Wenn Ihr wissen wollt, was viele Ossis aufregt, dann lest diesen Beitrag in der taz: Den Radikalisierungsmotor stoppen. Gareth Joswig schreibt über Nazis von der Jungen Alternative in Bayern:
Wie radikal die Junge Alternative ist, haben vorletzte Samstagnacht wieder einige ihrer Mitglieder beim Feiern nach einem Parteitag im mittelfränkischen Greding in Bayern zur Schau gestellt. Eine Gruppe von bis zu 30 Personen grölte tanzend in einer Diskothek den stumpfen Neonazi-Slogan: „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“
Soweit so gut, aber dann geht es weiter:
– also exakt jene Parole, die Neonazis 1993 bei den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen riefen, während sie Brandsätze auf ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter warfen.
Was soll das? Lichtenhagen hat in dem ganzen Artikel nichts zu suchen. Was Gareth Joswig hier macht, vielleicht unbewusst, ist zu sagen: Ach gucke, die Bayern sind Nazis, aber die Ossis sind noch viel schlimmer. Obwohl das aktuell für den Artikel nicht der Punkt ist. Solches Ossi-Bashing kommt immer wieder zur Selbstentlastung und ist so was wie Whataboutism oder auch diese Hufeisen-Geschichte: Immer wenn jemand auf die Rechten schimpft, wird auch gleich mal kräftig auf die Linken geschimpft.
Inhaltlich ist es grober Unfug, den Ossis diesen Spruch anheften zu wollen. Wenn man mal bei Google-Books nachguckt, wie diese Phrasen verwendet werden, dann findet man … Überraschung.
Die Phrase „Ausländer raus“ gab es ab 1973 in Buch-Publikationen. (Nebenbemerkung: Den Ossis wird immer erklärt, dass es im Osten Faschismus und Rassismus gäbe, weil es dort kein 1968 gegeben habe. Deshalb ist es natürlich interessant zu sehen, dass die Ausländerfeindlichkeit erst nach 1968 auftrat.)
Am häufigsten war die Phrase um 1992.
Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen fanden im August 1992 statt. Da Bücher eine gewisse Vorlaufzeit haben, bis sie in den Druck und den Handel gehen, dürfte der Höhepunkt der Verwendung ein bis zwei Jahre vor den Ausschreitungen gelegen haben. Das heißt der Spruch geht nicht auf die pöbelnden bepissten Ost-Nazis aus Lichtenhagen zurück, sondern war schon vorher weit verbreitet. Man kann sich die Stellen in den Publikationen auch ansehen, indem man unten auf die Jahreszahlen klickt. Man findet dann Publikationen, die sich mit Ausländerhass beschäftigen.
„Gastarbeiter raus!“ in Arbeit und Arbeitsrecht von 1976.
Hier ein Ausschnitt aus einem 1984 erschienen Buch:
Die Parole wird Anfang der 80er in vielen Publikationen im Zusammenhang mit der NPD diskutiert.
Wir können uns noch mal den Stand zur Wende angucken.
1982 gab es ein Hoch, das dann aber 1989 noch übertroffen wurde. Ein Drittel des Höchstwertes von 1992 war 1989 bereits erreicht. Und es dürfte klar sein, dass die entsprechenden Publikationen nicht in der DDR erschienen sind. In der DDR gab es auch einige Nazis (viel, viel weniger und anders als im Westen nicht in leitenden Funktionen), aber diese hatten keinen Zugriff auf Druckereien. Es konnte nur gedruckt werden, was vom Staat genehmigt wurde. Es gab nicht genug Papier und eben auch nur staatliche Druckereien. Umweltgruppen haben in kleinen Auflagen Untergrundblätter produziert (siehe Umwelt-Bibliothek in Berlin). Von Nazis ist mir nichts dergleichen bekannt und die entsprechenden Druckerzeugnisse dürften es auch nicht zu Google Books geschafft haben. Wenn es die Phrase in Ost-Büchern gegeben haben sollte, dann wohl höchstens als Reflex der Vorgänge und Entwicklungen im Westen. Offiziell war Völkerverständigung und Völkerfreundschaft die Linie im Osten.
Das heißt, von der Phrase „Ausländer raus!“ die irgendwelche besoffenen Jung-Nazis in Bayern grölen, einen Schwenk nach Lichtenhagen zu machen, ist tendenziös und faktenfrei.
In dem Beitrag Geheimplan gegen Deutschland berichtet Correctiv über ein Geheimtreffen von Nazis und Firmeninhabern zum Thema Remigration. Es geht um die Deportation von 20 Millionen Deutschen. Deutsche mit Migrationshintergrund und auch Andersdenkenden. Ich habe mir, wie immer (siehe Der Ossi ist nicht demokratiefähig? Merkt Ihr’s noch?) , den Spaß gemacht, nachzuschauen, wo die Akteure herkommen.
Correctiv gibt folgende Übersicht über die beim Geheimtreffen anwesenden Personen:
AfD
Roland Hartwig (geb. Berlin, 1973 Abitur in Heilbronn), rechte Hand der Parteichefin Alice Weidel
Manche ihrer Überzeugungen habe Mathilda Huss aber nicht einmal in diesen Videos geteilt, sagten mehrere Zeugen ZEIT ONLINE. So soll Huss vergangenes Jahr im kleinen Kreis behauptet haben, dass sich die industrielle Revolution negativ auf den Menschen ausgewirkt habe. Durch die stark gesunkene Kindersterblichkeit würden seither zu viele schwache Kinder überleben, was den Genpool der Menschheit belaste.
Zeit über Huss
Mathilda Huss und Dr. Wilhelm Wilderink sind ein paar und in der Familie gibt es „das eine oder andere Schlößchen“. Das ist bei Ossis eher nicht der Fall, woraus man wohl schließen kann, dass sie auch aus dem Westen ist.
Die Wissenschaftlerin Mathilda Huss und ihr Ehemann, der Jurist Wilhelm Wilderink, sind die neuen Besitzer der Villa Adlon. Sie haben das Haus, das Louis Adlon 1925 für sich und seine zweite Frau Hedda am Lehnitzsee bauen ließ, im März 2011 gekauft und wollen es so detailgetreu wie möglich rekonstruieren. „Wir haben ein Faible für geschichtsträchtige Gemäuer“, sagt Mathilda Huss. „Mein Mann ist in einer alten Klosteranlage aufgewachsen. In meiner Familie gibt es das eine oder andere Schlösschen – wir sind mit dem Thema groß geworden und wissen, dass es eine Herausforderung ist, in alter Bausubstanz so zu leben, dass es funktioniert.“
Henning Pless (Kiel, rechtsextremer Heilpraktiker und Esoteriker)
Ein IT-Unternehmer und Blut-und-Boden-Nazi
Ein Neurochirurg aus Österreich
Zwei Angestellte des Hotels
Nachträge
In diversen späteren Publikationen werden noch folgende Personen genannt:
Hans-Ulrich Kopp (Stuttgart, Funktionär in rechtsextremen Organisationen, rechter Publizist, Verleger von rechtsextremer Literatur und Werken von Papst Benedikt und Bauunternehmer, Artikel taz, 26.01.2024)
Von den 22 genannten Personen (ohne Personal) sind 17 aus dem Westen/Österreich und einer aus dem Osten. Bei zweien sind die Angaben ungenau, so dass man die Herkunft nicht ermitteln kann. Bei zweien ist die Herkunft noch unklar, aber es sind wahrscheinlich auch Wessis (Immobilienmaklerin).
Man sagt, Fehler zu begehen, sei nicht dumm. Nur denselben Fehler zum zweiten Mal zu begehen sei dumm. Ich habe denselben Fehler bzw. dieselbe Art Fehler zweimal begangen. Ich habe etwas nicht gelernt, von dem ich davon ausgegangen bin, dass ich es nicht brauchen würde. Im Leben, nicht in der Prüfung.
Die erste Prüfung war die Fahrprüfung. Ich konnte die Fahrerlaubnis für LKW machen, obwohl (mir) klar war, dass ich nie im Leben LKW fahren würde. Es gibt Verkehrsschilder, die nur für LKW relevant sind. Ich habe sie einfach ignoriert. Leider waren diese dann in der Fahrprüfung relevant.
