­le schwa­che Kin­der über­le­ben, was den Gen­pool der Mensch­heit belaste.

Zeit über Huss

Mat­hil­da Huss und Dr. Wil­helm Wil­der­ink sind ein paar und in der Fami­lie gibt es „das eine oder ande­re Schlöß­chen“. Das ist bei Ossis eher nicht der Fall, wor­aus man wohl schlie­ßen kann, dass sie auch aus dem Wes­ten ist.

Die Wis­sen­schaft­le­rin Mat­hil­da Huss und ihr Ehe­mann, der Jurist Wil­helm Wil­der­ink, sind die neu­en Besit­zer der Vil­la Adlon. Sie haben das Haus, das Lou­is Adlon 1925 für sich und sei­ne zwei­te Frau Hed­da am Lehnitz­see bau­en ließ, im März 2011 gekauft und wol­len es so detail­ge­treu wie mög­lich rekon­stru­ie­ren. „Wir haben ein Fai­ble für geschichts­träch­ti­ge Gemäu­er“, sagt Mat­hil­da Huss. „Mein Mann ist in einer alten Klos­ter­an­la­ge auf­ge­wach­sen. In mei­ner Fami­lie gibt es das eine oder ande­re Schlöss­chen – wir sind mit dem The­ma groß gewor­den und wis­sen, dass es eine Her­aus­for­de­rung ist, in alter Bau­sub­stanz so zu leben, dass es funktioniert.“

Nadi­ne Fabi­an, Mär­ki­sche All­ge­mei­ne, 08.01.2013: Stuck statt Rau­fa­ser: Die Restau­rie­rung der Vil­la Adlon in Potsdam

Umfeld-Organisationen

  • Simo­ne Baum (Engels­kir­chen, Nord­rhein-West­fa­len), Wer­te­uni­on NRW, Vorstand
  • Michae­la Schnei­der (Mors­bach, Nord­rhein-West­fa­len), Wer­te­uni­on NRW, stell­ver­tre­ten­der Vorstand
  • Sil­ke Schrö­der (Her­kunft unklar), Ver­ein Deut­sche Spra­che, Vorstand
  • Ulrich Vos­ger­au (Pin­ne­berg, Schles­wig-Hol­stein), ehem. Kura­to­ri­ums­mit­glied der Desi­de­ri­us Eras­mus Stif­tung, CDU-Mitglied

Sonstige

Nachträge

In diver­sen spä­te­ren Publi­ka­tio­nen wer­den noch fol­gen­de Per­so­nen genannt:

  • Hans-Ulrich Kopp (Stutt­gart, Funk­tio­när in rechts­extre­men Orga­ni­sa­tio­nen, rech­ter Publi­zist, Ver­le­ger von rechts­extre­mer Lite­ra­tur und Wer­ken von Papst Bene­dikt und Bau­un­ter­neh­mer, Arti­kel taz, 26.01.2024)

Im Text wird Chris­ti­an Gold­schagg (Mün­chen) wird als mög­li­cher Geld­spen­der erwähnt.

Schlussfolgerung

Von den 22 genann­ten Per­so­nen (ohne Per­so­nal) sind 17 aus dem Westen/Österreich und einer aus dem Osten. Bei zwei­en sind die Anga­ben unge­nau, so dass man die Her­kunft nicht ermit­teln kann. Bei zwei­en ist die Her­kunft noch unklar, aber es sind wahr­schein­lich auch Wes­sis (Immo­bi­li­en­mak­le­rin).

Die Telefonzentrale der Römisch-katholischen Dampfbäder der Humboldt-Universität ist nicht mehr besetzt

Man sagt, Feh­ler zu bege­hen, sei nicht dumm. Nur den­sel­ben Feh­ler zum zwei­ten Mal zu bege­hen sei dumm. Ich habe den­sel­ben Feh­ler bzw. die­sel­be Art Feh­ler zwei­mal began­gen. Ich habe etwas nicht gelernt, von dem ich davon aus­ge­gan­gen bin, dass ich es nicht brau­chen wür­de. Im Leben, nicht in der Prüfung.

Die ers­te Prü­fung war die Fahr­prü­fung. Ich konn­te die Fahr­erlaub­nis für LKW machen, obwohl (mir) klar war, dass ich nie im Leben LKW fah­ren wür­de. Es gibt Ver­kehrs­schil­der, die nur für LKW rele­vant sind. Ich habe sie ein­fach igno­riert. Lei­der waren die­se dann in der Fahr­prü­fung relevant.

Ein ähn­lich gela­ger­ter Fall war die Prü­fung in Ana­ly­sis. Prof. Bank hat mit uns den Satz von der impli­zi­ten Funk­ti­on bespro­chen. Der Beweis ging über 1 1/2 Vor­le­sun­gen von je 90 Minu­ten. Ste­fan dach­te sich: Ein Beweis von 135 Minu­ten kann in einer Prü­fung mit 30 Minu­ten Län­ge unmög­lich dran­kom­men. Die Prü­fun­gen waren so auf­ge­baut, dass man zuerst in einem Neben­raum Auf­ga­ben lösen muss­te und dann gab es eine münd­li­che Prü­fung. Ich bekam ein paar Dif­fe­ren­ti­al­glei­chun­gen und Inte­gra­le zu lösen und das war alles kein Pro­blem. In der münd­li­chen Prü­fung war die Fra­ge: „Nen­nen Sie den Satz von der impli­zi­ten Funk­ti­on mit all sei­nen Vor­aus­set­zun­gen und skiz­zie­ren sie den Beweis!“ Da ich dar­auf über­haupt nicht vor­be­rei­tet war, kann­te ich die neun Vor­aus­set­zun­gen nicht und da ein Beweis nur funk­tio­niert, wenn alle Vor­aus­set­zun­gen erfüllt sind, konn­te ich somit auch den Beweis nicht ver­stan­den haben. Das war das Ende der Prüfung.

Prof. Bank irgend­wann spä­ter, Bild von Fami­lie, danke!

Beim Nach­prü­fungs­ter­min frag­te mich Prof. Bank, ob ich zum Auf­wär­men wie­der Auf­ga­ben haben wol­le. Ich bejah­te, da ich Dif­fe­ren­ti­al­glei­chun­gen und Inte­gra­le wirk­lich sehr gut lösen konn­te. Ich hat­te mich schließ­lich gut vor­be­rei­tet. Die Auf­ga­be war: „Geben Sie den Satz von der impli­zi­ten Funk­ti­on mit all sei­nen Vor­aus­set­zun­gen an.“ Ich habe acht von neun Vor­aus­set­zun­gen zusam­men­be­kom­men. Wir haben uns dann noch ein biss­chen über ande­re Berei­che der Ana­ly­sis unter­hal­ten und Prof. Bank mein­te dann: „Na, gut! Ich gebe Ihnen die Vier. Ich will sie hier nie mehr sehen.“ Ich moch­te ihn.

Den zwei­ten Teil der Ana­ly­sis­vor­le­sung hat­ten wir dann bei Prof. März. Die Prü­fung bei ihr lief sehr gut. In der DDR gab es ein Stu­di­en­buch, in das die Leh­ren­den die Ergeb­nis­se ein­tru­gen. Beim Ein­tra­gen sah sie das Ergeb­nis der ers­ten Prü­fung und mein­te: „Huch, was haben Sie denn hier gemacht?“ Ich war sehr froh, dass sie nicht vor der Prü­fung ins Heft­chen geschaut hat­te. Das hät­te even­tu­ell das Ergeb­nis verfälscht.

In der Wen­de­zeit hat­te ich Pro­ble­me mit mei­nen Dozent*innen. Ich konn­te es ein­fach nicht ver­ste­hen, dass sie ein­fach wei­ter ihre Mathe­ma­tik betrie­ben, ohne ein ein­zi­ges Wort zu dem Cha­os zu sagen, dass uns umgab. Die Mathe­ma­tik war clean, sau­ber. Sie funk­tio­nier­te nach 89 genau­so wie vor­her. Ich fand das ent­setz­lich. Ste­ril. Tot. Ich habe mir dann etwas gesucht, das auch kom­plex ist, aber krumm und schief: Spra­che. Das Ergeb­nis stän­di­ger Ver­hand­lun­gen, Aus­ba­lan­cie­run­gen von Sprecher*innen (oder Spre­chern, wie wir damals sag­ten). Der ein­zi­ge Mensch, der etwas sag­te, der ein­zi­ge Mensch, der anders war, der kei­ne Angst hat­te, war Bernd Bank. Er hat­te einen schwar­zen Man­tel an und einen roten Stern an der Müt­ze. Er war Trotz­kist. Ich moch­te ihn.

Ich habe das Stu­di­um in vier Jah­ren inklu­si­ve Aus­lands­jahr been­det. Über diver­se Umwe­ge bin ich 2016 wie­der an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät gelan­det. Als exter­nes Mit­glied war ich in einer Beru­fungs­kom­mis­si­on in den Erzie­hungs­wis­sen­schaf­ten und bin dort mit jeman­dem zusam­men­ge­kom­men, der mit Bernd Bank im Prä­si­di­um zusam­men­ge­ar­bei­tet hat. Bank war nach der Wen­de Vize­prä­si­dent. Mei­ne Bekann­te hat mir erzählt, dass Bank sich mit­un­ter mit „Römisch-katho­li­sche Dampf­bä­der der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät“ am Tele­fon gemel­det hat. Ich mag die­se Geschichte. 

Bernd Bank ist vor eini­gen Tagen gestor­ben. Die Tele­fon­zen­tra­le der Römisch-katho­li­schen Dampf­bä­der der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät ist jetzt nicht mehr besetzt.

Nachtrag

Beim Nach­den­ken über den Post ist mir klar gewor­den, dass ich den­sel­ben Feh­ler sogar drei­mal gemacht habe. Ich bin für die Wie­der­ho­lungs­prü­fung wahr­schein­lich davon aus­ge­gan­gen, dass der Satz über die impli­zi­te Funk­ti­on nicht mehr dran­kommt, weil der ja schon dran war. Ent­we­der hat­te Bank gedacht, dass ich den­ken könn­te, dass das The­ma jetzt durch ist, oder er fand den Satz so wich­tig, dass er noch mal fra­gen woll­te. Im ers­ten Fall wäre das so eine Art Prü­fungs­schach und er hät­te gewon­nen. Ich mag ihn deswegen.

