Während der Arbeit am Beitrag Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück habe ich mir den Wikipedia-Eintrag zum KZ Lichtenburg angesehen. Mein Großonkel war dort ein Jahr und neun Monate eingesperrt. Es gibt dort Listen mit den Lagerkomandanten und den Schutzhaftlagerführern. Die Schutzhaftlagerführer waren die, die die Häftlinge bewachten. Sie unterstanden dem Lagerkommandanten. Ich habe mir dann den Spaß gemacht, nachzuschauen, wer die Nazis waren, die in der Zeit verantwortlich waren, als mein Großonkel dort eingesessen hat, und was aus ihnen geworden ist. Wikipedia ist ein fantastische Ressource! Hier ist das Ergebnis:
Lagerkommandanten
Die Lagerkommandanten waren:
SS-StandardtenführerOtto Reich. Wikipedia sagt: „Reich wurde nach Kriegsende juristisch nicht belangt.“ Reich ist 1955 in Düsseldorf gestorben.
SS-Standartenführer Hans Helwig, gestorben 1952 in Hemsbach, Baden-Württemberg. „Helwig starb 1952, ohne dass es zu einer strafrechtlichen Verfolgung seiner Tätigkeit in den Konzentrationslagern gekommen war.“
Der wurde wenige Tage vor der Befreiung Buchenwalds durch die Nazis selbst hingerichtet. Das wusste ich bisher nicht. Es gab ein Korruptionsverfahren gegen ihn. Himmler hatte ihn erst geschützt, aber dann war es doch zu viel. Er hat Zeugen ermordet.
Remmert wurde verurteilt: „wegen Körperverletzung im Amt“. 1934!
Wikipedia schreibt: „In der zeitgenössischen Presse wurde über das Verfahren nicht berichtet. Es handelte sich um ein weitestgehend nach rechtsstaatlichen Grundsätzen ablaufendes Verfahren. In der Folge befahl Adolf Hitler, dass weitere zu den Misshandlungen im KZ Esterwegen laufende Ermittlungen eingestellt werden sollten.“
„Von 1946 bis 1948 war er interniert; anschließend wurde er wegen seiner SS-Zugehörigkeit zu einem Jahr Gefängnis verurteilt; seine Internierung wurde jedoch angerechnet, sodass er freikam. 1950 wurde er wegen der Misshandlung weiterer Häftlinge zu drei Jahren Haft verurteilt; er kam im April 1954 frei.“
„1955 fällte das Schwurgericht des Landgericht München II am 14. Januar ein Urteil: lebenslängliche Haft wegen „Anstiftung zum Mord im KZ Dachau“.“
Auswertung des Schnelltests
Das Ergebnis dieser Kurzüberprüfung aus privatem Interesse ist:
1) Die Nazis, die mit Lichtenburg zu tun hatten, sind nach Kriegsende alle (!) in den Westen gegangen.
2) Viele von ihnen haben dort fröhlich bis an ihr Lebensende gelebt. Sie wurden nicht angeklagt und nicht verurteilt oder bekamen Haftstrafen von wenigen Jahren.
Das entspricht dem, was Ossis in der Schule gelernt haben, und ist irgendwie auch nicht verwunderlich. Als Nazi hätte ich auch Angst vor den Russen gehabt.
Nazis in der SED
In der Diskussion auf Mastodon über Anne Rabes Buch „Die Möglichkeit von Glück“ gibt es einen Nutzer, der meine Argumentation nicht versteht. Er hat mich auf eine Publikation des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags von 2019 hingewiesen, in der der Anteil der NSDAP-Mitglieder in der SED diskutiert wird. In dieser Kurzmitteilung findet man Folgendes:
Einen ersten repräsentativen Überblick über die frühere Zugehörigkeit der Parteimitglieder zur NSDAP und deren Gliederungen verschaffte sich die Parteizentrale Anfang 1954. Demnach hatten zu diesem Zeitpunkt 96844 Mitglieder (= 8,6%) und 9533 Kandidaten(= 9,3%) früher der NSDAP angehört.
Diese Information ist interessant. In Wikipedia steht noch ein bisschen mehr dazu:
Nach dem 17. Juni 1953, in dessen Folge es bis zum März 1954 zu 23.173 Parteiausschlüssen kam,[43] wurde von der Abteilung Parteiorgane des Zentralkomitees einmalig auch der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder an der SED-Mitgliedschaft ermittelt.[44] Demnach hatten zu diesem Zeitpunkt 8,7 % (106.377) der SED-Mitglieder und ‑Kandidaten vor 1945 der NSDAP angehört. Regional war dieser Anteil aus bislang nicht abschließend geklärten Gründen sehr ungleichmäßig verteilt; in Berlin lag er bei lediglich 4 Prozent, in Thüringen in einzelnen Kreisorganisationen dagegen bei bis zu 25 Prozent. Diese SED-Mitglieder mit NS-Vergangenheit lassen sich nach dem Forschungsstand von 2021 in der Hauptsache zwei Gruppen mit unterschiedlichen Profilen zuordnen. Zum einen handelte es sich um jüngere Männer, die nach einer Vergangenheit in der Hitlerjugend während des Zweiten Weltkrieges Mitglieder der NSDAP geworden waren, zum anderen um Leitungspersonal in Betrieben und Verwaltungen, das von der Entnazifizierung nicht erfasst worden war. Die Integration der zuletzt genannten Gruppe war mit erheblichen Spannungen verbunden; vor allem während der 1950er Jahre kam es immer wieder zu „Konflikten zwischen Altkommunisten und Wirtschaftsfunktionären“, die „als ehemalige NSDAP-Mitglieder der SED beigetreten waren und weiterhin wie lokale Honoratioren auftraten“.
Man kann die Zahl der Mitglieder nun mit der Anzahl der NSDAP-Mitglieder in Gesamtdeutschland vergleichen. Im Mai 43 waren 7.700.000 Menschen in dieser Partei. Das waren 11% der Deutschen. Wenn 8,6% der SED-Mitglieder in der NSDAP waren, dann muss die Gesamtzahl der Mitglieder bei 1.126.093 gelegen haben. 1954 lag die Einwohnerzahl bei 18.002.000. Geht man davon aus, dass die NSDAP-Mitgliedschaft gleichmäßig über das Deutsche Reich verteilt ist, müssten 1.980.220 Menschen auf DDR-Gebiet in der NSDAP gewesen sein. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Zahl nicht korrekt ist, denn in den Jahren vor 1954 haben schon Hunderttausende die DDR bzw. die SBZ verlassen. Darunter sicher auch viele Nazis. Wahrscheinlich überproportional viele Nazis. Wenn man jetzt trotzdem mit 1.980.220 weiterrechnet, kommt man darauf, dass 5,4% der NSDAP-Mitglieder in die SED aufgenommen wurden.
Am 15. Juni 1946 fasste das Zentralsekretariat den grundlegenden Beschluss zur Öffnung der Partei für „nominelle Pgs“ und hob damit einen Unvereinbarkeitsbeschluss auf. Die Aufnahme konnte nun nach „individueller Beurteilung in den Parteiorganisationen“ erfolgen; bei der Entscheidung berücksichtigt werden sollten insbesondere Jugendliche und „die aktive Betätigung des Betreffenden gegen Hitler“.
Wie weit jetzt die individuellen Beurteilungen in den Parteiorganisationen der SED korrekt waren, kann ich nicht wissen, aber dass es in Betrieben vor 1945 Leitungspersonal gab, das in die NSDAP eingetreten war, um dort präsent zu sein, weiß ich aus dem familiären Umfeld einer antifaschistischen Familie. Der Hintergedanke war, dass man frühzeitig über eventuell für die Firma bedrohliche Entwicklungen informiert war. Aus der entsprechenden Fabrikleitung ging eine von drei Personen ungern in die Partei.
So, davon kann man jetzt halten, was man will. Wichtig ist, welche NSDAP-Mitglieder in Führungspositionen gelangten. Und dafür gibt es glücklicherweise eine Liste in Wikipedia: Liste ehemaliger NSDAP-Mitglieder, die nach Mai 1945 politisch tätig waren. Dieser Liste kann man entnehmen, dass fast ausschließlich in West-Deutschland Nazis in hohe Positionen gekommen sind. Die NSDAP-Mitglieder, die im Osten aktiv waren, waren vorher bei den Russen in Umerziehungsprogrammen gewesen und haben teilweise noch im Krieg aktiv gegen Nazi-Deutschland gekämpft. Im Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD). Leider ist die Liste nicht vollständig, aber Kurt Blecha und Günther Kretzscher, die auf der Liste noch fehlen, waren ebenfalls im NKFD und haben aktiv gegen die Nazis gekämpft. Günter Kertzscher war sogar Gründungsmitglied des NKFD. Auf der anderen Seite gab es Globke, der als Jurist prominent im Nationalsozialismus an Rassengesetzen mitwirkte, und andere hohe Nazis, die auch im Westen wieder hohe Positionen belegten.
Neuere Forschungen in einem Sonderforschungsbereich haben ergeben, dass in Thüringen 14% der SED-Funktionäre in leitender Funktion ihre NSDAP-Mitgliedschaft die gesamte DDR-Zeit geheim halten konnten (Novy, Beatrix. 2009). Die relevante Gruppe bestand aus 262 Personen. 14% davon sind 36. Die Wissenschaftler*innen haben 3 von 15 Bezirken der DDR untersucht und vermuten, dass in Mecklenburg-Vorpommern noch mehr Personen betroffen sein könnten, weil die Vertriebenen dort ohne Papiere ankamen. Multipliziert man also 36 mit 5 und legt noch ein bisschen was drauf für die Vertriebenen im Norden, so kommt man auf 180+20 oder 180+70. Das wären dann 250 NSDAP-Mitglieder, die sich unerkannt durchgemogelt haben. Wie Dietmar Remy sagt, sagt das nichts darüber aus, was sie als NSDAPler gemacht und gedacht haben. Es wurde nur die Tatsache festgestellt, dass sie in der NSDAP waren und das nicht angegeben hatten. Teilweise hatten ihnen wohl ältere Genossen gesagt, dass das ok sei (Novy, Beatrix. 2009). Jedenfalls handelte es sich nicht um Menschen vom Kaliber Globkes. Die hätten das nicht geheim halten können.
Sag mir, wo die Nazis sind! Wo sind sie geblieben?
Als kleines Kind hatte meine Frau gelernt, dass in Deutschland die Nazis geherrscht hatten. Sie hatte dann ihre Mutter gefragt, wo denn die Menschen von früher seien. Nein, die Nazis waren nicht alle weg. Aber die schlimmen Nazis waren weg. Sie lebten entweder im Westen friedlich vor sich hin (siehe oben und Das SS-Lagerpersonal von Buchenwald) oder wanderten über die Rattenlinie, unterstützt von westlichen Geheimdiensten und dem Vatikan, nach Südamerika aus, wo sie bei der Niederschlagung linker Revolutionen gern gesehene Experten für Folter und Zerstörung waren (Harrasser, 2022).
Dieser Mann lebt noch heute:
In Nordstemmen in Niedersachsen. Er wurde in Frankreich wegen seiner Verbrechen zum Tode verurteilt, aber da es kein Auslieferungsabkommen gab, wurde er nicht ausgeliefert und er konnte auch nicht in der Bundesrepublik erneut angeklagt werden, weil es rechtlich nicht möglich ist, für dasselbe Verbrechen zweimal vor Gericht gestellt zu werden. Tja. Jetzt wird er von Neonazis gefeiert und findet das toll: Er bereut nichts.
Wenn es im Osten noch ehemals prominente Nazis gab, dann haben die wenigstens die Hufe stillgehalten. Parteien wie die Sozialistische Reichspartei gegründet haben sie jedenfalls nicht.
To do Anteil der NSDAP-Mitglieder in Parteien der BRD.
Anne Rabe hat in ihrem Buch Eine Möglichkeit von Glück ihre traumatischen Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit in Wismar aufgearbeitet. Ihre Eltern und Großeltern waren DDR-Kader, ihr Großvater in Stalingrad gewesen und sie führt alle Gewalt auf die DDR-Zeit und die Kriegserlebnisse zurück. Ich habe in Keine Gewalt: Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe bereits dazu geschrieben, welche inhaltlichen Fehler ihr dabei unterlaufen sind und dass ihre Schlussfolgerungen nicht tragfähig sind. Hier möchte ich noch einige weitere Punkte diskutieren, die inhaltlich nicht in den ersten Blog-Post gepasst haben. Dabei geht es mir vor allem um eine korrekte Darstellung der DDR-Zeit aber es ist auch noch ein gravierender Fehler bezüglich der Vorfälle in Rostock-Lichtenhagen zu besprechen.
Nazis, Verantwortung und Scham
In diesem ersten Abschnitt möchte ich Rabes Ansichten bzgl. Kollektivschuld und ihre Scham bezüglich ihrer Eltern besprechen.
Schuld und Blut
Rabe schreibt, dass alle Deutschen „qua ihres deutschen Blutes“ zur SS, zur Wehrmacht, zu den Verbrechern gehören:
Die Nazis waren immer die anderen. Die SS, die Wehrmacht, die Verbrecher. Schlimm, schlimm das. So schlimm, dafür übernehmen wir sogar dann gern die Verantwortung, wenn wir ganz sicher sind, dass unsere Familien damit nichts zu tun haben. Aber qua Herkunft, qua Abstammung, qua unseres deutschen Blutes gehören wir eben dazu, sind wir eben mitverantwortlich.
S. 67
Ist das so? Ist das mit dem Blut nicht Nazi-Ideologie? Und niemand hat’s gemerkt? Die Lektorin nicht, kein Rezensent. Warum sollte irgendwer wegen Blut besser oder schlechter sein? Türke, Palästinenser, Jude, Russe, Deutscher? Ich empfehle allen den Wikipedia-Artikel zur Kollektivschuld. Das Folgende steht dort gleich zu Beginn:
Kollektivschuld bedeutet, dass die Schuld für eine Tat nicht dem einzelnen Täter (oder Tätern) angelastet wird, sondern einem Kollektiv, allen Angehörigen seiner Gruppe, z. B. seiner Familie, seines Volkes oder seiner Organisation. Das beinhaltet folglich auch Menschen, die selbst nicht an der Tat beteiligt waren. Das Strafrecht moderner Demokratien geht grundsätzlich von einer individuellen Verantwortlichkeit aus, so dass Kollektivschuld juristisch nicht relevant ist. Artikel 33 Genfer Abkommen IV bestimmt, dass keine Person für ein Verbrechen verurteilt werden darf, das sie nicht persönlich begangen hat. Eine Kollektivstrafe setzt Kollektivschuld voraus. Nach Art. 87 Abs. 3 Genfer Abkommen III und Artikel 33 Genfer Abkommen IV zählen Kollektivstrafen zu den Kriegsverbrechen.
Nun könnte man – völlig zu Recht – darüber nachdenken, ob die Sache mit den Deutschen vielleicht doch etwas spezieller ist. Die Alliierten verfolgten direkt nach dem Krieg einen Kollektivschuld-Ansatz. Das äußerte sich unter anderem darin, dass die Weimarer Bevölkerung durch das befreite KZ Buchenwald geführt wurde. Den Ettersberg kann man von Weimar aus sehen. Buchenwald hatten die Weimarer direkt vor der Nase. Sie haben den Rauch nicht gesehen, das verbrannte Menschenfleisch nicht gerochen. Oder es eben all die Jahre ausgeblendet. Es war richtig, sie alle sehen zu lassen, was ganz in ihrer Nähe geschehen war. Filmmaterial der US-Army und den Bericht einer Zeitzeugin, die den KZ-Besuch mitgemacht hat, hat der Spiegel veröffentlicht.
Im Urteil der Alliierten in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen steht 1948 Folgendes zur Kollektivschuld:
Es ist undenkbar, dass die Mehrheit aller Deutschen verdammt werden soll mit der Begründung, dass sie Verbrechen gegen den Frieden begangen hätten. Das würde der Billigung des Begriffes der Kollektivschuld gleichkommen, und daraus würde logischerweise Massenbestrafung folgen, für die es keinen Präzedenzfall im Völkerrecht und keine Rechtfertigung in den Beziehungen zwischen den Menschen gibt.“ (aus dem Urteil der Alliierten in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen gegen die I.G. Farben, 29. Juli 1948).
Richard von Weizäcker schlägt statt Kollektivschuld eine Kollektivhaftung vor:
auch Richard von Weizsäcker betonte in seiner viel beachteten Rede „Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“, die er am 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag hielt: „Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht“, rief aber gleichzeitig dazu auf, kollektiv die Verantwortung für das nationalsozialistische Unrecht zu akzeptieren. Weizsäcker bezeichnet diese Haltung als „Kollektivhaftung“.
Wikipedia über eine Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag
Diese Kollektivhaftung gab es für die DDR. Während die West-Alliierten den West-Deutschen den Marshall-Plan geschenkt haben, hat die Sowjetunion Fabriken und Infrastruktur abgebaut und nach Russland verschickt. Im Falle von Carl Zeiss Jena haben sie sogar Menschen mitgenommen, die die Fabrik in Russland wieder aufgebaut und über Jahre hinweg die Russen eingearbeitet haben. Die Russen haben alles mitgenommen, was ihnen nützlich erschien. In Wikipedia gibt es ein Liste aller seit 1882 stillgelegten Bahnverbindungen in Berlin und Brandenburg. In dieser Liste ist auch vermerkt, was die Russen mitgenommen haben.
Ich habe dazu auch eine persönliche Geschichte: Ab der fünften Klasse bin ich von Buch zur Humboldt-Uni zur Mathematischen Schülergesellschaft gefahren. Es gab damals noch eine direkte Verbindung von Buch zum Alexanderplatz. Die fuhr abwechselnd auf dem linken und auf dem rechten Gleis. Alle 20 Minuten. Dazwischen fuhr der Zug in die andere Richtung nach Bernau. Einmal war ich zu früh dran und sprang gerade noch in einen Zug auf dem linken Gleis. Die Türen schlossen sich, der Zug fuhr los. Leider in die falsche Richtung. Ich wartete auf die nächste Station, stürzte aus dem Zug und rannte hinüber zur anderen Seite, weil ich da den Zug in Gegenrichtung erwischen wollte. Aber, oh Schreck, da war gar kein Gleis! Die Russen hatten es mitgenommen. Von Röntgental bis Bernau ist die Strecke nur eingleisig.
Im Wikipediaartikel kann man auch lesen, dass die Sowjetunion fast die Hälfte des ostdeutschen Schienennetzes mitgenommen hat und mindestens 2000 der besten Betriebe. Und dann haben wir bis 1953 noch fast ein Viertel des Bruttosozialprodukts in die Sowjetunion abgeführt:
Die Reparationsleistungen der späteren DDR an die Sowjetunion geschahen bis 1948 hauptsächlich durch Demontage von Industriebetrieben. Davon betroffen waren 2000 bis 2400 der wichtigsten und bestausgerüsteten Betriebe innerhalb der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ). Bis März 1947 wurden zudem 11.800 Kilometer Eisenbahnschienen demontiert und in die Sowjetunion verbracht. Damit wurde das Schienennetz bezogen auf den Stand von 1938 um 48 Prozent reduziert. Der Substanzverlust an industriellen und infrastrukturellen Kapazitäten durch die Demontagen betrug insgesamt rund 30 Prozent der 1944 auf diesem Gebiet vorhandenen Fonds. Ab Juni 1946 begann sich mit dem SMAD-Befehl Nr. 167 die Form der Reparationen von Demontagen auf Entnahmen aus laufender Produktion im Rahmen der Sowjetischen Aktiengesellschaften zu verlagern, die von 1946 bis 1953 jährlich zwischen 48 und 12,9 Prozent (durchschnittlich 22 Prozent) des Bruttosozialprodukts betrugen. Die Reparationen endeten nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Auf der Grundlage erstmals erschlossener Archivmaterialien, vor allem in Moskau, kamen Lothar Baar, Rainer Karlsch und Werner Matschke vom Institut für Wirtschaftsgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin etwa 1993 auf eine Gesamtsumme von mindestens 54 Milliarden Reichsmark bzw. Deutsche Mark (Ost) zu laufenden Preisen bzw. auf mindestens 14 Milliarden US-Dollar zu Preisen des Jahres 1938.
Als die Reparationen 1953 für beendet erklärt wurden, hatte die SBZ/DDR die höchsten im 20. Jahrhundert bekanntgewordenen Reparationsleistungen erbracht.
Dem Plus der BRD aus dem Marshall-Plan von 1,41 Milliarden US-Dollar steht also ein Minus von mindestens 14 Milliarden US-Dollar für die DDR gegenüber. (Nebenbemerkung: Ej, liebe Wessis, „wir“ haben die aus der Haftung entstandenen Schulden übernommen und bezahlt und dann alles von vorn neu aufgebaut: die durch den Krieg zerstörte Infrastruktur und die demontierten Betriebe, wohingegen „Ihr“ schöne Geschenke bekommen habt bzw. Betriebe und Personal aus dem Osten mitgenommen habt. Unter anderem auch einen Teil von Carl Zeiss, Siemens, Schott usw. Außerdem konntet „Ihr“ „Eure“ Rohstoffe auf dem Weltmarkt kaufen (den globalen Süden ausbeuten), während „wir“ unsere Rohstoffe von „unsren Freunden“ kaufen mussten. Und zwar für West-Geld. Es gibt also keinen Grund zur Überheblichkeit und Arroganz.) (Nebenbemerkung 2: Insgesamt betrugen die Wiedergutmachungszahlungen 2022 81,967 Milliarden Euro. Die DDR hat sich an diesen Zahlungen nicht beteiligt, weil sie das Thema nach den Zahlungen an die Sowjetunion für erledigt gehalten hat. Ab 1989 war „die DDR“ natürlich an diesen Zahlungen beteiligt. Die Zahlungen wurden zu unterschiedlichen Zeiten geleistet, so dass die absoluten Zahlen nicht direkt vergleichbar sind.1
Weiter schreibt Wikipedia zum Thema Kollektivschuld:
Ralph Giordano wollte 1947 nicht von „Kollektivschuld“ sprechen. Es habe eine Minderheit von Deutschen gegeben, die ihrem Gewissen und nicht dem Führer gefolgt sei. Die Mehrheit habe jedoch kein Recht, sich dadurch entlastet zu fühlen und von deren Anständigkeit zu profitieren, besonders weil sie sich auch heute noch von dieser Minderheit distanziere.