Ein ähnlich gelagerter Fall war die Prüfung in Analysis. Prof. Bank hat mit uns den Satz von der impliziten Funktion besprochen. Der Beweis ging über 1 1/2 Vorlesungen von je 90 Minuten. Stefan dachte sich: Ein Beweis von 135 Minuten kann in einer Prüfung mit 30 Minuten Länge unmöglich drankommen. Die Prüfungen waren so aufgebaut, dass man zuerst in einem Nebenraum Aufgaben lösen musste und dann gab es eine mündliche Prüfung. Ich bekam ein paar Differentialgleichungen und Integrale zu lösen und das war alles kein Problem. In der mündlichen Prüfung war die Frage: „Nennen Sie den Satz von der impliziten Funktion mit all seinen Voraussetzungen und skizzieren sie den Beweis!“ Da ich darauf überhaupt nicht vorbereitet war, kannte ich die neun Voraussetzungen nicht und da ein Beweis nur funktioniert, wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, konnte ich somit auch den Beweis nicht verstanden haben. Das war das Ende der Prüfung.
Beim Nachprüfungstermin fragte mich Prof. Bank, ob ich zum Aufwärmen wieder Aufgaben haben wolle. Ich bejahte, da ich Differentialgleichungen und Integrale wirklich sehr gut lösen konnte. Ich hatte mich schließlich gut vorbereitet. Die Aufgabe war: „Geben Sie den Satz von der impliziten Funktion mit all seinen Voraussetzungen an.“ Ich habe acht von neun Voraussetzungen zusammenbekommen. Wir haben uns dann noch ein bisschen über andere Bereiche der Analysis unterhalten und Prof. Bank meinte dann: „Na, gut! Ich gebe Ihnen die Vier. Ich will sie hier nie mehr sehen.“ Ich mochte ihn.
Den zweiten Teil der Analysisvorlesung hatten wir dann bei Prof. März. Die Prüfung bei ihr lief sehr gut. In der DDR gab es ein Studienbuch, in das die Lehrenden die Ergebnisse eintrugen. Beim Eintragen sah sie das Ergebnis der ersten Prüfung und meinte: „Huch, was haben Sie denn hier gemacht?“ Ich war sehr froh, dass sie nicht vor der Prüfung ins Heftchen geschaut hatte. Das hätte eventuell das Ergebnis verfälscht.
In der Wendezeit hatte ich Probleme mit meinen Dozent*innen. Ich konnte es einfach nicht verstehen, dass sie einfach weiter ihre Mathematik betrieben, ohne ein einziges Wort zu dem Chaos zu sagen, dass uns umgab. Die Mathematik war clean, sauber. Sie funktionierte nach 89 genauso wie vorher. Ich fand das entsetzlich. Steril. Tot. Ich habe mir dann etwas gesucht, das auch komplex ist, aber krumm und schief: Sprache. Das Ergebnis ständiger Verhandlungen, Ausbalancierungen von Sprecher*innen (oder Sprechern, wie wir damals sagten). Der einzige Mensch, der etwas sagte, der einzige Mensch, der anders war, der keine Angst hatte, war Bernd Bank. Er hatte einen schwarzen Mantel an und einen roten Stern an der Mütze. Er war Trotzkist. Ich mochte ihn.
Ich habe das Studium in vier Jahren inklusive Auslandsjahr beendet. Über diverse Umwege bin ich 2016 wieder an der Humboldt-Universität gelandet. Als externes Mitglied war ich in einer Berufungskommission in den Erziehungswissenschaften und bin dort mit jemandem zusammengekommen, der mit Bernd Bank im Präsidium zusammengearbeitet hat. Bank war nach der Wende Vizepräsident. Meine Bekannte hat mir erzählt, dass Bank sich mitunter mit „Römisch-katholische Dampfbäder der Humboldt-Universität“ am Telefon gemeldet hat. Ich mag diese Geschichte.
Bernd Bank ist vor einigen Tagen gestorben. Die Telefonzentrale der Römisch-katholischen Dampfbäder der Humboldt-Universität ist jetzt nicht mehr besetzt.
Nachtrag
Beim Nachdenken über den Post ist mir klar geworden, dass ich denselben Fehler sogar dreimal gemacht habe. Ich bin für die Wiederholungsprüfung wahrscheinlich davon ausgegangen, dass der Satz über die implizite Funktion nicht mehr drankommt, weil der ja schon dran war. Entweder hatte Bank gedacht, dass ich denken könnte, dass das Thema jetzt durch ist, oder er fand den Satz so wichtig, dass er noch mal fragen wollte. Im ersten Fall wäre das so eine Art Prüfungsschach und er hätte gewonnen. Ich mag ihn deswegen.
Übrigens ist es vielen Hertz-Schülern so gegangen, dass sie im ersten Studienjahr durch die Prüfungen gefallen sind. Wir hatten den Stoff des ersten Studienjahrs schon in der Schule und weil wir alles schon kannten, haben wir die Prüfungen unterschätzt.
Ich habe das hervorragende Buch von Lutz SeilerStern 111 gelesen. Es handelt von einem jungen Mann aus Gera, der nach Berlin aufbricht, nachdem seine Eltern am Tag der Maueröffnung in den Westen gegangen sind. Das Schicksal seiner Eltern in Aufnahmelagern und bei ersten Jobs wird beschrieben. Folgenden Ausschnitt habe ich mir markiert und auch auf Mastodon gepostet:
Ohne Zweifel gab es Kursteilnehmer, die über UNIX ein paar Dinge fragen konnten, die Walter Bischoff nicht wusste. Sie ließen es ihn spüren, sie versuchten, es ihm zu beweisen. „Das Wichtigste wird sein, dass niemand erfährt, woher du kommst, eigentlich“ — das hatte Karajan gesagt, Cheftrainer von CTZ. Karajan hatte Walter gezeigt, wie das Kursmaterial beschaffen sein sollte, welche Technik ihn vor Ort erwarten und wie sie gehandhabt werden musste. Das Aufwendigste waren die Folien für den Overhead-Projektor. Jeder Kurs war eine Folienwüste. „Ein Ostler, verstehst du, Walter — viele ertrügen das nicht, bei 1000 Mark Kursgebühr pro Tag“, hatte Karajan gesagt.
Lutz Seiler, 2020: Stern 111, Suhrkamp
Diese Abwertung und Arroganz. Sowohl durch den Chef der Ausbildungsfirma als auch durch die Auszubildenden. Ich selbst habe diese Abwertung nie erfahren, aber die Mehrheit der Ostdeutschen wohl schon. Viele Westdeutsche wundern sich, warum die Dinge so laufen, wie sie jetzt laufen, aber sie verstehen immer noch nichts.
Bei der Diskussion auf Mastodon hat mich jemand auf einen Podcast hingewiesen, in dem Andreas Baum und Andi Arbeit über Stern 111 sprechen. Andi Arbeit äußert dann irgendwann folgendes:
Und ich glaub, bei so Akademikereltern stellt sich dann ja auch raus, dass der Vater – wie man sich kaum vorstellen kann – irgendwelche Programmiersprachen kann, mit denen er dann bis in LA irgendwelche wilden Software-Programme irgendwie entwirft und wo man sich auch fragt: Mein Gott, woher konnte der das? In Jena oder irgendwo in irgend ner Uni hat er dann C+ oder C++, ich weiß auch nicht genau, wie die heißt, alles Mögliche gelernt, was ihn dazu befähigt hat, überhaupt dieses Leben zu führen.
Hätte ich nicht beim Abwaschen gestanden, wäre ich wohl vom Stuhl gefallen. Über dreißig Jahre später kommt da dieselbe Arroganz zum Vorschein, die es auch 1989 gab und die im Buch beschrieben ist. Und Andi Arbeit hat es wahrscheinlich nicht einmal selbst bemerkt. Mein Gott, woher konnte der das? Als Ossi! C+ oder C++ oder wie das heißt. Das kann man sich ja kaum vorstellen, dass irgendeiner von diesem nichtsnutzigen Pack zu irgendwas gut war.