Übri­gens ist es vie­len Hertz-Schü­lern so gegan­gen, dass sie im ers­ten Stu­di­en­jahr durch die Prü­fun­gen gefal­len sind. Wir hat­ten den Stoff des ers­ten Stu­di­en­jahrs schon in der Schu­le und weil wir alles schon kann­ten, haben wir die Prü­fun­gen unterschätzt.

Wissen, Unwissen, Ignoranz und Arroganz

Ich habe das her­vor­ra­gen­de Buch von Lutz Sei­ler Stern 111 gele­sen. Es han­delt von einem jun­gen Mann aus Gera, der nach Ber­lin auf­bricht, nach­dem sei­ne Eltern am Tag der Mau­er­öff­nung in den Wes­ten gegan­gen sind. Das Schick­sal sei­ner Eltern in Auf­nah­me­la­gern und bei ers­ten Jobs wird beschrie­ben. Fol­gen­den Aus­schnitt habe ich mir mar­kiert und auch auf Mast­o­don gepostet:

Ohne Zwei­fel gab es Kurs­teil­neh­mer, die über UNIX ein paar Din­ge fra­gen konn­ten, die Wal­ter Bisch­off nicht wuss­te. Sie lie­ßen es ihn spü­ren, sie ver­such­ten, es ihm zu bewei­sen. „Das Wich­tigs­te wird sein, dass nie­mand erfährt, woher du kommst, eigent­lich“ — das hat­te Kara­jan gesagt, Chef­trai­ner von CTZ. Kara­jan hat­te Wal­ter gezeigt, wie das Kurs­ma­te­ri­al beschaf­fen sein soll­te, wel­che Tech­nik ihn vor Ort erwar­ten und wie sie gehand­habt wer­den muss­te. Das Auf­wen­digs­te waren die Foli­en für den Over­head-Pro­jek­tor. Jeder Kurs war eine Foli­en­wüs­te. „Ein Ost­ler, ver­stehst du, Wal­ter — vie­le ertrü­gen das nicht, bei 1000 Mark Kurs­ge­bühr pro Tag“, hat­te Kara­jan gesagt. 

Lutz Sei­ler, 2020: Stern 111, Suhrkamp

Die­se Abwer­tung und Arro­ganz. Sowohl durch den Chef der Aus­bil­dungs­fir­ma als auch durch die Aus­zu­bil­den­den. Ich selbst habe die­se Abwer­tung nie erfah­ren, aber die Mehr­heit der Ost­deut­schen wohl schon. Vie­le West­deut­sche wun­dern sich, war­um die Din­ge so lau­fen, wie sie jetzt lau­fen, aber sie ver­ste­hen immer noch nichts.

Bei der Dis­kus­si­on auf Mast­o­don hat mich jemand auf einen Pod­cast hin­ge­wie­sen, in dem Andre­as Baum und Andi Arbeit über Stern 111 spre­chen. Andi Arbeit äußert dann irgend­wann folgendes:

Und ich glaub, bei so Aka­de­mi­ker­el­tern stellt sich dann ja auch raus, dass der Vater – wie man sich kaum vor­stel­len kann – irgend­wel­che Pro­gram­mier­spra­chen kann, mit denen er dann bis in LA irgend­wel­che wil­den Soft­ware-Pro­gram­me irgend­wie ent­wirft und wo man sich auch fragt: Mein Gott, woher konn­te der das? In Jena oder irgend­wo in irgend ner Uni hat er dann C+ oder C++, ich weiß auch nicht genau, wie die heißt, alles Mög­li­che gelernt, was ihn dazu befä­higt hat, über­haupt die­ses Leben zu führen. 

Andi Arbeit 2020: Mein Freund der Baum — das Bücher­ra­dio mit Andre­as Baum & Andi Arbeit 24:13

Hät­te ich nicht beim Abwa­schen gestan­den, wäre ich wohl vom Stuhl gefal­len. Über drei­ßig Jah­re spä­ter kommt da die­sel­be Arro­ganz zum Vor­schein, die es auch 1989 gab und die im Buch beschrie­ben ist. Und Andi Arbeit hat es wahr­schein­lich nicht ein­mal selbst bemerkt. Mein Gott, woher konn­te der das? Als Ossi! C+ oder C++ oder wie das heißt. Das kann man sich ja kaum vor­stel­len, dass irgend­ei­ner von die­sem nichts­nut­zi­gen Pack zu irgend­was gut war.

Mal schnell noch zwi­schen­durch, bevor wir zum eigent­li­che Inhalt hier kom­men. In der Syn­tax von C und auch ande­ren Pro­gram­mier­spra­chen gibt es eine Nach­fol­ger­funk­ti­on. Man kann also statt c = c + 1; auch c = c++; oder ein­fach gleich c++; schrei­ben. Damit wird der Wert der Varia­ble c um eins erhöht. Die Pro­gram­mier­spra­che C++ ist der Nach­fol­ger von C. Eine Weiterentwicklung.

Also: Also! Los.

Karl Marx und ich

Über Karl Marx haben wir in der Schu­le gelernt, dass er acht Spra­chen konn­te. Ich habe mich als jun­ger Mann dar­über gefreut, dass ich mehr Spra­chen als Marx beherrsch­te. Die meis­ten davon waren aller­dings Com­pu­ter­spra­chen. Ich konn­te BASIC, Pas­cal (Tur­bo Pas­cal), C, C++, ReDa­Bas (Ost-Kopie von DBASE) und forth. Außer­dem konn­te ich Z80 Assem­bler pro­gram­mie­ren. Ich kann­te mich mit CP/M und Unix aus und hat­te mit pro­gram­mier­ba­ren Taschen­rech­nern von Texas Instru­ments (Umge­kehr­te Pol­ni­sche Nota­ti­on, yes), Home-Com­pu­tern (ZX81, C20, C64, C128, Z9001, KC 85/2) und an rus­si­schen Pro­zess­rech­nern wie der SM‑4 (Nach­bau der PDP-11 von DEC) gear­bei­tet. Alles noch vor dem Stu­di­um. Wie war es mir nur gelun­gen, die­ses Wis­sen zu erwer­ben? Als Ossi????

Homecomputer und Computerclubs

In den 80er Jah­ren kamen die ers­ten Home­com­pu­ter auf. Der ZX80 kos­te­te 100£ und das Nach­fol­ge­mo­dell, der ZX81, fand auch sei­nen Weg nach Ost­deutsch­land. Lie­be West­ver­wand­te brach­ten einen mit, man­che Arbeits­grup­pen hat­ten sol­che West­ge­rä­te. Spä­ter fand der C64 auch in ost­deut­schen Kin­der­zim­mern wei­te Ver­brei­tung. Mit mei­nem Freund Peer bekam ich einen Feri­en­job bei einem Wis­sen­schaft­ler in einer Lun­gen­kli­nik in Buch. Er hat­te zwei C64 und auch das Vor­gän­ger­mo­dell Com­mo­do­re VC20. Unser Job war es, Pro­gram­me aus der Zeit­schrift 64er ein­zu­ge­ben. Die­se Maschi­nen­sprach­e­pro­gram­me waren dort in Hexa­de­zi­mal­code abge­druckt. End­lo­se Zei­chen­ko­lon­nen. Wozu die Lun­gen­kli­nik Com­pu­ter­spie­le brauch­te, war uns nicht ganz klar, aber wir durf­ten die Pro­gram­me dann auch selbst haben und beka­men noch Geld. Die­se Pro­gram­me bil­de­ten den Grund­stock eines Tausch­im­pe­ri­ums für Com­pu­ter­spie­le, die dann im Haus der Jun­gen Talen­te in grö­ße­ren Tausch­krei­sen noch ver­mehrt wur­den (Don’t ask about copy­rights. War halt ne Mau­er dazwi­schen.). Der Punkt ist: Es gab West-Com­pu­ter, es gab West-Zeit­schrif­ten, die bis zur abso­lu­ten Mate­ri­al­er­mü­dung gele­sen und wei­ter­ge­ge­ben wur­den. Es gab auch Com­pu­ter-Bücher von Data-Becker zum Bei­spiel, die von hilfs­be­rei­ten Omas oder Opas über die Gren­ze gebracht wur­den. Es gab Com­pu­ter­clubs und es gab Ver­an­stal­tun­gen für Schüler*innen, bei denen man auch pro­gram­mie­ren ler­nen konn­te. Die­se Heim­com­pu­ter hat­ten meist einen BASIC-Inter­pre­ter dabei, so dass alle BASIC ler­nen konnten.

Nach­trag 22.07.2024: Peer hat Sta­si-Unter­la­gen zur Com­pu­ter­sze­ne in der DDR gefun­den. Die­se bestä­ti­gen sehr schön, was ich hier geschrie­ben habe und geben auch Zah­len zum Umfang der Sze­nen. Die Sta­si spricht von zehn­tau­sen­den Computerbesitzern.

Sta­si-Doku­ment spricht von zehn­tau­sen­den Com­pu­ter­be­sit­zern und lis­tet die Typen auf.