Das ist wahr. Ein Verwandter meiner Frau, sollte in Norwegen Zivilist*innen töten und hat sich geweigert. Er wurde selbst erschossen. Der Westteils der Familie hat sich dafür geschämt. Sie haben nie darüber gesprochen. Und siehe auch den Bericht von Marianne Meyer-Krahmer Mein langer Weg zur Stunde Null, den ich hier im Blog veröffentlicht habe. Meyer-Krahmer ist die Tochter des Leipziger Oberbürgermeisters Goerdeler, der als einer der Hitler-Attentäter hingerichtet wurde. Sie saß im KZ. Übrigens ohne jeglichen Grund. Es war Sippenhaft. Sippenhaft ist die kleine Freundin von Kollektivschuld. Sie berichtet davon, wie ihr Menschen nach ihrer Befreiung begegnet sind, wie sie die Ablehnung der BDM-Mädchen, mit denen sie als Lehrerin zu tun bekam, überwand. Mit Goethe.
In Wikipedia findet man auch folgende Aussage des Neurologen und Psychiaters Viktor Frankl zum Thema Kollektivschuld:
es gibt nur zwei Rassen von Menschen, die Anständigen und die Unanständigen.
Frankl war Jude und hat Theresienstadt und Auschwitz überlebt. Seine restliche Familie wurde ermordet. Vater, Mutter, Bruder, Frau.
Rabe wirft ihren Lehrer*innen vor, dass diese keine vorwurfsvollen Allaussagen über die Vorfahren ihrer Schüler*innen gemacht hätten:
Diese ominösen deutschen Soldaten. Kein Lehrer sagte: Eure Großväter und Urgroßväter waren die deutschen Soldaten, die in Osteuropa und der Sowjetunion alles abgeschlachtet haben, was sich bewegte, die geraubt und vergewaltigt und ganze Dörfer angezündet haben.
S. 87
Vielleicht lag das daran, dass das zu platt und im Einzelfall auch nicht richtig gewesen wäre? Wenn wäre die Aussage ja wohl auch „Unsere Großväter und Urgroßväter“ gewesen. Und folgt es nicht automatisch, wenn man über die Verbrechen dieser Generation aufklärt, dass die Großeltern und Urgroßeltern von vielen, vielen Deutschen Täter*innen waren? Muss man diesen Gedanken nicht selbst denken?
Mein einer Opa war übrigens kriegswichtig (Ingenieur bei Körting in Leipzig) und deshalb nicht im Krieg und mein anderer war zwar bei der Wehrmacht aber als Koch.
Beide haben somit zwar irgendetwas zum Krieg beigetragen, aber der Vorwurf, den Rabes Lehrer*innen ihnen hätte machen sollen, hätte auf sie wohl nicht zugetroffen.
Anklageschrift „gegen List und Genossen wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ 19.09.1935
Der Großvater meiner Frau hat einem Juden ein Bahn-Ticket nach Wladiwostok gekauft, als Juden das schon längst nicht mehr konnten. Er hat ihm zur Flucht verholfen. Mit Hilfe eines israelischen Kollegen habe ich seinen Neffen in Israel ausfindig gemacht und mein Schwager hat ihn dann dort besucht. Der Großvater war Leiter des Arbeitsamtes in Insterburg. Er saß in der Nazizeit mehrfach im Gefängnis und stand mehrfach vor Gericht. Einmal hat ein Kind eines Menschen aus seiner Freundesgruppe sie verraten: Sie hatten Radio London gehört. Er konnte sich vor Gericht darauf berufen, dass die Aussage eines Kindes nicht zählen würde. Andere aus dem Freundeskreis kannten sich nicht aus und wurden verurteilt. Er wurde oft von Menschen gewarnt, denen er früher Arbeit verschafft hatte. Beim dritten Mal Schutzhaft half ihm der Polizeidirektor: Die anderen Angeklagten wurden ins KZ Dachau abtransportiert, der Polizeipräsident hielt den Großvater zurück mit der Behauptung, es habe keinen Platz mehr in den Transporten nach Dachau gegeben.
Ein Angehöriger der Familie meiner Frau hat sich im Krieg geweigert, norwegische Zivilist*innen (Partisanen) zu erschießen und wurde selbst erschossen. Ein Cousin meines Vaters ist in Norwegen mit einer Norwegerin desertiert und wurde erschossen.
Schreiben der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, 07.04.2017
Der Cousin scheint seine Waffe mitgenommen zu haben. Also: einmal Verweigerung des Schießens aus Menschlichkeit, einmal Fahnenflucht aus Liebe. „Todesanzeigen oder Nachrufe in Zeitungen, Zeitschriften und dergleichen sind verboten.“
Sind wir schuldig? Als Menschen mit deutschem Blut? Was ist das für ein rassistischer Unsinn! Sollten wir uns nicht alle daran messen, was wir jetzt tun? Wie wir die Taten anderer einordnen? An unserer Menschlichkeit? Am 4.11.1989 gab es eine große Demonstration am Alexanderplatz. Die erste freie Demonstration in der DDR. Ich lief im Antifa-Block mit. Die Stasi hat Bilder von diesem Block gemacht (siehe Wagner, 2018, Vertuschte Gefahr: Die Stasi & Neonazis).
Bin ich schuldig? Muss ich mich schämen? Ich habe nichts getan! Ich war sieben Mal in Buchenwald (siehe Weimartage der FDJ) und auch in Sachsenhausen, in Auschwitz. Ich habe mich intensiv mit der deutschen Vergangenheit auseinandergesetzt, aber ich konnte die 1000 Jahre zwischen 1933 und 1945 an keiner Stelle beeinflussen. Denn ich war da noch nicht gebohren. Für meine Eltern kann ich nichts, aber für meine Kinder. Ich würde mich schämen, wenn sie in die AfD eintreten würden und/oder die Vernichtung von Menschen planen würden.
Demoteilnehmer*innen mit Schildern „‘Remigration’ ??? No way, AfD!“, „Danke! Mama & Papa, dass ich kein Nazi geworden bin!!!“ und „Oh Schieße.“ und einem aus AfD-Pfeilen zusammengesetzten Hakenkreuz. Reichstag, Berlin, 21.01.2024
Scham
Anne Rabe wird zum Opfer ihrer Vorstellungen von Kollektivschuld. Wie ich oben geschrieben habe: Sippenhaft ist die fiese kleine Schwester von Kollektivschuld. Das schreibt Rabe selbst:
Meine Eltern hatten studieren können und hatten es deshalb auch nach dem Systemwechsel leichter. Wir waren privilegiert und retteten einen Teil dieser Privilegien mit in die neue Zeit. Mutter und Vater würden sich auf dem Arbeitsmarkt etablieren können. Nicht ohne Probleme, nicht ohne Arbeitslosigkeit, nicht ohne Umschulungen und die berühmten Brüche in den Erwerbsbiografien, aber sie hatten bessere Startchancen als die meisten derjenigen, die das System zum Einsturz gebracht haben. Bessere Chancen als diejenigen, denen auch ich meine Freiheit zu verdanken habe. Ich schäme mich dafür. Immer noch.
S. 155
Jedes Mal, wenn ich von Hohenschönhausen, Torgau oder anderen Dunkelorten der DDR hörte, wurde ich von einer Schamwelle fortgeschwemmt, aus der ich mich nur langsam herauskämpfen konnte, indem ich sorgsam alles studierte.
S. 99
Aber wieso schämt sich Rabe für ihre Eltern? Sie kann nichts für ihre Eltern. Sie hat sich sogar von ihnen losgesagt. Damit ist dokumentiert, dass sie deren Haltung und ihre Gewalttätigkeit ablehnt. Rabe sollte sich nicht für ihre Eltern schämen. Aber sie könnte sich zum Beispiel für die inhaltlichen Fehler in ihrem Buch schämen. Für ihre Uninformiertheit. Für ihre nicht erfolgte Recherche zu Themen, über die sie geschrieben hat. Für den Schaden, den sie damit angerichtet hat. All ihre Fehler sind in Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch in diesem Blog-Beitrag dokumentiert. Oder für ihre Naivität bzw. Durchtriebenheit, auf die ich weiter unten zu sprechen komme.
Reden
Anne Rabe mahnt in ihrem Buch an, dass wir doch miteinander reden sollten. Dass wir Ossis unsere dunkle Vergangenheit aufarbeiten sollten. Aber sie selbst hat nicht geredet. Das Versagen liegt auch bei ihr. Hier einige Passagen aus dem Buch:
Ich bin einfach wütend. Auch auf Adas Eltern.
Auch sie haben uns im Stich und mit der ganzen Geschichte alleingelassen. Adas Vater hat über die roten Socken gesprochen, über sein Radar, das da anging bei meinen Eltern und anderen. Sein Hass, seine Wut, sie sind berechtigt gewesen. Aber statt sich mit denen auseinanderzusetzen, die dafür die Verantwortung trugen, statt mit ihnen die Dinge zu klären, hat er am Küchentisch seine Reden geschwungen und eben mich spüren lassen, wie wenig er mich leiden konnte.
S. 155–156
Adas Eltern waren Systemgegner*innen. Sie durften nicht studieren und haben unter der DDR gelitten. Unter Menschen wie Rabes Eltern. Und jetzt verlangt sie, dass die, die all das erlitten haben, zu denen gehen, die sich schuldig gemacht haben, und sich mal aussprechen?
Das zeigt ganz klar, dass sie das alles nicht verstanden hat. Sie hat nicht verstanden, was Bausoldat-Sein bedeutet hat. Man hatte sich komplett aus der restlichen Gesellschaft ausgeklinkt. Man konnte höchstens noch Theologie studieren. Ich war an einer Spezialschule mathematischer Richtung. Es gab dort einen Jungen, der nahm an internationalen Matheolympiaden teil. Er war genial. Er hat sich schon in der Schule geweigert, an dem zweiwöchigen GST-Lager, in dem wir auch mit automatischen Waffen geschossen haben, teilzunehmen. Die paramilitärische Ausbildung in der Schule war Pflicht. Der Schüler ist dann Schäfer geworden.
Ada hat mir erzählt, dass er in der DDR den Wehrdienst an der Waffe verweigert hat, was nur ging, wenn man sich den »Bausoldaten« zuteilen ließ. Das hatte Konsequenzen. Miese Schikanen während und nach der Dienstzeit – ein sehr bewusst gewähltes Außenseitertum, einer Gesellschaft zum Trotz, die einem keine Wahl lassen wollte. Der Preis, den Adas Vater für seine moralische Integrität hatte zahlen müssen, war hoch. Sein ganzes Leben würde davon bestimmt sein. Auf ein Studium brauchte er nicht mehr zu hoffen und überall, wo es sich anzustellen galt, hatte er sich ganz hinten einzureihen. Das hatte ihn dennoch nicht davon abgehalten, für seine Überzeugungen einzustehen.
S. 154
Jeder Kontakt mit dem System und dessen Kindern war potentiell gefährlich und in jedem Fall anstrengend. Als Bausoldat war man als Systemgegner aktenkundig geworden. Vielleicht wurde man bespitzelt. Rund um die Uhr. Arbeitskollegen meldeten Auffälligkeiten. Und sie verlangt jetzt von den Oppositionellen, dass sie mit ihren Eltern sprechen? Zwar nach der Wende, aber ???
Völlig unklar.
So wie Geipel und Kahane es nicht verstehen können, dass sie als rote Socken abgelehnt wurden, hat Rabe nicht verstanden, wie die DDR war und was man da nach der Wende gemacht hat und was nicht. Wir waren froh, dass wir Krenz & friends los waren. Mit denen wollte man nicht mehr reden. Ganz davon abgesehen, dass nach der Wende alle im Überlebenskampf waren, was Rabe ja auch selbst schreibt.
Wie kann Rabe eine Blutschuld für das gesamte deutsche Volk und alle Nachfahren fordern, für sich selbst aber verlangen, dass ihre Gegenüber ihr unvoreingenommen begegnen? Müsste diese Blutschuld nicht auch für sie gelten? Und für Anetta Kahane, deren Vater das Neue Deutschland, Zentralorgan der SED, geleitet hat? Und für Ines Geipel, deren Vater IM war und laut ihrem Wikipedia-Eintrag für „das Ausspähen von Objekten und die Vorbereitung von Sabotage auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland“ zuständig (Hartwich & Mascher, 2007)? Ist Unfug, oder? Anetta Kahane war übrigens selbst IM, nicht ihre Eltern. Sie hat ihre jüdischen Kumpels verpfiffen.
Ja, Adas Vater hätte sie nicht ablehnen sollen, so wie es auch von ihrer Lehrerin unprofessionell war, sie aufgrund ihrer Herkunft auszuschließen. Gerade in der Grundschule, wo ein betroffenes Kind das wahrscheinlich nicht verstehen kann. Aber als erwachsene Frau, und das ist die Ich-Erzählerin ja, sollte sie die Situation damals so weit einschätzen können, dass sie die Handlungen der Akteur*innen versteht. Aber das kann sie nicht, denn sie hat nicht mit ihnen gesprochen (ja, ja, das ist nur ein Roman, aber solche Romane würde man dann halte eben nicht schreiben, hätte man mit Menschen gesprochen):
Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich das Gespräch mit Adas Eltern plötzlich scheue. Ich will keine Absolution von ihnen, keine späte Verbrüderung mit denjenigen, die auf meine Eltern und ihr ganzes System zu Recht wütend waren. Ich wollte mich auch nicht als diejenige produzieren, die nun ihre Hausaufgaben gemacht und im Gegensatz zu den ewig Gestrigen verstanden hatte, aus was für einem Land sie kam.
S. 155
Hätte sie mit ihnen gesprochen, wüsste sie, dass Christ*innen in der DDR dazu genötigt wurden, vor der ganzen Klasse aufzustehen. „Wer von Euch glaubt an Gott? Du, Sabine? Dann steh mal bitte auf. Wer noch?“
Rabe schreibt:
Die Angehörigen der Opfer erfuhren nichts über den Verbleib ihrer Kinder, Väter, Mütter, Tanten, Onkel, Nachbarn und Freunde. Das Schweigen darüber war so total, dass heute kaum noch jemand um die Verbrechen der Anfangszeit der DDR weiß, obwohl es nahezu keine Familie geben kann, die davon unberührt blieb.
S. 265
Ich habe es immer geahnt: Ich bin einzigartig! Ich bin der einzige Ossi, der irgendwie wusste, dass in den 50ern Menschen abgeholt wurden. Dass es Menschen gab, die Angst hatten, wenn Autotüren klappten, weil sie dachten, jetzt würden sie geholt.
Sorry, Frau Rabe. „Auf der Suche nach Gatt“ wurde in der Schule behandelt. Da wurde uns natürlich erklärt, dass das am 17. Juni die Konterrevolution war. Aber man konnte seine Eltern fragen, was da war, was sie gemacht haben.
Der andere Teil meiner Familie kommt aus Frankfurt/Oder, einer Bezirkshauptstadt, der achzehntgrößten Stadt in der DDR, von der Sie schreiben: „Irgendwas Kleines in Brandenburg“. Die Mutter hat in der Bahnhofsmission gearbeitet. Der Vater war in den letzten Kriegstagen gefallen, als er sich vom Volkssturm abgesetzt hatte und von einer irrlichternden Granate erwischt wurde. Alleinstehende Frau mit fünf Kindern. Sie wurde eingesperrt. Das wissen wir, das weiß die ganze Familie, das weiß deren Umfeld. Christ*innen in der DDR wissen das. Sie haben halt nicht mit Ihnen drüber gesprochen und hätten das zu DDR-Zeiten auch nicht getan. Weil sie aus einer Funktionärsfamilie kommen. Mein Gott!
Sie fordern eine Aufarbeitung der SED-Zeit und Rezensenten greifen das begeistert auf: Ja, die Ossis sollen mal ihren Dreck im Keller aufarbeiten, so wie wir es ja getan haben 1968.
War Ihre Familie in das SED-Regime verwickelt? Gab es in Ihrer Familie Mitarbeiter der Staatssicherheit? Würden Sie sagen, dass Ihre Familie zu DDR-Zeiten eher Täter oder Opfer waren? Gehörten Sie zu den Mitläufern? Hat Ihre Familie vom SED-Regime profitiert? Gibt es in Ihrer Familie Mitglieder, die auf Grund ihres Glaubens oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt wurden? Hat Ihre Familie aktiven Widerstand gegen das SED-Regime geleistet? Ist es wichtig, dass kommende Generationen in der Schule über das Unrecht, das in der ehemaligen DDR begangen wurde, aufgeklärt werden?
Diese Fragen werden nicht gestellt. Man befragt uns nicht dazu und misst daran auch nicht den Grad unseres politischen Bewusstseins oder den Zustand der Republik.
S. 73
Sorry, Frau Rabe, da haben Sie wohl einen Ditsch von ihrem Elternhaus mitbekommen. Wer ist denn „man“? Wer soll denn was fragen? Der Staat uns? Sollten wir das nicht selbst tun? Und ja, 1) hat der Staat uns befragt bzw. unsere Daten abgefragt und 2) haben wir miteinander geredet. Das passierte in den 90ern ziemlich intensiv. Nur haben Sie davon nichts mitbekommen, weil Sie da noch zu klein waren. Das kann man Ihnen nicht vorwerfen, was man Ihnen vorwerfen kann, ist, dass Sie selbst nicht reden wollten (siehe oben) und dass Sie auch nicht recherchiert haben. Über „Wir müssen alle mal reden und wir brauchen ein 68 für den Osten“ habe ich auch in Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten noch ausführlicher besprochen.
Berlinerisch
Auf S. 210 schreibt Anne Rabe zum Berlinischen:
Zwar ist es in der intellektuellen Landschaft Ostberlins ganz schick gewesen, den Jargon der Arbeiter zu imitieren
S. 210
Anne Rabe hat an der FU-Berlin ab 2005 Germanistik und Theaterwissenschaften studiert. Als ich dort 2007 anfing, war sie wahrscheinlich schon weg. An der FU lehrte damals noch Prof. Norbert Dittmar, der zum Berlinischen geforscht hat. Aber eigentlich braucht es keine sprachwissenschaftliche Ausbildung, um zu wissen, dass das Berlinern in Berlin und Brandenburg in allen Bevölkerungsschichten üblich war. Ich konnte berlinern, schon bevor ich mit Arbeitern in Kontakt gekommen bin. Meine Eltern sind aus Jena und Wittenberg. Von denen habe ich es nicht gelernt. Das kam ganz normal über den Kindergarten und die Schule. So hat man gesprochen. Ein Kollege, der in den 90ern an der HU studiert hat, hat Vorlesungen in der Literaturwissenschaft gehört, in denen der Dozent bestens berlinert hat. Wir alle haben berlinert. Viele sind zweisprachig und können Standardsprache und Dialekt sprechen. Im Westen hat man den Schüler*innen das Berlinern ausgetrieben, so wie man in Bayern den Kindern das Bayrische abgewöhnt hat. Ich habe genau einen Freund aus Westberlin, der berlinert. Sonst sprechen alle West-Berliner hochdeutsch.
Ein möglicher Grund dafür, dass die Schulen nicht versucht haben, uns die Dialekte abzuerziehen, könnte natürlich sein, dass auch Funktionäre Dialekt sprachen, aber das ist etwas Anderes als das, was Anne Rabe geschrieben hat.
Jugendweihe – unser erster subversiver Akt
Zur Jugendweihe schreibt Rabe:
Das zweite Bekenntnis legte das Kind dann selbst ab. In der achten Klasse, also mit 14 Jahren, sollte das sozialistische Kind qua Jugendweihe in die Welt der Erwachsenen aufgenommen werden und musste dafür lauthals geloben, sich „mit ganzer Kraft für die große und edle Sache des Sozialismus einzusetzen“.
S. 114–115
Ja, die Jugendweihe war lustig! Und es war ganz praktisch, dass wir alle berlinerten (siehe vorigen Abschnitt). Wir sollten alle dieses blöde Gelöbnis sprechen bzw. dann immer jeweils nach einem Stück Text sagen: „Ja, das geloben wir!“
Was wir stattdessen sagten, war: „Ja, das globen wir.“, was übersetzt ins Standarddeutsche „Ja, das glauben wir.“ heißt. Wir hatten alle Spaß. Für viele war das ihr erster subversiver Akt. Hat keiner gemerkt.
Funktionärssprache
Ich hatte oben schon das Zitat zum Reden mit Oppositionellen. Darin war folgender Satz enthalten:
Ich wollte mich auch nicht als diejenige produzieren, die nun ihre Hausaufgaben gemacht und im Gegensatz zu den ewig Gestrigen verstanden hatte, aus was für einem Land sie kam.
S. 155
Ewig Gestrige ist für mich Funktionärssprache. Diese Floskel kam überall vor: im Geschichtsunterricht, im Staatsbürgerkundeunterricht, im FDJ-Studienjahr. Es ging um Revanchisten und Reaktionäre. Nun also Ossis. Hm. Vielleicht kommt diese Phrase auch im Westen vor. Ich hätte sie aber nicht in solch einem Roman verwendet.
Ein Scherz, oder?
Rabe schreibt als Ich-Erzählerin:
Hans ist das Licht des Laptops zu hell im Bett. Er stöhnt und will schlafen. Um sechs klingelt sein Wecker. Als du den Computer zuklappst, ist es nicht weniger hell. Der Mond scheint dich an. Du stehst auf und ziehst ins Wohnzimmer und schreibst: „Voller Mond, du dumme Sau/zieh dich zurück in deinen Verhau.“ Es geht doch. Geht doch noch.
Das ist ein Scherz, oder? Ich bin in der Lage Humor zu erkennen. Ist das der einzige fiktionale Teil im Roman? Oder doch mehr? Oder alles? Oder ist alles ernst?
Spinnen und Bananen
Anne Rabe bzw. ihre Ich-Erzählerin hatte es schwer. Ihre Kindheit war entbehrungsreich und hart. Sie musste auf ein Außenklo gehen, auf dem es Spinnen gab. Und grüne Bananen essen.