Mal schnell noch zwischendurch, bevor wir zum eigentliche Inhalt hier kommen. In der Syntax von C und auch anderen Programmiersprachen gibt es eine Nachfolgerfunktion. Man kann also statt c = c + 1; auch c = c++; oder einfach gleich c++; schreiben. Damit wird der Wert der Variable c um eins erhöht. Die Programmiersprache C++ ist der Nachfolger von C. Eine Weiterentwicklung.
Also: Also! Los.
Karl Marx und ich
Über Karl Marx haben wir in der Schule gelernt, dass er acht Sprachen konnte. Ich habe mich als junger Mann darüber gefreut, dass ich mehr Sprachen als Marx beherrschte. Die meisten davon waren allerdings Computersprachen. Ich konnte BASIC, Pascal (Turbo Pascal), C, C++, ReDaBas (Ost-Kopie von DBASE) und forth. Außerdem konnte ich Z80 Assembler programmieren. Ich kannte mich mit CP/M und Unix aus und hatte mit programmierbaren Taschenrechnern von Texas Instruments (Umgekehrte Polnische Notation, yes), Home-Computern (ZX81, C20, C64, C128, Z9001, KC 85/2) und an russischen Prozessrechnern wie der SM‑4 (Nachbau der PDP-11 von DEC) gearbeitet. Alles noch vor dem Studium. Wie war es mir nur gelungen, dieses Wissen zu erwerben? Als Ossi????
Homecomputer und Computerclubs
In den 80er Jahren kamen die ersten Homecomputer auf. Der ZX80 kostete 100£ und das Nachfolgemodell, der ZX81, fand auch seinen Weg nach Ostdeutschland. Liebe Westverwandte brachten einen mit, manche Arbeitsgruppen hatten solche Westgeräte. Später fand der C64 auch in ostdeutschen Kinderzimmern weite Verbreitung. Mit meinem Freund Peer bekam ich einen Ferienjob bei einem Wissenschaftler in einer Lungenklinik in Buch. Er hatte zwei C64 und auch das Vorgängermodell Commodore VC20. Unser Job war es, Programme aus der Zeitschrift 64er einzugeben. Diese Maschinenspracheprogramme waren dort in Hexadezimalcode abgedruckt. Endlose Zeichenkolonnen. Wozu die Lungenklinik Computerspiele brauchte, war uns nicht ganz klar, aber wir durften die Programme dann auch selbst haben und bekamen noch Geld. Diese Programme bildeten den Grundstock eines Tauschimperiums für Computerspiele, die dann im Haus der Jungen Talente in größeren Tauschkreisen noch vermehrt wurden (Don’t ask about copyrights. War halt ne Mauer dazwischen.). Der Punkt ist: Es gab West-Computer, es gab West-Zeitschriften, die bis zur absoluten Materialermüdung gelesen und weitergegeben wurden. Es gab auch Computer-Bücher von Data-Becker zum Beispiel, die von hilfsbereiten Omas oder Opas über die Grenze gebracht wurden. Es gab Computerclubs und es gab Veranstaltungen für Schüler*innen, bei denen man auch programmieren lernen konnte. Diese Heimcomputer hatten meist einen BASIC-Interpreter dabei, so dass alle BASIC lernen konnten.
Nachtrag 22.07.2024: Peer hat Stasi-Unterlagen zur Computerszene in der DDR gefunden. Diese bestätigen sehr schön, was ich hier geschrieben habe und geben auch Zahlen zum Umfang der Szenen. Die Stasi spricht von zehntausenden Computerbesitzern.
Universitäten und Forschungseinrichtungen
Meine Mutter hat Astrophysik studiert, mein Vater Physik. Im Rahmen des Astrophysikstudiums wurden die Student*innen auf dem Zeiss-Rechenautomat 1 (ZRA1) ausgebildet. Mein Vater hat, obwohl das eigentlich nur für die Astrophysiker*innen Pflicht war, auch in dieser Veranstaltung programmieren gelernt. Das war 1964/1965. Während der Mütterkur nach meiner Geburt 1968 lernte meine Mutter COBOL. Sie war nicht ganz sicher, welche Programmiersprache sie brauchen würde. Es stellte sich heraus, dass das die falsche Sprache gewesen war und sie Fortran brauchte, aber auch das war dann kein Problem. Über 20 Jahre später, nach der Wende, wurde meine Mutter entlassen. Sie arbeitete dann in der Weiterbildung für Frauen und brachte ihnen Programmieren bei. In COBOL. Meine Eltern arbeiteten beide an der Akademie der Wissenschaften in der Molekularbiologie an einem Großrechner, der BESM‑6. Noch während der DDR-Zeit lernte meine Mutter auch BASIC und C. Meine Eltern hatten in der Akademie der Wissenschaften Zugriff auf die Fachzeitschriften aus dem Westen. Mein Vater hat zu hause mit einem programmierbaren Taschenrechner von Texas Instruments gearbeitet, den sein Schwiegervater aus dem Westen mitgebracht hatte. Programme wurden auf Magnetkarten gespeichert. Mein Vater konnte MOPS (Maschinenorientierte Programmiersprache für den Robotron 300), alle Fortran-Varianten und Algol 60.
Meine Mutter hat mich auch schon als Schüler zu Kollegen mitgenommen, die Computer zusammen gebaut haben. Ich erinnere mich an Büros mit offenen Computern, wo ich die Platinen sehen konnte. Die Laufwerke.
Ich hatte das Glück, auf die Spezialschule mit mathematisch-naturwissenschaftlicher Ausrichtung Heinrich-Hertz gehen zu können. Dort hatten wir zu Beginn (1982) ebenfalls programmierbare Taschenrechner von Texas Instruments. Später kamen Z9001 dazu, die ersten Heimcomputer der DDR. Die Heinrich-Hertz-Schule ist sogar im Wikipedia-Artiekl über den Z9001 erwähnt. Unser Computerkabinett wurde mit Computern aus den ersten 100 Stück ausgestattet. Mit diesen Rechnern hatten wir speziellen Informatikunterricht, den es an anderen Schulen nicht gab. Wir lernten Grundlagen wie bestimmte Algorithmen und Programmablaufpläne. Mit Peer bekam ich eine Einzelbetreuung im Rechenzentrum der Humboldt-Uni. Wir konnten direkt am Hauptcomputer der HU arbeiten, was die Student*innen zu der Zeit nicht durften. Sie mussten Lochkarten stanzen und diese dann zum Rechnen abgeben. In der elften und zwölften Klasse gab es ein Unterrichtsfach Wissenschaftlich-praktische Arbeit. Die Hertz-Schule hatte Verträge mit dem Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse der DDR (ZKI). Peer, ich und ein Junge aus der Nachbarklasse konnten in der UNIX-Arbeitsgruppe arbeiten. Sie arbeiten an MUTOS. Das war eine UNIX-Variante, die ihren Weg über Österreich-Ungarn in den Ostblock gefunden hatte. Embargotechnik, aber für Geld … Im ZKI habe ich C gelernt. Der Wissenschaftler, der es mir beigebracht hat, meinte zu BASIC: „Wer BASIC gelernt hat, ist versaut für’s Leben!“ Ich habe dann die Arbeit am ZKI der Arbeit im Rechenzentrum der HU vorgezogen, denn die Rechner im ZKI waren besser. Der theoretische Teil in der HU war aber toll. In der HU wurde auch das folgende Dokument ausgedruckt:
Das war eine Version des Standard-Buches über C von Kernighan & Ritchie aus dem Jahre 1978. Es wurde für mich auf einem Paralleldrucker ausgedruckt. Der Drucker hatte Typenräder und es wurde je eine Zeile gedruckt. Leider waren die Typenräder nicht gut synchronisiert. Das wurde aber durch das Ruckeln der Straßenbahnen ausgeglichen.