Universitäten und Forschungseinrichtungen

Mei­ne Mut­ter hat Astro­phy­sik stu­diert, mein Vater Phy­sik. Im Rah­men des Astro­phy­sik­stu­di­ums wur­den die Student*innen auf dem Zeiss-Rechen­au­to­mat 1 (ZRA1) aus­ge­bil­det. Mein Vater hat, obwohl das eigent­lich nur für die Astrophysiker*innen Pflicht war, auch in die­ser Ver­an­stal­tung pro­gram­mie­ren gelernt. Das war 1964/1965. Wäh­rend der Müt­ter­kur nach mei­ner Geburt 1968 lern­te mei­ne Mut­ter COBOL. Sie war nicht ganz sicher, wel­che Pro­gram­mier­spra­che sie brau­chen wür­de. Es stell­te sich her­aus, dass das die fal­sche Spra­che gewe­sen war und sie For­tran brauch­te, aber auch das war dann kein Pro­blem. Über 20 Jah­re spä­ter, nach der Wen­de, wur­de mei­ne Mut­ter ent­las­sen. Sie arbei­te­te dann in der Wei­ter­bil­dung für Frau­en und brach­te ihnen Pro­gram­mie­ren bei. In COBOL. Mei­ne Eltern arbei­te­ten bei­de an der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten in der Mole­ku­lar­bio­lo­gie an einem Groß­rech­ner, der BESM‑6. Noch wäh­rend der DDR-Zeit lern­te mei­ne Mut­ter auch BASIC und C. Mei­ne Eltern hat­ten in der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten Zugriff auf die Fach­zeit­schrif­ten aus dem Wes­ten. Mein Vater hat zu hau­se mit einem pro­gram­mier­ba­ren Taschen­rech­ner von Texas Instru­ments gear­bei­tet, den sein Schwie­ger­va­ter aus dem Wes­ten mit­ge­bracht hat­te. Pro­gram­me wur­den auf Magnet­kar­ten gespei­chert. Mein Vater konn­te MOPS (Maschi­nen­ori­en­tier­te Pro­gram­mier­spra­che für den Robo­tron 300), alle For­tran-Vari­an­ten und Algol 60.

Mei­ne Mut­ter hat mich auch schon als Schü­ler zu Kol­le­gen mit­ge­nom­men, die Com­pu­ter zusam­men gebaut haben. Ich erin­ne­re mich an Büros mit offe­nen Com­pu­tern, wo ich die Pla­ti­nen sehen konn­te. Die Laufwerke. 

Ich hat­te das Glück, auf die Spe­zi­al­schu­le mit mathe­ma­tisch-natur­wis­sen­schaft­li­cher Aus­rich­tung Hein­rich-Hertz gehen zu kön­nen. Dort hat­ten wir zu Beginn (1982) eben­falls pro­gram­mier­ba­re Taschen­rech­ner von Texas Instru­ments. Spä­ter kamen Z9001 dazu, die ers­ten Heim­com­pu­ter der DDR. Die Hein­rich-Hertz-Schu­le ist sogar im Wiki­pe­dia-Artiekl über den Z9001 erwähnt. Unser Com­pu­ter­ka­bi­nett wur­de mit Com­pu­tern aus den ers­ten 100 Stück aus­ge­stat­tet. Mit die­sen Rech­nern hat­ten wir spe­zi­el­len Infor­ma­tik­un­ter­richt, den es an ande­ren Schu­len nicht gab. Wir lern­ten Grund­la­gen wie bestimm­te Algo­rith­men und Pro­gramm­ab­lauf­plä­ne. Mit Peer bekam ich eine Ein­zel­be­treu­ung im Rechen­zen­trum der Hum­boldt-Uni. Wir konn­ten direkt am Haupt­com­pu­ter der HU arbei­ten, was die Student*innen zu der Zeit nicht durf­ten. Sie muss­ten Loch­kar­ten stan­zen und die­se dann zum Rech­nen abge­ben. In der elf­ten und zwölf­ten Klas­se gab es ein Unter­richts­fach Wis­sen­schaft­lich-prak­ti­sche Arbeit. Die Hertz-Schu­le hat­te Ver­trä­ge mit dem Zen­tral­in­sti­tut für Kyber­ne­tik und Infor­ma­ti­ons­pro­zes­se der DDR (ZKI). Peer, ich und ein Jun­ge aus der Nach­bar­klas­se konn­ten in der UNIX-Arbeits­grup­pe arbei­ten. Sie arbei­ten an MUTOS. Das war eine UNIX-Vari­an­te, die ihren Weg über Öster­reich-Ungarn in den Ost­block gefun­den hat­te. Embar­go­tech­nik, aber für Geld … Im ZKI habe ich C gelernt. Der Wis­sen­schaft­ler, der es mir bei­gebracht hat, mein­te zu BASIC: „Wer BASIC gelernt hat, ist ver­saut für’s Leben!“ Ich habe dann die Arbeit am ZKI der Arbeit im Rechen­zen­trum der HU vor­ge­zo­gen, denn die Rech­ner im ZKI waren bes­ser. Der theo­re­ti­sche Teil in der HU war aber toll. In der HU wur­de auch das fol­gen­de Doku­ment ausgedruckt:

Aus­druck von Ker­nig­han & Rit­chie, das in Karl-Marx-Stadt ein­ge­ge­ben wor­den war auf einem Par­al­lel­dru­cker der Humboldt-Universität.

Das war eine Ver­si­on des Stan­dard-Buches über C von Ker­nig­han & Rit­chie aus dem Jah­re 1978. Es wur­de für mich auf einem Par­al­lel­dru­cker aus­ge­druckt. Der Dru­cker hat­te Typen­rä­der und es wur­de je eine Zei­le gedruckt. Lei­der waren die Typen­rä­der nicht gut syn­chro­ni­siert. Das wur­de aber durch das Ruckeln der Stra­ßen­bah­nen ausgeglichen.

Im ZKI konn­ten Peer und ich die Biblio­thek benut­zen und hat­ten dar­über Zugriff auf Com­pu­ter und Wis­sen­schafts­zeit­schrif­ten (mc – Die Mikro­com­pu­ter-Zeit­schrift, c’t, Chip, Bild der Wis­sen­schaft). Die aktu­el­len Aus­ga­ben waren oft aus­ge­lie­hen, aber wir lasen auch alte Aus­ga­ben gern. Peer sorg­te auch dafür, dass wir an die Fach­zeit­schrif­ten in der Ber­li­ner Stadt­bi­blio­thek dran­ka­men: Nach einem Brief­wech­sel inklu­si­ve Leser­brief an die Ber­li­ner Zei­tung hat­ten wir irgend­wann ein Gespräch mit dem Direk­tor der Biblio­thek. Ich habe dort als Schü­ler auch Bücher über die Grund­la­gen der Hard­ware von Com­pu­tern gele­sen. Die­se Bücher waren ganz nor­mal für alle auch ohne Son­der­ge­neh­mi­gung ausleihbar.

Bestä­ti­gung des Rechen­zen­trums der HU, das die Schü­ler, die dort arbei­te­ten, Zugang zu West-Lite­ra­tur benö­tig­ten. 02.04.1985

Bei der Armee konn­te ich dann letzt­lich auch mit Com­pu­tern arbei­ten. Ich habe mit Reda­bas (ein geklau­tes Ost­block-DBASE) und dann mit Tur­bo-Pas­cal gear­bei­tet. Um in die Com­pu­ter­grup­pe rein­zu­kom­men (lief wohl irgend­wie über die ZKI-Con­nec­tion, die Kon­tak­te nach Straus­berg hat­ten, wo auch MUTOS ver­wen­det wur­de), muss­te ich nach­wei­sen, dass ich das ent­spre­chen­de Wis­sen hat­te. Ich arbei­te nach Dienst an einem Pro­gramm für den KC85/2 in Assem­bler. Die KC85/2 hat­ten einen U880-Pro­zes­sor. Das war die Ost-Vari­an­te des Z80.

Zusam­men­fas­sung: Es gab im Osten Com­pu­ter. Die lie­fen mit den­sel­ben Pro­gram­mier­spra­chen wie im Wes­ten. Wir hat­ten Zugriff auf die West-Lite­ra­tur. Mit­un­ter lief die Lite­ra­tur­be­schaf­fung etwas hol­pe­rig, aber man kam dran. Mit­un­ter waren die Aus­dru­cke etwas hol­pe­rig, aber man kam zurecht. Wissenschaftler*innen aus ganz ver­schie­de­nen Dis­zi­pli­nen haben mit Com­pu­tern gear­bei­tet. Allein in mei­ner Fami­lie war es Phy­sik, Astro­phy­sik, Mole­ku­lar­bio­lo­gie, Kris­tal­lo­gra­fie. Das Mili­tär hat­te Com­pu­ter. Nach der Wen­de arbei­tet ich als Stu­den­ti­sche Hilfs­kraft bei der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR, Abtei­lung für Com­pu­ter­lin­gu­is­tik von Prof. Jür­gen Kun­ze. Die Arbeits­grup­pe gab es – soweit ich weiß – seit den 70er Jah­ren. Sie hat­ten Com­pu­ter und haben die­se pro­gram­miert. Überraschung. 

Infor­ma­tik als eige­nes Fach gab es erst rela­tiv spät. Es gab ab 1987 an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin einen Stu­di­en­gang für Mathe­ma­ti­sche Infor­ma­tik. Das war das kom­plet­te Mathe­stu­di­um plus zusätz­li­che Infor­ma­tik­kur­se. In die­sem Stu­di­en­gang habe ich 1989 ange­fan­gen zu stu­die­ren. In Dres­den gab es noch tech­ni­sche Infor­ma­tik. Dort ging es mehr um die Hard­ware von Computern. 

In Frankfurt/Oder gab es ein Halb­lei­ter­werk, das den Osten ver­sorgt hat. Es brach zusam­men, am Tag der Wäh­rungs­uni­on, weil der Ost­block kei­ne West-Wäh­rung bezah­len konn­te. In Sach­sen gab es eben­falls Halb­lei­ter-Indus­trie. Die NZZ schreibt zur Zeit nach der Wende:

In den 1990er Jah­ren habe man des­halb die rich­ti­gen Fach­kräf­te gefun­den, und die Uni­ver­si­tä­ten sei­en dar­auf aus­ge­rich­tet gewe­sen, die­se Fach­kräf­te auszubilden.

Hölt­schi, 2022: Von der DDR-Ver­gan­gen­heit zur Bewah­rung euro­päi­scher Sou­ve­rä­ni­tät: der Halb­lei­ter-Clus­ter Sili­con Sax­o­ny, Neue Züri­cher Zeitung.

Das heißt, es gab qua­li­fi­zier­tes Per­so­nal und es gab Uni­ver­si­tä­ten, die die Men­schen aus­ge­bil­det haben.

Nach­trag 22.07.2024: In den schon erwähn­ten Sta­si-Unter­la­gen wer­den auch Besit­zer pri­va­ter Com­pu­ter erwähnt, die einen beruf­li­chen EDV-Hin­ter­grund haben.