Liebe Frau Rabe, ich hab da ein paar Tipps für Sie: Wenn man nicht möchte, dass es an einem Ort Spinnen gibt, kann man sich ein Glas und Papier nehmen. Das Glas stülpt man über die Spinne. Das Papier schiebt man unter das Glas und dann kann man die Spinne zurück in die Natur befördern. Ich weiß, Ihre Kindheit war schwer, aber es gab hoffentlich Papier (zu meiner Zeit war das Papier knapp). Mindestens Klopapier wird es wohl gegeben haben und das sogar an dem Ort, wo sie es hätten benutzen können. Wenn es bei Ihnen kein Glas gab, gab es vielleicht diese Punkte-Becher:
DDR-Designklassiker: Punkte-Becher aus Plaste, 23.02.2024
Man hatte mit solch einem Becher leider keinen Sichtkontakt zur Spinne mehr, aber hey, Not macht erfinderisch. Wir Ossis haben eigentlich immer noch alles hinbekommen.
Und mit den grünen Bananen, das kann ich voll nachvollziehen. Die sind dann so klebrig. Aber auch da gibt es einen Trick: Man lässt die Bananen etwas liegen. Dann sind sie reif. Sie schreiben ja selbst, dass Sie schon einmal braune Bananen gesehen hätten.
Die Bananen, die ich nicht mochte, weil wir sie gegessen haben, wenn sie noch grün waren. Ich dachte lange, sie wären schlecht, sobald sie ein paar braune Stellen hatten.
S. 18
Dann müssten Ihnen doch eigentlich auch Bananen in mittlerer Reife untergekommen sein. Hätten Sie systematisch getestet, hätten Sie herausfinden können, dass man Bananen weder grün noch braun essen muss.
Übrigens: Bei uns damals war es so, dass wir überhaupt keine Bananen hatten. Auch keine grünen. Also, wir schon, denn wir lebten in Berlin und Berlin wurde immer besser versorgt als der Rest der DDR. Das hing damit zusammen, dass die Wessis nicht merken sollten, dass es bestimmte Dinge in der DDR nicht gab, wenn sie mal kurz ihr Mädchen aus Ostberlin besuchten. Also wir hatten welche, aber Ihre Eltern in Wismar nicht.
Karikatur von Bernd A. Chmura. Bananen-Republik, 1986. Aus dem Katalog der X. Kunstausstellung der DDR, Dresden. 1987/1988. S. 429. Berlin bekommt die Bananen, die restliche DDR die Schalen.
Bzw. sie hatten sehr selten welche. Ich erinnere mich an Bananen bei einer Kur in Ahlbeck. Die waren noch grün!!! In Berlin gab es aber auch nicht immer Bananen. Eigentlich gab es Südfrüchte immer so um die Weihnachtszeit, weshalb Obstsalat noch heute für mich mit Weihnachten verbunden ist.
Obstsalat in einer Schüssel von Kahla Thüringen Porzellan, Berlin, 18.12.2021. Kahla Thüringen Porzellan wurde nach der Wende für eine DM an einen Rechtstanwalt verkauft, dessen einizge Qualifikation darin bestand, einen Bruder bei der Treuhand zu haben. Na, ich schweife ab. Und man soll auch nicht so viel Information in Bildunterschriften packen.
Dass es die Südfrüchte nur zu Weihnachten gab, lag daran, dass Erich Honecker erst zum Jahresende genügend DDR-Oppositionelle in den Westen verkauft hatte, so dass dann die Bananen und Apfelsinen gekauft werden konnten. (Das war Sarkasmus.)
Übrigens: Die Szene mit der Badewanne. Ist das nicht genauso wie das mit den grünen Bananen? Stines Mutter, die Mutter der Ich-Erzählerin, war in der Küche, ihr Vater im Wohnzimmer. Sie stand in dem sehr heißen Wasser. Warum hat sie nicht einfach kaltes Wasser nachgefüllt? Warum hat sie sich und ihren kleinen Bruder in das heiße Wasser gestellt? Ich weiß, sie war noch klein und es war eine Stresssituation. Aber wenn das immer wieder passiert ist, hätte sie ja mal drüber nachdenken können. Oder war es vielleicht doch nicht so? Oder kann man das in diesem Alter noch nicht? Sie muss ja mindestens vier gewesen sein.
Mangelnde Eigenverantwortung und die Fahrt in den Abgrund
Wenn ich mich an Tim erinnere, spüre ich ihn hinter mir auf dem Schlitten sitzen. Damals in Tschechien, im Riesengebirge. Er klammert sich an mich, und wir fahren im Affenzahn einen Berg hinunter. Er vertraut mir, vertraut darauf, dass ich die Kurve noch kriege vor dem Abhang. Ich brülle: „Lenken, Timmi, du musst den Fuß raushalten!“ Aber Tim, der jünger ist als ich, vielleicht sechs oder sieben, weiß nicht, was ich meine, und so greife ich mit meinem rechten Arm hinter mich und rufe: „Spring!“ Der Schlitten saust ohne uns den Abhang hinunter.
S. 11
Die Frage ist: Wieso hat die Ich-Erzählerin nicht selbst die Füße rausgestellt? Ist Stine so? Ist Anne Rabe so? Warum greift sie nicht ein? Wenn so viel Zeit ist, dem zwei Jahre jüngeren Bruder Anweisungen zu geben, warum bremst SIE dann nicht? Ist das der bei Ossis immer wieder klischeehaft beschworene Mangel an Eigenverantwortung (siehe auch Leserbrief zum meinem Artikel in der Berliner Zeitung)? Oder nur ein schiefes Bild im Roman? Schlechte Literatur?
Schlagersüßtafel
Zum Thema Schlagersüßtafel schreibt Anne Rabe:
Darüber, wie die Revolution 89/90 auch durch die kleine Stadt gefegt war, schwieg sich meine Familie aus. Die DDR war dennoch oder gerade deshalb seltsam präsent. Ein verlorener Sehnsuchtsort. Ein Ort, an dem alles gut war und »wisst ihr noch, die Schlagersüßtafel?«. Diese Schokolade kam in fast allen Erzählungen der Eltern vor. Auch wenn sie sich ganz gut eingelebt hatten im schlechteren Deutschland, schien die Tatsache, dass es die Schlagersüßtafel nicht mehr zu kaufen gab, von größerer Bedeutung zu sein als das Haus, das sie nun bauten, die Urlaube, in die wir fuhren, und der Tenniskurs, den sie absolvierten. Irgendwann kamen sie zurück – die Ostprodukte. Sie füllten ganze Messehallen und auch die Regale in unserem Supermarkt. Plötzlich gab es wieder Bambina, Nudossi, Puffreis und Filinchen. Das erste Stück Schlagersüßtafel aber war eine Enttäuschung. So hatte sie also geschmeckt, diese DDR? Nach nichts, noch nicht einmal nach Kakaopulver. Vermutlich war das gar keine Schokolade.
S. 256
Schlagersüßtafel wird in Wikipedia als Genussmittel gelistet. Aber ich muss Anne Rabe Recht geben: Schlagersüßtafel war ungenießbar. Ich habe in Schlagersüßtafel und Klassenkeile bereits darüber geschrieben: Wir hatten sie gekauft, weil wir dachten, es wären Bilder von Schlagersänger*innen drin. Da sie zum Essen nicht taugte, benutzten wir sie, um Bauarbeiter zu bewerfen. Wie es dann weiterging, müsst Ihr in dem anderen Blog-Post lesen.
Wikipedia kann man auch die Zutaten entnehmen. Ein bisschen Kakao war drin, aber nur 7%. Übrigens lustig: Beim Lesen der Zutaten musste ich an die Mutter des Ich-Erzählers von Stern 111 denken. Sie war Lebensmitteltechnikerin und ihre Aufgabe war es, Ersatzlebensmittel aus in der DDR verfügbaren Rohstoffen zu kreieren. Vielleicht war sie ja an der Kreation der Schlagersüßtafel beteiligt. Stern 111 ist übrigens ein sehr gelungener Nachwenderoman. Wer wissen will, wie es vor der Wende war, sollte Der Turm und Krokodil im Nacken lesen.
Plagiat? Nee! Oder doch?
In einem Beitrag in der Neuen Züricher Zeitung schreibt Peer Teuwsen, dass Anne Rabes Roman auf den Schultern von Ines Geipel stehen würde. Es werden drei Stellen angeführt. In einer fahren Kinder Schlitten, in der zweiten trägt ein Vater seinen Sohn auf den Schultern und in der dritten sprechen Kinder über das Sternbild großer Wagen. Plagiat ist mein drittes Hobby. Ich bin selbst plagiert worden und habe ein entsprechendes Verfahren eingeleitet. Ich war in einer Plagiatskommission, die sich mit einer plagierten Dissertation auseindergesetzt hat. Ich habe dieses Jahr ein Plagiat in einer BA-Arbeit gefunden und ein 80seitiges Gutachten über ein Buch und das restliche Werk eines systematisch plagierenden Autors verfasst. Der Vorwurf des Plagiats gegen Rabe ist lächerlich. (Nachtrag 29.06.2024: Aber siehe unten.) Die Textstellen, die Teuwsen anführt, sind komplett verschieden, ja, sie haben inhaltlich außer den oben genannten Themen selbst nichts miteinander zu tun.
Die Antwort des Verlags ist interessant:
„Die Ähnlichkeiten sind aus unserer Sicht zufällig und allenfalls dadurch bedingt, dass die Bücher der beiden Autorinnen thematisch so nahe beieinander liegen. Die Autorinnen haben einen ähnlichen Blick auf die DDR und es gibt biografische Parallelen (so haben beide Autorinnen jüngere Brüder und kommen aus einem systemnahen Milieu)“, schreibt Rabes Verlag.
Die Brüder sind vielleicht relevant, DDR ist komplett irrelevant und Systemnähe auch. Schlitten, Brüder und den Großen Wagen gibt es auch im Westen. Jedenfalls kann man Teuwsens Artikel entnehmen, dass Geipel und Rabe befreundet waren: „Die Ältere fand es wunderbar, dass eine jüngere Autorin sich ihrer Themen annimmt und ihnen eine neue Stimme verleiht.“
Also kein Plagiat, aber der Einfluss von Ines Geipel ist wahrscheinlich für das gesamte Ideengeflecht relevant: Funktionärskinder kritisieren den Osten. Wie ich in meinem Blogpost Der Ossi und der Holocaust gezeigt habe, lügt Ines Geipel. Es geht Ihr und Anetta Kahane, ebenfalls Funktionärskind, nicht um eine Aufarbeitung von Unrecht. Sie stellen Dinge wahrscheinlich bewusst falsch dar. Wie ich damals schon sagte: Entweder sie lügen bewusst oder sie sind unwissend. Beides wäre schlecht, wenn man sich so weit aus dem Fenster lehnt. Und das ist auch für Anne Rabe so, wie ich in Keine Gewalt! Zu Möglichkeiten und Glück und dem Buch von Anne Rabe und auch hier gezeigt habe: Entweder sie lügt bewusst oder sie ist unwissend. Wahrscheinlich das Letztere. Schade nur, dass sie damit solch einen Schaden anrichtet.
Nachtrag vom 29.06.2024: In „Ines Geipel lügt“ habe ich eine Dokumentation des MDRs zu Ines Geipels Behauptungen zu ihrer Vergangenheit als Leistungssportlerin besprochen und auch wie sie gegen Gegner*innen vorgeht. Es sieht also so aus, als hätte sie allgemein Probleme mit der Wahrheit und ihre Behauptungen in Bezug auf den Umgang mit dem Holocaust gehen nicht auf Unwissenheit zurück. Ich habe jetzt ihr Buch Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass gelesen und habe dort erfahren, dass sie das Buch Nackt unter Wölfen kannte und auch in Buchenwald war.
Zum Thema Plagiat kann man folgendes festhalten: Das Buch von Anne Rabe ist von der Struktur genau parallel zu Ines Geipels Buch aufgebaut. Es gibt kurze Kapitel mit Impressionen aus dem Privatleben und dann längere essayistische Abschnitte mit politischer Analyse. Die Themen sind sehr ähnlich. Insgesamt gibt es einen entscheidenden Unterschied: Bei Ines Geipel gibt es ein relativ langes Quellenverzeichnis mit 79 Einträgen, überwiegend Fachaufsätzen zur DDR; das Quellenverzeichnis von Anne Rabe enthält 14 Einträge, von denen die meisten Gedichtsammlungen, Romane oder Filme sind, aus denen sie ihren Kapiteln Auszüge vorangestellt hat: Bachmann, Brasch, Brecht, Inge Müller, Einar Schleef, Wera Küchenmeister. Dazu ein Gesetz und ein allgemeiner Verweis auf das Stasi-Unterlagen-Archiv. Die Qualität der Bücher insgesamt spiegelt sich an den Quellenverzeichnissen: Professorin mit Studium der Germanistik auf der einen Seite und Person mit abgebrochenen Germanistikstudium auf der anderen Seite. Rabes Ausrede, sie habe ja kein Sachbuch geschrieben, ist lahm. Sie hat bzw. wollte genau so ein Buch schreiben wie Geipel. Sie hätte ein Quellenverzeichnis gebraucht und in diesem hätte Geipel zitiert werden müssen. Und Teuwsen ist zuzustimmen: Ines Geipel hätte in den Danksagungen als Ideengeberin genannt werden müssen. Interessanterweise gibt es bei Geipel eine Behauptung, die Rabe von dort übernommen zu haben scheint. Solche Übernahmen fallen auf, wenn das Übernommene falsch ist. Geipel schreibt:
26. April 2002. Der erste Schulamoklauf in Deutschland, die öffentlichen Morde eines Gymnasiasten, das Unvorstellbare schlechthin.
Ines Geipel, 2019: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass, Stuttgart: Klett-Cotta. S.110 des E‑Books.
Dieselbe Behauptung findet sich bei Anne Rabe und wie ich im Beitrag zu den Amokläufen gezeigt habe, ist die Behauptung falsch: Der erste Amoklauf war 1871 in Saarbrücken und dann gab es noch viele weitere. Mit Schusswaffen und Flammenwerfern usw. Zum Beispiel 1964 in Köln, 1983 in Eppstein, Hessen.
Also: Ja, es gibt auch hier ein Problem bei Anne Rabe.
Antisemitismus und Nationalismus
Auf S. 271 kommt mal eben so eine Aussage zu Antisemitismus und Nationalismus:
Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
S. 271
Wo hat sie das nur her? Quellen? Na, vielleicht von Geipel. Dass Anetta Kahane und Ines Geipel gelogen haben (oder extrem unwissend sind), wenn sie behaupten, der Holocaust sei im Osten nicht vorgekommen, habe ich schon in Der Ossi und der Holocaust besprochen. Zum (fast) nicht vorhandenen Antisemitismus in der DDR hat die Jüdin Daniela Dahn viel geschrieben. Manches ist auch im Holocaust-Post erwähnt. Andere Sachen bespreche ich im Post über die Ausstellung über jüdisches Leben in der DDR, die vom jüdischen Museum organisiert wurde.
Ich habe diverse Interviews mit Anne Rabe gelesen und in einem Interview von Cornelia Geißler von der Berliner Zeitung steht:
Auch der Historiker Patrice G. Poutrus, der eher Oschmanns Generation angehört, hat beobachtet, dass Rechte und Rechtsextreme im Osten auf ein festes nationalistisches Weltbild trafen.
Einen meiner Meinung nach entscheidenden Bestandteil des Nationalismus erwähnen die Autoren nur im Vorübergehen im Nachwort: den nationalen Taumel in der Wiedervereinigung.Dieser war vom Westen gewollt und gefördert. Die Ost-Linken haben das damals gesehen und sich davor gefürchtet. Mein Freund XY hat mir die beiden folgenden Grafiken geschenkt.
Menschen, die ihren Kopf in der Hand halten. Ein Hitlerkopf liegt am Straßenrand. Der Himmel ist schwarz. 1989Dank ich an angst in der Nacht Herzlichen Glückwunsch zur Wiedervereinigung
Deutschtümelei! Nationalismus! Das kam von der Bundesregierung. Nicht in Berlin. In Berlin wurde Kohl ausgebuht.
In Sachsen wurde er mit offenen Armen empfangen. Er hat den Ossis blühende Landschaften versprochen. Von Oskar Lafontaine, dessen Herz links schlug, und der damals Kanzlerkandidat der Partei war, in der auch Anne Rabe Mitglied ist, wollte niemand etwas Wissen. Er hat die Wahrheit gesagt. Aber „die Wahrheit ist hässlich und hat stinkenden Atem“.
Sicher ist alles nicht monokausal. Andere mögliche Ursachen werden im genannten Blog-Post diskutiert.
Nazis aus dem Westen
Im Post „Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern“: Kommentare zu einem Aufsatz von Patrice G. Poutrus, Jan C. Behrends und Dennis Kuck verlinke ich einen Fernsehbeitrag, der zeigt wie der CDU-Innenminister Jörg Schönbohm einen Jugendclub mit Nazi-Skins besucht und die Jugendlichen dort prima findet. Schönbohm war Generalleutnant in der Bundeswehr und Landesvorsitzender der CDU Brandenburg. Auch sieht man im Video, dass die Nazi-Partei Deutsche Alternative, die in Brandenburg aktiv war, von Menschen aus dem Westen aufgebaut wurde (11:25). Rabe schreibt dazu auch an einigen Stellen etwas und stellt das in Frage. Die rassistischen Ausschreitungen in Lichtenhagen erwähnt sie explizit. Auch Lichtenhagen ist ein schlimmes Beispiel von Polizeiversagen (siehe Rostock-Lichtenhagen 1992: Ein Polizeidebakel). Polizei, Justiz, Verfassungsschutz, alle Institutionen wurden vom Westen aufgebaut und waren von Westlern geleitet.2 Der Bruder meiner Schwiegermutter noch heute AfD-Wähler hat zum Beispiel das Landesarbeitsgericht in Dresden aufgebaut. Der für Lichtenhagen zuständige Polizist ist ins Wochenende gefahren. Nach Bremen. Er hat die bepissten Nazis pöbeln und zündeln lassen. Im Wikipediaeintrag zu den Ausschreitungen steht es noch krasser. Nach einer langen, langen Vorgeschichte mit Ankündigungen und Drohungen ist die gesamte politische und polizeiliche Führung ins Wochenende verschwunden. In den Westen:
Trotz der angekündigten Krawalle und der aufgeheizten Stimmung rund um die ZAst fuhr fast das gesamte politisch und polizeilich leitende Personal, das nach der Wende nahezu vollständig mit westdeutschen Beamten aus den Partnerländern Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen besetzt worden war, wie üblich am Freitag zu ihren Familien nach Westdeutschland. So waren am Wochenende der Ausschreitungen der Staatssekretär im Innenministerium, Klaus Baltzer, der Abteilungsleiter Öffentliche Sicherheit, Olaf von Brevern, der Abteilungsleiter für Ausländerfragen im Innenministerium und zum damaligen Zeitpunkt zugleich Ausländerbeauftragter der Landesregierung, Winfried Rusch, der Leiter des Landespolizeiamtes, Hans-Heinrich Heinsen, der Chef der Polizeidirektion Rostock, Siegfried Kordus, sowie der Einsatzleiter Jürgen Deckert nicht in Schwerin bzw. Rostock zugegen. Deckert hatte die Führung an den noch in der Ausbildung befindlichen Siegfried Trottnow übergeben.
Rabe lässt ihre Mutter bzw. Stines Mutter sagen, dass man Nazis aus dem Westen angekarrt habe:
Mutter hat gesagt, dass man nichts gegen Ausländer haben darf. Die machen hier die Arbeit, auf die die Deutschen keine Lust mehr haben. Und die Vietnamesen, wo sie in Rostock das Haus angezündet haben, die sind sogar schon zu Ostzeiten in Rostock gewesen, die können gar nichts dafür. Außerdem waren da auch viele Nazis aus dem Westen dabei. Die hat man extra da hingefahren, damit sie Randale machen. Das waren Rowdys. Aber im Fernsehen sagen sie immer, dass die alle Rostocker sind.
S. 88
Im Interview mit Cornelia Geißler sagt Rabe:
Als die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen in Brand gesetzt wurde, 1992, hieß es, die Neonazis seien nur aus dem Westen angefahren worden. Die Eltern, die Lehrer, die wollten das immer von sich weghalten. Aber wir Jugendlichen kannten die Nazis ganz gut, die saßen neben uns am Strand, in den Klassen, im Sportverein.
In den beiden Textpassagen gibt es verschiedene Aussagen. 1) Es waren viele Nazis aus dem Westen dabei. 2) Die Neonazis seien nur aus dem Westen angefahren worden.
Das sind die Fakten:
Gegen 12 Uhr am Sonntag hatten sich bereits wieder etwa 100 Personen vor der ZAst versammelt. Nun trafen Rechtsextremisten aus der ganzen Bundesrepublik in Rostock ein, darunter Bela Ewald Althans, Ingo Hasselbach, Stefan Niemann, Michael Büttner, Gerhard Endress, Gerhard Frey, Christian Malcoci, Arnulf Priem, Erik Rundquist, Norbert Weidner und Christian Worch. Von diesen wurde nur Endress während der Ausschreitungen festgenommen.
Also: Fakt ist, dass Neonazis aus dem Westen dabei waren. Ob die angefahren worden sind und wenn ja von wem, weiß ich nicht, aber ansonsten hatte Rabes (Roman-)Mutter Recht. Ja, auch ehemalige Funktionäre können Recht haben.
Bei den NSU-Morden war der Verfassungsschutz selbst dabei (taz, 03.04.2017). Maaßen, ein Neo-Nazi erst CDU, jetzt Werteunion, war der, der denjenigen abgelöst hat, der wegen des Versagens beim NSU gehen musste. In Leipzig Connewitz ist eine Horde von über 200 Nazis eingefallen und haben den Stadtteil verwüstet. Die Verfahren wurden verschleppt, viele sind straffrei davongekommen. Einer war Jura-Student. Er hat danach weiterstudiert und trat 2018 sein Referendariat an. Ein JVA-Mitarbeiter und Täter arbeitete fröhlich weiter in der JVA (taz: 11.01.2021, Schleppende Aufklärung). Die AfD wurde von Neoliberalen Wirtschaftsprofessor*innen aus dem Westen aufgebaut und nach und nach von West-Nazis übernommen. Das habe ich Oschmann nach seinem ersten Artikel geschrieben und ihn auf meinen Blog-Beitrag Der Ossi ist nicht demokratiefähig. Merkt Ihr’s noch? mit den Quellen verwiesen. Er hat sich herzlich bedankt und wird jetzt dafür zitiert. Die Quellenangabe hat er wohl vergessen.