Im ZKI konnten Peer und ich die Bibliothek benutzen und hatten darüber Zugriff auf Computer und Wissenschaftszeitschriften (mc – Die Mikrocomputer-Zeitschrift, c’t, Chip, Bild der Wissenschaft). Die aktuellen Ausgaben waren oft ausgeliehen, aber wir lasen auch alte Ausgaben gern. Peer sorgte auch dafür, dass wir an die Fachzeitschriften in der Berliner Stadtbibliothek drankamen: Nach einem Briefwechsel inklusive Leserbrief an die Berliner Zeitung hatten wir irgendwann ein Gespräch mit dem Direktor der Bibliothek. Ich habe dort als Schüler auch Bücher über die Grundlagen der Hardware von Computern gelesen. Diese Bücher waren ganz normal für alle auch ohne Sondergenehmigung ausleihbar.
Bei der Armee konnte ich dann letztlich auch mit Computern arbeiten. Ich habe mit Redabas (ein geklautes Ostblock-DBASE) und dann mit Turbo-Pascal gearbeitet. Um in die Computergruppe reinzukommen (lief wohl irgendwie über die ZKI-Connection, die Kontakte nach Strausberg hatten, wo auch MUTOS verwendet wurde), musste ich nachweisen, dass ich das entsprechende Wissen hatte. Ich arbeite nach Dienst an einem Programm für den KC85/2 in Assembler. Die KC85/2 hatten einen U880-Prozessor. Das war die Ost-Variante des Z80.
Zusammenfassung: Es gab im Osten Computer. Die liefen mit denselben Programmiersprachen wie im Westen. Wir hatten Zugriff auf die West-Literatur. Mitunter lief die Literaturbeschaffung etwas holperig, aber man kam dran. Mitunter waren die Ausdrucke etwas holperig, aber man kam zurecht. Wissenschaftler*innen aus ganz verschiedenen Disziplinen haben mit Computern gearbeitet. Allein in meiner Familie war es Physik, Astrophysik, Molekularbiologie, Kristallografie. Das Militär hatte Computer. Nach der Wende arbeitet ich als Studentische Hilfskraft bei der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung für Computerlinguistik von Prof. Jürgen Kunze. Die Arbeitsgruppe gab es – soweit ich weiß – seit den 70er Jahren. Sie hatten Computer und haben diese programmiert. Überraschung.
Informatik als eigenes Fach gab es erst relativ spät. Es gab ab 1987 an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Studiengang für Mathematische Informatik. Das war das komplette Mathestudium plus zusätzliche Informatikkurse. In diesem Studiengang habe ich 1989 angefangen zu studieren. In Dresden gab es noch technische Informatik. Dort ging es mehr um die Hardware von Computern.
In Frankfurt/Oder gab es ein Halbleiterwerk, das den Osten versorgt hat. Es brach zusammen, am Tag der Währungsunion, weil der Ostblock keine West-Währung bezahlen konnte. In Sachsen gab es ebenfalls Halbleiter-Industrie. Die NZZ schreibt zur Zeit nach der Wende:
In den 1990er Jahren habe man deshalb die richtigen Fachkräfte gefunden, und die Universitäten seien darauf ausgerichtet gewesen, diese Fachkräfte auszubilden.
Das heißt, es gab qualifiziertes Personal und es gab Universitäten, die die Menschen ausgebildet haben.
Nachtrag 22.07.2024: In den schon erwähnten Stasi-Unterlagen werden auch Besitzer privater Computer erwähnt, die einen beruflichen EDV-Hintergrund haben.
Das sind nur die Personen, die zusätzlich zu ihrer Arbeit mit Computern auch privat über einen Computer verfügten. Obwohl meine Eltern beide mit Rechnern arbeiteten, hatten sie bis auf einen programmierbaren Taschenrechner keine privaten Computer. Das heißt, die Zahl der Personen mit EDV-Berufen war größer.
Schulbildung
Die Schulbildung war im naturwissenschaftlichen Bereich besser als die im Westen. Sagt man. Mein Sohn hatte einen guten Mathelehrer, der auch schon zu Ostzeiten Lehrer war. Er hat zur Vorbereitung auf die MSA-Prüfung die Schüler*innen Aufgaben für die Prüfung nach der 10. Klasse in der DDR rechnen lassen. Mein Sohn meinte, dass die viel, viel schwieriger waren als die aktuellen Aufgaben.
Im Einigungsvertrag wurden alle Ost-Abitur-Abschlüsse um eine Note heruntergestuft. Ich stelle mir gerade vor, wie der West-Verhandlungsführer, dessen Name ich vergessen habe, mit dem Ost-Verhandlungsführer, dessen Name ich vergessen habe, gesprochen hat: „Also, Herr X, Sie müssen schon einsehen, dass die Ossis alle ein bisschen döofer als die Wessis sind.“ „Ja, ehm, hm, Herr Y, da haben sie schon Recht. Wäre es ok, wenn wir die Abiturnoten aller Ossis um eine halbe Note nach unten korrigieren?“ „Nein, die sind noch viel döofer. Also das muss mindestens eine ganze Note sein.“ „Ok.“ (Mister X zu sich selber: „Sag ich doch, die sind doof.“)
Aber jetzt mal Spaß beiseite. Die empirische Grundlage dieses Beschlusses würde mich schon interessieren. Wie wurden die Vergleichsstichproben bestimmt? So?
Aber das kann es nicht gewesen sein, denn diese Form der Bestenermittlung fand erst statt, als der Einigungsvertrag unter Dach und Fach war.
Das Ergebnis war jedenfalls, dass alle Ossis schon mal schlechtere Chancen hatten, wenn sie sich mit Westlern messen mussten. Und das mussten viele. Millionen haben nach der Wende das Land (den Osten) verlassen, denn sie wurden dort arbeitslos, weil ihre Betriebe geschlossen wurden oder sie einfach aus den Universitäten und den Forschungseinrichtungen rausgeworfen wurden. („Von den 218.000 Wissenschaftlern der ehemaligen DDR verlor die Hälfte ihre Stelle. Bei den Professoren waren es nach Zahlen der britischen Zeitschrift Nature sogar zwei Drittel.“ Peter André Alt, Berliner Zeitung, 06.11.2019)
Es gab übrigens zwei Schulen im Osten, deren Abitur nicht abgewertet wurde. Eine davon war meine. Ich bin also nicht betroffen. Ich bin also kein Jammer-Ossi. Bis 2013 war mir das ganze Ost-Thema Wumpe. Die DDR war nichts meins, ich habe ihr nicht nachgeweint. Ich bin Professor, mir geht es gut. Bis 2019 habe ich auch nichts gesagt. Jetzt spreche ich für andere. Ich hoffe, irgendwer versteht das und irgendwem nützt das.
Nachtrag 08.01.2024. Es gab Nachfragen bezüglich der Herabstufung der Abiturnoten. Im Einigungsvertrag war das nicht geregelt, aber ich habe zwei Artikel zu dem Thema gefunden. Einen im Spiegel (Drüben war es leichter) und einen in der taz (Zwei Bundesländer erkennen DDR-Abitur nicht an). Noch zum Hintergrund: In der DDR konnten pro Klasse zwei bis drei Schüler*innen Abitur machen, wobei die Klassenstärke um die 30 lag.
In unseren Klassen erhielten von knapp dreißig Kindern gerade mal zwei bis drei eine Empfehlung für die Erweiterte Oberschule, so dass Lehrer gut daran taten, frühzeitig zu signalisieren, wen sie dafür im Auge hatten.
Mau, Steffen, 2019, Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp Verlag S. 55.
In meiner Klasse waren 31 Schüler*innen. Die Studienplatzvergabe erfolgte nach volkswirtschaftlichem Bedarf. Wenn man einen Studienplatz bekommen hat, hatte man dann auch die Arbeitsstelle sicher. Das war ganz anders, als das im Westen ist, wo es hunderte Student*innen im Bereich Literaturwissenschaft und habilitierte Taxifahrer*innen gibt.
Zusammenfassung
Liebe Wessis, wir wussten alles über Euch. Wir fanden Euch interessant. Euer Leben haben wir im Fernsehen gesehen und das der Amis. Wir haben Eure Bücher gelesen. Die Romane und die Fachbücher. Das war noch viel spannender, wenn sie schwer zu bekommen waren. Wir wussten alles über Euch, aber Ihr nichts über uns. Und das ist zum Teil leider auch über 30 Jahre nach dem Anschluss der DDR immer noch so. Shame on you. Also jedenfalls on ein paar von Euch. On those, who immer noch solchen Müll in Zeitungen schreiben, in Podcasts sagen oder sonst wie verbreiten. Wundert Euch nicht, wenn das keiner mehr will bzw. immer noch keiner will.