Das sind nur die Per­so­nen, die zusätz­lich zu ihrer Arbeit mit Com­pu­tern auch pri­vat über einen Com­pu­ter ver­füg­ten. Obwohl mei­ne Eltern bei­de mit Rech­nern arbei­te­ten, hat­ten sie bis auf einen pro­gram­mier­ba­ren Taschen­rech­ner kei­ne pri­va­ten Com­pu­ter. Das heißt, die Zahl der Per­so­nen mit EDV-Beru­fen war größer.

Schulbildung

Die Schul­bil­dung war im natur­wis­sen­schaft­li­chen Bereich bes­ser als die im Wes­ten. Sagt man. Mein Sohn hat­te einen guten Mathe­leh­rer, der auch schon zu Ost­zei­ten Leh­rer war. Er hat zur Vor­be­rei­tung auf die MSA-Prü­fung die Schüler*innen Auf­ga­ben für die Prü­fung nach der 10. Klas­se in der DDR rech­nen las­sen. Mein Sohn mein­te, dass die viel, viel schwie­ri­ger waren als die aktu­el­len Aufgaben.

Im Eini­gungs­ver­trag wur­den alle Ost-Abitur-Abschlüs­se um eine Note her­un­ter­ge­stuft. Ich stel­le mir gera­de vor, wie der West-Ver­hand­lungs­füh­rer, des­sen Name ich ver­ges­sen habe, mit dem Ost-Ver­hand­lungs­füh­rer, des­sen Name ich ver­ges­sen habe, gespro­chen hat: „Also, Herr X, Sie müs­sen schon ein­se­hen, dass die Ossis alle ein biss­chen döo­fer als die Wes­sis sind.“ „Ja, ehm, hm, Herr Y, da haben sie schon Recht. Wäre es ok, wenn wir die Abitur­no­ten aller Ossis um eine hal­be Note nach unten kor­ri­gie­ren?“ „Nein, die sind noch viel döo­fer. Also das muss min­des­tens eine gan­ze Note sein.“ „Ok.“ (Mis­ter X zu sich sel­ber: „Sag ich doch, die sind doof.“)

Aber jetzt mal Spaß bei­sei­te. Die empi­ri­sche Grund­la­ge die­ses Beschlus­ses wür­de mich schon inter­es­sie­ren. Wie wur­den die Ver­gleichs­stich­pro­ben bestimmt? So?

Miss Ost­deutsch­lands im Bil­dungs­test 2004, 15 Jah­re nach der Wen­de, d.h. mit guter West-Bildung

Aber das kann es nicht gewe­sen sein, denn die­se Form der Besten­er­mitt­lung fand erst statt, als der Eini­gungs­ver­trag unter Dach und Fach war.

Das Ergeb­nis war jeden­falls, dass alle Ossis schon mal schlech­te­re Chan­cen hat­ten, wenn sie sich mit West­lern mes­sen muss­ten. Und das muss­ten vie­le. Mil­lio­nen haben nach der Wen­de das Land (den Osten) ver­las­sen, denn sie wur­den dort arbeits­los, weil ihre Betrie­be geschlos­sen wur­den oder sie ein­fach aus den Uni­ver­si­tä­ten und den For­schungs­ein­rich­tun­gen raus­ge­wor­fen wur­den. („Von den 218.000 Wis­sen­schaft­lern der ehe­ma­li­gen DDR ver­lor die Hälf­te ihre Stel­le. Bei den Pro­fes­so­ren waren es nach Zah­len der bri­ti­schen Zeit­schrift Natu­re sogar zwei Drit­tel.“ Peter André Alt, Ber­li­ner Zei­tung, 06.11.2019)

Es gab übri­gens zwei Schu­len im Osten, deren Abitur nicht abge­wer­tet wur­de. Eine davon war mei­ne. Ich bin also nicht betrof­fen. Ich bin also kein Jam­mer-Ossi. Bis 2013 war mir das gan­ze Ost-The­ma Wum­pe. Die DDR war nichts meins, ich habe ihr nicht nach­ge­weint. Ich bin Pro­fes­sor, mir geht es gut. Bis 2019 habe ich auch nichts gesagt. Jetzt spre­che ich für ande­re. Ich hof­fe, irgend­wer ver­steht das und irgend­wem nützt das.

Nach­trag 08.01.2024. Es gab Nach­fra­gen bezüg­lich der Her­ab­stu­fung der Abitur­no­ten. Im Eini­gungs­ver­trag war das nicht gere­gelt, aber ich habe zwei Arti­kel zu dem The­ma gefun­den. Einen im Spie­gel (Drü­ben war es leich­ter) und einen in der taz (Zwei Bun­des­län­der erken­nen DDR-Abitur nicht an). Noch zum Hin­ter­grund: In der DDR konn­ten pro Klas­se zwei bis drei Schüler*innen Abitur machen, wobei die Klas­sen­stär­ke um die 30 lag.

In unse­ren Klas­sen erhiel­ten von knapp drei­ßig Kin­dern gera­de mal zwei bis drei eine Emp­feh­lung für die Erwei­ter­te Ober­schu­le, so dass Leh­rer gut dar­an taten, früh­zei­tig zu signa­li­sie­ren, wen sie dafür im Auge hatten.

Mau, Stef­fen, 2019, Lüt­ten Klein: Leben in der ost­deut­schen Trans­for­ma­ti­ons­ge­sell­schaft, Ber­lin: Suhr­kamp Ver­lag S. 55.

In mei­ner Klas­se waren 31 Schüler*innen. Die Stu­di­en­platz­ver­ga­be erfolg­te nach volks­wirt­schaft­li­chem Bedarf. Wenn man einen Stu­di­en­platz bekom­men hat, hat­te man dann auch die Arbeits­stel­le sicher. Das war ganz anders, als das im Wes­ten ist, wo es hun­der­te Student*innen im Bereich Lite­ra­tur­wis­sen­schaft und habi­li­tier­te Taxifahrer*innen gibt.

Zusammenfassung

Lie­be Wes­sis, wir wuss­ten alles über Euch. Wir fan­den Euch inter­es­sant. Euer Leben haben wir im Fern­se­hen gese­hen und das der Amis. Wir haben Eure Bücher gele­sen. Die Roma­ne und die Fach­bü­cher. Das war noch viel span­nen­der, wenn sie schwer zu bekom­men waren. Wir wuss­ten alles über Euch, aber Ihr nichts über uns. Und das ist zum Teil lei­der auch über 30 Jah­re nach dem Anschluss der DDR immer noch so. Shame on you. Also jeden­falls on ein paar von Euch. On tho­se, who immer noch sol­chen Müll in Zei­tun­gen schrei­ben, in Pod­casts sagen oder sonst wie ver­brei­ten. Wun­dert Euch nicht, wenn das kei­ner mehr will bzw. immer noch kei­ner will.

Und noch etwas: Redet über uns, als wären wir dabei. Das reicht viel­leicht schon. Wobei, Andre­as Baum ist ja aus dem Osten und Andi Arbeit hat den­noch so gesagt, was sie gesagt hat.

Immer­hin haben ja alle bis zum Ende gele­sen. =:-) Stay tun­ed, bis zum nächs­ten Rant.

Nachgedanken

Mir fal­len immer noch nach­träg­lich Din­ge ein. Zum The­ma „doo­fe Ossis“ noch drei Punk­te: 1) Prof. Dr. Man­fred Bier­wisch war der ers­te Deut­sche, der im Rah­men von Chom­skys Trans­for­ma­ti­ons­gram­ma­tik gear­bei­tet hat. Und zwar ab 1959, lan­ge, lan­ge vor dem Wes­ten. Jahr­zehn­te. Bier­wisch hat 1963 die ers­te Trans­for­ma­ti­ons­ana­ly­se des Deut­schen vor­ge­stellt. Es gibt ein tol­les Gespräch mit Bier­wisch über die gesam­te DDR-Zeit und dar­über, wie die Ent­wick­lung der Arbeits­grup­pen ver­lief. Vie­le bekann­te West­ler haben die Grup­pe im Osten besucht (Prof. Dr. Die­ter Wun­der­lich war einer davon. In Wiki­pe­dia steht auch, dass Wun­der­lich über Bier­wisch zur Gene­ra­ti­ven Gram­ma­tik kam.)

2) Die soge­nann­te Aka­de­mie-Gram­ma­tik von 1981 Grund­zü­ge einer deut­schen Gram­ma­tik hat Stan­dards gesetzt. Die Duden-Gram­ma­tik aus die­ser Zeit war … nun ja. Ab 2005 ist sie sehr gut.

3) Rena­te Schmidt, eine gute Bekann­te, hat an der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten an Wör­ter­bü­chern gear­bei­tet. Nach der Wen­de wur­de die Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR abge­wi­ckelt. 22 Ossis wur­den vom Insti­tut für Deut­sche Spra­che in Mann­heim über­nom­men. Rena­tes Chef Hel­mut Schu­ma­cher begrüß­te die Neu­en und ver­sprach ihr, ihr das Erstel­len von Wör­ter­bü­chern bei­zu­brin­gen. Sie hat­te aber schon an fünf Wör­ter­bü­chern mit­ge­ar­bei­tet. Zum Wör­ter­buch der deut­schen Gegen­warts­spra­che steht in Wikipedia:

Das Wör­ter­buch der deut­schen Gegen­warts­spra­che (WDG) wur­de in Ber­lin an der Deut­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten (ab Okto­ber 1972: Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR) zwi­schen 1952 und 1977 unter der Lei­tung von Ruth Klap­pen­bach und Wolf­gang Stei­nitz erar­bei­tet. Das Wör­ter­buch erschien in 6 Bän­den und wur­de bis zum Ende der DDR band­wei­se ver­setzt nach­ge­druckt. Das WDG umfasst über 4.500 Sei­ten und ent­hält knapp 100.000 Stich­wör­ter. In Kon­zep­ti­on und Quel­len­aus­wahl war es sei­ner Zeit weit vor­aus und wur­de daher auch als Vor­bild vie­ler Wör­ter­buch­pro­jek­te her­an­ge­zo­gen, so etwa vom Gro­ßen Wör­ter­buch der deut­schen Spra­che des Duden­ver­lags (1976–1981).