Bei Enthüllungen von Correctiv zu den Deportationsplänen, die AfD-Mitglieder, CDU-Mitglieder und sonstige Neonazis diskutiert haben, habe ich mir auch mal den Spaß gemacht, zu schauen, wo die beteiligten Personen herkamen. Überraschung: Das Verhältnis West zu Ost ist 19:1. Bitteschön: Correctiv und die Nazi-Vorstellungen bzgl. Remigration.
In dieser Aufzählung darf Karl-Heinz Hoffmann nicht fehlen. Hoffmann ist ein extremer Rechtsextremist. Er hat die Wehrsportgruppe Hoffmann gegründet und hat mit 400–600 Kumpels bewaffnet für den Endsieg trainiert. (Ej, liebe Wessis, das gab es in der DDR wirklich nicht. Hört auf, vom „verordneten Antifaschismus“ zu faseln.) Hoffmann ging dann irgendwann doch in den Knast und kam schließlich 1989 wegen guter Führung und positiver Sozialprognose passend zur Maueröffnung wieder raus. Dankeschön! Hoffmann ist aus Kahla (Thüringen), ging sofort wieder rüber, kaufte die halbe Stadt auf und begann Neo-Nazi-Strukturen aufzubauen.
So war es. Wir wissen das. Nur Anne Rabe tut so, als wäre es anders. Weil sie es nicht weiß? Weil sie nie mit jemandem geredet hat? Außer mit Geipel? Weil sich das Gegenteil besser verkauft? Siehe unten.
Verbot des Themas
Anne Rabe nimmt die Kritik an ihrem Buch vorweg: Was wisst Ihr schon, Ihr Nachgeborenen!
„Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut In der wir untergegangen sind Gedenkt Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht Auch der finsteren Zeit Der ihr entronnen seid.“
Der blöde Brecht macht mich noch wahnsinnig. Er marschiert mir gerade rein in die Gedanken und mahnt und mahnt. Bilde dir kein Urteil! Bilde dir ja kein Urteil, du Nachgeborene! Ja, wieso eigentlich nicht? Das ist doch ein billiger Trick. Hinter der wortschönen Mahnerei drei Keller tief Schweigen. Dort habt ihr eure Schuld verbuddelt und verbietet uns, sie auszuheben. Sprecht uns ab, dass wir zu unserem eigenen Urteil kommen. Was kümmert’s euch? Was geht’s euch an, was wir über euch denken?
Tja, Frau Rabe. Hätten’se mal mit Adas Eltern gesprochen. Die hätten Ihnen erzählt, wie die DDR sich für Oppositionelle angefühlt hat. Das wollten Sie aber nicht. Sie haben sich geschämt. Wenn Sie ein Sachbuch über den Osten schreiben wollen oder einen sachlich richtigen Roman, dann müssen Sie recherchieren. Sie können sich nicht einfach etwas aus den Fingern saugen, von dem Sie annehmen, dass es sich gut verkauft. Die „drei Keller tief Schweigen“ fantasieren Sie herbei. Oder sie sind da. Im Haus Ihrer Eltern. Aber da hätten Sie vielleicht nicht suchen dürfen. Es ist alles besprochen und Sie haben es availible at your fingertips: einen Klick entfernt. Alles, was hier steht, kommt aus Wikipeidia bzw. den dort verlinkten Quellen. Sie habe es nicht für nötig gehalten, den Artikel über Lichtenhagen, den über Kindstötungen zu lesen. Sie dachten, dass Sie genug wüssten. So wie fast alle, die in Zeitungen und Zeitschriften über Ihr Buch geschrieben haben, sich in ihren Vorurteilen bestätigt sahen. Ich würde Ihre Arbeit nicht als Plagiat einordnen, aber als ein glattes „Durchgefallen“.
Schwarz: Das ist natürlich ein Buch auch, was, und das sage ich jetzt mal ganz bewusst als Westdeutsche, die Bundesrepublik total entlastet.
Rabe: Das ist aber interessant, weil das ist schön, dass man das immer, weil ich habe gar nicht an die Bundesrepublik gedacht dabei und ich sage das auch immer wieder, weil ja manchmal auch so Leute kommen ja aber in Westdeutschland gab es das auch und so. Da sag ich immer ja wunderbar, bitte schreibt die Bücher, weil ich finde, ich lese die auch gerne. Ich kann nur nichts darüber schreiben.
Schwarz: Aber Sie wissen was meine, ne?
Rabe: Ich weiß total, was Sie meinen.
Schwarz: Ich habe mir auch so gedacht, okay, warum lade ich denn jetzt Anne Rabe ein, um mit ihr über die dieses Buch zu reden. Warum spricht mich dann dieses Buch an? Hat das damit zu tun, dass es sozusagen …
Rabe: Ich könnte jetzt was ganz böses sagen.
Schwarz: Bitte. Nur zu.
Rabe: Das ist wirklich interessant, weil deswegen meinte ich, ich habe gar nicht an Westdeutschland gedacht bei dem Schreiben. Und ich finde auch nicht, dass man immer, wenn man über den Osten schreibt, damit automatisch was über den Westen sagt. Aber, dass sie als Westdeutsche anscheinend sofort denken, naja, das bedeutet was für mich als Westdeutsche, oder das bedeutet etwas Entlastendes für mich als Westdeutsche, wo der Westen eigentlich gar keine Rolle spielt in diesem Buch.
Das kann nicht sein. Rabe hat Germanistik und Theaterwissenschaft studiert. Sie hat den PEN Berlin mitgegründet. Sie ist politisch aktiv, Mitglied der SPD. Sie ist entweder absolut naiv oder durchtrieben. Das Buch schlägt genau in die Kerbe, in die von 60% der taz-Autor*innen und von weiß nicht wie vielen Autor*innen in Zeit, FAZ, Spiegel usw. geschlagen wird. Die Wunde ist tief und schmerzt. Und wenn keine neuen Schläge kommen, wird mal eben ein bisschen Salz reingeschüttet. Dieser Blog ist voll von Beispielen. Nur Frau Rabe hat von diesem Ost-West-Diskurs noch nichts gemerkt, obwohl sie ja einen Termin mit Oschmann auf der Leipziger Buchmesse hatte (zu dem Oschmann nicht gekommen ist).
Und weiter:
Schwarz: Ja, das bedeutet halt etwas …
Genau! Das lernt man in Pragmatik. Im Germanistik-Studium. Als Autorin und politischer Mensch sollte man das allerdings auch ohne Studium sehen können.
Rabe: Aber es ist ihr Zentrum anscheinend sofort wieder und vielleicht auch das Zentrum dieser Bundesrepublik immer noch zum Teil.
Schwarz: Ja, glaube ich jetzt nicht, dass es mein Zentrum ist, aber es bedeutet etwas für den Diskurs über Ostdeutschland, das es mir nicht so gefällt … […] Rabe: Das stimmt schon mit der Entlastung, aber das würde ich mir nicht anziehen.
Das Buch ist ein Erfolg und wird gefeiert, weil es den Westen entlastet. Die Ossis sind scheiße, alles Psychos, die in Schulen Amok laufen, ihre Kinder massenweise töten, Nationalisten und Antisemiten. Wir haben es immer gewusst und Anne Rabe hat es in ihrem Nicht-Sachbuch noch einmal gut zusammengefasst. Anschaulich bebildert mit Material aus ihrer eigenen Kindheit. Ich habe in der vergangenen Woche einem Professor für Politikwissenschaften einen kritischen Brief geschrieben. Er hat mir eine lange Antwort-Mail geschickt und mich dazu aufgefordert, doch einmal das Buch von Anne Rabe zu lesen. So gehen Fake News in unser Allgemeinwissen ein. Es wird in der Politikwissenschaft und in der Geschichtsforschung zitiert werden, obwohl es eben kein Sachbuch ist, obwohl es nicht von Fachwissenschaftler*innen begutachtet wurde.
Hier ein paar Ausschnitte aus den Rezensionen:
Die Zumutung dieses Buches besteht darin, erschütternde Lieblosigkeit und rohe Gewalt als Regelfall, nicht als Ausnahme dazustellen. Zu diesem Zweck durchziehen Archivrecherchen, Gesetzestexte und Umfrageergebnisse die 50 kurzen Kapitel. Sie vermischen sich mit Erinnerungen, Traumsequenzen und literarischen Zitaten zu einem kaleidoskopartigen Text.
Archivrecherchen hat es zu Anne Rabes Verwandten gegeben, aber wenn es Recherchen zu Rechtsextremen oder irgendwelchen DDR-Themen gegeben haben sollte, so sind sie nicht drei Keller tief gegangen, sondern waren oberflächlich. Umfrageergebnisse zum Osten gab es nicht. Rabe bezieht sich auf Umfragen wie den Erinnerungsmonitor der Uni Bielefeld und die von der Uni Hannover geleitete Mehrgenerationenstudie. Auf Ergebnisse von 2018 aus Bielefeld und es geht dabei um Erinnerungen an die Nazizeit. Diese sind „zu diesem Zweck“ ungeeignet.
Mit den folgenden Zitaten wirbt Anne Rabe selbst auf ihrer Web-Seite:
Liest man dieses Buch, sieht man Deutschland anders.
Dirk Hohnsträter, WDR 3
Ich hoffe, dass das Buch schnell in der Versenkung verschwindet. Und dass Dirk Hohnsträters Behauptung für diesen Blogbeitrag gilt.
Anne Rabe verbindet Archivarbeit mit politischem Essayismus und episodischer Autofiktion.
Katharina Teutsch, DLF Büchermarkt
Das Buch, das man jetzt lesen muss, wenn man nicht nach schlichten Antworten auf die schlichten Fragen sucht, was das Erbe des ersten sozialistischen Staats auf deutschem Boden sein könnte und warum ›im Osten‹ heute ›die Leute‹ wählen, wie sie wählen.
Ich würde ja die Antwort von Anne Rabe als schlicht bezeichnen. Sie nimmt die Gewalt, die sie in ihrer Familie erfahren hat, als monokausale Erklärung für alles.
Die Möglichkeit von Glück‹ (ist) ein Buch, das weit über seinen individuellen Gegenstand hinausreicht. Es erklärt, warum Ostdeutschland eine andere Gewaltgeschichte nach der Wiedervereinigung aufweist als Westdeutschland. (…) Und die auch den derzeit boomenden Büchern, die einer Normalisierung der DDR-Erfahrungen (und damit ihrer Relativierung) das Wort reden wollen, den Boden entziehen. Gegen den pauschalisierenden Blick hilft der aufs individuelle Schicksal. Dass es eines im Roman ist, nimmt ihm nichts an Wahrhaftigkeit. Oder an Erschütterungskraft.
Andreas Platthaus, FAZ
Ja. Ich bin erschüttert.
Wer sind eigentlich die Anderen?
Hier ist oft von „den Wessis“ und „den Ossis“, von „wir“ und „ihr“ die Rede. Das ist schlecht, denn diese Gruppeneinteilung ist Teil des Problems, das auch in diesem Beitrag besprochen wurde. Angefangen bei der Kollektivschuld, über die Scham Rabes, die angebliche Gewalttätigkeit des ganzen Ostens. Ich wollte nie ein Teil von „wir“ sein. Die DDR war mir zuwider. Zumindest der obere Teil. Also nicht Rostock sondern die Staatsführung. In einem Gymnasium in Gelsenkirchen habe ich mal gesagt, dass das Problem mit der DDR gewesen sei, dass die Herrschenden so doof gewesen seien. Das war sicher etwas vereinfachend, aber es war mein Problem. „Ihr“ habt mich zum Ossi gemacht. Prof. Dr. Naika Foroutan beschreibt das in ihrer Arbeit: „Ostdeutsche sind auch Migranten“. Mit „ihr“ sind in ihren Klischees gefangene Journalist*inne, Historiker*innen und sonstige Personen gemeint und ich hätte gehofft, dass „wir“ uns irgendwann auflösen, aber das ist nicht passiert. Wie ich an meinem eigenen Beispiel erfahren habe, werden „wir“ mehr, weil „ihr“ dafür sorgt. „Ihr“ konstruiert „Euch“ den Osten, so wie es der Oschmann gesagt hat. Jetzt helfen „Euch“ „unsere“ Kinder. Ich wünschte, das alles wäre nicht so. Ich wünschte, alle würden miteinander reden. Vielleicht hilft dieser Text.
Ich bin die Andern, Du bist die Anderen. Die Andern haben angefangen! COR: Leitkultur. 2017.
„So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen.“
Ich bitte um Entschuldigung für diesen langen Blogpost. Und das war ja nur der zweite Teil zu den Möglichkeiten für Glück.
Daniela Dahn erklärt in ihrem 1997er Buch über mehrere Seiten, warum ein einziger Satz im West-Ost-Diskurs falsch gewesen ist, und schreibt danach:
So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen. Vielleicht versteht man, daß die Ostler zu solchem Kraftakt auf die Dauer keine Lust haben und oft nur abwinken: Ihr werdet es nie verstehen!
Dahn, Daniela. 1997. Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit S. 68
Ich musste viele Sätze in Anne Rabes Buch kommentieren. Entsprechend lang sind die Blog-Posts geworden. Ich würde mich freuen, wenn sie von genauso vielen Menschen gelesen werden wie Anne Rabes Buch. Das wird wahrscheinlich nicht passieren, denn ich habe keine Buchpreis-Jury und keine Marketingmaschine auf meiner Seite. Nur Euch. Aber vielleicht schaffen wir es ja. Empfehlt die Posts weiter. Danke. Bitte.
Schlussfolgerung
Anne Rabe hat Recht mit ihrer Aussage bezüglich Schlagersüßtafeln!
Danksagungen
Ich danke meiner Such-Maschine Peer für viele Belege und auch für die immer kritische Diskussion. Ich danke meinem kleinen Bruder dafür, dass er mir die Bummi-Hefte gekauft hat, weil die alten, an die ich mich erinnert hatte, irgendwann mal weggeworfen worden waren. Ich danke meiner Frau für die fortwährende Diskussion von Ostthemen. Wenn wir nicht über die Klimakatastrophe reden, reden wir eigentlich nur über den Osten. (Hat eigentlich schon mal jemand versucht, dem Osten die Klimakatastrophe anzuhängen? Ach ne, geht ja gar nicht, denn Deutschland steht ja nur deshalb halbwegs gut in der Klimabilanz da, weil die Ost-Industrie in den 90ern abgewickelt wurde.)
Und ich danke meinem Vater und meiner Mutter für die Erlaubnis, allein als Sechszehnjähriger bis ans Schwarze Meer zu fahren, und dafür, dass sie mich nicht zum Nazi erzogen haben.
Und Ihnen/Euch danke ich dafür, dass Ihr bis hierher gelesen und alle Videos angesehen und alle verlinkten Wikipediaartikel gelesen habt.
Goschler, Constantin. 1993. Paternalismus und Verweigerung: Die DDR und die Wiedergutmachung für jüdische Verfolgte des Nationalsozialismus. In Benz, Wolfgang (ed.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, vol. 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.
Ich habe es geschafft. Ich wollte es nicht, weil mich schon die Kritiken genervt haben (siehe Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten), aber ich habe es gelesen. Das neue Buch von Anne Rabe über ihre Gewalterfahrungen mit ihrer Familie nach der Wende: Die Möglichkeit von Glück. Ich hatte erwartet, ein Buch zu lesen, in dem der Kampf einer Familie in der Transformation nach der Wende im Alltag beschrieben wird und die Gewalt, die aus der damit verbunden Anspannung entstehen konnte. Auf dem Cover steht Roman, aber das Buch ist wohl eher ein relativ gradliniger Bericht über ihre Nachforschungen bzgl. ihrer Familienmitglieder und eine sehr eindrückliche Schilderung der Gewalt, die in ihrer Familie üblich war. Das wird gemischt mit Spekulationen darüber, was die Ursachen für Kindstötungen und Amokläufe im Osten gewesen sein könnten. Das Buch hat ein Quellenverzeichnis und ich dachte schon, dass das ein Zeichen für sorgfältiges Arbeiten sein könnte und das Buch doch so etwas wie ein Sachbuch über den Osten sein könnte, aber das Quellenverzeichnis liefert nur die Quellen für die Zitate, die den Kapiteln vorangestellt sind: Thomas Brasch, Bertolt Brecht, Heiner Müller, Robert Havemann und so.
Leser*innen, die diesen Blog nicht kennen, möchte ich noch die Über-Seite nahelegen. Dort steht etwas über meinen Werdegang. Ich hatte nach der Wende die Möglichkeit, glücklich zu werden, und ich hatte Glück. Ich bin keiner der DDR-Nostalgiker, ich bin nicht wie Anne Rabes Eltern, ich war nie in der Partei, aber ich sehe ein großes Problem darin, wie über die DDR geschrieben wird. Nun auch von unseren Kindern, die sie selbst nie erlebt haben.
Nun los.
Psychoeltern und die Unmöglichkeit von Glück
Anne Rabe tut mir Leid. Sie schildert in ihrem Buch eindrücklich die Gewalt, die sie und ihr Bruder durch ihre Eltern und ihre Verwandtschaft (Tanten, Onkels und Großeltern) erfahren hat und welche Folgen das für sie hatte. Man kann ihre Eltern und besonders ihre Mutter wohl als Psychopath*innen bezeichnen. Normal war das jedenfalls nicht. Ihre Mutter hat sie und ihren Bruder in zu heißes Badewasser steigen lassen und erwartet, dass sie sich irgendwie daran gewöhnen. Einmal war es so heiß, dass ihr Vater sie retten musste (Kapitel 33). Im Frühjahr mussten sie zu leicht bekleidet in die Schule gehen (S. 175). Wenn sie beim Essen mit Messer und Gabel Fehler machten, wurden sie geschlagen, auch von Tanten und Onkels. Und Bekannten.
Da fiel mir dann zum Beispiel ein, wie Tim und ich gelernt hatten, ordentlich mit Messer und Gabel zu essen. Wie selbstverständlich es war, dass einem jeder, von den Eltern über die Tanten und Bekannten, ständig auf die Finger schlug.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 116
Auch sonst gab es „ständig“ Kopfnüsse, so dass der Schädel krachte, und andere Schläge (S. 4, 63, 64). Die Mutter hat wochenlang nicht mit ihr gesprochen (Kapitel 41). Der Vater in dieser Zeit nur einmal aus Versehen. Ihre Mutter hat sie gehasst und wollte sie vernichten (S. 218). In Kapitel 17 wird beschrieben, wie ihre Großeltern ihre Tante vom Babyalter bis zum Alter von drei Jahren in einen Schuppen gesperrt haben, wenn sie schrie. Mit drei hat sie dann aufgehört. Die Mutter der Ich-Erzählerin hat es gehört. Später wurde der Bruder der Ich-Erzählerin in den Schuppen gesperrt und die Ich-Erzählerin hört ihn schreien. Ein Missbrauch durch den Vater wird auf S. 83 angedeutet. Auch der Großvater schlug die Großmutter in Anwesenheit der restlichen Familie (S. 245).
Als sie dann von mir ermuntert noch einmal zum Erzählen ansetzte, landete ein Faustschlag an ihrer Schulter, der sie zu mir rüberwanken ließ. „Nun halt aber mal deinen Mund, Ursel.“ So kannte ich es und Oma Ursel auch. Alle, die dabeisaßen, kannten es auch nicht anders. Keiner sagte etwas.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 245
Das alles ist schlimm, ohne Zweifel. Nur stellt sich die Frage, welche Relevanz diese Schilderungen für die Einstufung des Lebens in der DDR haben. Der Roman wurde in der Presse begeistert aufgenommen, er war sogar auf der Shortlist für den Preis des deutschen Buchhandels 2023. Meiner Meinung nach hat das Buch aber überhaupt keine Relevanz für die Einordnung des Lebens in der DDR. Rabe schießt weit über das Ziel hinaus, wenn sie aus ihrem Leben irgendwas für das ganze Land ableiten will. Sie schreibt ja auch selbst, dass ihre Familie anders war als andere:
Alle Familien haben solche Geschichten. Gemeinsame Erlebnisse, die eine Familie zu einer Familie machen. Geschichten, die man sich immer wieder erzählt. Die Geschichten von einem missglückten Weihnachtsbraten, von Irrfahrten zu einem lang ersehnten Urlaubsziel, Missgeschicke und Tollpatschigkeiten, die einem noch immer die Lachtränen in die Augen treiben. Diese Geschichten, an die man denkt, wenn man Zuhause denkt.
Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 23
Auf der Ebene der anekdotischen Evidenz kann ich nur all denjenigen, die die DDR nicht erlebt haben, entweder weil sie im Westen gelebt haben oder noch nicht gebohren waren, versichern, dass Rabes Mutter nicht normal war. In dem Sinne, dass andere Mütter ihre Kinder nicht zu heiß gebadet haben, dass andere Mütter ihre Kinder nicht verbrüht haben. Ich bin in meiner Kindheit wahrscheinlich von meinem Vater geschlagen worden, an konkrete Vorfälle kann ich mich nicht erinnern, aber Ohrfeigen gab es wahrscheinlich. Woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich geschüttelt wurde. Das war aber auch selten. Der Zugang zum Werkzeugschrank meines Vaters war bei Androhung „mordsmäßiger Dresche“ verboten. Wahrscheinlich wollte er verhindern, dass ich mir eine Ahle ins Auge stoße oder so was. Die Drohung war krass und der Erfolg durchschlagend: Ich fasse bis heute keine Werkzeugkisten an (Ich glaube, bei so einem ernsten Thema muss man Ironie markieren. Mein Vater hat mit mir gebastelt. Das war schön und ich durfte auch sein Werkzeug benutzen.). Meine Mutter hat mich nie geschlagen. Sie hat es einmal versucht. Da war ich schon 16. Ich hatte sie wirklich zur Weißglut gebracht und sie erhob beide Hände und wollte mich von oben herab schlagen. Ich habe beide ihrer Arme an den Handgelenken gegriffen und sie festgehalten. Wir standen uns gegenüber und ich habe sie angegrinst. Ich hatte ein schlechtes Verhältnis zu meinen Eltern. Eher zu meinem Vater. Er war sehr streng und hielt mich für einen Versager. Das Verhältnis zu meinem Vater ist in folgendem Song von Max Goldt (ausm Westen) ganz gut beschrieben:
Foyer des Arts (1982): Familie und Beatmusik. Von Büllerbü nach Babylon. WEA Records.