Und noch etwas: Redet über uns, als wären wir dabei. Das reicht vielleicht schon. Wobei, Andreas Baum ist ja aus dem Osten und Andi Arbeit hat dennoch so gesagt, was sie gesagt hat.
Immerhin haben ja alle bis zum Ende gelesen. =:-) Stay tuned, bis zum nächsten Rant.
Nachgedanken
Mir fallen immer noch nachträglich Dinge ein. Zum Thema „doofe Ossis“ noch drei Punkte: 1) Prof. Dr. Manfred Bierwisch war der erste Deutsche, der im Rahmen von Chomskys Transformationsgrammatik gearbeitet hat. Und zwar ab 1959, lange, lange vor dem Westen. Jahrzehnte. Bierwisch hat 1963 die erste Transformationsanalyse des Deutschen vorgestellt. Es gibt ein tolles Gespräch mit Bierwisch über die gesamte DDR-Zeit und darüber, wie die Entwicklung der Arbeitsgruppen verlief. Viele bekannte Westler haben die Gruppe im Osten besucht (Prof. Dr. Dieter Wunderlich war einer davon. In Wikipedia steht auch, dass Wunderlich über Bierwisch zur Generativen Grammatik kam.)
2) Die sogenannte Akademie-Grammatik von 1981 Grundzüge einer deutschen Grammatik hat Standards gesetzt. Die Duden-Grammatik aus dieser Zeit war … nun ja. Ab 2005 ist sie sehr gut.
3) Renate Schmidt, eine gute Bekannte, hat an der Akademie der Wissenschaften an Wörterbüchern gearbeitet. Nach der Wende wurde die Akademie der Wissenschaften der DDR abgewickelt. 22 Ossis wurden vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim übernommen. Renates Chef Helmut Schumacher begrüßte die Neuen und versprach ihr, ihr das Erstellen von Wörterbüchern beizubringen. Sie hatte aber schon an fünf Wörterbüchern mitgearbeitet. Zum Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache steht in Wikipedia:
Das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (WDG) wurde in Berlin an der Deutschen Akademie der Wissenschaften (ab Oktober 1972: Akademie der Wissenschaften der DDR) zwischen 1952 und 1977 unter der Leitung von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz erarbeitet. Das Wörterbuch erschien in 6 Bänden und wurde bis zum Ende der DDR bandweise versetzt nachgedruckt. Das WDG umfasst über 4.500 Seiten und enthält knapp 100.000 Stichwörter. In Konzeption und Quellenauswahl war es seiner Zeit weit voraus und wurde daher auch als Vorbild vieler Wörterbuchprojekte herangezogen, so etwa vom Großen Wörterbuch der deutschen Sprache des Dudenverlags (1976–1981).
Im Westen wurde das Werk zu DDR-Zeiten kaum rezensiert oder gar in seiner Bedeutung erkannt und gewürdigt.
Wikipedia zum Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache, 08.01.2024
Renate Schmidt arbeitete unter Helmut Schumachers „Leitung“ am Valenzwörterbuch: VALBU. Valenzwörterbuch deutscher Verben. Schumachers Beitrag am gesamten Wörterbuch waren vier Artikel von insgesamt 638. Seine Artikel waren von schlechter Qualität. Renate Schmidt korrigierte diese Artikel und legte sie ihm wieder hin. Er übernahm die revidierten Fassungen ohne irgendwelche Änderungen und ohne irgendeinen Kommentar. Wortlos. Renate hat noch als Rentnerin das ganze Wörterbuch durchgesehen und alle Artikel korrigiert. Als Erstautor wird Schumacher geführt (Wer als Erstautor genannt wird, ist in der Wissenschaft wichtig, weil die Literaturverzeichnisse nach Erstautoren sortiert sind.) Schuhmacher war dann wegen schwerer Depressionen sechs Monate krank geschrieben. Er sagte, Renate Schmidt habe ihn in die Depression getrieben. Tja, ist eben doof, wenn man nichts beiträgt und das Wenige, was von einem kommt, dann auch noch falsch ist. Vielleicht noch zum Hintergrund: Renate ist die liebste Person der Welt, niemand, der Stress macht oder so. Das können sicher alle ehemaligen Kolleg*innen bestätigen. Ein Kollege, der früher am IDS arbeitete und jetzt eine Professur anderswo hat, hat mir mal gesagt, dass sich die Arbeitsatmosphäre am IDS durch die Ossis wesentlich verbessert hat. Die Ossis gingen sogar mit Sekretärinnen essen, was die Wessis nie im Leben gemacht hätten, obwohl sie 68er-Revoluzzer waren. Also alles sehr umgängliche Menschen, kein Grund für schlechte Laune. Schumachers Depression ist also wahrscheinlich wirklich auf die Einsicht in die eigene Inkompetenz zurückzuführen.
Auf der ersten Jahrestagung des IDS nach der Wende hat Prof. Dr. Hartmut Schmidt, Renate Schmidts Mann, einen Vortrag gehalten (Beitrag im Jahrbuch). Danach kam ein Kollege aus dem Westen zu ihr und lobte den Vortrag. Sie fragte sich, wieso er dazu zur Frau des Vortragenden gekommen war (Tja, doch etwas andere Rollenbilder damals. Im Westen.) und antwortete: „Wir haben viele an unserem Institut, die solche Vorträge halten können.“. Das Gegenüber wusste nicht mehr weiter und das Gespräch war beendet.
Bei der Armee waren wir in großen Zimmern untergebracht. Acht, zehn, zwölf Personen. Die mussten über Jahre zusammen leben. Miteinander klarkommen. Es gab Radios. Die Lautstärke musste ausgehandelt werden. Manchmal bat jemand darum, die Musik leiser zu stellen. Da gab es einen Trick: Man drehte einfach noch lauter, sagte „huch“ und drehte dann wieder etwas zurück. Letztendlich war es auf diese Weise sogar lauter geworden, als es vorher schon gewesen war.
Deutsche Fahnen haben mir schon immer Übelkeit bereitet. Die Sachsen begrüßten Kohl 1990 in einem Fahnenmeer. Ich bin zusammengezuckt, wenn die Wessis in den 90ern von Deutschland gesprochen haben. 2006 war irgendwas mit Fußball. Die Deutschen waren froh und glücklich. Überall Fahnen. Die Deutschen waren nett zu anderen. Das war nur kurz. Bald drehte jemand wieder lauter.
Nach der Wende. Asylbewerberheime brannten in Ost und West. Es war entsetzlich. Unerträglich. 2015. Krieg in Syrien. Viele Menschen mussten fliehen. Angela Merkel sagte: „Wir schaffen das!“. Die BILD-Zeitung war solidarisch mit den Flüchtlingen. Ich rieb mir verwundert die Augen. In der Schule meiner Kinder sammelten die Menschen Anziehsachen und andere Dinge, die man den Flüchtlingen geben konnte. Medikamente. Menschen nahmen die Flüchtlinge bei sich zu hause auf. Vier Jahre später wurde ein Politiker erschossen, weil er 2015 Menschlichkeit gezeigt hatte. 2023 drang die Polizei mit großem Krach in eine Kirche ein und beendete das Kirchenasyl.
Seit den 70ern weiß man vom Treibhauseffekt. Hier und da kam etwas in den Medien vor. Konferenzen fanden statt. Eine Umweltministerin schrieb 1997 ein Buch, in dem alles klar gesagt wurde. Sie wurde später Kanzlerin, verantwortlich für Pillepalle (ihre eigenen Worte). 2018 sorgte eine Schülerin dafür, dass die Menschheit Notiz von dem Problem nahm. Millionen Menschen gingen auf die Straße. Es gab Hoffnung. Bei den Wahlen 2021 gab es eine Partei, die bei 12% lag, eine Partei mit einem Clown als Kandidat und die Partei, die den Grund zur Hoffnung gab. Der Clown hat sich selbst ins Aus gelacht, die Partei der Hoffnung wurde massiv bekämpft, so dass letztendlich die 12%-Partei mit dem Typ mit der Raute gewann. Die Pillepalle-Politik wurde fortgesetzt. Der Machen-Sie-sich-keine-Sorgen-Raute-Mann zerstörte ein Gesetz, das er in der Vorgängerregierung selbst mit ausgearbeitet hatte. Es wurde noch wärmer.