Im Wes­ten wur­de das Werk zu DDR-Zei­ten kaum rezen­siert oder gar in sei­ner Bedeu­tung erkannt und gewürdigt. 

Wiki­pe­dia zum Wör­ter­buch der Deut­schen Gegen­warts­spra­che, 08.01.2024

Rena­te Schmidt arbei­te­te unter Hel­mut Schu­ma­chers „Lei­tung“ am Valen­z­wör­ter­buch: VALBU. Valen­z­wör­ter­buch deut­scher Ver­ben. Schu­ma­chers Bei­trag am gesam­ten Wör­ter­buch waren vier Arti­kel von ins­ge­samt 638. Sei­ne Arti­kel waren von schlech­ter Qua­li­tät. Rena­te Schmidt kor­ri­gier­te die­se Arti­kel und leg­te sie ihm wie­der hin. Er über­nahm die revi­dier­ten Fas­sun­gen ohne irgend­wel­che Ände­run­gen und ohne irgend­ei­nen Kom­men­tar. Wort­los. Rena­te hat noch als Rent­ne­rin das gan­ze Wör­ter­buch durch­ge­se­hen und alle Arti­kel kor­ri­giert. Als Erst­au­tor wird Schu­ma­cher geführt (Wer als Erst­au­tor genannt wird, ist in der Wis­sen­schaft wich­tig, weil die Lite­ra­tur­ver­zeich­nis­se nach Erst­au­toren sor­tiert sind.) Schuh­ma­cher war dann wegen schwe­rer Depres­sio­nen sechs Mona­te krank geschrie­ben. Er sag­te, Rena­te Schmidt habe ihn in die Depres­si­on getrie­ben. Tja, ist eben doof, wenn man nichts bei­trägt und das Weni­ge, was von einem kommt, dann auch noch falsch ist. Viel­leicht noch zum Hin­ter­grund: Rena­te ist die liebs­te Per­son der Welt, nie­mand, der Stress macht oder so. Das kön­nen sicher alle ehe­ma­li­gen Kolleg*innen bestä­ti­gen. Ein Kol­le­ge, der frü­her am IDS arbei­te­te und jetzt eine Pro­fes­sur anders­wo hat, hat mir mal gesagt, dass sich die Arbeits­at­mo­sphä­re am IDS durch die Ossis wesent­lich ver­bes­sert hat. Die Ossis gin­gen sogar mit Sekre­tä­rin­nen essen, was die Wes­sis nie im Leben gemacht hät­ten, obwohl sie 68er-Revo­luz­zer waren. Also alles sehr umgäng­li­che Men­schen, kein Grund für schlech­te Lau­ne. Schu­ma­chers Depres­si­on ist also wahr­schein­lich wirk­lich auf die Ein­sicht in die eige­ne Inkom­pe­tenz zurückzuführen. 

Auf der ers­ten Jah­res­ta­gung des IDS nach der Wen­de hat Prof. Dr. Hart­mut Schmidt, Rena­te Schmidts Mann, einen Vor­trag gehal­ten (Bei­trag im Jahr­buch). Danach kam ein Kol­le­ge aus dem Wes­ten zu ihr und lob­te den Vor­trag. Sie frag­te sich, wie­so er dazu zur Frau des Vor­tra­gen­den gekom­men war (Tja, doch etwas ande­re Rol­len­bil­der damals. Im Wes­ten.) und ant­wor­te­te: „Wir haben vie­le an unse­rem Insti­tut, die sol­che Vor­trä­ge hal­ten kön­nen.“. Das Gegen­über wuss­te nicht mehr wei­ter und das Gespräch war beendet.

Quellen

Alt, Peter André. 2019. Wen­de an Uni­ver­si­tä­ten und Biblio­the­ken: Vie­le DDR-Wis­sen­schaft­ler ver­lo­ren ihre Stel­le. Ber­li­ner Zei­tung. (https://www.berliner-zeitung.de/zukunft-technologie/wende-an-universitaeten-und-bibliotheken-viele-ddr-wissenschaftler-verloren-ihre-stelle-li.69910)

Fetsch, Wil­fried. Infor­ma­ti­on der Zen­tra­len Arbeits­grup­pe Geheim­nis­schutz zur pri­va­ten Nut­zung von Com­pu­tern. Bun­des­ar­chi­v/Sta­si-Unter­la­gen-Archiv. (https://www.stasi-mediathek.de/medien/information-der-zentralen-arbeitsgruppe-geheimnisschutz-zur-privaten-nutzung-von-computern/blatt/84/)

Hölt­schi, René. 2022. Von der DDR-Ver­gan­gen­heit zur Bewah­rung euro­päi­scher Sou­ve­rä­ni­tät: der Halb­lei­ter-Clus­ter Sili­con Sax­o­ny. Neue Züri­cher Zei­tung. Zürich. (https://www.nzz.ch/wirtschaft/silicon-saxony-halbleiter-oekosystem-mit-ddr-erbe-in-sachsen-ld.1693996)

Spie­gel. 1990. Drü­ben war es leich­ter. Der Spie­gel 13/1990. (https://www.spiegel.de/politik/drueben-war-es-leichter-a-548dc5bf-0002–0001-0000–000013499353)

taz. 1990. Zwei Bun­des­län­der erken­nen DDR-Abitur nicht an. taz 24.03.1990. (https://taz.de/Zwei-Bundeslaender-erkennen-DDR-Abitur-nicht-an/!1775240/)

Laut und leise

Mir ist etwas klar geworden.

Bei der Armee waren wir in gro­ßen Zim­mern unter­ge­bracht. Acht, zehn, zwölf Per­so­nen. Die muss­ten über Jah­re zusam­men leben. Mit­ein­an­der klar­kom­men. Es gab Radi­os. Die Laut­stär­ke muss­te aus­ge­han­delt wer­den. Manch­mal bat jemand dar­um, die Musik lei­ser zu stel­len. Da gab es einen Trick: Man dreh­te ein­fach noch lau­ter, sag­te „huch“ und dreh­te dann wie­der etwas zurück. Letzt­end­lich war es auf die­se Wei­se sogar lau­ter gewor­den, als es vor­her schon gewe­sen war.

Deut­sche Fah­nen haben mir schon immer Übel­keit berei­tet. Die Sach­sen begrüß­ten Kohl 1990 in einem Fah­nen­meer. Ich bin zusam­men­ge­zuckt, wenn die Wes­sis in den 90ern von Deutsch­land gespro­chen haben. 2006 war irgend­was mit Fuß­ball. Die Deut­schen waren froh und glück­lich. Über­all Fah­nen. Die Deut­schen waren nett zu ande­ren. Das war nur kurz. Bald dreh­te jemand wie­der lauter.

Nach der Wen­de. Asyl­be­wer­ber­hei­me brann­ten in Ost und West. Es war ent­setz­lich. Uner­träg­lich. 2015. Krieg in Syri­en. Vie­le Men­schen muss­ten flie­hen. Ange­la Mer­kel sag­te: „Wir schaf­fen das!“. Die BILD-Zei­tung war soli­da­risch mit den Flücht­lin­gen. Ich rieb mir ver­wun­dert die Augen. In der Schu­le mei­ner Kin­der sam­mel­ten die Men­schen Anzieh­sa­chen und ande­re Din­ge, die man den Flücht­lin­gen geben konn­te. Medi­ka­men­te. Men­schen nah­men die Flücht­lin­ge bei sich zu hau­se auf. Vier Jah­re spä­ter wur­de ein Poli­ti­ker erschos­sen, weil er 2015 Mensch­lich­keit gezeigt hat­te. 2023 drang die Poli­zei mit gro­ßem Krach in eine Kir­che ein und been­de­te das Kirchenasyl.

Seit den 70ern weiß man vom Treib­haus­ef­fekt. Hier und da kam etwas in den Medi­en vor. Kon­fe­ren­zen fan­den statt. Eine Umwelt­mi­nis­te­rin schrieb 1997 ein Buch, in dem alles klar gesagt wur­de. Sie wur­de spä­ter Kanz­le­rin, ver­ant­wort­lich für Pil­le­pal­le (ihre eige­nen Wor­te). 2018 sorg­te eine Schü­le­rin dafür, dass die Mensch­heit Notiz von dem Pro­blem nahm. Mil­lio­nen Men­schen gin­gen auf die Stra­ße. Es gab Hoff­nung. Bei den Wah­len 2021 gab es eine Par­tei, die bei 12% lag, eine Par­tei mit einem Clown als Kan­di­dat und die Par­tei, die den Grund zur Hoff­nung gab. Der Clown hat sich selbst ins Aus gelacht, die Par­tei der Hoff­nung wur­de mas­siv bekämpft, so dass letzt­end­lich die 12%-Partei mit dem Typ mit der Rau­te gewann. Die Pil­le­pal­le-Poli­tik wur­de fort­ge­setzt. Der Machen-Sie-sich-kei­ne-Sor­gen-Rau­te-Mann zer­stör­te ein Gesetz, das er in der Vor­gän­ger­re­gie­rung selbst mit aus­ge­ar­bei­tet hat­te. Es wur­de noch wärmer.

Das ist das Mus­ter. Es ist immer gleich. 

Es ist zu laut!

Einfach nicht mitmachen

Von mei­ner Frau wuss­te ich, dass sie in ihrer Fami­lie einen Wehr­machts­an­ge­hö­ri­gen hat­ten, der in Nor­we­gen Zivi­lis­ten erschie­ßen soll­te, den Befehl ver­wei­gert hat und selbst erschos­sen wurde.

Nun habe ich erfah­ren, dass ein Mit­glied mei­ner Fami­lie wegen Fah­nen­flucht erschos­sen wur­de. Kurz vor Kriegs­en­de war er eben­falls in Nor­we­gen nicht vom Aus­gang zurückgekehrt. 

Er war mit sei­ner nor­we­gi­schen Freun­din unter­ge­taucht. Er wur­de geschnappt und hin­ge­rich­tet. Was aus sei­ner Freun­din gewor­den ist, ist nicht bekannt. Viel­leicht haben sich die Wege mei­ner Fami­lie und der Fami­lie mei­ner Frau ja schon frü­her gekreuzt. Viel­leicht war ihrem Ver­wand­ten ja die Auf­ga­be zuge­dacht, die Freun­din mei­nes Ver­wand­ten zu ermor­den und er hat sich gewei­gert und ist selbst dafür gestorben.