Nach der Armee war ich genau einen Tag zuhause und bin dann ausgezogen. Wir haben uns wieder verstanden, nachdem ich mein Studium trotz Beatmusik beendet hatte. (Da ging es mir besser als Tim im Buch, dem Bruder der Ich-Erzählerin.) Unser etwas schwieriges Verhältnis kam wohl daher, dass die frühkindliche Bindung fehlte, denn mein Vater war zu meiner Geburt bei der Armee, arbeitete danach in Berlin und war nur an den Wochenenden da. Erst als ich vier war zogen wir alle nach Berlin. Das Verhältnis zu meinen Geschwistern war viel besser.
Also: Es gab bei mir gelegentliche, sehr seltene, körperliche Strafen, aber nichts von dem was Anne Rabe schildert. Und wenn man sich aus heutiger Sicht über die Züchtigungen zu Recht aufregt, dann muss man bedenken, dass das damals noch üblich war. Im Westen wie im Osten. Ich habe in Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten bereits darüber geschrieben: Prügelstrafe in Schulen war im Westen nicht verboten, im Osten sehr wohl. Im privaten Bereich wurde sie erst 2000 verboten, weil eine UN-Vorgabe umgesetzt werden musste. Übrigens durften im Westen bis 1958 nur Väter ihre Kinder verprügeln. Danach waren die Frauen gleichgestellt. Was für ein Fortschritt!
Ich war bei meiner Tante in den Ferien. Zwei Wochen. Sie waren auch öfter bei uns. Ich war regelmäßig bei meinen Großeltern väterlicherseits und bei meinem Großvater mütterlicherseits in den Ferien. Mein Opa war der lustigste, freundlichste und gutmütigste Mensch der Welt. Er hat meine Oma nicht geschlagen und auch sonst niemanden. Niemand, niemand von den Erwachsenen hat mich je geschlagen. Das gilt auch für mein gesamtes anderes Leben. Lehrer und Lehrerinnen, Trainer im Sportverein (Schach, Leichtathletik, Karate), Erwachsene in Arbeitsgemeinschaften (Astronomie, Mathematische Schülergesellschaft), Eltern anderer Kinder und sonstige Bezugspersonen. Nie!
Am 8. Oktober 1989 war ich vor der Gethsemanekirche und wir haben gerufen: Keine Gewalt!
(Vielleicht ist es ja auch das, was dem Westen gefällt: Das Buch von Anne Rabe kann man jetzt dazu benutzen, die Geschichte von diesem einen großen Erfolg der Ossis, dem gewaltlosen Systemumsturz, zu zerstören. Denn in Wirklichkeit waren wir ja alle gewalttätig.)
Eine Sache gehört noch in diesen Abschnitt. Anne Rabe schreibt über das Stillen und das Durchschlafen und den Umgang mit Kindern:
Meine ersten Tage habe ich im Säuglingszimmer zwischen anderen Schreihälsen verbracht. Zu festen Zeiten hat man uns unseren Müttern zum Stillen übergeben und dann gleich wieder in die kleinen Bettchen gelegt. […] Mich hätte man schon nach wenigen Wochen abends einfach bloß ins Bett legen brauchen. Dort sei ich dann eingeschlafen. Ganz von allein. Oder ganz allein. Das Wichtigste für einen ordentlichen Schlafrhythmus sei es, die Stillzeiten einzuhalten, betonte Mutter. Nach vier Wochen hätte ich schon durchgeschlafen.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S.13–14
Tja, viele in meinem Alter werden das kennen. Viele werden Rechtfertigungen ihrer Eltern kennen. Nur hat das alles nichts mit der DDR zu tun. Die Ursprünge kann man ziemlich genau zurückverfolgen zum Buch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind von Johanna Haarer von 1934.
Titel von Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Erstausgabe 1934.
Ihr drittes Buch hieß übrigens Mutter, erzähl von Adolf Hitler! und erschien 1939. Ihre Bücher wurden nach dem Krieg durch die Alliierten verboten. Die deutsche Mutter war jedoch nicht totzukriegen und wurde bis 1987 unter dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ weiter veröffentlicht. Wikipedia listet drei Auflagen. Die ersten beiden in Nazi-Deutschland 1934 und 1941. Die zweite dann 338.–440. Tausend Bücher und die letzte Auflage von 1987 dann mit 1222.–1231. Tausend der Gesamtauflage. Wie viel der letzten Auflage verkauft wurde, weiß man nicht, aber es dürften mindestens 1.222.000 Bücher im Umlauf gewesen sein. Ihr könnt ja mal bei Euren deutschen Müttern bzw. Euren deutschen Eltern ins Bücherregal gucken, ob da noch was steht. Theoretisch könnte natürlich auch in der DDR was von den ersten 690.000 Büchern (Kratzer, 2018) übrig geblieben sein, aber da man für Nazi-Literatur bestraft werden konnte, ist es eher unwahrscheinlich. Neu kaufen konnte man es jedenfalls nicht. Wikipedia schreibt dazu: „In der 1949 gegründeten DDR wurde Haarers Buch nicht verlegt.“
Die Zeit-Autorin Anne Kratzer schreibt zum Buch:
„Das Kind wird gefüttert, gebadet und trockengelegt, im Übrigen aber vollkommen in Ruhe gelassen“, riet damals Johanna Haarer. Sie schilderte detailreich körperliche Aspekte, ignorierte aber alles Psychische – und warnte geradezu vor „äffischer“ Zuneigung: „Die Überschüttung des Kindes mit Zärtlichkeiten, etwa gar von Dritten, kann verderblich sein und muss auf die Dauer verweichlichen. Eine gewisse Sparsamkeit in diesen Dingen ist der deutschen Mutter und dem deutschen Kinde sicherlich angemessen.“ […] statt in einer „läppisch-verballhornten Kindersprache“ solle die Mutter ausschließlich in „vernünftigem Deutsch“ mit ihm sprechen, und wenn es schreie, solle man es schreien lassen. Das kräftige die Lungen und härte ab.
Die Kindererziehung im Westen wie im Osten war früher sehr anders. Das hat sich erst im Laufe der Zeit geändert. Hier irgendwie dem Osten einen Strick drehen zu wollen oder Osteltern Vorwürfe machen zu wollen, die man nicht auch Westeltern machen würde, ist ungerechtfertigt.
Und auch noch zu meinem eigenen Erleben als Vater. Ich liebe meine Kinder. Jeden Tag mehr. Ich empfinde eine äffische Zuneigung zu ihnen, ich habe sie nicht in den Schuppen gesperrt, sondern hin und her getragen und gesungen: „Widewidewende heißt meine Puthenne, Sausewind heißt mein Kind, Groterjan heißt mein Hahn, Wiedewiedewende heißt meine Puthenne. Kunterbunt heißt mein Hund. Wiedewiedewende heißt meine Puthenne.“ OK, der Text entsprach nicht genau dem, was man auf youtube sehen kann, aber ich habe auf jeden Fall länger als 2:48 min gesungen. So lange, bis es gut war. (lange, lange) Und ich habe sie ganz fest gehalten. Meine Tochter ist, seit sie ein Jahr alt ist, in der Pubertät. Der ganze Prenzlauer Berg kennt sie. Sie ist eine Legende. Ihr könnt fragen.
Aber manchmal, wenn ich sie auf dem Arm hielt, habe ich mir vorgestellt, sie einfach fallen zu lassen. Ich dachte, dann ist sie wieder weg. Dann ist alles vorbei.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S.14
Ich weiß warum. Ich kann das verstehen und die völlig fiktionale Person im Roman tut mir Leid. Aber ich würde meine Kinder nie fallen lassen. Ich liebe sie und zwar so sehr, dass ihre Zukunft eine meiner Hauptsorgen ist, weil wir gerade dabei sind, ihre Lebensgrundlagen zu zerstören. Weil mir das alles so wichtig ist, ist die Klimabewegung zu meinem Hauptarbeitsgebiet als Fotograf geworden (Früher war ich Musikfotograf. Ach, war das schön. No future und so.).
Amokläufe
Anne Rabe führt den Amoklauf in Erfurt auf die Ostsozialisation des Amokläufers zurück und beschwert sich darüber, dass das in der Presse damals nicht so gesehen wurde:
Es war der erste sogenannte Amoklauf in Deutschland. Er geschah im Osten des Landes. Aber zum ersten Mal hieß es bei dieser Form der „Jugendgewalt“ nicht, dass es sich um ein Phänomen der Nachwendezeit handeln würde. Die Gewalt an diesem Tag bedeutete siebzehn Tote und eine ganze Schule voller Angst. […] Vielleicht durfte die Tat deshalb nichts mit dem Osten zu tun haben, weil man sie gedanklich über den Atlantik schob. Drei Jahre zuvor hatte es an der Columbine Highschool in den USA ein Massaker gegeben, das Steinhäuser sich zum Vorbild nahm.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S.193
2002 erschoss der Amokläufer elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten und sich selbst. 17 Tote. Rabe fragt: „Wie wahrscheinlich war es denn, dass einer in Erfurt aus den gleichen Gründen schießt wie zwei in Colorado[?] Mobbing, Ballerspiele, Leistungsdruck.“ (S. 194)
Worüber die Eltern, Lehrer und Fernsehreportagen nie sprachen, wenn sie für die Schweigeminuten noch einleitende Worte wählten, waren sie selbst. Nie haben sie gefragt, ob die Schüsse in Erfurt auch etwas mit ihnen zu tun haben könnten. Glaubt denn wirklich jemand, dass einer siebzehn Menschen umbringt wegen Abistress? Dass einer siebzehn Menschen abknallt, weil er ein Computerspiel zu oft gespielt hat? Dass einer siebzehn Menschen hinrichtet, weil er Horrorfilme gesehen hat? Ja, ganz sicher, Robert Steinhäuser hat geschossen, weil Mutti und Vati nicht streng genug waren und seine Medienzeit nicht begrenzt haben.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S.202
Nun gab es aber im Jahre 2009 in Winnenden und Wendlingen einen Amoklauf mit 16 Toten inklusive Amokläufer. Winnenden ist bei Stuttgart, also sehr weit weg von der DDR. Oder zählt das nicht, weil es ein Toter weniger war? Bitte, Frau Rabe, ein bisschen mehr Mühe in der Argumentation hätten Sie sich schon geben können.
Der Psychologe Jens Hoffmann sagt 2016 zu den Amokläufen an Schulen:
Frage: Schulattentäter verfolgen doch keine Ideologie.
Antwort: Doch, interessanterweise gibt es so etwas auch dabei. Erstaunlich viele Schulamokläufer beziehen sich auf das Attentat an der Columbine-Highschool im Jahr 1999. Die beiden Attentäter wollten mit ihren Taten damals eine Revolution der Ausgestoßenen begründen. Das ist vielen auch zwei Jahrzehnte später noch ein Anknüpfungspunkt.
2016 gab es einen Amoklauf in München. Von einer 1998 in München geborenen Person. In Wikipedia findet man dazu Folgendes:
Ehemalige Mitschüler sagten, dass er am Tag der Tat durch eine Schulprüfung gefallen sei.
Die Polizei fand in seinem Zimmer das Buch „Amok im Kopf: Warum Schüler töten“ des US-amerikanischen Psychologen Peter Langman, Zeitungsausschnitte über vergangene Amokläufe und Fotos, die er im Vorjahr an Orten des Amoklaufs von Winnenden aufgenommen hatte. Den Anschlag hatte er über etwa ein Jahr hinweg geplant. Im Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft München I und des Landeskriminalamts wird zudem darauf hingewiesen, dass Sonboly in „seiner Freizeit […] exzessiv am Computer [spielte], insbesondere sogenannte Ego-Shooter-Spiele.“
Das sagt die Forschung zu Erfurt und zu anderen Amoktaten:
Dagegen streben Nachahmungstäter nach der tatsächlichen Umsetzung ihrer Gewaltfantasien (Robertz und Wickenhäuser 2010). Das Columbine-Shooting in Colorado scheint hierbei für viele Jugendliche mit ähnlichen Vorstellungen als „globales Handlungsmodell“ (Levin und Reichelmann 2016, S. 98) zu dienen. Hinweise darauf, dass sich Täter an den Columbine-Taten orientierten, konnten sich in zahlreichen Shoo- tings in den USA, Deutschland, Finnland, Australien, England und Brasilien wiederfinden lassen (Levin und Reichelmann 2016).
So hat man z. B. herausgefunden, dass sowohl der 19-jährige Robert S., der im Jahr 2002 an einem Erfurter Gymnasium 16 Menschen tötete, als auch der 17-jährige Tim K., der im Jahr 2009 an einer Realschule in Winnenden insgesamt 15 Menschen erschoss, vor ihren Taten Internetrecherchen über die Columbine-Täter durchführten. Zudem wurden auf dem Computer von Robert S. gespeicherte Dateien, u. a. zu den Taten an der Columbine High School, gefunden. Hinweise konnten sich außerdem bei Sebastian B. finden lassen, der in Emsdetten im Jahr 2006 mehrere Menschen in seinem Gymnasium verletzte (Verhovnik 2014). In seinem Tagebuch konnten sich Textpassagen mit deutlichem Bezug zu einem der beiden Columbine-Tätern finden lassen: „ERIC HARRIS IST GOTT! Da gibt es keinen Zweifel.“ (Robertz und Wickenhäuser 2010, S. 174). Imitationen der beiden Columbine-Täter konnten außerdem im Tathergang, in der Kleidung (schwarze Handschuhe und Mantel, umgedrehte Baseball-Kappen), der eigenen Überhöhung (Eric S. schrieb den Satz „Ich bin Gott“ in sein Tagebuch), der Handschrift sowie der Bewaffnung gefunden werden (Robertz und Wickenhäuser 2010; Verhovnik 2014).
Zettl, Max Sebastian et. al. 2019. Ursachen. S. 71.
Zu guter Letzt sei noch angemerkt, dass auch die Behauptung, dass der erste Schulamoklauf im Osten stattgefunden habe, einfach falsch ist. Wikipedia ist in solchen Fragen unschlagbar. Es gibt für jeden Tod und Teufel eine Liste. Hier ist die Liste von Amokläufen an Bildungseinrichtungen relevant. Ihr kann man entnehmen, dass der erste Amoklauf bereits 1871 stattfand. Da können Pieck, Ulbricht und die Honeckers nun wirklich nichts dafür. Auch wenn der Amoklauf in Saarbrücken stattfand: Honecker war da noch nicht geboren. Er kam erst 41 Jahre später auf die Welt. Die geneigte Leser*in möge die Liste selbst konsultieren und schauen, wer wann wen gemeuchelt hat. Ich sage nur kurz: 1964, Köln mit Flammenwerfer3, 1983 in Eppstein, Hessen: Schusswaffen4. Auch nach den oben genannten Amokläufe gab es noch viele weitere mit vielen, vielen Toten, die längst wieder in Vergessenheit geraten sind.
Die folgende Tabelle fasst die Daten, Orte und Opfer der Amokläufe nach 1989 zusammen:
Die Verteilung entspricht also genau dem, was man aufgrund der Bevölkerungsgröße erwarten würde: 13 im Westen, nur drei im Osten. Insgesamt sind die Zahlen aber so klein, dass man nichts aus ihnen ableiten kann.
Was Anne Rabe macht, ist Küchenpsychologie. Sie glaubt, den Grund für alle Gewalt im Osten zu kennen. Es ist unverantwortlich vom Verlag gewesen, dieses Buch zu veröffentlichen und es ist kurzsichtig und ebenfalls unverantwortlich von Rezensent*innen, es zu feiern. Das Buch ist eine Vermischung von autofiktionalem Roman und Sachbuch und der Sachbuchteil hätte so nicht veröffentlicht werden dürfen. Oh, sorry, ich habe die Gesamteinschätzung jetzt schon hingeschrieben, aber es gibt noch weitere Punkte.
Kindstötungen
Zwischen der Schilderung einer Gewaltszene unter Jugendlichen und Kommentaren zu den Baseballschlägerjahren findet man folgenden Satz:
Die Zahl der Kindstötungen ist im Osten Deutschlands in den 90er und 00er Jahren doppelt so hoch wie im Westen und steigt im Jahr 2006 sogar auf das Vierfache an.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 204
Will Anne Rabe uns nahelegen, dass alle ihre Kinder umbringen, weil der ganze Osten durch und durch gewalttätig ist? Ginge es nicht irgendwie differenzierter? Vielleicht spielen ja Dinge wie Armut und Perspektivlosigkeit eine Rolle? Insbesondere bei den so genannten Neonatiziden, bei denen ein Kind direkt nach der Geburt getötet wird. Ich habe versucht, mehr darüber herauszufinden, und bin auf die Studie von Höynck, Behnsen & Zähringer (2015) gestoßen. Die Studie führt mehrere Probleme bzgl. der Daten auf:
Ein Punkt, der das Interesse an der Entwicklung des hier vorgestellten Forschungsprojekts ausgelöst hat, war die ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht unwesentlich höhere Rate von Tötungsdelikten an Kindern in den neuen Bundesländern verglichen mit den alten Bundesländern. Deutlich war aber auch, dass die Frage nach möglichen Ursachen für diesen Befund auf ganz verschiedenen Ebenen liegen können und dass selbst wenn klar wäre, dass es sich nicht z.B. um unterschiedliche Hellfeldraten handelt, sondern um ein tatsächlich höheres Fallaufkommen, ohne Wissen um die jeweiligen Fallgruppenanteile nicht sinnvoll nach möglichen Ursachen gefragt werden kann. Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass die Fallzahlen, die für eine Analyse zur Verfügung stehen, nur bei optimalem Rücklauf Rückschlüsse erlauben. Angesichts des unerwartet schwierigen und zudem regional etwas unterschiedlichen Rücklaufes, der dazu führt, dass pro Jahr und Fallgruppe pro Bundesland oft einstellige Fallzahlen zu verzeichnen sind, ist eine regional vergleichende Darstellung der Belastungszahlen mit den einzelnen Fallgruppen irreführend. Die Opferziffern weisen erwartbar große Unterschiede auf, zeigen aber kein klares Schema. Der einzige Befund, der deutlich wird und aufgrund der verhältnismäßig hohen Fallzahl eine gewisse Belastbarkeit hat, ist, dass vier Bundesländer auffällig hohe Opferziffern bei den Neonatiziden aufweisen. Die durchschnittliche Opferziffer (Opfer pro 100.000 Geburten im selben Jahr) beträgt in dieser Fallgruppe 2,7, die Länderwerte liegen zwischen 0,39 und 11,22. Die vier Länder, die mit Abstand die höchsten Werte aufweisen (7,91 — 11,22), sind Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Der höchste Wert unter den übrigen Ländern liegt bei 3,47. Die kleinste Opferziffer von 0,39 zeigt Schleswig-Holstein. Die Höherbelastung der genannten vier Länder findet keinen zeitlichen Schwerpunkt im Untersuchungszeitraum, sondern streut über die Jahre. Bei allen genannten Werten, dies sei erneut ausdrücklich betont, können Verzerrungen durch den Aktenrücklauf entstanden sein und angesichts insgesamt geringer Zahlen würden sich die Opferziffern schon bei wenigen Fällen Unterschied nennenswert ändern. Geht man davon aus, dass der Rücklauf nicht systematisch verzerrt ist, stellen die genannten Zahlen jedenfalls Unterschätzungen dar. Aufgrund der Ausfalls von 41 % gegenüber den Zahlen der PKS kann auch nicht mit Sicherheit geschlossen werden, dass die Höherbelastung der neuen Länder mit Tötungsdelikten an Kindern unter 6 Jahren, die eben aufgrund den Daten der PKS (mit) einen Anlass für die vorliegende Untersuchung darstellte, auf einer Höherbelastung mit Neonatiziden beruht. Die Daten sprechen allerdings durchaus für diese Annahme. Über die Gründe hierfür kann nur spekuliert werden.
Höynck, Theresia & Behnsen, Mira & Zähringer, Ulrike. 2015. Tötungsdelikte an Kindern unter 6 Jahren in Deutschland: Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997–2006). S.337
Erstens könnte es verschiedene Hellfeldraten geben. Das heißt, im Osten könnten ein größerer oder kleinerer Anteil der Kindstötungen gemeldet worden sein als im Westen. Zweitens sind – wie die Autorinnen der Studie betonen – die Statistiken anhand der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) berechnet worden. Diese spiegeln die Ermittlungsergebnisse, d.h. Vermutungen über Tathergänge und Schuld wieder. Wichtig sind aber die Prozessakten, denn es kann sich in einem Gerichtsverfahren die Unschuld einer beschuldigten Person herausstellen. Da der Rücklauf nur bei nur 59% der Akten lag, ist die Zahl der untersuchbaren Fälle noch niedriger als ohnehin schon.
Und dann, liebe Anne Rabe, sie stoßen ein ganzes Land in die Scheiße bzw. kippen Scheiße über ihm aus. Wenn Sie das tun, sollten Sie ruhig, rational und sehr genau vorgehen. Was Sie schreiben ist – so wie sie es geschrieben haben – garantiert falsch. Denn Sie schreiben über die absoluten Zahlen der Kindstötungen. Untersucht wurde die Anzahl der Kindstötungen unter 100.000 Kindern im Alter unter 6 Jahren. Die absoluten Zahlen für 2006 sind für Westdeutschland 48 und für Ostdeutschland 34. Die Zahlen für die anderen Jahre kann man ebenfalls der Tabelle entnehmen:
Höynck, Theresia & Behnsen, Mira & Zähringer, Ulrike. 2015. Tötungsdelikte an Kindern unter 6 Jahren in Deutschland: Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997–2006). S. 17
Wie die Autorinnen anmerken, sind das (rein mathematisch gesehen) sehr kleine Zahlen, was eine sinnvolle Auswertung erschwert:
Zu beachten ist zudem, dass Delikte erst nach Abschluss der Ermittlungen, und damit frühestens im Jahr ihres Bekanntwerdens in die PKS aufgenommen werden, was nicht in jedem Fall identisch mit dem Jahr der Tatbegehung ist. In einem extremen Fall wie dem der neun tot aufgefundenen Neugeborenen in Brieskow-Finkenherd führt dies aufgrund insgesamt kleiner Fallzahlen bereits bei einer nur groben regionalen Untergliederung zu einer spürbaren Verzerrung der Statistik für das Erfassungsjahr 2006 (vgl. die Werte für Ostdeutschland in Abbildung 1).