Von meiner Frau wusste ich, dass sie in ihrer Familie einen Wehrmachtsangehörigen hatten, der in Norwegen Zivilisten erschießen sollte, den Befehl verweigert hat und selbst erschossen wurde.
Nun habe ich erfahren, dass ein Mitglied meiner Familie wegen Fahnenflucht erschossen wurde. Kurz vor Kriegsende war er ebenfalls in Norwegen nicht vom Ausgang zurückgekehrt.
Er war mit seiner norwegischen Freundin untergetaucht. Er wurde geschnappt und hingerichtet. Was aus seiner Freundin geworden ist, ist nicht bekannt. Vielleicht haben sich die Wege meiner Familie und der Familie meiner Frau ja schon früher gekreuzt. Vielleicht war ihrem Verwandten ja die Aufgabe zugedacht, die Freundin meines Verwandten zu ermorden und er hat sich geweigert und ist selbst dafür gestorben.
Ich wüsste gern mehr über die Umstände und Gründe seiner Flucht, über die norwegische Familie, die ein Kind verloren hat.
In der Todesnachricht stand, dass Todesanzeigen und Nachrufe verboten sind. Hier nun also sehr spät ein Nachruf für meinen Verwandten, der für seine Liebe gestorben ist. Er erscheint nicht in einer Zeitung oder in einer Zeitschrift, aber in dergleichen.
Nach dem Tod meines Opas habe ich es oft bedauert, dass ich ihn nicht mehr zu seinem Leben befragt habe. Ich habe meine Eltern gebeten, etwas aus ihren Erinnerungen aufzuschreiben, aber das wird wahrscheinlich nichts. Ich muss sie fragen. Mich kann ich selbst fragen und ich kann auch Dinge aufschreiben. Ich habe beschlossen, das hier zu tun. Kleine Erinnerungen schaffen ein Bild unserer Vergangenheit und ich möchte, dass meine Teil dieses Bildes sind, sonst schreiben andere unsere Geschichte.
Schlagersüßtafel
Es gibt im Netz einen Ossiladen. Mit all dem Zeug, das ich nie mehr sehen wollte. Es gab eine Kosmetikserie, die hieß Action. Hm.
Schlagersüßtafel! Konnte man alles Mögliche mit machen nur nicht essen. Ich hatte mit einem Kumpel (C.) eine Tafel gekauft, weil wir dachten, dass da Bilder von Schlagersänger*innen drin wären.1 Was für ne Enttäuschung. Wir haben dann Passant*innen vom Balkon aus damit beworfen. Irgendwann kam ein Trupp Bauarbeiter. Die hatten offene Farbeimer auf einem Wagen. Die Schokolade flog da rein. Splash. Sie fanden es nicht gut und mussten gerade noch gesehen haben, wo die Schokolade herkam, obwohl wir uns urst schnell geduckt hatten. Sie kamen ins Haus zu uns hoch und klingelten Sturm. Ich dachte mir, die machen ja das ganze Haus verrückt und stellte die Klingel ab. Das war nicht so schlau, denn nun wussten sie ja, dass sie an der richtigen Tür klingelten. Sie klopften stattdessen. Damals waren die Wohnungseingangstüren noch wenig widerstandsfähige Papptüren. Ich hatte Angst. Auch um die Tür. Irgendwann zogen sie ab. Wie immer haben die Nachbarn von unter uns mich an meine Eltern verpetzt.
Die Siedlung
Den Klassenkamerad C. hab ich auch zu Hause besucht. Er wohnte in einem Haus in der Siedlung am Lindenberger Weg und ich im Neubau (Es gab die „alten Neubauten“, die „Neubauten“ und die „neuen Neubauten“. Wir wohnten in den „Neubauten“, die 1976 fertig geworden waren.) Die Familie meines Kumpels hatten da noch Öfen und wir haben Watte verkokelt. Hat Spaß gemacht.
Klassenkeile
Irgendwann später gab es in unserer Klasse eine Situation, in der die Mädchen plötzlich alle ein anderes Mädchen B. scheiße fanden. Sie kam aus einer bildungsfernen Familie. Die Schulklassen in meiner Schule bestanden aus Schüler*innen, deren Eltern in der Akademie der Wissenschaften oder in den Krankenhäusern in Buch arbeiteten. In meiner Klasse sind 8 von 31 Schüler*innen nach der achten Klasse abgegangen. Zwei an die erweiterte Oberschule (Schliemann und Hertz) und sechs Jungen in die Produktion. Zu dieser Zeit begann die normale EOS ab der zehnten Klasse. Die Schliemannschule war eine Spezialschule mit Sprachenausrichtung und die Hertz-Schule eine mit mathematisch-naturwissenschaftlicher Ausrichtung. Die Klasse war jedenfalls wild gemischt. Die Jungs, die die Klasse verließen, waren zum Teil schon einmal sitzen geblieben. Viele waren Frühentwickler, super gut in Sport. Beim 100 Meterlauf konnte ich ihnen nur hinterhergucken.
An besagtem Tag hatte sich die gesamte Klasse gegen das Mädchen zusammengetan. Heute würde das wohl alles unter Mobbing laufen. B. sollte Klassenkeile bekommen. Ich habe versucht zu verstehen, wieso und warum und habe gesagt, sie sollten sie mal in Ruhe lassen. Das führte dazu, dass ich plötzlich im Zentrum des Interesses stand. Keine Ahnung wie. Gruppendynamik halt. Ich weiß noch, dass es in der Turnhalle begann. Ich ging dann einfach los. Nach Hause. Die Klasse kam mir hinterher. Ich bin so ca. zehn Minuten gelaufen, dann wurde ich umstellt und eins der Mädchen nahm meinen Schulranzen. Klassenkeile.
C. sollte mich irgendwie verhauen. Wir standen in der Mitte eines Kreises unserer Klassenkameraden. Ich habe ihn umfasst, seinen Oberkörper nach hinten gebogen und er fiel um. Ich nahm H. meine Mappe aus der Hand und ging nach Hause. Ich habe mich nicht umgedreht. Sie sind mir nicht hinterher gekommen. Ich wüsste gern, was sie gedacht und gesagt haben.
Zu Hause saß ich auf dem Sofa. Ich habe drei Stunden lang gezittert. Es war keine Mutter da und kein Vater. Wie auch, sie haben gearbeitet. Das war gut und normal so. Ich glaube, ich habe auch später nicht mit ihnen darüber gesprochen.
Am nächsten Tag bin ich normal in die Schule gegangen. Kann mich nicht erinnern, dass die Vorgänge vom Vortag thematisiert worden wären. Auch nicht an Angst. Vielleicht verdrängt.
Ich habe gelernt, dass man als Einzelner auch etwas gegen eine Gruppe ausrichten kann. Dass es merkwürdige gruppendynamische Prozesse gibt.
Und eine nicht ganz ernste Bemerkung zum Schluss. Die Nachgeborenen finden ja, wir sollten jetzt mal 1968 im Osten machen und über unsere Gewalterfahrungen reden (Blogpost Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten). Das hier sind meine Gewalterfahrungen. Diese sind natürlich nicht gemeint. Es gab alle möglichen Zwänge im Osten, militarisierter Sportunterricht, Wehrunterricht, Verweigerung von Bildungsmöglichkeiten, wenn man nicht mitgespielt hat usw. Nur ist das alles bekannt. Da muss man nichts aufarbeiten.