Ich wüss­te gern mehr über die Umstän­de und Grün­de sei­ner Flucht, über die nor­we­gi­sche Fami­lie, die ein Kind ver­lo­ren hat.

In der Todes­nach­richt stand, dass Todes­an­zei­gen und Nach­ru­fe ver­bo­ten sind. Hier nun also sehr spät ein Nach­ruf für mei­nen Ver­wand­ten, der für sei­ne Lie­be gestor­ben ist. Er erscheint nicht in einer Zei­tung oder in einer Zeit­schrift, aber in dergleichen. 

Schlagersüßtafel und Klassenkeile

Nach dem Tod mei­nes Opas habe ich es oft bedau­ert, dass ich ihn nicht mehr zu sei­nem Leben befragt habe. Ich habe mei­ne Eltern gebe­ten, etwas aus ihren Erin­ne­run­gen auf­zu­schrei­ben, aber das wird wahr­schein­lich nichts. Ich muss sie fra­gen. Mich kann ich selbst fra­gen und ich kann auch Din­ge auf­schrei­ben. Ich habe beschlos­sen, das hier zu tun. Klei­ne Erin­ne­run­gen schaf­fen ein Bild unse­rer Ver­gan­gen­heit und ich möch­te, dass mei­ne Teil die­ses Bil­des sind, sonst schrei­ben ande­re unse­re Geschichte.

Schlagersüßtafel

Es gibt im Netz einen Ossi­la­den. Mit all dem Zeug, das ich nie mehr sehen woll­te. Es gab eine Kos­me­tik­se­rie, die hieß Action. Hm.

Schla­ger­süß­ta­fel! Konn­te man alles Mög­li­che mit machen nur nicht essen. Ich hat­te mit einem Kum­pel (C.) eine Tafel gekauft, weil wir dach­ten, dass da Bil­der von Schlagersänger*innen drin wären.1 Was für ne Ent­täu­schung. Wir haben dann Passant*innen vom Bal­kon aus damit bewor­fen. Irgend­wann kam ein Trupp Bau­ar­bei­ter. Die hat­ten offe­ne Farb­ei­mer auf einem Wagen. Die Scho­ko­la­de flog da rein. Splash. Sie fan­den es nicht gut und muss­ten gera­de noch gese­hen haben, wo die Scho­ko­la­de her­kam, obwohl wir uns urst schnell geduckt hat­ten. Sie kamen ins Haus zu uns hoch und klin­gel­ten Sturm. Ich dach­te mir, die machen ja das gan­ze Haus ver­rückt und stell­te die Klin­gel ab. Das war nicht so schlau, denn nun wuss­ten sie ja, dass sie an der rich­ti­gen Tür klin­gel­ten. Sie klopf­ten statt­des­sen. Damals waren die Woh­nungs­ein­gangs­tü­ren noch wenig wider­stands­fä­hi­ge Papp­tü­ren. Ich hat­te Angst. Auch um die Tür. Irgend­wann zogen sie ab. Wie immer haben die Nach­barn von unter uns mich an mei­ne Eltern verpetzt.

Die Siedlung

Den Klas­sen­ka­me­rad C. hab ich auch zu Hau­se besucht. Er wohn­te in einem Haus in der Sied­lung am Lin­den­ber­ger Weg und ich im Neu­bau (Es gab die „alten Neu­bau­ten“, die „Neu­bau­ten“ und die „neu­en Neu­bau­ten“. Wir wohn­ten in den „Neu­bau­ten“, die 1976 fer­tig gewor­den waren.) Die Fami­lie mei­nes Kum­pels hat­ten da noch Öfen und wir haben Wat­te ver­ko­kelt. Hat Spaß gemacht. 

Klassenkeile

Irgend­wann spä­ter gab es in unse­rer Klas­se eine Situa­ti­on, in der die Mäd­chen plötz­lich alle ein ande­res Mäd­chen B. schei­ße fan­den. Sie kam aus einer bil­dungs­fer­nen Fami­lie. Die Schul­klas­sen in mei­ner Schu­le bestan­den aus Schüler*innen, deren Eltern in der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten oder in den Kran­ken­häu­sern in Buch arbei­te­ten. In mei­ner Klas­se sind 8 von 31 Schüler*innen nach der ach­ten Klas­se abge­gan­gen. Zwei an die erwei­ter­te Ober­schu­le (Schli­e­mann und Hertz) und sechs Jun­gen in die Pro­duk­ti­on. Zu die­ser Zeit begann die nor­ma­le EOS ab der zehn­ten Klas­se. Die Schli­e­mann­schu­le war eine Spe­zi­al­schu­le mit Spra­chen­aus­rich­tung und die Hertz-Schu­le eine mit mathe­ma­tisch-natur­wis­sen­schaft­li­cher Aus­rich­tung. Die Klas­se war jeden­falls wild gemischt. Die Jungs, die die Klas­se ver­lie­ßen, waren zum Teil schon ein­mal sit­zen geblie­ben. Vie­le waren Früh­ent­wick­ler, super gut in Sport. Beim 100 Meter­lauf konn­te ich ihnen nur hinterhergucken.

An besag­tem Tag hat­te sich die gesam­te Klas­se gegen das Mäd­chen zusam­men­ge­tan. Heu­te wür­de das wohl alles unter Mob­bing lau­fen. B. soll­te Klas­sen­kei­le bekom­men. Ich habe ver­sucht zu ver­ste­hen, wie­so und war­um und habe gesagt, sie soll­ten sie mal in Ruhe las­sen. Das führ­te dazu, dass ich plötz­lich im Zen­trum des Inter­es­ses stand. Kei­ne Ahnung wie. Grup­pen­dy­na­mik halt. Ich weiß noch, dass es in der Turn­hal­le begann. Ich ging dann ein­fach los. Nach Hau­se. Die Klas­se kam mir hin­ter­her. Ich bin so ca. zehn Minu­ten gelau­fen, dann wur­de ich umstellt und eins der Mäd­chen nahm mei­nen Schul­ran­zen. Klassenkeile.

C. soll­te mich irgend­wie ver­hau­en. Wir stan­den in der Mit­te eines Krei­ses unse­rer Klas­sen­ka­me­ra­den. Ich habe ihn umfasst, sei­nen Ober­kör­per nach hin­ten gebo­gen und er fiel um. Ich nahm H. mei­ne Map­pe aus der Hand und ging nach Hau­se. Ich habe mich nicht umge­dreht. Sie sind mir nicht hin­ter­her gekom­men. Ich wüss­te gern, was sie gedacht und gesagt haben.

Zu Hau­se saß ich auf dem Sofa. Ich habe drei Stun­den lang gezit­tert. Es war kei­ne Mut­ter da und kein Vater. Wie auch, sie haben gear­bei­tet. Das war gut und nor­mal so. Ich glau­be, ich habe auch spä­ter nicht mit ihnen dar­über gesprochen.

Am nächs­ten Tag bin ich nor­mal in die Schu­le gegan­gen. Kann mich nicht erin­nern, dass die Vor­gän­ge vom Vor­tag the­ma­ti­siert wor­den wären. Auch nicht an Angst. Viel­leicht verdrängt. 

Ich habe gelernt, dass man als Ein­zel­ner auch etwas gegen eine Grup­pe aus­rich­ten kann. Dass es merk­wür­di­ge grup­pen­dy­na­mi­sche Pro­zes­se gibt.

Und eine nicht ganz erns­te Bemer­kung zum Schluss. Die Nach­ge­bo­re­nen fin­den ja, wir soll­ten jetzt mal 1968 im Osten machen und über unse­re Gewalt­er­fah­run­gen reden (Blog­post Gewalt­er­fah­run­gen und 1968 für den Osten). Das hier sind mei­ne Gewalt­er­fah­run­gen. Die­se sind natür­lich nicht gemeint. Es gab alle mög­li­chen Zwän­ge im Osten, mili­ta­ri­sier­ter Sport­un­ter­richt, Wehr­un­ter­richt, Ver­wei­ge­rung von Bil­dungs­mög­lich­kei­ten, wenn man nicht mit­ge­spielt hat usw. Nur ist das alles bekannt. Da muss man nichts aufarbeiten.

Berliner und Breschnew

Nach dem Tod mei­nes Opas habe ich es oft bedau­ert, dass ich ihn nicht mehr zu sei­nem Leben befragt habe. Ich habe mei­ne Eltern gebe­ten, etwas aus ihren Erin­ne­run­gen auf­zu­schrei­ben, aber das wird wahr­schein­lich nichts. Ich muss sie fra­gen. Mich kann ich selbst fra­gen und ich kann auch Din­ge auf­schrei­ben. Ich habe beschlos­sen, das hier zu tun. Klei­ne Erin­ne­run­gen schaf­fen ein Bild unse­rer Ver­gan­gen­heit und ich möch­te, dass mei­ne Teil die­ses Bil­des sind, sonst schrei­ben ande­re unse­re Geschichte.

Berliner

Es ist etwas Schlim­mes pas­siert! Ich woll­te gera­de beim Bäcker #Ber­li­ner kau­fen. Dazu muss man wis­sen: Wir in #Ber­lin sind gewalt­frei und kei­ne #Kan­ni­ba­len. Wir essen köst­li­che #Pfann­ku­chen und kei­ne Berliner.

Ich stand also vor der Ver­käu­fe­rin und dach­te dar­über nach, wie es denn sein kön­ne, dass ich Ber­li­ner zu die­sem Gebäck gesagt hat­te. Ich dreh­te mich um und schau­te auf die Wer­bung und frag­te sie, ob da tat­säch­lich „Ber­li­ner“ gestan­den hat­te. Aber nee, da stand „Pfann­ku­chen“.

Wer­be­pla­kat am Bäcker: Köst­li­che Pfann­ku­chen, Ber­lin 11.11.2023

Beim Raus­ge­hen hab ich’s dann ver­stan­den: Drau­ßen wur­de mit „Ber­li­ner“ und drin­nen mit „Pfann­ku­chen“ geworben.