Höynck, Theresia & Behnsen, Mira & Zähringer, Ulrike. 2015. Tötungsdelikte an Kindern unter 6 Jahren in Deutschland: Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997–2006). S. 16
Rabe erwähnt den Fall in Brieskow-Finkenheerd (spricht allerdings von Frankfurt/Oder). Dass die Fälle von Kindstötung, die zwischen 1988 und 1999 stattgefunden haben, wie sie selbst schreibt (S. 203) in die Statistik des Jahres 2006 eingehen, ist ihr nicht klar.
Vielleicht kann man nicht von jeder Autorin verlangen, dass sie sich wirklich mit Statistik beschäftigt, aber von einer Autorin, die ein politisch brisantes Buch schreibt, sollte man das verlangen. Und erst recht von einem Verlag, der das Buch dann herausbringt. Und von Rezensenten, die das Buch besprechen. Ich habe mich einen Tag mit dem Thema Kindstötung beschäftigt und ohne Fachwissenschaftler zu sein, die hier diskutierte Information gefunden. Warum hat das niemand von den genannten Personen getan? Weil das Bild, das die Autorin zeichnet, gar zu schön ist? Weil es passt?
Die Fallzahlen bei den extremeren Fällen sind niedrig. Man kann und muss jeden Einzelfall ansehen. Zur Einordnung in ein Gesamtbild braucht man eine Qualifikation. Jemand der wie Anne Rabe Germanistik, Theaterwissenschaft und Szenisches Schreiben oder wie ich Informatik studiert hat, hat diese Qualifikation nicht. Auch die Lektorin Corinna Kroker (Buchwissenschaft / Verlagspraxis, Literaturwissenschaft, Spanisch und Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München) und die Jury des Deutschen Buchpreises 2023 haben diese Qualifikation nicht. Aber alle sind hochgebildete Menschen, denen zumindest klar sein sollte, dass sie nicht über die relevante Qualifikation verfügen.
Die FAZ berichtet schon 2006 über Untersuchungen von Ulrike Böhm (Uni Leipzig). Die Forscher*innen haben 1000 Todesfälle überprüft und kommen zu folgendem Schluss:
Dafür, daß Kinder im Osten Deutschlands häufiger an Mißhandlung oder Vernachlässigung sterben als im Westen, haben die Leipziger Forscher keine Belege gefunden. Auch sieht Böhm die Aussage des Kriminologen Christian Pfeiffer, das Risiko für Kinder in Ostdeutschland, von ihren Eltern mißhandelt zu werden, sei gut doppelt so hoch wie für Kinder in Westdeutschland, durch ihre Ergebnisse nicht bestätigt. „Der Unterschied liegt eher zwischen Großstadt und ländlichem Raum.“
Diese Aussage ist interessant, denn sie deckt sich mit Befunden zu rechtsextremen Einstellungen. Auch da ist es so, dass es einen Stadt-Land-Unterschied gibt. Der Osten hat über weite Teile des Landes eine ländlichere Struktur und vergleichbare Gegenden im Westen sind ähnlich in Bezug auf politische Ansichten („Die These vom Rechtsruck im Osten ist Unsinn.“. Berliner Zeitung. 08.07.2023)
Kinderpornographie, Pädophilie und Vergewaltigung in der Ehe
Wollen wir wirklich einen Krieg anfangen, in dem wir gucken, wer scheißer ist? Mir fallen diverse Kinderpornohandelsringe ein, Skandale auf Zeltplätzen (Missbrauchsfälle in Lügde: „Das ist abgründig“), Missbrauch durch Kirchenmenschen. Katholische und evangelische. Misshandlungen in Kinderheimen, oft mit kirchlichen Trägern (siehe Blog-Post Kinderverschickung und die DDR?). Brutale Fälle von Kindesmissbrauch in Saarbrücken. Mütter, die anderen ihre Kleinkinder und Babies für Sex anbieten. Es gibt schlimme Dinge, hier wie da. Soll man daraus was ableiten? Etwas über den Osten? Etwas über den Kapitalismus?
Und wie war das mit der Vergewaltigung in der Ehe?
Panorama. 1995. Vergewaltigung mit Trauschein.
Wer war 1997 nach 25jähriger Diskussion im Bundestag gegen die Gesetzesänderung, die diese Vergewaltigungen erst anderen Vergewaltigungen gleichsetze? 183 Nein-Stimmen, darunter Horst Seehofer, Volker Kauder und Friedrich Merz. Die Namen sind fein säuberlich in den Bundestagsprotokollen notiert. Originaltöne der Männer zum Thema kann man im Panorama-Beitrag sehen.
Warum kein Sachbuch?
Cornelia Geißler von der Berliner Zeitung fragt in einem Interview: „Wie kam es nun zum Roman? Warum haben Sie kein Sachbuch geschrieben?“. Die Antwort ist interessant:
Weil die Fiktionalisierung mir mehr Freiheit lässt. In einigen Bereichen gibt es einfach zu wenige Zahlen, um sie als Fakten beschreiben zu können. Das betrifft zum Beispiel Kindesmisshandlung, da wurde die Forschung in der DDR eingestellt, auch sexualisierte Gewalt war in der DDR tabuisiert, auch dazu gab es keine Studien, nur eine lose Sammlung von Fragebögen von Bürgerrechtlerinnen. Im Roman kann ich Dinge nebeneinanderstellen und nebeneinander wirken lassen, ohne sagen zu müssen, dieses folge zwangsläufig aus jenem.
Das ist eine ehrliche Antwort. Aus der DDR-Zeit gibt es sicher zu wenig Zahlen. Aber Anne Rabe verbreitet Unwahrheiten über die Nachwendezeit, wie ich oben detailliert dargelegt habe. Die Information, die sie gebraucht hätte, liegt praktisch auf der Straße. Ich habe alles innerhalb eines Tages herausfinden können. Es gibt ausführliche Wikipedia-Artikel zu den Themen und in denen findet man die Verweise auf die Fachliteratur. Schön, dass Anne Rabe selbst sagt, dass sie einfach Dinge nebeneinander stellt, ohne eine kausale Wirkung zu behaupten. Das ist der Unterschied zwischen Semantik und Pragmatik. Die Leser*innen und Rezensent*innen zeihen die Schlüsse selber. Ich war’s nicht, ich war’s nicht. Ich habe nur Fakten nebeneinandergestellt, die Vermutungen darüber, was ich damit gemeint haben könnte, habt ihr selbst gezogen. Und dazu waren die Fakten noch nicht mal Fakten.
Gewalterfahrung von Kindern im Osten und Westen
(Abschnitt am 20.05.2024 eingefügt)
Anne Rabe berichtet von einzelnen Vorkommnissen, von denen man nicht weiß, ob sie wirklich so stattgefunden haben. Manches ist einfach unplausibel. Auf der Ebene der anekdotischen Evidenz ist es aber ohnehin nicht möglich, zu einem tragfähigen Ost-West-Vergleich zu kommen. Dazu braucht es empirische Studien. In Gesprächen (z.B. im taz-Lab 27.04.2024 mit Simone Schmollack und im oben zitierten Interview mit Cornelia Geissler) weist Anne Rabe darauf hin, dass es keine Studien aus DDR-Zeiten gibt. Allerdings hat Sabine Rennefanz am 30.09.2023 im Tagesspiegel auf eine Studie mit 5800 vor 1980 geborenen Teilnehmer*innen aus West und Ost zu deren Gewalterfahrungen in der Kindheit berichtet (Ulke C. et al. 2021). Die Studie wurde im Jahre 2021 an der Uni Leipzig durchgeführt und von den Medien weitestgehend ignoriert. Das Ergebnis war, dass es im Westen mehr körperliche und sexuelle Gewalt gab (Zum Beispiel besonders deutlich: 13,2 % der westdeutschen Frauen haben in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erfahren. Im Osten waren es 7,8 %). Anne Rabes Theorie vom diktaturgeprägten gewalttätigen Osten entbehrt also jeder empirischen Grundlage. Die Fakten waren vor der ersten Auflage 2023 und während der Zeit, in der die Jury des deutschen Buchpreises die Bücher für die Shortlist auswählte.
Zusammenfassung
Ich denke, dass Anne Rabe eine schreckliche Kindheit in einer schrecklichen Familie (inklusive Tanten, Onkels und Großeltern) hatte. Sie hat sich daraus befreit, aber die Konsequenzen und Schlussfolgerungen, die sie zieht, sind nicht tragfähig. Ihre Erfahrungen sind nicht verallgemeinerbar. Behauptungen im Buch sind nicht belegt und wenn man nachforscht, stellt sich heraus, dass sie nicht belegbar oder an den Haaren herbeigezogen (bitte entschuldigt das gewalttätige Bild) sind.
Danksagungen
Ich danke Immanuel Zirkler, der den Panorama-Beitrag zur Vergewaltigung in der Ehe, gefunden hat, und allen Diskussionsteilnehmer*innen auf Mastodon.
Quellen
Beer, Maximilian & Hollersen, Wiebke. 2023. „Die These vom Rechtsruck im Osten ist Unsinn.“. Berliner Zeitung. 08.07.2023. (https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/die-these-vom-rechtsruck-ist-unsinn-forscher-ueber-ostdeutschland-extremismus-und-afd-li.366563)
Höynck, Theresia & Behnsen, Mira & Zähringer, Ulrike. 2015. Tötungsdelikte an Kindern unter 6 Jahren in Deutschland: Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997–2006). Wiesbaden: Springer. (https://doi.org/10.1007/978–3‑658–07587‑3)
Ulke, C. & Fleischer, T. & Muehlan, H. & Altweck, L. & Hahm, S. & Glaesmer, H. & Fegert, J.M. et al. 2021. Socio-political context as determinant of childhood maltreatment: A population-based study among women and men in East and West Germany. Epidemiology and Psychiatric Sciences (30). 1–8. (doi:10.1017/S2045796021000585)
Zettl, Max Sebastian & Bock, Corinne & Buderus, Petra & Pereira, Anne-Sophie & Gonçalves, Katya & Münch, Eva Elisabeth. 2019. Ursachen. In Böhmer, Matthias (ed.), Amok an Schulen: Prävention, Intervention und Nachsorge bei School Shootings. Wiesbaden: Springer. (https://doi.org/10.1007/978–3‑658–22708‑1)
(Dieser Blog-Beitrag ist aus einem Mastodon-Post vom 30.01.2024 mit anschließender Diskussion entstanden. Ich danke allen, die sich an der Diskussion beteiligt haben.)
das verleugnete Wissen um den Holocaust und die Verbrechen des NS-Regimes konnte sich gleichwohl durch das Beschweigen auf verquere Art und Weise auf die nächsten Generationen übertragen.
Die Nachfolgegenerationen sind auch heute noch mit der sprachlosen Weitergabe eines schuldbelasteten Erbes konfrontiert.
Dies gilt für den Westen, aber noch stärker für den Osten Deutschlands: Unter dem dünnen Firnis des staatlich verordneten Antifaschismus wurden in den Familien noch stärker als im Westen Einstellungsmuster tradiert und konserviert, die nahtlos an die Zeit des Nationalsozialismus anknüpften.
So, so. Alles was bei Ihnen (den Autor*innen, solcher Artikel) scheiße ist, ist im Osten noch scheißer. In jedem Artikel. Immer. Seit über dreißig Jahren. Neulich ja auch in dem Beitrag von Garet Joswig.
Sehr geehrter Herr Professor, lieber Kollege, wo ist Ihre Evidenz? Ich bin auch Wissenschaftler. Wenn ich so arbeiten würde, würden mich alle Wissenschaftler*innen in meinem Fachgebiet auslachen! Könnte ich da bitte mal irgendwelche empirische Forschung sehen? Woher wissen Sie das denn? Und dann noch vergleichend Ost-West? Waren Sie jemals in der DDR? Wie groß war die Stichprobe? Nach der Wende? Befragungen?
Aber hey, wie wäre es denn, wenn Sie (Plural für all diejenigen, die völlig evidenzfrei Klischees verbreiten) mal die Juden fragtet, die in der DDR gelebt haben? Jan Feddersen war in der Ausstellung zu Juden in der DDR im jüdischen Museum und bedauerte, dort nichts darüber gefunden zu haben, wie es wirklich war. Nämlich total antisemitisch (siehe Blog-Post Ausstellung: „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR.“). Wenn er richtig gelesen hätte, hätte er gemerkt, dass es diesen Antisemitismus, so wie er ihn sich vorstellt, in der DDR nicht gegeben hat. Aber er weiß ja, dass es ihn gegeben hat. Evidenz ist dann auch irgendwie egal.
Lesen Sie doch mal das Buch Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute: Die Einheit – eine Abrechnung von Daniela Dahn, einer Jüdin. Darin geht es auch um Antisemitismus, u.a. über Friedhöfe und was da wie passiert ist und den Vergleich mit dem Westen, wo Neonazis jüdische Gräber in die Luft gesprengt haben. Und gehen Sie in die Ausstellung im jüdischen Museum, falls die noch läuft.
Bei einer Diskussion Ihres Beitrags auf Mastodon hat sich dann auch ergeben, dass es nicht nur so ist, dass Sie keine Evidenz für Ihre Anwürfe haben, sondern dass es sogar so ist, dass es Evidenz für das Gegenteil Ihrer Behauptung gibt. Interessanterweise wird diese ebenfalls von Daniela Dahn vorgebracht.
Wie SepiaFan, von dem auch das Bild seines Bücherregals mitgeschickt wurde, angemerkt hat, zitiert Daniela Dahn in Westwärts und nicht vergessen eine Emnid-Umfrage von 1991 zum Thema Antisemitismus und diese kommt zu dem Ergebnis, dass es in den alten Bundesländern bei 16% der Befragten ausgeprägte antisemitische Haltungen gab, in den neuen Bundesländern bei 4% (S. 58). Wenn man rechtsextreme und antisemitische Einstellungen auf die DDR-Vergangenheit zurückführen will, braucht man wohl Daten aus dieser Zeit, da man bei späteren Umfragen immer auch Einflüsse der traumatischen Nach-Wende-Zeit bekommt.
Daniela Dahn hat übrigens auch ein ganzes Kapitel zum „verordneten Antifaschismus“. Sehr interessante Überlegungen. Ich möchte das Kapitel jedem, der über den Osten und Faschismus schreibt, sehr ans Herz legen. Oder an den Kopf.
Bei der Lektüre dieses Kapitels ist mir klar geworden, dass Daniela Dahn meinen Kampf schon in den 90ern geführt hat (siehe auch Zitat am Ende des Blog-Posts). Sie konnte damals bei Rowohlt Bücher veröffentlichen. Mir war der Osten damals noch halbwegs egal. Jedenfalls soweit egal, dass ich mein Wissen nicht systematisiert und aufgeschrieben habe. Das habe ich dann erst mit diesem Blog begonnen. Und dann wird einem klar, wie schlimm es in Westdeutschland war, wie lange die Menschen nichts wussten oder Dinge, die sie wussten verdrängt haben. Ich erinnere nur einmal mehr an die Skandale um die Wehrmachtsausstellung: Nein, Opi war OK. Der war zwar in der Wehrmacht, aber die haben nur lieb andere Soldaten erschossen. So wie Rommel halt, nach dem noch heute Bundeswehrkasernen benannt sind. Im Osten wussten wir dagegen von Babyn Jar und dergleichen. Hier, damit die Anwürfe nicht immer nur von mir kommen, ein paar Punkte von Wolfgang Pomrehn aus der Mastodon-Diskussion:
Als Wessi überfällt mich bei derlei Lektüre immer Fremdschämen. Als linker Wessi älteren Jahrgangs möchte ich mal ein paar aus der Hüfte geschossene Fakten erwähnen:
Bundeswehr, Geheimdienste und Polizei wurden von alten Nazis aufgebaut.
Auf einigen Lehrstühlen saßen an den Unis bis an den 1980ern alte Nazis, die sich konkret an Verbrechen beteiligt hatten.
Deserteure galten noch viele Jahrzehnte als nach Recht und Gesetz ermordet.
Sinti wurden nach 45 weiter diskriminiert, alte Naziakten über sie weitergeführt.
Nach 1990 wurden Renten an alte Faschisten v.a. im Baltikum gezahlt, die in der SS waren und sich höchstwahrscheinlich an allerlei Verbrechen beteiligt hatten.
Wer über „verordneten Antifaschismus“ in der DDR schwadroniert, will von all dem ablenken, oder ist zu blöd zu sehen, dass er eben dies tut. Das sage ich im Übrigen als jemand, der nie ein Freund der DDR-Regierung gewesen ist.
Ein paar Anmerkungen zu den Punkten: Es gibt in meiner Verwandtschaft einen Angehörigen der Wehrmacht, der in Norwegen Zivilisten erschießen sollte. Er hat sich geweigert und wurde selbst erschossen. Der westliche Teil der Familie hat darüber nie gesprochen, weil sie sich geschämt haben.
Ich habe die Goerdeler-Tochter Marianne Meyer-Krahmer kennen gelernt. Sie hat darüber berichtet, wie ihr Anfang im Westen nach der Entlassung aus dem KZ war. Wie sie als Lehrerin gearbeitet hat und wie die normale Bevölkerung auf sie reagiert hat. Diesen Text hat sie uns gegeben: Mein langer Weg zur Stunde Null.
Irgendwann in den 90ern waren wir in Mannheim. Wir durften bei der Nachbarin derjenigen wohnen, die wir besucht hatten, weil die Nachbarin verreist war. Eine Lehrerin. An der Wand hing ein Bild ihres Vaters. In SS-Uniform. Mit Totenkopf an der Mütze. Die Wohnung war ansonsten piko-bello aufgeräumt. Wenn man irgendwie der Meinung wäre, dass ein SS-Vater etwas Schlimmes ist, dann hätte man den doch wenigstens vorübergehend in die Schublade gepackt. Aber es wahr wohl normal.
In einem Fernsehbeitrag von 1959 vom Hessischen Rundfunk, immerhin 14 Jahre nach dem Krieg, kann man sehen, was west-deutsche Schüler auf Volksschulen von Hitler denken.
Ausschnitt aus der Sendung „Blick auf unsere Jugend“, Teil 1: „Hitler und Ulbricht? Fehlanzeige“ (1959)
Das ist wohl der direkte Reflex der jeweiligen Elternhäuser, unverdorben von irgendeiner Art Geschichtsunterricht: „Hitler hat für das deutsche Volk viel getan, war nur dann schlecht, dass er wahnsinnig geworden ist.“
Diese kleinen Geschichten zeigen Beispiele dafür, wie es im Westen war. Meine beschränkte Wahrnehmung, aber es ist schön, dass diese mit den Wahrnehmungen von Menschen aus dem Westen übereinstimmt.
Also, Herr Professor, lesen Sie die Bücher von Daniela Dahn und arbeiten Sie sorgfältiger.
Und liebe taz, behandelt die Ossis so, wie Ihr andere Minderheiten oder benachteiligte Gruppen behandelt: queere Menschen, Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund. Schreibt nicht einfach irgendwelchen Mist über sie und lasst das auch bei Gastautor*innen nicht zu. Danke!
Ich ende hier mit einem weiteren Zitat aus Daniela Dahns Buch von 1997 (vor 28 Jahren geschrieben):
So viel Richtigstellung ist also nötig, um einen einzigen Zeitungssatz zu widerlegen. Vielleicht versteht man, daß die Ostler zu solchem Kraftakt auf die Dauer keine Lust haben und oft nur abwinken: Ihr werdet es nie verstehen!
Dahn, Daniela. 1997. Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit S. 68
Seit 2013 gibt es Westler, die zuhören und die so tun, als würden sie etwas verstehen, als wären sie eine Alternative, und das ist ein ernsthaftes Problem.
Quellen
Dahn, Daniela. 1997. Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit (Rororo Sachbuch 60341). Hamburg: Rowohlt Verlag.
Ich gendere ja selbst (siehe Gendern, arbeiten und der Osten), aber gewisse Dinge bringe ich einfach nicht über das Herz bzw. den Verstand. Eins davon ist Beamtin. Das Nomen Beamter ist speziell. Es ist eines der wenigen Nomina mit adjektivischer Flexion: Beamter, Gesandter, Verwandter. Adjektive passen sich in ihrer Form an die Eigenschaften des Nomens an:
(1) a. ein grüner Ball
b. eine grüne Pflanze
Genauso ist das bei den Nomina mit adjektivischer Flexion:
(2) a. ein Beamter
b. eine Beamte
Das heißt, unsere liebe Grammatik sieht schon eine feminine Form für Beamter vor. Dummerweise gibt es Synkretismus in den Formen, die man braucht, wenn man den definiten Artikel verwendet:
(3) a. der Beamte
b. die Beamte
Aber da ist ja das Genus auch durch die Form des Artikel vorgegeben. Also: Beamtin, no way!
Edit: Man lernt nie aus. Durch die Diskussion auf Mastodon habe ich gelernt, dass Beamtin die normale Form ist und zwar schon 1946 belegt. Es ist also keine Form, die sich aus dem Gendern und der feministischen Linguistik ergeben hat. Mir war Beamtin 2009 zum ersten Mal aufgefallen.
Das andere sind die Mitglieder*Innen. Hier werden Verbrechen ohne Not begangen. Es ist das Mitglied, das heißt, hier liegt ein Neutrum vor. Der Mitglied und die Mitgliedin gibt es im Singular nicht und auch gegenderte Pluralformen sind Unsinn.