Nach dem Tod meines Opas habe ich es oft bedauert, dass ich ihn nicht mehr zu seinem Leben befragt habe. Ich habe meine Eltern gebeten, etwas aus ihren Erinnerungen aufzuschreiben, aber das wird wahrscheinlich nichts. Ich muss sie fragen. Mich kann ich selbst fragen und ich kann auch Dinge aufschreiben. Ich habe beschlossen, das hier zu tun. Kleine Erinnerungen schaffen ein Bild unserer Vergangenheit und ich möchte, dass meine Teil dieses Bildes sind, sonst schreiben andere unsere Geschichte.
Berliner
Es ist etwas Schlimmes passiert! Ich wollte gerade beim Bäcker #Berliner kaufen. Dazu muss man wissen: Wir in #Berlin sind gewaltfrei und keine #Kannibalen. Wir essen köstliche #Pfannkuchen und keine Berliner.
Ich stand also vor der Verkäuferin und dachte darüber nach, wie es denn sein könne, dass ich Berliner zu diesem Gebäck gesagt hatte. Ich drehte mich um und schaute auf die Werbung und fragte sie, ob da tatsächlich „Berliner“ gestanden hatte. Aber nee, da stand „Pfannkuchen“.
Beim Rausgehen hab ich’s dann verstanden: Draußen wurde mit „Berliner“ und drinnen mit „Pfannkuchen“ geworben.
Dennoch werde ich mir nie verzeihen, dass ich das Wort „Berliner“ benutzt habe.
Ich habe von 1992–1993 in Edinburgh studiert. Am Anfang, als wir noch keine Wohnung hatten, schlief ich in der Jugendherberge. Bei der Anmeldung in der Jugendherberge meinte der Mann an der Rezeption: „Ah, you’re from Berlin. This is where Kennedy said: ‘I am a donut.’“. Ich habe nicht verstanden, was er wollte. Kennedy hatte natürlich gesagt: „Ich bin ein Berliner!“. Das wusste ich.
Aber ich habe das nicht mit Donuts zusammenbekommen, weil wir in Berlin zwar Berliner sind, aber keine Berliner essen. Donuts ab und zu schon.
Übrigens, liebe Wessis, noch zum ersten Bild: Wir sind verrückt, aber wir sind nicht närrisch. Karneval wird hier nicht verstanden und findet nicht statt. Wir sind das ganze Jahr über lustig.
Breschnew
Gestern vor 41 Jahren starb Leonid Breschnew und heute vor 41 Jahren wurde sein Tod bekannt. Wir wollten um 11:11 Party machen und Pfannkuchen essen, aber irgendwann um 10:00 wurde verkündet, dass Breschnew gestorben war. Unser Physiklehrer Herr F. hat geweint. Wir waren sauer und etwas verwundert über Herrn Fs. Trauer.
Gewissermaßen als späte Rache verlinke ich eine Rede Breschnews, die die Notorischen Reflexe 1983 vertont haben. Solche Sachen liefen damals im SFB in der Sendung Dauerwelle, die ich begeistert gehört und in Teilen mitgeschnitten habe.
Vor 34 Jahren war es kalt und dunkel. Ich hatte weder einen Fernseher noch ein Telefon. Internet gab es nur zwischen zwanzig Rechnern in der Humboldt-Uni. Ich habe mich auf den nächsten Tag vorbereitet und bin dann früh schlafen gegangen, weil die erste Vorlesung immer 7:30 anfing. Am Morgen bin ich wie immer um 6:00 aufgestanden. Beim Frühstücken habe ich das Radio eingeschaltet. Reisefreiheit. Man kann einen Pass beantragen. Grenze ist auf. In der Straßenbahn konnte ich sehen, wer es wusste: Manche waren verschlafen wie immer, manche hell wach. In der Uni kam mir Udo Kruschwitz mit einer taz und einem Spiegel entgegen und meinte, dass man bis 8:00 noch ohne Pass rüber könne. Da ich ja gerade aus der Armee entlassen worden war und meine Chancen auf einen Pass als eher gering einschätzte, bin ich mit zwei Kommilitonen sofort los. (Einer war G., einer der Söhne von Christoph Hein.)
Wir gingen am Tränenpalast (Friedrichstraße) rüber und fuhren mit der S‑Bahn in den Westen. Aus der S‑Bahn konnte man das Grenzgebiet sehen. Dort patrouillierten Grenzposten, als habe man vergessen, sie abzuschalten.
Ich weiß nicht, wie wir uns orientiert haben. An den Plänen in der S‑Bahn? Irgendwie kamen wir jedenfalls nach Kreuzberg und liefen dort durch die Straßen. G. sprach einfach einen Typ mit Gitarre an, wo den hier ein Atelier sei, wir würden gern ein paar Künstler kennenlernen. Wir landeten in der Naunynstraße bei ein paar Künstler*innen, die gerade frühstückten. Sie erfuhren von uns, dass die Mauer offen war. „Tach! Wir sind aus dem Osten. Die Mauer ist weg und wir wollten mal gucken, was Ihr so macht.“ Es gab Kaffee und Schokolade. Ich habe mich darüber gewundert, dass ihr Zucker so fein war. Man konnte ihn kaum von Salz unterscheiden. Eine Malerin habe ich später noch besucht und sie war auch bei uns bei einer Performance in meiner Wohnung 1990.
Ich wollte ins Rauchhaus, weil ich das von den Scherben-Liedern kannte (Rauch-Haus-Song). Wir fragten in der Gegend vor einer Apotheke eine Punkerin, die gerade herauskam, nach dem Weg. Als sie erfuhr, dass wir aus dem Osten waren, war sie so geplättet und erfreut, dass sie uns ihr Wechselgeld schenkte. Worüber sie dann selbst erstaunt war: „Ich hab noch nie jemandem zwei Mark geschenkt!“. Ich war dann mit ihr im Bethanien. Das war inzwischen ein Wohnprojekt vom Senat. Die Punkerin hat mir erzählt, dass sie da Stripshows mit lauter Musik gemacht haben, um die Grenzer abzulenken/zu ärgern. Ich habe sie noch ein paar Mal im Bethanien besucht. Wir haben Kassetten getauscht. Ich habe ihr Ölfarbe mitgebracht und sie mir Tee besorgt (Im Osten gab es nur Grusinischen Tee, auch Gruselmischung genannt). Am Wochenende nach Grenzöffnung war ich auch dort. Die Ossis verwüsteten West-Berlin. Überall überquellende Mülleimer. Bananenschalen, Coca-Cola verschenkte ihre Dosen palettenweise vom Laster. Die Ossis stellten sich an. Kaisers hatte Laster mit Tüten mit Kaffee und Zeug drin. Die Ossis stellten sich an. Ich stand im Bethanien am Fenster und meine Bekannte sagte zu einem anderen Mann: „Oh, Gott, die Ossis kommen.“ Der Mann war aus Israel und meinte: „Deutschland wird in weniger als zwei Jahren wiedervereinigt sein.“ Meine Antwort war: „Aber niemand will das!“. Er hatte Recht, ich lag komplett daneben.
Wir gingen dann noch Begrüßungsgeld abholen. Jede*r DDR-Bürger*in hatte das Anrecht auf 100 Westmark. Wir waren in irgendeiner Bankfiliale, aber deren Computersystem war zusammengebrochen, weil alle Ossis Begrüßungsgeld haben wollten. Sie haben einfach so das Geld ausgegeben und einen Vermerk im Personalausweis gemacht, damit die Menschen das Begrüßungsgeld nicht ein zweites Mal abholen konnten. Manche haben dann ihren Ausweis verloren oder mit dem Pass, den sie später beantragt haben, noch einmal das Geld abgeholt.
In Wikipedia steht dazu Folgendes:
Als nach dem Mauerfall alle DDR-Bürger in die Bundesrepublik und nach West-Berlin reisen konnten, führte dies zu erheblichen logistischen Problemen. Es kam kurzzeitig zu chaotischen Szenen, so am ersten Montag nach der Maueröffnung vor der Sparkasse in der Badstraße in Berlin-Gesundbrunnen, am Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg oder am Zoologischen Garten in Berlin-Tiergarten, als jeweils bis zu 10.000 DDR-Bürger gleichzeitig vor den Auszahlungsstellen Schlange standen, der Verkehr total zusammenbrach und Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste auffuhren, um die Lage unter Kontrolle zu bringen.