Außen Ber­li­ner, innen Pfann­ku­chen. Wer­bung am Bäcker im Prenz­lau­er Berg, Ber­lin, 11.11.2023

Den­noch wer­de ich mir nie ver­zei­hen, dass ich das Wort „Ber­li­ner“ benutzt habe.

Ich habe von 1992–1993 in Edin­burgh stu­diert. Am Anfang, als wir noch kei­ne Woh­nung hat­ten, schlief ich in der Jugend­her­ber­ge. Bei der Anmel­dung in der Jugend­her­ber­ge mein­te der Mann an der Rezep­ti­on: „Ah, you’­re from Ber­lin. This is whe­re Ken­ne­dy said: ‘I am a donut.’“. Ich habe nicht ver­stan­den, was er woll­te. Ken­ne­dy hat­te natür­lich gesagt: „Ich bin ein Ber­li­ner!“. Das wuss­te ich.

Ken­ne­dy sagt: Ich bin ein Donut.

Aber ich habe das nicht mit Donuts zusam­men­be­kom­men, weil wir in Ber­lin zwar Ber­li­ner sind, aber kei­ne Ber­li­ner essen. Donuts ab und zu schon.

Übri­gens, lie­be Wes­sis, noch zum ers­ten Bild: Wir sind ver­rückt, aber wir sind nicht när­risch. Kar­ne­val wird hier nicht ver­stan­den und fin­det nicht statt. Wir sind das gan­ze Jahr über lustig.

Breschnew

Ges­tern vor 41 Jah­ren starb Leo­nid Bre­sch­new und heu­te vor 41 Jah­ren wur­de sein Tod bekannt. Wir woll­ten um 11:11 Par­ty machen und Pfann­ku­chen essen, aber irgend­wann um 10:00 wur­de ver­kün­det, dass Bre­sch­new gestor­ben war. Unser Phy­sik­leh­rer Herr F. hat geweint. Wir waren sau­er und etwas ver­wun­dert über Herrn Fs. Trauer.

Gewis­ser­ma­ßen als spä­te Rache ver­lin­ke ich eine Rede Bre­sch­news, die die Noto­ri­schen Refle­xe 1983 ver­tont haben. Sol­che Sachen lie­fen damals im SFB in der Sen­dung Dau­er­wel­le, die ich begeis­tert gehört und in Tei­len mit­ge­schnit­ten habe.

Noto­ri­sche Refle­xe — BREZHNEV RAP — 1983

Mauerfall

Vor 34 Jah­ren war es kalt und dun­kel. Ich hat­te weder einen Fern­se­her noch ein Tele­fon. Inter­net gab es nur zwi­schen zwan­zig Rech­nern in der Hum­boldt-Uni. Ich habe mich auf den nächs­ten Tag vor­be­rei­tet und bin dann früh schla­fen gegan­gen, weil die ers­te Vor­le­sung immer 7:30 anfing. Am Mor­gen bin ich wie immer um 6:00 auf­ge­stan­den. Beim Früh­stü­cken habe ich das Radio ein­ge­schal­tet. Rei­se­frei­heit. Man kann einen Pass bean­tra­gen. Gren­ze ist auf. In der Stra­ßen­bahn konn­te ich sehen, wer es wuss­te: Man­che waren ver­schla­fen wie immer, man­che hell wach. In der Uni kam mir Udo Kru­schwitz mit einer taz und einem Spie­gel ent­ge­gen und mein­te, dass man bis 8:00 noch ohne Pass rüber kön­ne. Da ich ja gera­de aus der Armee ent­las­sen wor­den war und mei­ne Chan­cen auf einen Pass als eher gering ein­schätz­te, bin ich mit zwei Kom­mi­li­to­nen sofort los. (Einer war G., einer der Söh­ne von Chris­toph Hein.)

Wir gin­gen am Trä­nen­pa­last (Fried­rich­stra­ße) rüber und fuh­ren mit der S‑Bahn in den Wes­ten. Aus der S‑Bahn konn­te man das Grenz­ge­biet sehen. Dort patrouil­lier­ten Grenz­pos­ten, als habe man ver­ges­sen, sie abzuschalten.

Ich weiß nicht, wie wir uns ori­en­tiert haben. An den Plä­nen in der S‑Bahn? Irgend­wie kamen wir jeden­falls nach Kreuz­berg und lie­fen dort durch die Stra­ßen. G. sprach ein­fach einen Typ mit Gitar­re an, wo den hier ein Ate­lier sei, wir wür­den gern ein paar Künst­ler ken­nen­ler­nen. Wir lan­de­ten in der Nau­nyn­stra­ße bei ein paar Künstler*innen, die gera­de früh­stück­ten. Sie erfuh­ren von uns, dass die Mau­er offen war. „Tach! Wir sind aus dem Osten. Die Mau­er ist weg und wir woll­ten mal gucken, was Ihr so macht.“ Es gab Kaf­fee und Scho­ko­la­de. Ich habe mich dar­über gewun­dert, dass ihr Zucker so fein war. Man konn­te ihn kaum von Salz unter­schei­den. Eine Male­rin habe ich spä­ter noch besucht und sie war auch bei uns bei einer Per­for­mance in mei­ner Woh­nung 1990.

Ich woll­te ins Rauch­haus, weil ich das von den Scher­ben-Lie­dern kann­te (Rauch-Haus-Song). Wir frag­ten in der Gegend vor einer Apo­the­ke eine Pun­ke­rin, die gera­de her­aus­kam, nach dem Weg. Als sie erfuhr, dass wir aus dem Osten waren, war sie so geplät­tet und erfreut, dass sie uns ihr Wech­sel­geld schenk­te. Wor­über sie dann selbst erstaunt war: „Ich hab noch nie jeman­dem zwei Mark geschenkt!“. Ich war dann mit ihr im Betha­ni­en. Das war inzwi­schen ein Wohn­pro­jekt vom Senat. Die Pun­ke­rin hat mir erzählt, dass sie da Strip­shows mit lau­ter Musik gemacht haben, um die Gren­zer abzulenken/zu ärgern. Ich habe sie noch ein paar Mal im Betha­ni­en besucht. Wir haben Kas­set­ten getauscht. Ich habe ihr Ölfar­be mit­ge­bracht und sie mir Tee besorgt (Im Osten gab es nur Gru­si­ni­schen Tee, auch Gru­sel­mi­schung genannt). Am Wochen­en­de nach Grenz­öff­nung war ich auch dort. Die Ossis ver­wüs­te­ten West-Ber­lin. Über­all über­quel­len­de Müll­ei­mer. Bana­nen­scha­len, Coca-Cola ver­schenk­te ihre Dosen palet­ten­wei­se vom Las­ter. Die Ossis stell­ten sich an. Kai­sers hat­te Las­ter mit Tüten mit Kaf­fee und Zeug drin. Die Ossis stell­ten sich an. Ich stand im Betha­ni­en am Fens­ter und mei­ne Bekann­te sag­te zu einem ande­ren Mann: „Oh, Gott, die Ossis kom­men.“ Der Mann war aus Isra­el und mein­te: „Deutsch­land wird in weni­ger als zwei Jah­ren wie­der­ver­ei­nigt sein.“ Mei­ne Ant­wort war: „Aber nie­mand will das!“. Er hat­te Recht, ich lag kom­plett daneben.

Wir gin­gen dann noch Begrü­ßungs­geld abho­len. Jede*r DDR-Bürger*in hat­te das Anrecht auf 100 West­mark. Wir waren in irgend­ei­ner Bank­fi­lia­le, aber deren Com­pu­ter­sys­tem war zusam­men­ge­bro­chen, weil alle Ossis Begrü­ßungs­geld haben woll­ten. Sie haben ein­fach so das Geld aus­ge­ge­ben und einen Ver­merk im Per­so­nal­aus­weis gemacht, damit die Men­schen das Begrü­ßungs­geld nicht ein zwei­tes Mal abho­len konn­ten. Man­che haben dann ihren Aus­weis ver­lo­ren oder mit dem Pass, den sie spä­ter bean­tragt haben, noch ein­mal das Geld abgeholt.

In Wiki­pe­dia steht dazu Folgendes:

Als nach dem Mau­er­fall alle DDR-Bür­ger in die Bun­des­re­pu­blik und nach West-Ber­lin rei­sen konn­ten, führ­te dies zu erheb­li­chen logis­ti­schen Pro­ble­men. Es kam kurz­zei­tig zu chao­ti­schen Sze­nen, so am ers­ten Mon­tag nach der Mau­er­öff­nung vor der Spar­kas­se in der Bad­stra­ße in Ber­lin-Gesund­brun­nen, am Moritz­platz in Ber­lin-Kreuz­berg oder am Zoo­lo­gi­schen Gar­ten in Ber­lin-Tier­gar­ten, als jeweils bis zu 10.000 DDR-Bür­ger gleich­zei­tig vor den Aus­zah­lungs­stel­len Schlan­ge stan­den, der Ver­kehr total zusam­men­brach und Poli­zei, Feu­er­wehr und Ret­tungs­diens­te auf­fuh­ren, um die Lage unter Kon­trol­le zu bringen.

Wiki­pe­dia­ein­trag zu Begrüßungsgeld

Bei uns lief es rela­tiv geord­net ab. =:-)

Abends war ich zurück. Fried­rich­stra­ße. Der S‑Bahnhof war voll. Gro­ßes Geschie­be. Ich hat­te Angst, dass ich nicht mehr zurück­kom­men wür­de. Plötz­lich ging irgend­wo eine gro­ße Tür in einer Wand auf und wir waren alle wie­der im Osten. Ein tol­ler Tag und ich war froh, wie­der zu hau­se zu sein mit der Aus­sicht, irgend­wann mal einen Rei­se­pass zu bekom­men. Es ging dann alles sehr schnell ….

Ausstellung: „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR.“

Ein Arti­kel in der taz über eine Aus­stel­lung im jüdi­schen Muse­um beginnt mit der Unter­über­schrift: „Jüdi­sche Lin­ke waren in der DDR will­kom­men. Obwohl sie ab 1933 vor den Nazis geflüch­tet waren, wur­den sie in der DDR bald anti­se­mi­tisch dis­kri­mi­niert.“ Die­se Kurz­zu­sam­men­fas­sung ist das, was vie­le Leser*innen als ein­zi­ges lesen. Sie ist falsch.