Ich fotografiere ja seit 2019 die Klimabewegung und war auch beim Gründungsparteitag der Berliner Klimaliste dabei. Ich bin als Fotograf strikt neutral, nie an irgendwelchen Diskussionen oder Aktionen beteiligt. Dokumentiere nur. Aber bei diesem Parteitag habe ich mich dann doch eingemischt und habe die Klimaliste davor bewahrt, das Wort Mitglieder:innen in ihrem Parteiprogramm zu haben.
Das Parteiprogramm mit meiner Änderung wurde dann fröhlich angenommen.
Gründungsparteitag radikal:klima: Abstimmung, In der Else, Berlin, 09.08.2020
In der taz habe ich heute gelernt, dass es Menschen gibt, die statt MitgliedMitklit sagen. Liebe Frau*innen, ich muss Euch sagen, Ihr seid hier etwas zu sehr penisfixiert. Im Guten oder im Schlechten. Schaut man im DWDS bei Mitglied nach, kommt man auch zu Glied. Und Glied ≠ Puller, auch wenn diese Bedeutung wichtig ist und bei mancher oder manchem zuerst aufblinkert.
beweglicher, durch ein Gelenk mit dem Rumpf verbundener Körperteil des Menschen, der Tiere
einzelner, unabhängig bewegbarer Teil eines Körperteiles
einer von vielen ineinandergreifenden Ringen, die eine Kette bilden
[bildlich] …
[übertragen] Angehöriger, Mitglied
Reihe von zwei oder mehr Personen in einer in mehreren Reihen hintereinander aufgestellten Formation (von Personen)
⟨in Reih und Glied⟩
Generation, Geschlechterfolge
männliches Geschlechtsteil, Penis
Also: Wenn wir Mitglied bei der Klimaliste werden, sind wir einer von vielen ineinandergreifenden Ringen und bilden eine Kette. Wie schön! Das hat erst mal noch gar nichts mit Sex zu tun!
Als letzte Bemerkung: Mir ist schon klar, dass ich hier letztendlich dasselbe mache, wie viele meiner Megastars (siehe Das leidige Thema: Gendern, und ausführlicher hier: Das Theater mit dem Gendern). Meist sehr alte Linguist*innen versuchen uns zu erklären, dass Gendern doof ist und aus den Gründen X und Y systemwidrig und nicht in die deutsche Grammatik integrierbar. Meine Antwort darauf war, dass das natürlich Unfug ist, denn die Menschen gendern einfach, auch wenn es aus grammatischer Sicht ja das generische Maskulinum usw. gibt. Als deskriptive Linguist*innen ist es unsere Aufgabe, den Istzustand zu beschreiben und nicht irgendwem vorzuschreiben, was er oder sie oder es zu tun oder zu lassen hat. Das habe ich so von ebendiesen Superstars gelernt. Wenn es nun nur darum geht, irgendwie Stolperfallen in der Sprache auszulegen und zu nerven, dann ist natürlich auch die Verwendung von Beamtin und Mitklit völlig legitim. Lustigerweise kann auch Mitklit nicht von Merz und Baden-Württembergern verboten werden, denn es ist völlig orthografie-konform. Es stellt sich natürlich aber auch die Frage, was mit denen passiert, die weder Mitklit noch Mitglied sind. Die sind hier wohl in die Ritze gefallen.
Wenn Ihr wissen wollt, was viele Ossis aufregt, dann lest diesen Beitrag in der taz: Den Radikalisierungsmotor stoppen. Gareth Joswig schreibt über Nazis von der Jungen Alternative in Bayern:
Wie radikal die Junge Alternative ist, haben vorletzte Samstagnacht wieder einige ihrer Mitglieder beim Feiern nach einem Parteitag im mittelfränkischen Greding in Bayern zur Schau gestellt. Eine Gruppe von bis zu 30 Personen grölte tanzend in einer Diskothek den stumpfen Neonazi-Slogan: „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“
Soweit so gut, aber dann geht es weiter:
– also exakt jene Parole, die Neonazis 1993 bei den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen riefen, während sie Brandsätze auf ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter warfen.
Was soll das? Lichtenhagen hat in dem ganzen Artikel nichts zu suchen. Was Gareth Joswig hier macht, vielleicht unbewusst, ist zu sagen: Ach gucke, die Bayern sind Nazis, aber die Ossis sind noch viel schlimmer. Obwohl das aktuell für den Artikel nicht der Punkt ist. Solches Ossi-Bashing kommt immer wieder zur Selbstentlastung und ist so was wie Whataboutism oder auch diese Hufeisen-Geschichte: Immer wenn jemand auf die Rechten schimpft, wird auch gleich mal kräftig auf die Linken geschimpft.
Inhaltlich ist es grober Unfug, den Ossis diesen Spruch anheften zu wollen. Wenn man mal bei Google-Books nachguckt, wie diese Phrasen verwendet werden, dann findet man … Überraschung.
Die Phrase „Ausländer raus“ gab es ab 1973 in Buch-Publikationen. (Nebenbemerkung: Den Ossis wird immer erklärt, dass es im Osten Faschismus und Rassismus gäbe, weil es dort kein 1968 gegeben habe. Deshalb ist es natürlich interessant zu sehen, dass die Ausländerfeindlichkeit erst nach 1968 auftrat.)
Am häufigsten war die Phrase um 1992.
Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen fanden im August 1992 statt. Da Bücher eine gewisse Vorlaufzeit haben, bis sie in den Druck und den Handel gehen, dürfte der Höhepunkt der Verwendung ein bis zwei Jahre vor den Ausschreitungen gelegen haben. Das heißt der Spruch geht nicht auf die pöbelnden bepissten Ost-Nazis aus Lichtenhagen zurück, sondern war schon vorher weit verbreitet. Man kann sich die Stellen in den Publikationen auch ansehen, indem man unten auf die Jahreszahlen klickt. Man findet dann Publikationen, die sich mit Ausländerhass beschäftigen.
„Gastarbeiter raus!“ in Arbeit und Arbeitsrecht von 1976.
Hier ein Ausschnitt aus einem 1984 erschienen Buch:
Ausschnitt aus „Türken raus? oder Verteidigt den sozialen Frieden: Beiträge gegen die Ausländerfeindlichkeit von 1984 im Rowohlt-Verlag erschienen. Es geht auch um Gewalt gegen Ausländer*innen.
Die Parole wird Anfang der 80er in vielen Publikationen im Zusammenhang mit der NPD diskutiert.
Wir können uns noch mal den Stand zur Wende angucken.
1982 gab es ein Hoch, das dann aber 1989 noch übertroffen wurde. Ein Drittel des Höchstwertes von 1992 war 1989 bereits erreicht. Und es dürfte klar sein, dass die entsprechenden Publikationen nicht in der DDR erschienen sind. In der DDR gab es auch einige Nazis (viel, viel weniger und anders als im Westen nicht in leitenden Funktionen), aber diese hatten keinen Zugriff auf Druckereien. Es konnte nur gedruckt werden, was vom Staat genehmigt wurde. Es gab nicht genug Papier und eben auch nur staatliche Druckereien. Umweltgruppen haben in kleinen Auflagen Untergrundblätter produziert (siehe Umwelt-Bibliothek in Berlin). Von Nazis ist mir nichts dergleichen bekannt und die entsprechenden Druckerzeugnisse dürften es auch nicht zu Google Books geschafft haben. Wenn es die Phrase in Ost-Büchern gegeben haben sollte, dann wohl höchstens als Reflex der Vorgänge und Entwicklungen im Westen. Offiziell war Völkerverständigung und Völkerfreundschaft die Linie im Osten.
Das heißt, von der Phrase „Ausländer raus!“ die irgendwelche besoffenen Jung-Nazis in Bayern grölen, einen Schwenk nach Lichtenhagen zu machen, ist tendenziös und faktenfrei.
In dem Beitrag Geheimplan gegen Deutschland berichtet Correctiv über ein Geheimtreffen von Nazis und Firmeninhabern zum Thema Remigration. Es geht um die Deportation von 20 Millionen Deutschen. Deutsche mit Migrationshintergrund und auch Andersdenkenden. Ich habe mir, wie immer (siehe Der Ossi ist nicht demokratiefähig? Merkt Ihr’s noch?) , den Spaß gemacht, nachzuschauen, wo die Akteure herkommen.
Correctiv gibt folgende Übersicht über die beim Geheimtreffen anwesenden Personen:
AfD
Roland Hartwig (geb. Berlin, 1973 Abitur in Heilbronn), rechte Hand der Parteichefin Alice Weidel
Manche ihrer Überzeugungen habe Mathilda Huss aber nicht einmal in diesen Videos geteilt, sagten mehrere Zeugen ZEIT ONLINE. So soll Huss vergangenes Jahr im kleinen Kreis behauptet haben, dass sich die industrielle Revolution negativ auf den Menschen ausgewirkt habe. Durch die stark gesunkene Kindersterblichkeit würden seither zu viele schwache Kinder überleben, was den Genpool der Menschheit belaste.
Zeit über Huss
Mathilda Huss und Dr. Wilhelm Wilderink sind ein paar und in der Familie gibt es „das eine oder andere Schlößchen“. Das ist bei Ossis eher nicht der Fall, woraus man wohl schließen kann, dass sie auch aus dem Westen ist.
Die Wissenschaftlerin Mathilda Huss und ihr Ehemann, der Jurist Wilhelm Wilderink, sind die neuen Besitzer der Villa Adlon. Sie haben das Haus, das Louis Adlon 1925 für sich und seine zweite Frau Hedda am Lehnitzsee bauen ließ, im März 2011 gekauft und wollen es so detailgetreu wie möglich rekonstruieren. „Wir haben ein Faible für geschichtsträchtige Gemäuer“, sagt Mathilda Huss. „Mein Mann ist in einer alten Klosteranlage aufgewachsen. In meiner Familie gibt es das eine oder andere Schlösschen – wir sind mit dem Thema groß geworden und wissen, dass es eine Herausforderung ist, in alter Bausubstanz so zu leben, dass es funktioniert.“
Henning Pless (Kiel, rechtsextremer Heilpraktiker und Esoteriker)
Ein IT-Unternehmer und Blut-und-Boden-Nazi
Ein Neurochirurg aus Österreich
Zwei Angestellte des Hotels
Nachträge
In diversen späteren Publikationen werden noch folgende Personen genannt:
Hans-Ulrich Kopp (Stuttgart, Funktionär in rechtsextremen Organisationen, rechter Publizist, Verleger von rechtsextremer Literatur und Werken von Papst Benedikt und Bauunternehmer, Artikel taz, 26.01.2024)
Von den 22 genannten Personen (ohne Personal) sind 17 aus dem Westen/Österreich und einer aus dem Osten. Bei zweien sind die Angaben ungenau, so dass man die Herkunft nicht ermitteln kann. Bei zweien ist die Herkunft noch unklar, aber es sind wahrscheinlich auch Wessis (Immobilienmaklerin).
Man sagt, Fehler zu begehen, sei nicht dumm. Nur denselben Fehler zum zweiten Mal zu begehen sei dumm. Ich habe denselben Fehler bzw. dieselbe Art Fehler zweimal begangen. Ich habe etwas nicht gelernt, von dem ich davon ausgegangen bin, dass ich es nicht brauchen würde. Im Leben, nicht in der Prüfung.
Die erste Prüfung war die Fahrprüfung. Ich konnte die Fahrerlaubnis für LKW machen, obwohl (mir) klar war, dass ich nie im Leben LKW fahren würde. Es gibt Verkehrsschilder, die nur für LKW relevant sind. Ich habe sie einfach ignoriert. Leider waren diese dann in der Fahrprüfung relevant.
Ein ähnlich gelagerter Fall war die Prüfung in Analysis. Prof. Bank hat mit uns den Satz von der impliziten Funktion besprochen. Der Beweis ging über 1 1/2 Vorlesungen von je 90 Minuten. Stefan dachte sich: Ein Beweis von 135 Minuten kann in einer Prüfung mit 30 Minuten Länge unmöglich drankommen. Die Prüfungen waren so aufgebaut, dass man zuerst in einem Nebenraum Aufgaben lösen musste und dann gab es eine mündliche Prüfung. Ich bekam ein paar Differentialgleichungen und Integrale zu lösen und das war alles kein Problem. In der mündlichen Prüfung war die Frage: „Nennen Sie den Satz von der impliziten Funktion mit all seinen Voraussetzungen und skizzieren sie den Beweis!“ Da ich darauf überhaupt nicht vorbereitet war, kannte ich die neun Voraussetzungen nicht und da ein Beweis nur funktioniert, wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, konnte ich somit auch den Beweis nicht verstanden haben. Das war das Ende der Prüfung.
Prof. Bank irgendwann später, Bild von Familie, danke!
Beim Nachprüfungstermin fragte mich Prof. Bank, ob ich zum Aufwärmen wieder Aufgaben haben wolle. Ich bejahte, da ich Differentialgleichungen und Integrale wirklich sehr gut lösen konnte. Ich hatte mich schließlich gut vorbereitet. Die Aufgabe war: „Geben Sie den Satz von der impliziten Funktion mit all seinen Voraussetzungen an.“ Ich habe acht von neun Voraussetzungen zusammenbekommen. Wir haben uns dann noch ein bisschen über andere Bereiche der Analysis unterhalten und Prof. Bank meinte dann: „Na, gut! Ich gebe Ihnen die Vier. Ich will sie hier nie mehr sehen.“ Ich mochte ihn.
Den zweiten Teil der Analysisvorlesung hatten wir dann bei Prof. März. Die Prüfung bei ihr lief sehr gut. In der DDR gab es ein Studienbuch, in das die Lehrenden die Ergebnisse eintrugen. Beim Eintragen sah sie das Ergebnis der ersten Prüfung und meinte: „Huch, was haben Sie denn hier gemacht?“ Ich war sehr froh, dass sie nicht vor der Prüfung ins Heftchen geschaut hatte. Das hätte eventuell das Ergebnis verfälscht.
In der Wendezeit hatte ich Probleme mit meinen Dozent*innen. Ich konnte es einfach nicht verstehen, dass sie einfach weiter ihre Mathematik betrieben, ohne ein einziges Wort zu dem Chaos zu sagen, dass uns umgab. Die Mathematik war clean, sauber. Sie funktionierte nach 89 genauso wie vorher. Ich fand das entsetzlich. Steril. Tot. Ich habe mir dann etwas gesucht, das auch komplex ist, aber krumm und schief: Sprache. Das Ergebnis ständiger Verhandlungen, Ausbalancierungen von Sprecher*innen (oder Sprechern, wie wir damals sagten). Der einzige Mensch, der etwas sagte, der einzige Mensch, der anders war, der keine Angst hatte, war Bernd Bank. Er hatte einen schwarzen Mantel an und einen roten Stern an der Mütze. Er war Trotzkist. Ich mochte ihn.
Ich habe das Studium in vier Jahren inklusive Auslandsjahr beendet. Über diverse Umwege bin ich 2016 wieder an der Humboldt-Universität gelandet. Als externes Mitglied war ich in einer Berufungskommission in den Erziehungswissenschaften und bin dort mit jemandem zusammengekommen, der mit Bernd Bank im Präsidium zusammengearbeitet hat. Bank war nach der Wende Vizepräsident. Meine Bekannte hat mir erzählt, dass Bank sich mitunter mit „Römisch-katholische Dampfbäder der Humboldt-Universität“ am Telefon gemeldet hat. Ich mag diese Geschichte.
Bernd Bank ist vor einigen Tagen gestorben. Die Telefonzentrale der Römisch-katholischen Dampfbäder der Humboldt-Universität ist jetzt nicht mehr besetzt.
Nachtrag
Beim Nachdenken über den Post ist mir klar geworden, dass ich denselben Fehler sogar dreimal gemacht habe. Ich bin für die Wiederholungsprüfung wahrscheinlich davon ausgegangen, dass der Satz über die implizite Funktion nicht mehr drankommt, weil der ja schon dran war. Entweder hatte Bank gedacht, dass ich denken könnte, dass das Thema jetzt durch ist, oder er fand den Satz so wichtig, dass er noch mal fragen wollte. Im ersten Fall wäre das so eine Art Prüfungsschach und er hätte gewonnen. Ich mag ihn deswegen.
Übrigens ist es vielen Hertz-Schülern so gegangen, dass sie im ersten Studienjahr durch die Prüfungen gefallen sind. Wir hatten den Stoff des ersten Studienjahrs schon in der Schule und weil wir alles schon kannten, haben wir die Prüfungen unterschätzt.
Ich habe das hervorragende Buch von Lutz SeilerStern 111 gelesen. Es handelt von einem jungen Mann aus Gera, der nach Berlin aufbricht, nachdem seine Eltern am Tag der Maueröffnung in den Westen gegangen sind. Das Schicksal seiner Eltern in Aufnahmelagern und bei ersten Jobs wird beschrieben. Folgenden Ausschnitt habe ich mir markiert und auch auf Mastodon gepostet:
Ohne Zweifel gab es Kursteilnehmer, die über UNIX ein paar Dinge fragen konnten, die Walter Bischoff nicht wusste. Sie ließen es ihn spüren, sie versuchten, es ihm zu beweisen. „Das Wichtigste wird sein, dass niemand erfährt, woher du kommst, eigentlich“ — das hatte Karajan gesagt, Cheftrainer von CTZ. Karajan hatte Walter gezeigt, wie das Kursmaterial beschaffen sein sollte, welche Technik ihn vor Ort erwarten und wie sie gehandhabt werden musste. Das Aufwendigste waren die Folien für den Overhead-Projektor. Jeder Kurs war eine Folienwüste. „Ein Ostler, verstehst du, Walter — viele ertrügen das nicht, bei 1000 Mark Kursgebühr pro Tag“, hatte Karajan gesagt.
Lutz Seiler, 2020: Stern 111, Suhrkamp
Diese Abwertung und Arroganz. Sowohl durch den Chef der Ausbildungsfirma als auch durch die Auszubildenden. Ich selbst habe diese Abwertung nie erfahren, aber die Mehrheit der Ostdeutschen wohl schon. Viele Westdeutsche wundern sich, warum die Dinge so laufen, wie sie jetzt laufen, aber sie verstehen immer noch nichts.
Bei der Diskussion auf Mastodon hat mich jemand auf einen Podcast hingewiesen, in dem Andreas Baum und Andi Arbeit über Stern 111 sprechen. Andi Arbeit äußert dann irgendwann folgendes:
Und ich glaub, bei so Akademikereltern stellt sich dann ja auch raus, dass der Vater – wie man sich kaum vorstellen kann – irgendwelche Programmiersprachen kann, mit denen er dann bis in LA irgendwelche wilden Software-Programme irgendwie entwirft und wo man sich auch fragt: Mein Gott, woher konnte der das? In Jena oder irgendwo in irgend ner Uni hat er dann C+ oder C++, ich weiß auch nicht genau, wie die heißt, alles Mögliche gelernt, was ihn dazu befähigt hat, überhaupt dieses Leben zu führen.
Hätte ich nicht beim Abwaschen gestanden, wäre ich wohl vom Stuhl gefallen. Über dreißig Jahre später kommt da dieselbe Arroganz zum Vorschein, die es auch 1989 gab und die im Buch beschrieben ist. Und Andi Arbeit hat es wahrscheinlich nicht einmal selbst bemerkt. Mein Gott, woher konnte der das? Als Ossi! C+ oder C++ oder wie das heißt. Das kann man sich ja kaum vorstellen, dass irgendeiner von diesem nichtsnutzigen Pack zu irgendwas gut war.
Mal schnell noch zwischendurch, bevor wir zum eigentliche Inhalt hier kommen. In der Syntax von C und auch anderen Programmiersprachen gibt es eine Nachfolgerfunktion. Man kann also statt c = c + 1; auch c = c++; oder einfach gleich c++; schreiben. Damit wird der Wert der Variable c um eins erhöht. Die Programmiersprache C++ ist der Nachfolger von C. Eine Weiterentwicklung.
Also: Also! Los.
Karl Marx und ich
Über Karl Marx haben wir in der Schule gelernt, dass er acht Sprachen konnte. Ich habe mich als junger Mann darüber gefreut, dass ich mehr Sprachen als Marx beherrschte. Die meisten davon waren allerdings Computersprachen. Ich konnte BASIC, Pascal (Turbo Pascal), C, C++, ReDaBas (Ost-Kopie von DBASE) und forth. Außerdem konnte ich Z80 Assembler programmieren. Ich kannte mich mit CP/M und Unix aus und hatte mit programmierbaren Taschenrechnern von Texas Instruments (Umgekehrte Polnische Notation, yes), Home-Computern (ZX81, C20, C64, C128, Z9001, KC 85/2) und an russischen Prozessrechnern wie der SM‑4 (Nachbau der PDP-11 von DEC) gearbeitet. Alles noch vor dem Studium. Wie war es mir nur gelungen, dieses Wissen zu erwerben? Als Ossi????
Homecomputer und Computerclubs
In den 80er Jahren kamen die ersten Homecomputer auf. Der ZX80 kostete 100£ und das Nachfolgemodell, der ZX81, fand auch seinen Weg nach Ostdeutschland. Liebe Westverwandte brachten einen mit, manche Arbeitsgruppen hatten solche Westgeräte. Später fand der C64 auch in ostdeutschen Kinderzimmern weite Verbreitung. Mit meinem Freund Peer bekam ich einen Ferienjob bei einem Wissenschaftler in einer Lungenklinik in Buch. Er hatte zwei C64 und auch das Vorgängermodell Commodore VC20. Unser Job war es, Programme aus der Zeitschrift 64er einzugeben. Diese Maschinenspracheprogramme waren dort in Hexadezimalcode abgedruckt. Endlose Zeichenkolonnen. Wozu die Lungenklinik Computerspiele brauchte, war uns nicht ganz klar, aber wir durften die Programme dann auch selbst haben und bekamen noch Geld. Diese Programme bildeten den Grundstock eines Tauschimperiums für Computerspiele, die dann im Haus der Jungen Talente in größeren Tauschkreisen noch vermehrt wurden (Don’t ask about copyrights. War halt ne Mauer dazwischen.). Der Punkt ist: Es gab West-Computer, es gab West-Zeitschriften, die bis zur absoluten Materialermüdung gelesen und weitergegeben wurden. Es gab auch Computer-Bücher von Data-Becker zum Beispiel, die von hilfsbereiten Omas oder Opas über die Grenze gebracht wurden. Es gab Computerclubs und es gab Veranstaltungen für Schüler*innen, bei denen man auch programmieren lernen konnte. Diese Heimcomputer hatten meist einen BASIC-Interpreter dabei, so dass alle BASIC lernen konnten.