Wikipediaeintrag zu Begrüßungsgeld
Bei uns lief es relativ geordnet ab. =:-)
Abends war ich zurück. Friedrichstraße. Der S‑Bahnhof war voll. Großes Geschiebe. Ich hatte Angst, dass ich nicht mehr zurückkommen würde. Plötzlich ging irgendwo eine große Tür in einer Wand auf und wir waren alle wieder im Osten. Ein toller Tag und ich war froh, wieder zu hause zu sein mit der Aussicht, irgendwann mal einen Reisepass zu bekommen. Es ging dann alles sehr schnell ….
Ein Artikel in der taz über eine Ausstellung im jüdischen Museum beginnt mit der Unterüberschrift: „Jüdische Linke waren in der DDR willkommen. Obwohl sie ab 1933 vor den Nazis geflüchtet waren, wurden sie in der DDR bald antisemitisch diskriminiert.“ Diese Kurzzusammenfassung ist das, was viele Leser*innen als einziges lesen. Sie ist falsch.
Hier einige Passagen:
Die Geschichte der Zadeks war kein Einzelfall. Gemessen an der geringen Zahl der in Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR lebenden Jüdinnen und Juden waren diese überproportional oft in Führungspositionen vertreten. Das änderte sich, als man 1948 damit begann, massive Kontrollen aller Parteimitglieder und Funktionsträger durchzuführen.
Hier wird zuerst festgehalten, dass Jüd*innen willkommen waren und dass sie, da es sich ja auch um vertrauenswürdige Remigrant*innen handelte, in führende Positionen eingesetzt wurden.
Dann schreibt Jens Winter von stalinistischen Säuberungen:
Vor allem die „Westemigranten“ gerieten so ins Visier der Partei. Als Westemigranten bezeichnete man diejenigen, die vor dem Nationalsozialismus zunächst in den Westen geflohen oder in westliche Kriegsgefangenschaft geraten waren. Allein der Umstand der Westemigration genügte, um in Verdacht zu geraten, ein „imperialistischer“ oder „amerikanischer Agent“ zu sein. Reichte das zur Stützung einer Anklage nicht aus, warf man den Personen auch noch „Trotzkismus“ oder „Zionismus“ vor.
Ohne Jüdinnen und Juden explizit als Feinde zu benennen, wurden diese de facto oftmals zu den Opfern der bizarren Reinigungsrituale, die wegen ihrer Eigenlogik im Grunde unabschließbar waren.
Hier wird es interessant. Die Jüd*innen wurden nicht als Feinde benannt, was daran liegen könnte, dass sie nicht als solche wahrgenommen wurden. Und da es bei den Säuberungen auch um den Unterschied zwischen Ost- und Westemigrant*innen ging (Osten = Moskau = gut und vertrauenswürdig, Westen = kapitalistisch und dubios), waren eben Jüd*innen, die aus dem Westen zurückkamen in der Zeit der Säuberungen einem Generalverdacht ausgesetzt, so wie Nicht-Jüd*innen auch.
Auch Gerhard Zadek wurde 1952 nach der Auflösung des Amts für Information nach Mecklenburg versetzt. Zu diesem Zeitpunkt lebte er gerade erst fünf Jahre wieder in Deutschland. In Mecklenburg sollte er von nun an stellvertretend das SED-Bezirksorgan Freie Erde leiten – eine Degradierung. Als er 1953 trotz seines Studiums auch noch Gießereiarbeiter werden sollte, verweigerte er sich. Er sattelte um, studierte Patentingenieurwesen und wurde anschließend Direktor des VEB Schwermaschinenbaus. Alice Zadek wurde zur Schulungsleiterin für die Nationale Front herabgesetzt.
Diese Passage zeugt von einer Unkenntnis der DDR. In Ungnade Gefallene wurden nicht Direktor des VEB Schwermaschienenbaus. Das war eine verantwortungsvolle Position und letztendlich eine Rehabilitation. Wenn es einen irgendwie gearteten strukturellen Antisemitismus gegeben hätte, wäre Gerhard Zadek raus gewesen und nicht Direktor. Genauso wenig wird man zur Schulungsleiterin für die Nationale Front. Das wurden nur vollständig ins System integrierte Personen.
Auch waren nicht ausschließlich Jüdinnen und Juden von den Säuberungen betroffen, jedoch häufig. Ostemigranten blieben dagegen in der Regel verschont, auch wenn sie jüdisch waren.
Hier schreibt Jens Winter es selbst. Gerhard und Alice Zadek waren nach London emigriert und als Westemigranten verdächtig. Der Artikel ist, wie viele, tendenziös mit einer irreführenden Überschrift. Die willige Leser*in kann die Details aber immerhin im Text finden und sich dann über die Widersprüchlichkeit wundern.
In der Ausstellung im Jüdischen Museum kommen Parteikontrollverfahren und ihre Eigenlogik leider zu kurz. Dabei wäre es sinnvoll gewesen, gerade hier genauer hinzusehen, um ein Bild von der Vielgestaltigkeit des Antisemitismus zu vermitteln. Auch hätte das Thema die Möglichkeit geboten, diese in dieser Form spezifische historische Verbindung von Kommunismus und Antisemitismus aufzuzeigen.
Wie schon in einer ersten Besprechung durch einen anderen Autor wirft der Autor dieses Artikels dem Jüdischen (!!) Museum vor, nicht noch mehr Antisemitismus gefunden zu haben. Vielleicht liegt es einfach daran, dass es ihn abgesehen von den stalinistischen Prozessen in den 50er Jahren nicht gab.
Max Kahane wird angesprochen, aber es wird glatt unterschlagen, wie Max Kahanes Leben nach der Ablösung 1952 im Zusammenhang mit den Prozessen in der CSSR weiter verlief. Max Kahane war ganz oben mit dabei. Er hatte 1949 ADN gegründet. Nach 1952 hat er im Ausland Prozesse begleitet (Eichmann), war Leiter des NDs und somit die röteste Socke im ganzen Land. Wikipedia listet die folgenden Auszeichnungen auf:
1956: Hans-Beimler-Medaille der DDR – als ehemaliger Kämpfer der Internationalen Brigaden
1959: Vaterländischer Verdienstorden der DDR (Silber)
1961: Franz-Mehring-Ehrennadel des Verbandes der Journalisten der DDR
1970: Vaterländischer Verdienstorden der DDR (Gold)
1974: Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden
In meinem Beitrag „Der Ossi und der Holocaust“ gebe ich eine Liste von jüdischen Personen an, die in der DDR höchst angesehen waren und in Kultur, Wissenschaft oder Politik wichtige Positionen innehatten.
Die Sache mit dem Antisemitismus in der DDR ist Quatsch. Die DDR allgemein war antireligiös. Christ*innen konnten in der SED keine Karriere machen, weil Religion als Opium für’s Volk galt. Das galt nicht für Jüd*innen, wobei die meisten ohnehin nicht religiös waren. Die Haltung zu Israel war kritisch, weil Israel im anderen Block war. Ich weiß, dass es manchen schwer fällt, das auseinanderzuhalten, aber aus einer kritischen Haltung gegenüber Israel von einem Ostblockstaat folgt nicht unbedingt Antisemitismus.
Im Artikel wird eine Sendung im Deutschlandfunk zitiert. Zwei Braschs (Marion, Lena) unterhalten sich mit Peter Kahane. Marion Brasch berichtet, wie sie als Jungpionier 1974 den PLO-Chef Yassir Arafat am Werbellinsee begrüßt hat. Ihre Mutter meinte: „Wenn der wüsste, dass Du Jüdin bist.“. Für mich ist das ein weiteres Zeichen dafür, dass das Jüdischsein in der DDR überhaupt keine Rolle gespielt hat. Es war für den Staatsapparat kein Problem ein Kind aus einer jüdischen Familie den Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation begrüßen zu lassen. Die Familie Brasch war sehr bekannt (der Vater Horst Brasch war Kulturminister) und jeder wusste, dass es sich um eine jüdische Familie handelte, also war es auch den zuständigen Organen bekannt, wer da wen begrüßte.