Hier eini­ge Passagen:

Die Geschich­te der Zadeks war kein Ein­zel­fall. Gemes­sen an der gerin­gen Zahl der in Sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne und in der DDR leben­den Jüdin­nen und Juden waren die­se über­pro­por­tio­nal oft in Füh­rungs­po­si­tio­nen ver­tre­ten. Das änder­te sich, als man 1948 damit begann, mas­si­ve Kon­trol­len aller Par­tei­mit­glie­der und Funk­ti­ons­trä­ger durchzuführen.

Hier wird zuerst fest­ge­hal­ten, dass Jüd*innen will­kom­men waren und dass sie, da es sich ja auch um ver­trau­ens­wür­di­ge Remigrant*innen han­del­te, in füh­ren­de Posi­tio­nen ein­ge­setzt wurden.

Dann schreibt Jens Win­ter von sta­li­nis­ti­schen Säuberungen:

Vor allem die „West­emi­gran­ten“ gerie­ten so ins Visier der Par­tei. Als West­emi­gran­ten bezeich­ne­te man die­je­ni­gen, die vor dem Natio­nal­so­zia­lis­mus zunächst in den Wes­ten geflo­hen oder in west­li­che Kriegs­ge­fan­gen­schaft gera­ten waren. Allein der Umstand der West­emi­gra­ti­on genüg­te, um in Ver­dacht zu gera­ten, ein „impe­ria­lis­ti­scher“ oder „ame­ri­ka­ni­scher Agent“ zu sein. Reich­te das zur Stüt­zung einer Ankla­ge nicht aus, warf man den Per­so­nen auch noch „Trotz­kis­mus“ oder „Zio­nis­mus“ vor.

Ohne Jüdin­nen und Juden expli­zit als Fein­de zu benen­nen, wur­den die­se de fac­to oft­mals zu den Opfern der bizar­ren Rei­ni­gungs­ri­tua­le, die wegen ihrer Eigen­lo­gik im Grun­de unab­schließ­bar waren.

Hier wird es inter­es­sant. Die Jüd*innen wur­den nicht als Fein­de benannt, was dar­an lie­gen könn­te, dass sie nicht als sol­che wahr­ge­nom­men wur­den. Und da es bei den Säu­be­run­gen auch um den Unter­schied zwi­schen Ost- und Westemigrant*innen ging (Osten = Mos­kau = gut und ver­trau­ens­wür­dig, Wes­ten = kapi­ta­lis­tisch und dubi­os), waren eben Jüd*innen, die aus dem Wes­ten zurück­ka­men in der Zeit der Säu­be­run­gen einem Gene­ral­ver­dacht aus­ge­setzt, so wie Nicht-Jüd*innen auch. 

Auch Ger­hard Zadek wur­de 1952 nach der Auf­lö­sung des Amts für Infor­ma­ti­on nach Meck­len­burg ver­setzt. Zu die­sem Zeit­punkt leb­te er gera­de erst fünf Jah­re wie­der in Deutsch­land. In Meck­len­burg soll­te er von nun an stell­ver­tre­tend das SED-Bezirks­or­gan Freie Erde lei­ten – eine Degra­die­rung. Als er 1953 trotz sei­nes Stu­di­ums auch noch Gie­ße­rei­ar­bei­ter wer­den soll­te, ver­wei­ger­te er sich. Er sat­tel­te um, stu­dier­te Patent­in­ge­nieur­we­sen und wur­de anschlie­ßend Direk­tor des VEB Schwer­ma­schi­nen­baus. Ali­ce Zadek wur­de zur Schu­lungs­lei­te­rin für die Natio­na­le Front herabgesetzt.

Die­se Pas­sa­ge zeugt von einer Unkennt­nis der DDR. In Ungna­de Gefal­le­ne wur­den nicht Direk­tor des VEB Schwer­ma­schie­nen­baus. Das war eine ver­ant­wor­tungs­vol­le Posi­ti­on und letzt­end­lich eine Reha­bi­li­ta­ti­on. Wenn es einen irgend­wie gear­te­ten struk­tu­rel­len Anti­se­mi­tis­mus gege­ben hät­te, wäre Ger­hard Zadek raus gewe­sen und nicht Direk­tor. Genau­so wenig wird man zur Schu­lungs­lei­te­rin für die Natio­na­le Front. Das wur­den nur voll­stän­dig ins Sys­tem inte­grier­te Personen.

Auch waren nicht aus­schließ­lich Jüdin­nen und Juden von den Säu­be­run­gen betrof­fen, jedoch häu­fig. Oste­mi­gran­ten blie­ben dage­gen in der Regel ver­schont, auch wenn sie jüdisch waren.

Hier schreibt Jens Win­ter es selbst. Ger­hard und Ali­ce Zadek waren nach Lon­don emi­griert und als West­emi­gran­ten ver­däch­tig. Der Arti­kel ist, wie vie­le, ten­den­zi­ös mit einer irre­füh­ren­den Über­schrift. Die wil­li­ge Leser*in kann die Details aber immer­hin im Text fin­den und sich dann über die Wider­sprüch­lich­keit wundern. 

In der Aus­stel­lung im Jüdi­schen Muse­um kom­men Par­tei­kon­troll­ver­fah­ren und ihre Eigen­lo­gik lei­der zu kurz. Dabei wäre es sinn­voll gewe­sen, gera­de hier genau­er hin­zu­se­hen, um ein Bild von der Viel­ge­stal­tig­keit des Anti­se­mi­tis­mus zu ver­mit­teln. Auch hät­te das The­ma die Mög­lich­keit gebo­ten, die­se in die­ser Form spe­zi­fi­sche his­to­ri­sche Ver­bin­dung von Kom­mu­nis­mus und Anti­se­mi­tis­mus aufzuzeigen.

Wie schon in einer ers­ten Bespre­chung durch einen ande­ren Autor wirft der Autor die­ses Arti­kels dem Jüdi­schen (!!) Muse­um vor, nicht noch mehr Anti­se­mi­tis­mus gefun­den zu haben. Viel­leicht liegt es ein­fach dar­an, dass es ihn abge­se­hen von den sta­li­nis­ti­schen Pro­zes­sen in den 50er Jah­ren nicht gab.

Max Kaha­ne wird ange­spro­chen, aber es wird glatt unter­schla­gen, wie Max Kaha­nes Leben nach der Ablö­sung 1952 im Zusam­men­hang mit den Pro­zes­sen in der CSSR wei­ter ver­lief. Max Kaha­ne war ganz oben mit dabei. Er hat­te 1949 ADN gegrün­det. Nach 1952 hat er im Aus­land Pro­zes­se beglei­tet (Eich­mann), war Lei­ter des NDs und somit die rötes­te Socke im gan­zen Land. Wiki­pe­dia lis­tet die fol­gen­den Aus­zeich­nun­gen auf:

  • 1956: Hans-Beim­ler-Medail­le der DDR – als ehe­ma­li­ger Kämp­fer der Inter­na­tio­na­len Brigaden
  • 1959: Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den der DDR (Sil­ber)
  • 1961: Franz-Meh­ring-Ehren­na­del des Ver­ban­des der Jour­na­lis­ten der DDR
  • 1970: Vater­län­di­scher Ver­dienst­or­den der DDR (Gold)
  • 1974: Ehren­span­ge zum Vater­län­di­schen Verdienstorden

In mei­nem Bei­trag „Der Ossi und der Holo­caust“ gebe ich eine Lis­te von jüdi­schen Per­so­nen an, die in der DDR höchst ange­se­hen waren und in Kul­tur, Wis­sen­schaft oder Poli­tik wich­ti­ge Posi­tio­nen innehatten.

Die Sache mit dem Anti­se­mi­tis­mus in der DDR ist Quatsch. Die DDR all­ge­mein war anti­re­li­gi­ös. Christ*innen konn­ten in der SED kei­ne Kar­rie­re machen, weil Reli­gi­on als Opi­um für’s Volk galt. Das galt nicht für Jüd*innen, wobei die meis­ten ohne­hin nicht reli­gi­ös waren. Die Hal­tung zu Isra­el war kri­tisch, weil Isra­el im ande­ren Block war. Ich weiß, dass es man­chen schwer fällt, das aus­ein­an­der­zu­hal­ten, aber aus einer kri­ti­schen Hal­tung gegen­über Isra­el von einem Ost­block­staat folgt nicht unbe­dingt Antisemitismus.

Im Arti­kel wird eine Sen­dung im Deutsch­land­funk zitiert. Zwei Braschs (Mari­on, Lena) unter­hal­ten sich mit Peter Kaha­ne. Mari­on Brasch berich­tet, wie sie als Jung­pio­nier 1974 den PLO-Chef Yas­sir Ara­fat am Wer­bel­lin­see begrüßt hat. Ihre Mut­ter mein­te: „Wenn der wüss­te, dass Du Jüdin bist.“. Für mich ist das ein wei­te­res Zei­chen dafür, dass das Jüdisch­sein in der DDR über­haupt kei­ne Rol­le gespielt hat. Es war für den Staats­ap­pa­rat kein Pro­blem ein Kind aus einer jüdi­schen Fami­lie den Chef der Paläs­ti­nen­si­schen Befrei­ungs­or­ga­ni­sa­ti­on begrü­ßen zu las­sen. Die Fami­lie Brasch war sehr bekannt (der Vater Horst Brasch war Kul­tur­mi­nis­ter) und jeder wuss­te, dass es sich um eine jüdi­sche Fami­lie han­del­te, also war es auch den zustän­di­gen Orga­nen bekannt, wer da wen begrüßte.

Quellen

Hol­ler­sen, Wieb­ke. 2023. Jüdisch in der DDR: Eine Rei­se zu den „kaputt­ge­gan­ge­nen Träu­men“ der Eltern. Ber­li­ner Zei­tung. Ber­lin. (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/juedisch-in-der-ddr-eine-reise-zu-den-kaputt-gegangenen-traeumen-der-eltern-im-juedischen-museum-berlin-li.386242) 06.09.2023