Nachtrag 22.07.2024: Peer hat Stasi-Unterlagen zur Computerszene in der DDR gefunden. Diese bestätigen sehr schön, was ich hier geschrieben habe und geben auch Zahlen zum Umfang der Szenen. Die Stasi spricht von zehntausenden Computerbesitzern.
Stasi-Dokument spricht von zehntausenden Computerbesitzern und listet die Typen auf.
Universitäten und Forschungseinrichtungen
Meine Mutter hat Astrophysik studiert, mein Vater Physik. Im Rahmen des Astrophysikstudiums wurden die Student*innen auf dem Zeiss-Rechenautomat 1 (ZRA1) ausgebildet. Mein Vater hat, obwohl das eigentlich nur für die Astrophysiker*innen Pflicht war, auch in dieser Veranstaltung programmieren gelernt. Das war 1964/1965. Während der Mütterkur nach meiner Geburt 1968 lernte meine Mutter COBOL. Sie war nicht ganz sicher, welche Programmiersprache sie brauchen würde. Es stellte sich heraus, dass das die falsche Sprache gewesen war und sie Fortran brauchte, aber auch das war dann kein Problem. Über 20 Jahre später, nach der Wende, wurde meine Mutter entlassen. Sie arbeitete dann in der Weiterbildung für Frauen und brachte ihnen Programmieren bei. In COBOL. Meine Eltern arbeiteten beide an der Akademie der Wissenschaften in der Molekularbiologie an einem Großrechner, der BESM‑6. Noch während der DDR-Zeit lernte meine Mutter auch BASIC und C. Meine Eltern hatten in der Akademie der Wissenschaften Zugriff auf die Fachzeitschriften aus dem Westen. Mein Vater hat zu hause mit einem programmierbaren Taschenrechner von Texas Instruments gearbeitet, den sein Schwiegervater aus dem Westen mitgebracht hatte. Programme wurden auf Magnetkarten gespeichert. Mein Vater konnte MOPS (Maschinenorientierte Programmiersprache für den Robotron 300), alle Fortran-Varianten und Algol 60.
Meine Mutter hat mich auch schon als Schüler zu Kollegen mitgenommen, die Computer zusammen gebaut haben. Ich erinnere mich an Büros mit offenen Computern, wo ich die Platinen sehen konnte. Die Laufwerke.
Ich hatte das Glück, auf die Spezialschule mit mathematisch-naturwissenschaftlicher Ausrichtung Heinrich-Hertz gehen zu können. Dort hatten wir zu Beginn (1982) ebenfalls programmierbare Taschenrechner von Texas Instruments. Später kamen Z9001 dazu, die ersten Heimcomputer der DDR. Die Heinrich-Hertz-Schule ist sogar im Wikipedia-Artiekl über den Z9001 erwähnt. Unser Computerkabinett wurde mit Computern aus den ersten 100 Stück ausgestattet. Mit diesen Rechnern hatten wir speziellen Informatikunterricht, den es an anderen Schulen nicht gab. Wir lernten Grundlagen wie bestimmte Algorithmen und Programmablaufpläne. Mit Peer bekam ich eine Einzelbetreuung im Rechenzentrum der Humboldt-Uni. Wir konnten direkt am Hauptcomputer der HU arbeiten, was die Student*innen zu der Zeit nicht durften. Sie mussten Lochkarten stanzen und diese dann zum Rechnen abgeben. In der elften und zwölften Klasse gab es ein Unterrichtsfach Wissenschaftlich-praktische Arbeit. Die Hertz-Schule hatte Verträge mit dem Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse der DDR (ZKI). Peer, ich und ein Junge aus der Nachbarklasse konnten in der UNIX-Arbeitsgruppe arbeiten. Sie arbeiten an MUTOS. Das war eine UNIX-Variante, die ihren Weg über Österreich-Ungarn in den Ostblock gefunden hatte. Embargotechnik, aber für Geld … Im ZKI habe ich C gelernt. Der Wissenschaftler, der es mir beigebracht hat, meinte zu BASIC: „Wer BASIC gelernt hat, ist versaut für’s Leben!“ Ich habe dann die Arbeit am ZKI der Arbeit im Rechenzentrum der HU vorgezogen, denn die Rechner im ZKI waren besser. Der theoretische Teil in der HU war aber toll. In der HU wurde auch das folgende Dokument ausgedruckt:
Ausdruck von Kernighan & Ritchie, das in Karl-Marx-Stadt eingegeben worden war auf einem Paralleldrucker der Humboldt-Universität.
Das war eine Version des Standard-Buches über C von Kernighan & Ritchie aus dem Jahre 1978. Es wurde für mich auf einem Paralleldrucker ausgedruckt. Der Drucker hatte Typenräder und es wurde je eine Zeile gedruckt. Leider waren die Typenräder nicht gut synchronisiert. Das wurde aber durch das Ruckeln der Straßenbahnen ausgeglichen.
Im ZKI konnten Peer und ich die Bibliothek benutzen und hatten darüber Zugriff auf Computer und Wissenschaftszeitschriften (mc – Die Mikrocomputer-Zeitschrift, c’t, Chip, Bild der Wissenschaft). Die aktuellen Ausgaben waren oft ausgeliehen, aber wir lasen auch alte Ausgaben gern. Peer sorgte auch dafür, dass wir an die Fachzeitschriften in der Berliner Stadtbibliothek drankamen: Nach einem Briefwechsel inklusive Leserbrief an die Berliner Zeitung hatten wir irgendwann ein Gespräch mit dem Direktor der Bibliothek. Ich habe dort als Schüler auch Bücher über die Grundlagen der Hardware von Computern gelesen. Diese Bücher waren ganz normal für alle auch ohne Sondergenehmigung ausleihbar.
Bestätigung des Rechenzentrums der HU, das die Schüler, die dort arbeiteten, Zugang zu West-Literatur benötigten. 02.04.1985
Bei der Armee konnte ich dann letztlich auch mit Computern arbeiten. Ich habe mit Redabas (ein geklautes Ostblock-DBASE) und dann mit Turbo-Pascal gearbeitet. Um in die Computergruppe reinzukommen (lief wohl irgendwie über die ZKI-Connection, die Kontakte nach Strausberg hatten, wo auch MUTOS verwendet wurde), musste ich nachweisen, dass ich das entsprechende Wissen hatte. Ich arbeite nach Dienst an einem Programm für den KC85/2 in Assembler. Die KC85/2 hatten einen U880-Prozessor. Das war die Ost-Variante des Z80.
Zusammenfassung: Es gab im Osten Computer. Die liefen mit denselben Programmiersprachen wie im Westen. Wir hatten Zugriff auf die West-Literatur. Mitunter lief die Literaturbeschaffung etwas holperig, aber man kam dran. Mitunter waren die Ausdrucke etwas holperig, aber man kam zurecht. Wissenschaftler*innen aus ganz verschiedenen Disziplinen haben mit Computern gearbeitet. Allein in meiner Familie war es Physik, Astrophysik, Molekularbiologie, Kristallografie. Das Militär hatte Computer. Nach der Wende arbeitet ich als Studentische Hilfskraft bei der Akademie der Wissenschaften der DDR, Abteilung für Computerlinguistik von Prof. Jürgen Kunze. Die Arbeitsgruppe gab es – soweit ich weiß – seit den 70er Jahren. Sie hatten Computer und haben diese programmiert. Überraschung.
Informatik als eigenes Fach gab es erst relativ spät. Es gab ab 1987 an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Studiengang für Mathematische Informatik. Das war das komplette Mathestudium plus zusätzliche Informatikkurse. In diesem Studiengang habe ich 1989 angefangen zu studieren. In Dresden gab es noch technische Informatik. Dort ging es mehr um die Hardware von Computern.
In Frankfurt/Oder gab es ein Halbleiterwerk, das den Osten versorgt hat. Es brach zusammen, am Tag der Währungsunion, weil der Ostblock keine West-Währung bezahlen konnte. In Sachsen gab es ebenfalls Halbleiter-Industrie. Die NZZ schreibt zur Zeit nach der Wende:
In den 1990er Jahren habe man deshalb die richtigen Fachkräfte gefunden, und die Universitäten seien darauf ausgerichtet gewesen, diese Fachkräfte auszubilden.
Das heißt, es gab qualifiziertes Personal und es gab Universitäten, die die Menschen ausgebildet haben.
Nachtrag 22.07.2024: In den schon erwähnten Stasi-Unterlagen werden auch Besitzer privater Computer erwähnt, die einen beruflichen EDV-Hintergrund haben.
Das sind nur die Personen, die zusätzlich zu ihrer Arbeit mit Computern auch privat über einen Computer verfügten. Obwohl meine Eltern beide mit Rechnern arbeiteten, hatten sie bis auf einen programmierbaren Taschenrechner keine privaten Computer. Das heißt, die Zahl der Personen mit EDV-Berufen war größer.
Schulbildung
Die Schulbildung war im naturwissenschaftlichen Bereich besser als die im Westen. Sagt man. Mein Sohn hatte einen guten Mathelehrer, der auch schon zu Ostzeiten Lehrer war. Er hat zur Vorbereitung auf die MSA-Prüfung die Schüler*innen Aufgaben für die Prüfung nach der 10. Klasse in der DDR rechnen lassen. Mein Sohn meinte, dass die viel, viel schwieriger waren als die aktuellen Aufgaben.
Im Einigungsvertrag wurden alle Ost-Abitur-Abschlüsse um eine Note heruntergestuft. Ich stelle mir gerade vor, wie der West-Verhandlungsführer, dessen Name ich vergessen habe, mit dem Ost-Verhandlungsführer, dessen Name ich vergessen habe, gesprochen hat: „Also, Herr X, Sie müssen schon einsehen, dass die Ossis alle ein bisschen döofer als die Wessis sind.“ „Ja, ehm, hm, Herr Y, da haben sie schon Recht. Wäre es ok, wenn wir die Abiturnoten aller Ossis um eine halbe Note nach unten korrigieren?“ „Nein, die sind noch viel döofer. Also das muss mindestens eine ganze Note sein.“ „Ok.“ (Mister X zu sich selber: „Sag ich doch, die sind doof.“)
Aber jetzt mal Spaß beiseite. Die empirische Grundlage dieses Beschlusses würde mich schon interessieren. Wie wurden die Vergleichsstichproben bestimmt? So?
Miss Ostdeutschlands im Bildungstest 2004, 15 Jahre nach der Wende, d.h. mit guter West-Bildung
Aber das kann es nicht gewesen sein, denn diese Form der Bestenermittlung fand erst statt, als der Einigungsvertrag unter Dach und Fach war.
Das Ergebnis war jedenfalls, dass alle Ossis schon mal schlechtere Chancen hatten, wenn sie sich mit Westlern messen mussten. Und das mussten viele. Millionen haben nach der Wende das Land (den Osten) verlassen, denn sie wurden dort arbeitslos, weil ihre Betriebe geschlossen wurden oder sie einfach aus den Universitäten und den Forschungseinrichtungen rausgeworfen wurden. („Von den 218.000 Wissenschaftlern der ehemaligen DDR verlor die Hälfte ihre Stelle. Bei den Professoren waren es nach Zahlen der britischen Zeitschrift Nature sogar zwei Drittel.“ Peter André Alt, Berliner Zeitung, 06.11.2019)
Es gab übrigens zwei Schulen im Osten, deren Abitur nicht abgewertet wurde. Eine davon war meine. Ich bin also nicht betroffen. Ich bin also kein Jammer-Ossi. Bis 2013 war mir das ganze Ost-Thema Wumpe. Die DDR war nichts meins, ich habe ihr nicht nachgeweint. Ich bin Professor, mir geht es gut. Bis 2019 habe ich auch nichts gesagt. Jetzt spreche ich für andere. Ich hoffe, irgendwer versteht das und irgendwem nützt das.
Nachtrag 08.01.2024. Es gab Nachfragen bezüglich der Herabstufung der Abiturnoten. Im Einigungsvertrag war das nicht geregelt, aber ich habe zwei Artikel zu dem Thema gefunden. Einen im Spiegel (Drüben war es leichter) und einen in der taz (Zwei Bundesländer erkennen DDR-Abitur nicht an). Noch zum Hintergrund: In der DDR konnten pro Klasse zwei bis drei Schüler*innen Abitur machen, wobei die Klassenstärke um die 30 lag.
In unseren Klassen erhielten von knapp dreißig Kindern gerade mal zwei bis drei eine Empfehlung für die Erweiterte Oberschule, so dass Lehrer gut daran taten, frühzeitig zu signalisieren, wen sie dafür im Auge hatten.
Mau, Steffen, 2019, Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp Verlag S. 55.
In meiner Klasse waren 31 Schüler*innen. Die Studienplatzvergabe erfolgte nach volkswirtschaftlichem Bedarf. Wenn man einen Studienplatz bekommen hat, hatte man dann auch die Arbeitsstelle sicher. Das war ganz anders, als das im Westen ist, wo es hunderte Student*innen im Bereich Literaturwissenschaft und habilitierte Taxifahrer*innen gibt.
Zusammenfassung
Liebe Wessis, wir wussten alles über Euch. Wir fanden Euch interessant. Euer Leben haben wir im Fernsehen gesehen und das der Amis. Wir haben Eure Bücher gelesen. Die Romane und die Fachbücher. Das war noch viel spannender, wenn sie schwer zu bekommen waren. Wir wussten alles über Euch, aber Ihr nichts über uns. Und das ist zum Teil leider auch über 30 Jahre nach dem Anschluss der DDR immer noch so. Shame on you. Also jedenfalls on ein paar von Euch. On those, who immer noch solchen Müll in Zeitungen schreiben, in Podcasts sagen oder sonst wie verbreiten. Wundert Euch nicht, wenn das keiner mehr will bzw. immer noch keiner will.
Und noch etwas: Redet über uns, als wären wir dabei. Das reicht vielleicht schon. Wobei, Andreas Baum ist ja aus dem Osten und Andi Arbeit hat dennoch so gesagt, was sie gesagt hat.
Immerhin haben ja alle bis zum Ende gelesen. =:-) Stay tuned, bis zum nächsten Rant.
Nachgedanken
Mir fallen immer noch nachträglich Dinge ein. Zum Thema „doofe Ossis“ noch drei Punkte: 1) Prof. Dr. Manfred Bierwisch war der erste Deutsche, der im Rahmen von Chomskys Transformationsgrammatik gearbeitet hat. Und zwar ab 1959, lange, lange vor dem Westen. Jahrzehnte. Bierwisch hat 1963 die erste Transformationsanalyse des Deutschen vorgestellt. Es gibt ein tolles Gespräch mit Bierwisch über die gesamte DDR-Zeit und darüber, wie die Entwicklung der Arbeitsgruppen verlief. Viele bekannte Westler haben die Gruppe im Osten besucht (Prof. Dr. Dieter Wunderlich war einer davon. In Wikipedia steht auch, dass Wunderlich über Bierwisch zur Generativen Grammatik kam.)
2) Die sogenannte Akademie-Grammatik von 1981 Grundzüge einer deutschen Grammatik hat Standards gesetzt. Die Duden-Grammatik aus dieser Zeit war … nun ja. Ab 2005 ist sie sehr gut.
3) Renate Schmidt, eine gute Bekannte, hat an der Akademie der Wissenschaften an Wörterbüchern gearbeitet. Nach der Wende wurde die Akademie der Wissenschaften der DDR abgewickelt. 22 Ossis wurden vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim übernommen. Renates Chef Helmut Schumacher begrüßte die Neuen und versprach ihr, ihr das Erstellen von Wörterbüchern beizubringen. Sie hatte aber schon an fünf Wörterbüchern mitgearbeitet. Zum Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache steht in Wikipedia:
Das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (WDG) wurde in Berlin an der Deutschen Akademie der Wissenschaften (ab Oktober 1972: Akademie der Wissenschaften der DDR) zwischen 1952 und 1977 unter der Leitung von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz erarbeitet. Das Wörterbuch erschien in 6 Bänden und wurde bis zum Ende der DDR bandweise versetzt nachgedruckt. Das WDG umfasst über 4.500 Seiten und enthält knapp 100.000 Stichwörter. In Konzeption und Quellenauswahl war es seiner Zeit weit voraus und wurde daher auch als Vorbild vieler Wörterbuchprojekte herangezogen, so etwa vom Großen Wörterbuch der deutschen Sprache des Dudenverlags (1976–1981).
Im Westen wurde das Werk zu DDR-Zeiten kaum rezensiert oder gar in seiner Bedeutung erkannt und gewürdigt.
Wikipedia zum Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache, 08.01.2024
Renate Schmidt arbeitete unter Helmut Schumachers „Leitung“ am Valenzwörterbuch: VALBU. Valenzwörterbuch deutscher Verben. Schumachers Beitrag am gesamten Wörterbuch waren vier Artikel von insgesamt 638. Seine Artikel waren von schlechter Qualität. Renate Schmidt korrigierte diese Artikel und legte sie ihm wieder hin. Er übernahm die revidierten Fassungen ohne irgendwelche Änderungen und ohne irgendeinen Kommentar. Wortlos. Renate hat noch als Rentnerin das ganze Wörterbuch durchgesehen und alle Artikel korrigiert. Als Erstautor wird Schumacher geführt (Wer als Erstautor genannt wird, ist in der Wissenschaft wichtig, weil die Literaturverzeichnisse nach Erstautoren sortiert sind.) Schuhmacher war dann wegen schwerer Depressionen sechs Monate krank geschrieben. Er sagte, Renate Schmidt habe ihn in die Depression getrieben. Tja, ist eben doof, wenn man nichts beiträgt und das Wenige, was von einem kommt, dann auch noch falsch ist. Vielleicht noch zum Hintergrund: Renate ist die liebste Person der Welt, niemand, der Stress macht oder so. Das können sicher alle ehemaligen Kolleg*innen bestätigen. Ein Kollege, der früher am IDS arbeitete und jetzt eine Professur anderswo hat, hat mir mal gesagt, dass sich die Arbeitsatmosphäre am IDS durch die Ossis wesentlich verbessert hat. Die Ossis gingen sogar mit Sekretärinnen essen, was die Wessis nie im Leben gemacht hätten, obwohl sie 68er-Revoluzzer waren. Also alles sehr umgängliche Menschen, kein Grund für schlechte Laune. Schumachers Depression ist also wahrscheinlich wirklich auf die Einsicht in die eigene Inkompetenz zurückzuführen.
Auf der ersten Jahrestagung des IDS nach der Wende hat Prof. Dr. Hartmut Schmidt, Renate Schmidts Mann, einen Vortrag gehalten (Beitrag im Jahrbuch). Danach kam ein Kollege aus dem Westen zu ihr und lobte den Vortrag. Sie fragte sich, wieso er dazu zur Frau des Vortragenden gekommen war (Tja, doch etwas andere Rollenbilder damals. Im Westen.) und antwortete: „Wir haben viele an unserem Institut, die solche Vorträge halten können.“. Das Gegenüber wusste nicht mehr weiter und das Gespräch war beendet.
Bei der Armee waren wir in großen Zimmern untergebracht. Acht, zehn, zwölf Personen. Die mussten über Jahre zusammen leben. Miteinander klarkommen. Es gab Radios. Die Lautstärke musste ausgehandelt werden. Manchmal bat jemand darum, die Musik leiser zu stellen. Da gab es einen Trick: Man drehte einfach noch lauter, sagte „huch“ und drehte dann wieder etwas zurück. Letztendlich war es auf diese Weise sogar lauter geworden, als es vorher schon gewesen war.
Deutsche Fahnen haben mir schon immer Übelkeit bereitet. Die Sachsen begrüßten Kohl 1990 in einem Fahnenmeer. Ich bin zusammengezuckt, wenn die Wessis in den 90ern von Deutschland gesprochen haben. 2006 war irgendwas mit Fußball. Die Deutschen waren froh und glücklich. Überall Fahnen. Die Deutschen waren nett zu anderen. Das war nur kurz. Bald drehte jemand wieder lauter.
Nach der Wende. Asylbewerberheime brannten in Ost und West. Es war entsetzlich. Unerträglich. 2015. Krieg in Syrien. Viele Menschen mussten fliehen. Angela Merkel sagte: „Wir schaffen das!“. Die BILD-Zeitung war solidarisch mit den Flüchtlingen. Ich rieb mir verwundert die Augen. In der Schule meiner Kinder sammelten die Menschen Anziehsachen und andere Dinge, die man den Flüchtlingen geben konnte. Medikamente. Menschen nahmen die Flüchtlinge bei sich zu hause auf. Vier Jahre später wurde ein Politiker erschossen, weil er 2015 Menschlichkeit gezeigt hatte. 2023 drang die Polizei mit großem Krach in eine Kirche ein und beendete das Kirchenasyl.
Seit den 70ern weiß man vom Treibhauseffekt. Hier und da kam etwas in den Medien vor. Konferenzen fanden statt. Eine Umweltministerin schrieb 1997 ein Buch, in dem alles klar gesagt wurde. Sie wurde später Kanzlerin, verantwortlich für Pillepalle (ihre eigenen Worte). 2018 sorgte eine Schülerin dafür, dass die Menschheit Notiz von dem Problem nahm. Millionen Menschen gingen auf die Straße. Es gab Hoffnung. Bei den Wahlen 2021 gab es eine Partei, die bei 12% lag, eine Partei mit einem Clown als Kandidat und die Partei, die den Grund zur Hoffnung gab. Der Clown hat sich selbst ins Aus gelacht, die Partei der Hoffnung wurde massiv bekämpft, so dass letztendlich die 12%-Partei mit dem Typ mit der Raute gewann. Die Pillepalle-Politik wurde fortgesetzt. Der Machen-Sie-sich-keine-Sorgen-Raute-Mann zerstörte ein Gesetz, das er in der Vorgängerregierung selbst mit ausgearbeitet hatte. Es wurde noch wärmer.